William Morris ist unter Genrefans vor allem als der ‘offizielle’ Schöpfer der ersten Sekundärwelt-Fantasy bekannt. Matthew David Surridge vertritt in dieser Frage zwar eine abweichende Meinung und verleiht die Krone stattdessen Sara Coleridge mit ihrem 1837 veröffetlichten Buch Phantasmion, doch wie dem auch sei, Morris’ Einfluss auf J.R.R. Tolkien zumindest steht außer Zweifel. Als dieser seine ersten ernsthaften schriftstellerischen Gehversuche machte, schrieb er im Oktober 1914 an seine künftige Ehefrau Edith: "Neben den anderen Arbeiten versuche ich jetzt, aus einer von den Geschichten – in Wirklichkeit eine sehr große und höchst tragische Geschichte – eine kurze Erzählung zu machen, so etwa in der Art der Romanzen von Morris, mit eingestreuten Brocken Gedichte". (1) Hier ging es noch nicht um eine Erzählung aus dem späteren Mythenkreis des Silmarillion. Vielmehr beabsichtigte Tolkien zu dieser Zeit, die Geschichte des Helden Kullervo aus dem finnischen Epos Kalevala zu einer ‘Romanze’ umzuarbeiten. (2) Das Projekt gelangte nie über das Anfangsstadium hinaus, doch der Einfluss von Morris ist auch in späteren Werken noch deutlich zu spüren. So dürfte die Rahmenerzählung der Lost Tales – der Urform des Silmarillion – dem Vorbild von The Earthly Paradise nachgebildet worden sein. In beiden Fällen gelangen Seefahrer aus Nordeuropa, die sich auf die Suche nach den Paradiesesinseln im Westen gemacht haben, schließlich an einen fernen Ort, wo ihnen Geschichten aus alter Zeit erzählt werden. Auch verdankt der ‘Mirkwood’ (‘Düsterwald’) im Hobbit seinen Namen vermutlich nicht nur dem ‘Myrkvid’ der germanischen Heldensage, sondern auch Morris’ The House of the Wolfings. Und noch in einem Brief aus dem Jahre 1960 schreibt Tolkien, die Szenerie der "Totensümpfe und [der] Zugänge zum Morannon" im Herr der Ringe habe viel "von William Morris und seinen Hunnen und Römern, etwa in The House of the Wolfings oder The Roots of the Mountains." (3)
Für moderne Leserinnen und Leser mögen The Well at the World’s End oder The Water of the Wondrous Isles erst einmal schwer verdauliche Kost sein. Aber es lohnt sich, wenn man nicht schon nach der ersten Seite das Buch wieder aus der Hand legt. Nachdem man sich einmal an Morris’ archaisierenden Stil gewöhnt hat, erschließt sich einem die poetische Schönheit dieser Texte. Mehr noch als für seine Ritterromanzen gilt dies für die Germanen-Geschichten House of the Wolfings und Roots of the Mountains. (4)
Für moderne Leserinnen und Leser mögen The Well at the World’s End oder The Water of the Wondrous Isles erst einmal schwer verdauliche Kost sein. Aber es lohnt sich, wenn man nicht schon nach der ersten Seite das Buch wieder aus der Hand legt. Nachdem man sich einmal an Morris’ archaisierenden Stil gewöhnt hat, erschließt sich einem die poetische Schönheit dieser Texte. Mehr noch als für seine Ritterromanzen gilt dies für die Germanen-Geschichten House of the Wolfings und Roots of the Mountains. (4)
Die Schriften Ruskins übten einen entscheidenden Einfluss auf das Denken des jungen William Morris aus. Viele Jahre später schrieb er in seinem Aufsatz How I Became A Socialist:
"Before the uprising of modern Socialism almost all intelligent people either were, or professed themselves to be, quite contented with the civilization of this century. [...] But besides these contented ones there were others who were not really contented, but had a vague sentiment of repulsion to the triumph of civilization, but were coerced into silence by the measureless power of Whiggery. (5) Lastly, there were a few who were in open rebellion against the said Whiggery – a few, say two, Carlyle and Ruskin. The latter, before my days of practical Socialism, was my master towards the ideal aforesaid, and, looking backward, I cannot help saying, by the way, how deadly dull the world would have been twenty years ago but for Ruskin! It was through him that I learned to give form to my discontent, which I must say was not by any means vague. Apart from the desire to produce beautiful things, the leading passion of my life has been and is hatred of modern civilization."
