"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Sonntag, 28. Januar 2018

Strandgut der Woche

Days of Hope

Ich habe mir kürzlich Days of Hope (1975) angeschaut ein vierteiliges TV-Epos, in dem Jim Allen und Ken Loach die Kämpfe der britischen Arbeiterklasse vom 1. Weltkrieg bis zum Generalstreik von 1926 wiederauferstehen lassen. Ein außergewöhnliches und faszinierendes Werk.

Zwar ließe sich vor allem am vierten Teil berechtigte Kritik anbringen. In ihrem Bemühen, ein historisch korrektes Bild davon zu zeichnen, wie die Führung des TUC (Trades Union Congress) den Generalstreik verriet, der Großbritannien in eine vorrevolutionäre Situation gebracht hatte, verzetteln sich Allen und Loach in gar zu vielen Szenen von "Backroom Meetings" zwischen den rechten Gewerkschaftsbürokraten und Vertretern der Tory-Regierung. Inhaltlich ist das zweifellos sehr interessant, nimmt dem zweistündigen Film aber doch viel an Dramatik und Dynamik. Wie Barbara Slaughter in ihrem Nachruf auf Jim Allen geschrieben hat: "His own verdict on the final film [...] is that he 'stayed too close to the documentary evidence' because he 'was afraid of being picked up on accuracy'." Dazu gehört auch eine kurze Szene, in der die {völlig berechtigte} Kritik an der zögerlichen Politik der bereits weitgehend stalinisierten Kommunistischen Partei auf etwas schulmeisterliche Weise vorgetragen wird.
Die stärksten Sequenzen konzentrieren sich auf eines der von den Streikenden geschaffenen "Comitees of Action", die in mancherlei Hinsicht embryonale Arbeiterräte waren, und auf die sich verschärfenden Konflikte zwischen dem Labour-Reformisten Philip Hargreaves, seiner durch den Streik radikalisierten Frau Sarah und ihrem kommunistischen Bruder Ben den drei Personen, die von Beginn am im Zentrum der Miniserie gestanden hatten, im letzten Teil jedoch beinah zu Randfiguren zu werden drohen.
Auch muss gesagt werden, dass das unbedingtes Festhalten an einem quasi-dokumentarischen Naturalismus bei der filmischen Darstellung eines solch gewaltigen historischen Ereignisses, wie es der Generalstreik war, zu einem ästhetischen Hemmschuh werden kann.
Nichtsdestoweniger bleibt Days of Hope ein äußerst sehenswertes Werk. Schwer vorstellbar, dass etwas vergleichbares in der heutigen TV-Landschaft produziert werden könnte.

Drehbuch- und Stückeschreiber Jim Allen (1926-1999) war ein außergewöhnlicher Künstler.
In eine irischstämmige, katholische Arbeiterfamilie aus Manchester hineingeboren, lernte er die Grausamkeiten des Kapitalismus schon sehr früh am eigenen Leibe kennen. Mit Dreizehn beschloss er, die Schule abzubrechen und in der Fabrik zu arbeiten. Nach einer Reihe von Jobs wurde er 1944 in die Armee einberufen. Er gelangte als Mitglied der Besatzungstruppen nach Deutschland, wo er nach einer Kneipenschlägerei für einige Zeit im Militärgefägnis landete. Ein Zellengenosse weckte erstmals sein Interesse für Politik. Er las das Kommunistische Manifest und begann sich für Autoren wie John Steinbeck, Upton Sinclair und Jack London zu begeistern. Nach seinem Abschied von der Armee 1947 verdiente er sich sein Geld für einige Jahre als Bauarbeiter, Heizer in der Handelsmarine und auf den Docks. Schließlich begann er, in der Bradford-Grube in Manchester zu arbeiten.
Anders als die meisten radikalen Arbeiter der Zeit liebäugelte Allen nie mit der Kommunistischen Partei. Er war von Anfang an ein erklärter Antistalinist:
[I was] always completely anti-Stalinist, long before it became popular ... long before the Khrushchev speech.... I've been chased by Stalinists, who sincerely believed I was an agent of capitalism. Once they threw me off a miners' bus travelling at high speed. 
Stattdessen schloss er sich der von Gerry Healy angeführten trotzkistischen Socialist Labour League (SLL) an, die bis zu ihrem Ausschluss 1962 im Rahmen der Labour Party agierte. Zusammen mit einigen weiteren Trotzkisten begann er die Zeitung The Miner herauszugeben, die für eine Rebellion der einfachen Gewerkschaftsmitglieder gegen die bürokratische Führung eintrat. Auf diese Weise zog sich Allen sowohl den Hass der Stalinisten als auch den der rechten Gewerkschaftsbosse zu, was schließlich dazu führte, dass es ihm immer schwerer fiel, Arbeit in den Minen oder auf den Baustellen zu finden. Daran änderte sich auch nichts, als er 1962 aus nicht ganz geklärten Gründen die SLL verließ, zumal er ihr als Sympathisant noch für viele Jahre verbunden bleiben sollte.