Gemeinsam mit seinem Freund Edward Burne-Jones schloss sich Morris zu Beginn der 1850er Jahre der Bewegung der Präraffaeliten an, zu der so bedeutende Maler und Dichter gehörten wie Dante Gabriel Rossetti, Christina Rossetti, William Holman Hunt, John Everett Millais und Algernon Charles Swinburne. Der Präraffaelitismus war eine ästhetische Rebellion gegen das viktorianische Bürgertum, gegen seine satte Selbstzufriedenheit, seinen platten Utilitarismus und seinen schlechten Geschmack. Der Hässlichkeit und dem Schmutz der britischen Industriestädte, der vulgären Prunksucht und nackten Profitgier der neureichen Bourgeoisie stellten die jungen Künstler elegische Traumwelten und von symbolischen Bezügen durchtränkte religiöse Szenerien entgegen. Ruskin war ihr Inspirator und Förderer, und wie er suchten auch sie ihre Vorbilder in der mittelalterlichen Kunst. Dante, Chaucer und Malory waren neben dem Shakespeare der Sonette ihre Lieblingsautoren. Morris’ größter literarischer Beitrag zu der Bewegung war der Gedichtband The Defence of Guenevere. Allerdings erging es den Präraffaeliten wie so vielen Rebellen der Kunst vor und nach ihnen: sie wurden schon bald zu den Lieblingen der von ihnen so gehassten Philister. Was als Revolte begann, endete als gefeierte Modeströmung.
Im Grunde war dieser Ausgang bereits in der rein ästhetischen Form der Rebellion angelegt, und Morris spürte dies schon sehr bald. Als er sich daran machte, seinen riesigen Gedichtszyklus The Earthly Paradise niederzuschreiben, fühlte er sich in seinem Kampf gegen die verhasste bürgerliche Zivilisation bereits immer mehr auf verlorenem Posten. Historiker E. P. Thompson spricht sehr treffend von einer "poetry of despair". (6) Das Werk ist ein wahres Epos des Eskapismus. In der Apology, die dem ersten Band vorangestellt ist, stilisiert Morris sich selbst zum "idle singer of an empty day":
Dreamer of dreams, born out of my due time,
Why should I strive to set the crooked straight?
Let it suffice me that my murmuring rhyme
Beats with light wing against the ivory gate,
Telling a tale not too importunate
To those who in the sleepy region stay,
Lulled by the singer of an empty day. (7)
Doch anders als die meisten Präraffaeliten begnügte sich Morris auf Dauer nicht mit der Flucht in ein ästhetisches Paralleluniversum, das ihm keine wirkliche Befriedigung bereiten konnte. Er suchte nach Möglichkeiten, seine Ideale in die Wirklichkeit umzusetzen. Dies führte zur Gründung seiner berühmten ‘Firma’, die der industriell gefertigten Massenware die Produkte des Kunsthandwerks entgegenstellte. Wieder war es das Mittelalter, das dabei als Vorbild diente. Diese Unternehmung ging weit über bloße Fragen des Designs oder der Produktionsmethoden hinaus. Ihr Ziel bestand in einer allgemeinen Verschönerung und Humanisierung des Lebens: "Den Menschen Freude an den Dingen zu vermitteln, die sie nun einmal benutzen müssen, das ist die eine große Aufgabe des Dekorativen, den Menschen Freude an den Dingen zu vermitteln, die sie ebenso unvermeidlich herstellen müssen, ist die andere." (8) Morris teilte die Überzeugung Ruskins, dass nur in einer schönen Umgebung künstlerisches Schaffen und ein menschenwürdiges Leben möglich seien. (9) Dazu gehörte es auch, den arbeitenden Menschen von der Knechtung durch die von Mechanisierung und Arbeitsteilung geprägte Industrie zu befreien: "Unter echter Kunst verstehe ich den Ausdruck der Freude, die der Mensch bei seiner Arbeit empfindet. Ich glaube nicht, daß er in seiner Arbeit glücklich sein kann, ohne diesem Glücksgefühl Ausdruck zu verleihen [...] Wenn ein Mensch eine Arbeit verrichten muß, die er verachtet, die nicht seinen natürlichen und rechtmäßigen Wunsch nach Freude befriedigt, muß der größte Teil seines Lebens unglücklich und ohne Selbstrespekt verlaufen. [...] Die Arbeit, die von der ziviliserten Welt geleistet wird, ist weitgehend unredliche Arbeit." (10)
Dreamer of dreams, born out of my due time,
Why should I strive to set the crooked straight?