Unter diesen Umständen beschloss Jim Allen, es als professioneller Drehbuchautor zu versuchen.
Seine erste Anstellung erhielt er kurioserweise bei Granada Television, für die er von Januar 1965 an Scripts für ihre Soap Opera Coronation Street schrieb. Glücklicherweise schloss er wenig später Bekanntschaft mit dem BBC-Produzenten Tony Garnett. Der gleichfalls aus der Arbeiterklasse stammende Garnett gehörte zu den Schöpfern der Wednesday Plays eines Formats, in dem sich junge und radikale Talente ausprobieren und soziale Fragen sehr viel direkter als bisher üblich anpacken konnten. Er drängte Allen dazu, seinen Coronation Street - Job aufzugeben, wenn er es mit seinem Schriftstellertum wirklich ernst meine. Allen folgte diesem Ratschag, obwohl dies einen Vertragsbruch bedeutete. Sein Einstieg in die Wednesday Plays war das Drehbuch für Jack Golds The Lump (1967), das auf seinen Erfahrungen als Bauarbeiter basierte. Als er bald darauf über Garnett den Regisseur Ken Loach kennenlernte, war dies der Beginn einer langen und fruchtbaren künstlerischen Partnerschaft.
Ihr erstes gemeinsames Projekt war The Big Flame (1969) über streikende Hafenarbeiter, die sich gegen die Autorität der Gewerkschaftsführung auflehnen und unter Führung eines selbsterklärten "Trotzkisten" die Docks von Liverpool besetzen, bis ihre Rebellion von Polizei und Armee niedergeschlagen wird.

Während der gemeinsamen Arbeit am Drehbuch für The Big Flame hatte Allen Tony Garnett mit Gerry Healy bekannt gemacht. Wie der Produzent 2013 in einem Interview erzählt hat:
Through Jim I met dockers in Liverpool and working class people involved in big strikes. I was researching The Big Flame, and I wanted to get it right. That’s when I met Gerry Healy. I didn’t know him personally or much about Trotskyism, but he had the background information I needed and he seemed to be the only person who made sense of anything. I was very impressed by the information Healy gave me and his analysis.
Tony Garnett lud Healy zu den Treffen ein, die der Produzent schon seit einiger Zeit veranstaltete und auf denen über Fragen sozialistischer Politik diskutiert wurde.
Die Kommunistische Partei hatte seit Nikita Chruschtschows "Geheimrede" auf dem XX.Parteitag der KPdSU 1956, in der der Generalsekretär einige der übelsten Verbrechen Stalins eingestanden hatte, und der blutigen Niederschlagung der Ungarischen Revolution im selben Jahr bei vielen britischen Linken stark an Anziehungskraft eingebüßt. Zugleich hatte die Realität der seit 1964 amtierenden Labour-Regierung von Harold Wilson viele der über den sozialdemokratischen Reformismus herrschenden Illusionen zerstört. Ein wichtiger Wendepunkt war der landesweite Streik der Seeleute vom Mai 1966 gewesen, der von Wilson als eine Art "kommunistische Verschwörung" denunziert und mit der Ausrufung des Ausnahmezustands beantwortet worden war. Unter dem Eindruck der sich Ende der 60er Jahre nicht nur in Großbritannien, sondern weltweit verschärfenden Klassenkonflikte suchten viele radikale Arbeiter und Intellektuelle nach neuen politischen Perspektiven.
Gerry Healy muss einen gewaltigen Eindruck auf die bei Garnett versammelten gemacht haben. Der Stücke- und Drehbuchschreiber Trevor Griffiths {am Bekanntesten vielleicht für Reds [1981], Warren Beattys Film über John Reed und Louise Bryant} verewigte dies später in seinem Bühnenstück The Party, das 1973 mit Laurence Olivier in der "healy'esken" Hauptrolle uraufgeführt wurde.* Eine ganze Reihe von ihnen wurden zu Sympathisanten oder sogar zu Mitgliedern der SLL. Zu ihnen gehörten neben Griffiths David Mercer, Roy Battersby und Roger Smith.
     