Let it suffice me that my murmuring rhyme
Beats with light wing against the ivory gate,
Telling a tale not too importunate
To those who in the sleepy region stay,
Lulled by the singer of an empty day. (7)
Doch anders als die meisten Präraffaeliten begnügte sich Morris auf Dauer nicht mit der Flucht in ein ästhetisches Paralleluniversum, das ihm keine wirkliche Befriedigung bereiten konnte. Er suchte nach Möglichkeiten, seine Ideale in die Wirklichkeit umzusetzen. Dies führte zur Gründung seiner berühmten ‘Firma’, die der industriell gefertigten Massenware die Produkte des Kunsthandwerks entgegenstellte. Wieder war es das Mittelalter, das dabei als Vorbild diente. Diese Unternehmung ging weit über bloße Fragen des Designs oder der Produktionsmethoden hinaus. Ihr Ziel bestand in einer allgemeinen Verschönerung und Humanisierung des Lebens: "Den Menschen Freude an den Dingen zu vermitteln, die sie nun einmal benutzen müssen, das ist die eine große Aufgabe des Dekorativen, den Menschen Freude an den Dingen zu vermitteln, die sie ebenso unvermeidlich herstellen müssen, ist die andere." (8) Morris teilte die Überzeugung Ruskins, dass nur in einer schönen Umgebung künstlerisches Schaffen und ein menschenwürdiges Leben möglich seien. (9) Dazu gehörte es auch, den arbeitenden Menschen von der Knechtung durch die von Mechanisierung und Arbeitsteilung geprägte Industrie zu befreien: "Unter echter Kunst verstehe ich den Ausdruck der Freude, die der Mensch bei seiner Arbeit empfindet. Ich glaube nicht, daß er in seiner Arbeit glücklich sein kann, ohne diesem Glücksgefühl Ausdruck zu verleihen [...] Wenn ein Mensch eine Arbeit verrichten muß, die er verachtet, die nicht seinen natürlichen und rechtmäßigen Wunsch nach Freude befriedigt, muß der größte Teil seines Lebens unglücklich und ohne Selbstrespekt verlaufen. [...] Die Arbeit, die von der ziviliserten Welt geleistet wird, ist weitgehend unredliche Arbeit." (10)
Freilich war Morris schon bald gezwungen einzusehen, dass dieses Ziel auf dem von ihm eingeschlagenen Weg nicht zu verwirklichen war. In den vier Wänden der ‘Firma’ mochte man die Entfremdung der Arbeit vielleicht überwinden können, an der Gesellschaft als Ganzer änderte dies nichts. Und die Produkte dieser Arbeit – Möbel, Tapeten, Buntglasfenster usw. – landeten am Ende in den Villen der Aristokraten und Bourgeois. Der ‘einfache Mann’ konnte sie sich nicht leisten. Einmal mehr wurde die Rebellion zu einem Modeartikel degradiert. Morris erkannte immer deutlicher, dass seine Ideale nur durch die Überwindung der kapitalistischen Gesellschafts-ordnung verwirklicht werden konnten. Eine Wirtschaftsform, deren einziger Motor das Profitstreben ist, muss der Feind alles Schönen und Menschlichen sein: "Gibt es die Möglichkeit, Geld zu raffen? Dann fällen Sie nur die schönen Bäume um Ihre Häuser, reißen Sie ruhig alte und ehrwürdige Gebäude um des Geldes willen ab, das ein paar Quadratmeter Londoner Dreck einbringen; verschmutzen Sie Ihre Flüsse, verfinstern Sie nur die Sonne und verpesten Sie die Luft mit Rauch und Schlimmerem, es braucht sich niemand darum zu kümmern oder Abhilfe zu schaffen: das ist alles, was die moderne Wirtschaft, das Kontor [= die kapitalistische Industrie] in seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber der Werkstatt [=dem Handwerk] in dieser Hinsicht für uns tut." (11) Ein ‘wahres Gemeinwesen’ musste an die Stelle der ‘Zivilisation’ gesetzt werden.