Allen und Loach setzten ihre Zusammenarbeit 1970/71 mit The Rank and File fort, über den der Autor später allerdings urteilte, der Film sei wohl "zu didaktisch" geraten – "a lantern lecture". 
Als sie sich anschließend daran machten, mit Days of Hope ihr wohl bedeutendstes gemeinsames Fernsehwerk zu schaffen, befand sich Großbritannien in einer Lage, die sich ohne große Übertreibung als vorrevolutionär bezeichnen lässt. Eine unablässige Welle militanter Massenstreiks überrollte das Land, die ihren Höhepunkt im Bergarbeiterstreik von 1974 erreichte, der die Tory-Regierung von Edward Heath zu Fall brachte. Ohne diesen historischen Hintergrund ist die Entstehung von Days of Hope nicht korrekt einzuschätzen. Wie Ken Loach später erklärt hat:
We were really trying to reawaken the memory of that time and to rescue that history. That's something Jim and I have been particularly concerned with in the work we've done together. When people experience political upheaval in the present it always seems as if it comes out of nowhere, but there's always a long struggle that's gone before it, and if we know what happened in the past, we can better understand what's going on now.  
Doch der Sturz der Heath-Regierung erwies sich nicht als die erste Etappe der von so vielen herbeigesehnten Revolution. Vielmehr übernahm einmal mehr die Labour Party das Staatsruder, nur um sich durch ihre arbeiterfeindliche Politik schon bald den Hass breiter Schichten zuzuziehen. Die Folge davon war der Wahlsieg Margaret Thatchers 1979, der eine der reaktionärsten Epochen der jüngeren britischen Geschichte einleitete. Die krasse politische Kehrtwende fand ihren Ausdruck natürlich auch im Bereich der Kultur. Die Film- und Fernsehwelt war einem Künstler wie Jim Allen nicht länger wohlgesonnen. Um noch einmal Ken Loach zu zitieren:  
They were hard times. A script about Ireland was rejected by Channel 4 [television] as being too like a Peckinpah movie. Even the British Film Institute turned him down because "people don't talk like this any more". This from a bunch of arty bureaucrats who would need a translator if they travelled north of Euston.
Jim Allens letzte Arbeiten für die BBC United Kingdom (1981) und Willie's Last Stand (1982) – wurden im Rahmen der Plays for Today, des Nachfolgers der Wednesday Plays, auisgestrahlt. Für den Rest der 80er Jahre musste er sich auf die Theaterbühne zurückziehen. Erst in den 90ern konnte er wieder sein Talent als Drehbuchschreiber unter Beweis stellen, erneut in Zusammenarbeit mit Ken Loach. Nun allerdings nicht fürs Fernsehen, sondern fürs Kino: Gemeinsam schufen die beiden Hidden Agenda (1990), Raining Stones (1993) und Land and Freedom (1995) – eine großartige Abrechnung mit dem Verrat der Stalinisten an der Spanischen Revolution, so etwas wie das filmische Pendant zu George Orwells Homage to Catalonia