Die Begegnung mit dem Sozialismus bedeutete eine Art persönlicher Erlösung für William Morris. Er hatte sich bereits sehr weit auf dem Pfad des hoffnungslosen Pessismismus fortbewegt, der Ruskin in den Abgrund geführt hatte und den später auch J.R.R. Tolkien beschreiten sollte. Im Rückblick beschrieb er seine damaligen Gefühle wie folgt: "The hope of the past times was gone, the struggles of mankind for many ages had produced nothing but this sordid, aimless, ugly confusion; the immediate future seemed to me likely to intensify all the present evils by sweeping away the last survivals of the days before the dull squalor of civilization had settled down on the world." (12) Was ihm schließlich den Ausweg aus dieser Misere eröffnete war die Erkenntnis, dass der Künstler auf sich allein gestellt die Welt zwar nicht zu ändern vermag, er aber nicht der einzige ist, der Grund hat, gegen die bestehende Ordnung der Dinge aufzubegehren. Oberflächlich betrachtet haben die anderen zwar vielleicht nicht die gleichen Motive wie er, doch letztenendes besteht einzig in ihrer Revolte die Hoffnung auf eine Wiedergeburt der Kultur. Morris überwandt seine Isolation, indem er sich dem Sozialismus und der Arbeiterbewegung anschloss. Seinem Freund George Burne-Jones, der ihm hierin nicht zu folgen vermochte, erklärte er: "I can’t help it. The ideas which have taken hold of me will not let me rest .... One must turn to hope, and only in one direction do I see it – on the road to Revolution: everything else is gone ...." (13) Die innere Befreiung, die dieser Schritt für ihn bedeutet haben muss, verarbeitete er in den ersten Gedichten seines Zyklus The Pilgrims of Hope, in dem er die Geschichte eines jungen Paares erzählt, das vom Land nach London kommt, sich dort der kommunistischen Bewegung anschließt und schließlich 1871 nach Frankreich geht, um für die Kommune zu kämpfen:
Time was we have grieved, we have feared, we have faltered,
For ourselves, for each other, while yet we were twain;
And no whit of the world by our sorrow was altered,
Our faintness grieved nothing, our fear was in vain.
Now our fear and our faintness, our sorrow, our passion,
We shall feel all henceforth as we felt it erewhile;
But now from all this the due deeds we shall fashion
Of the eyes without blindness, the heart without guile.
Let us grieve then – and help every soul in our sorrow;
Let us fear – and press forward where few dare to go;
Let us falter in hope – and plan deeds for the morrow,
The world crowned with freedom, the fall of the foe.
Die Begegnung mit dem Sozialismus bedeutete eine Art persönlicher Erlösung für William Morris. Er hatte sich bereits sehr weit auf dem Pfad des hoffnungslosen Pessismismus fortbewegt, der Ruskin in den Abgrund geführt hatte und den später auch J.R.R. Tolkien beschreiten sollte. Im Rückblick beschrieb er seine damaligen Gefühle wie folgt: "The hope of the past times was gone, the struggles of mankind for many ages had produced nothing but this sordid, aimless, ugly confusion; the immediate future seemed to me likely to intensify all the present evils by sweeping away the last survivals of the days before the dull squalor of civilization had settled down on the world." (12) Was ihm schließlich den Ausweg aus dieser Misere eröffnete war die Erkenntnis, dass der Künstler auf sich allein gestellt die Welt zwar nicht zu ändern vermag, er aber nicht der einzige ist, der Grund hat, gegen die bestehende Ordnung der Dinge aufzubegehren. Oberflächlich betrachtet haben die anderen zwar vielleicht nicht die gleichen Motive wie er, doch letztenendes besteht einzig in ihrer Revolte die Hoffnung auf eine Wiedergeburt der Kultur. Morris überwandt seine Isolation, indem er sich dem Sozialismus und der Arbeiterbewegung anschloss. Seinem Freund George Burne-Jones, der ihm hierin nicht zu folgen vermochte, erklärte er: "I can’t help it. The ideas which have taken hold of me will not let me rest .... One must turn to hope, and only in one direction do I see it – on the road to Revolution: everything else is gone ...." (13) Die innere Befreiung, die dieser Schritt für ihn bedeutet haben muss, verarbeitete er in den ersten Gedichten seines Zyklus The Pilgrims of Hope, in dem er die Geschichte eines jungen Paares erzählt, das vom Land nach London kommt, sich dort der kommunistischen Bewegung anschließt und schließlich 1871 nach Frankreich geht, um für die Kommune zu kämpfen:
Time was we have grieved, we have feared, we have faltered,
For ourselves, for each other, while yet we were twain;
And no whit of the world by our sorrow was altered,
Our faintness grieved nothing, our fear was in vain.
Now our fear and our faintness, our sorrow, our passion,
We shall feel all henceforth as we felt it erewhile;
But now from all this the due deeds we shall fashion
Of the eyes without blindness, the heart without guile.
Let us grieve then – and help every soul in our sorrow;
Let us fear – and press forward where few dare to go;
Let us falter in hope – and plan deeds for the morrow,
The world crowned with freedom, the fall of the foe.
Und so wurde aus dem Träumer Morris der Revolutionär Morris. Als eine der herausragenden Führungspersönlichkeiten des zugegebenermaßen recht kleinen englischen Sozialismus jener Zeit widmete er für viele Jahre den Großteil seiner Energie der unentwegten Propaganda der Revolution.
Interessanterweise entstanden in eben dieser Zeit auch seine großen Romanzen. In keiner von ihnen wird man auf offen politisches Gedankengut stoßen. Er beabsichtigte nicht, 'sozialistische Märchen' zu schreiben, wie dies Oscar Wilde und viel später auch Naomi Mitchison getan haben. Dennoch wird man bei einer genaueren Lektüre seiner phantastischen Werke zahlreiche Spuren seiner sozialistischen Weltanschauung entdecken können. Als Beispiel mag The House of the Wolfings dienen, von dem Morris einmal erklärte: "It is meant to illustrate the melting of the individual into the society of the tribes". (14) In dieser Erzählung versuchte er, das Bild einer ‘urkommunistischen’ Gesellschaft zu zeichnen. Ackerland und Vieh sind Eigentum der großen Sippenverbände. Auch wenn es einige besonders angesehene und einflussreiche Familien gibt, werden alle wichtigen Entscheidungen doch von der Volksversammlung getroffen, die z.B. im Kriegsfall den Führer des Heeresaufgebots bestimmt. Das zentrale Thema der Romanze ist, dass in einer solchen auf Kameradschaft basierenden Gesellschaft, das Glück des Einzelnen und das Glück des Kollektivs unauflöslich miteinander verbunden sind. Die göttliche Wood-sun versucht, ihren menschlichen Geliebten Thiodolf um den Preis des Untergangs seiner Sippe vor dem Tod in der Schlacht zu bewahren, um schließlich einsehen zu müssen, dass dieses Verlangen sinnlos ist. Nicht weil bei Morris der alte Nazispruch ‘Du bist nichts, dein Volk ist alles’ gelten würde, sondern weil sich Thiodolf ein glückliches und erfülltes Leben nur in der Gemeinschaft seiner Sippengenossen vorstellen kann:
"[H]is thoughts wandered, and made for him pictures of his life that should be when this time of battle was over; so that he saw nothing of the troubles that were upon his hands that night, but rather he saw himself partaking in the deeds of the life of man. There he was between the plough-stilts in the acres of the kindred when the west wind was blowing over the promise of early spring; or smiting down the ripe wheat in the hot afternoon amidst the laughter and merry talk of man and maid; or far away over Mirkwood-water watching the edges of the wood against the prowling wolf and lynx, the stars just beginning to shine over his head, as now they were; or wending the windless woods in the first frosts before the snow came, the hunter's bow or javelin in hand: or coming back from the wood with the quarry on the sledge across the snow, when winter was deep, through the biting icy wind and the whirl of the drifting snow, to the lights and music of the Great Roof, and the merry talk therein and the smiling of the faces glad to see the hunting-carles come back; and the full draughts of mead, and the sweet rest at night-tide when the north wind was moaning round the ancient home." (15)
Das Motiv der ‘barbarischen’ Germanen, die gegen die die ‘Zivilisation’ verkörpernden Römer kämpfen, wird manchen vielleicht an den guten alten ‘Two Guns’ Bob erinnern, insbesondere an seine Stories um den Piktenkönig Bran Mak Morn. Doch während Robert E. Howard sein Bild des ‘Barbaren’ nach dem Vorbild des durch und durch bürgerlichen ‘rugged individualism’ entwarf, steht bei Morris die Gruppe im Vordergrund. Seine ‘Barbaren’ leben in einer kollektivistischen Gesellschaft. Und trotz der heftigen Romantisierung kommt diese Vorstellung der historischen Realität sehr viel näher als Conan und Konsorten.
Doch kehren wir zur ursprünglichen Frage zurück. Bei Leuten wie Carlyle, Ruskin oder Morris war der Blick zurück auf das Mittelalter mehr als bloß die nostalgische Sehnsucht nach der ‘guten, alten Zeit’. Sie fanden in der mittelalterlichen Kultur eine Art Plattform, von der aus sie die bürgerliche Gesellschaft von außen betrachten und beurteilen konnten. Eine vergleichbare Funktion kann das viktorianische Zeitalter für die Steampunks nicht spielen. Das 19. Jahrhundert war nicht die Ära einer grundsätzlich andersgearteten Gesellschaftsordnung, sondern vielmehr die Geburtsepoche des industriellen Kapitalismus, in dem wir nach wie vor leben. (16) Eines der großen Potentiale des Steampunk besteht gerade in der Auseinandersetzung mit diesen Wurzeln unserer heutigen Welt. Voraussetzung dafür ist allerdings der Verzicht auf jede Form nostalgischer Romantisierung des Viktorianismus.
(1) Brief an Edith Bratt [Oktober 1914]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 1. S. 13f.
(2) Mit ‘Romanze’ ist hier stets der englische Begriff ‘heroic romance’ gemeint, für den es meines Wissen nach leider keine adäquate deutsche Entsprechung gibt, da in diesem Kontext ja nicht der mittelalterliche Versroman (e.g. Perceval, Iwein oder Sir Gawain and the Green Knight) gemeint ist.
(3) Brief an Professor L. W. Forster [31. Dezember 1960]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 226. S. 397.
(4) Sämtliche phantastischen Werke von WilliamMorris sind hier zu finden.
(5) Die Whigs waren die liberale ‘Partei’ im England des 19. Jahrhunderts.
(6) Vgl.: E. P. Thompson: William Morris. Romantic to Revolutionary. S. 114-34.
(7) William Morris: The Earthly Paradise (March-August). S. 1.
(8) William Morris: Die niederen Künste. Die dekorativen Künste, ihr Verhältnis zu modernem Leben und Fortschritt. In: Gisela Hönnighausen (Hg.): Die Präraffaeliten. Dichtung, Malerei, Ästhetik, Rezeption. S. 96.
(9) "Schöne Kunst kann nur von Menschen hervorgebracht werden, die schöne Dinge um sich haben und die Muße besitzen, sie zu betrachten." (John Ruskin: Die zwei Pfade. Modernes Handwerk und moderner Entwurf. In: Gisela Hönnighausen (Hg.): a.a.O. S. 65.)
(10) William Morris: Die Kunst des Volkes. In: Gisela Hönnighausen (Hg.): a.a.O. S. 99f.
(11) William Morris: Die niederen Künste. In: Gisela Hönnighausen (Hg.): a.a.O. S. 97f.
(12) William Morris: How I Became a Socialist.
(13) Zit. nach.: E. P. Thompson: William Morris.
(14) William Morris: Letters. S. 302. Zit. nach: E. P. Thompson: William Morris. Romantic to Revolutionary. S. 676.
(15) William Morris: The House of the Wolfings. Kap. 17. In Roots of the Mountains erleben wir den beginnenden Zerfall dieser Sippenordnung.
(16) All das Gerede vom Übergang der Industrie- in die Dienstleistungs- oder Informationsgesellschaft ist nichts als heiße Luft. Selbstverständlich bildet die industrielle Produktion auch heute noch die Grundlage unserer Gesellschaftsordnung, auch wenn sie in immer höherem Maße aus den Metropolen abgewandert ist.
Das Motiv der ‘barbarischen’ Germanen, die gegen die die ‘Zivilisation’ verkörpernden Römer kämpfen, wird manchen vielleicht an den guten alten ‘Two Guns’ Bob erinnern, insbesondere an seine Stories um den Piktenkönig Bran Mak Morn. Doch während Robert E. Howard sein Bild des ‘Barbaren’ nach dem Vorbild des durch und durch bürgerlichen ‘rugged individualism’ entwarf, steht bei Morris die Gruppe im Vordergrund. Seine ‘Barbaren’ leben in einer kollektivistischen Gesellschaft. Und trotz der heftigen Romantisierung kommt diese Vorstellung der historischen Realität sehr viel näher als Conan und Konsorten.
Doch kehren wir zur ursprünglichen Frage zurück. Bei Leuten wie Carlyle, Ruskin oder Morris war der Blick zurück auf das Mittelalter mehr als bloß die nostalgische Sehnsucht nach der ‘guten, alten Zeit’. Sie fanden in der mittelalterlichen Kultur eine Art Plattform, von der aus sie die bürgerliche Gesellschaft von außen betrachten und beurteilen konnten. Eine vergleichbare Funktion kann das viktorianische Zeitalter für die Steampunks nicht spielen. Das 19. Jahrhundert war nicht die Ära einer grundsätzlich andersgearteten Gesellschaftsordnung, sondern vielmehr die Geburtsepoche des industriellen Kapitalismus, in dem wir nach wie vor leben. (16) Eines der großen Potentiale des Steampunk besteht gerade in der Auseinandersetzung mit diesen Wurzeln unserer heutigen Welt. Voraussetzung dafür ist allerdings der Verzicht auf jede Form nostalgischer Romantisierung des Viktorianismus.
(1) Brief an Edith Bratt [Oktober 1914]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 1. S. 13f.
(2) Mit ‘Romanze’ ist hier stets der englische Begriff ‘heroic romance’ gemeint, für den es meines Wissen nach leider keine adäquate deutsche Entsprechung gibt, da in diesem Kontext ja nicht der mittelalterliche Versroman (e.g. Perceval, Iwein oder Sir Gawain and the Green Knight) gemeint ist.
(3) Brief an Professor L. W. Forster [31. Dezember 1960]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 226. S. 397.
(4) Sämtliche phantastischen Werke von WilliamMorris sind hier zu finden.
(5) Die Whigs waren die liberale ‘Partei’ im England des 19. Jahrhunderts.
(6) Vgl.: E. P. Thompson: William Morris. Romantic to Revolutionary. S. 114-34.
(7) William Morris: The Earthly Paradise (March-August). S. 1.
(8) William Morris: Die niederen Künste. Die dekorativen Künste, ihr Verhältnis zu modernem Leben und Fortschritt. In: Gisela Hönnighausen (Hg.): Die Präraffaeliten. Dichtung, Malerei, Ästhetik, Rezeption. S. 96.
(9) "Schöne Kunst kann nur von Menschen hervorgebracht werden, die schöne Dinge um sich haben und die Muße besitzen, sie zu betrachten." (John Ruskin: Die zwei Pfade. Modernes Handwerk und moderner Entwurf. In: Gisela Hönnighausen (Hg.): a.a.O. S. 65.)
(10) William Morris: Die Kunst des Volkes. In: Gisela Hönnighausen (Hg.): a.a.O. S. 99f.
(11) William Morris: Die niederen Künste. In: Gisela Hönnighausen (Hg.): a.a.O. S. 97f.
(12) William Morris: How I Became a Socialist.
(13) Zit. nach.: E. P. Thompson: William Morris.
(14) William Morris: Letters. S. 302. Zit. nach: E. P. Thompson: William Morris. Romantic to Revolutionary. S. 676.
(15) William Morris: The House of the Wolfings. Kap. 17. In Roots of the Mountains erleben wir den beginnenden Zerfall dieser Sippenordnung.
(16) All das Gerede vom Übergang der Industrie- in die Dienstleistungs- oder Informationsgesellschaft ist nichts als heiße Luft. Selbstverständlich bildet die industrielle Produktion auch heute noch die Grundlage unserer Gesellschaftsordnung, auch wenn sie in immer höherem Maße aus den Metropolen abgewandert ist.
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