Die 60er und 70er Jahre lassen sich in vielerlei Hinsicht als das Goldene Zeitalter des britischen Fernsehens bezeichnen. Die Geschichte der Partnerschaft zwischen Jim Allen und Ken Loach scheint mir Licht auf einen der Gründe hierfür zu werfen.
Nicht dass alle TV-Schaffenden der Zeit revolutionäre Sozialisten gewesen wären. So erstaunlich die Anzahl der Künstler & Künstlerinnen auch ist, die sich in jenen Jahren der SLL annäherten**, bildeten sie natürlich trotzdem eine Minderheit. Auch war die BBC unter der Leitung von General Director Hugh Greene {dem Bruder von Graham Greene} seit 1962 zwar sehr viel offener für die Ambitionen junger und häufig radikalerer Autoren und Regisseure geworden, dennoch hatte sich die Fernsehanstalt selbstverständlich nicht in ein "halbkommunistisches Propagandavehikel" verwandelt, wie konservative Wirrköpfe à la Mary Whitehouse behaupteten. Leute wie Allen und Loach mussten auch in der relativ offenen Atmosphäre, die in der BBC selbst nach Greenes Rücktritt im Oktober 1968 immer noch herrschte, mitunter gegen heftige Widerstände ankämpfen.
Worum es mir geht, ist vielmehr folgendes:
Die 60er und 70er Jahre waren eine Zeit großer kultureller, sozialer und politischer Umbrüche. Doch das allein reicht als Erklärung nicht aus. Schließlich leben auch wir in einer Umbruchszeit, die in mancherlei Hinsicht sogar von sehr viel fundamentalerem Charakter ist. Entscheidend ist vielmehr, wie auf diese Umbrüche reagiert wurde. Viele begannen, einen kritischeren Blick auf die gesellschaftliche Realität zu werfen, zugleich jedoch herrschte eine allgemeine Grundstimmung, derzufolge ein Wandel zum Besseren möglich sei. Die herrschenden Verhältnisse wurden nicht als ewig und unveränderlich angesehen. Dieses Gefühl musste keine konkreten politischen Formen annehmen, es konnte sehr diffus bleiben, aber es war nichts desto weniger vorhanden und beeinflusste das künstlerische Schaffen.
Warum dies so war? Meiner Ansicht spielten zwei Faktoren eine entscheidende Rolle: Zum einen die Existenz einer nach wie vor sehr lebendigen sozialistischen Tradition, die auch jene nicht unbeeinflusst ließ, die sich nicht mit ihr identifizierten. Zum anderen die heftigen und offen ausgetragenen Klassenkämpfe der Zeit, die zugleich den Glauben an die Möglichkeit einer positiven Veränderung stärkten und den grundlegenden Charakter der bürgerlichen Gesellschaft als einer auf Ausbeutung basierenden Klassengesellschaft bloßlegten.

Jim Allen und Ken Loach reagierten darauf mit Filmen, die bewusst politisch und formal naturalistisch waren. Doch es gab auch andere Möglichkeiten, wie ich in meinem nächsten Blogpost zu zeigen versuchen werde. Dann nämlich werden wir uns mit einigen Werken des Drehbuchautors John Bowen beschäftigen, die man mehr oder weniger der Phantastik zuordnen kann. Das prominteste von ihnen wird das Fernsehspiel Robin Redbreast von 1970 sein eines der Gründungswerke des klassischen Folk Horror.





* Healy ist eine äußerst umstrittene Figur in der Geschichte der britischen Arbeiterbewegung, und ich finde es sehr schwierig, mir ein einigermaßen faires Bild von ihm zu machen. Seine zahlreichen politischen Gegner charakterisierten ihn als einen zynischen und brutalen Parteidiktator. Und ohne Zweifel gibt es genug abstoßendes über ihn zu berichten. So nahm das interne Parteiregime der SLL, die sich seit 1973 Workers Revolutionary Party (WRP) nannte, im Verlaufe der 70er Jahre immer autoritärere Züge an, wobei Healy mehr und mehr zum "unfehlbaren Führer" avancierte, der seine zunehmend opportunistische Politik in den verquasten, pseudo-hegelianischen Jargon einer von ihm "entdeckten" Philosophie kleidete. Auch ist der Wahrheitsgehalt der zahlreichen Vorwürfe sexuellen Missbrauchs, die im Verlauf des Zusammenbruchs der WRP 1985 gegen ihn erhoben wurden, nicht wirklich anzuzweifeln. Andererseits war er in den 50er und 60er Jahren einer der politisch prinzipientreuesten Führer innerhalb der Vierten Internationale gewesen.

** David Walsh & David North schreiben in ihrem Nachruf auf Corin Redgrave: "It is worth recalling some of those who gravitated to the SLL: film and television directors Ken Loach and Roy Battersby; writers Jim Allen, Trevor Griffiths, John Arden, Margaretta D’Arcy, David Mercer, John McGrath, Colin Welland, Neville Smith, Tom Kempinski and Troy Kennedy Martin; producers/editors Tony Garnett, Kenith Trodd and Roger Smith; innumerable actors, including the Redgraves, Tony Selby, Jack Shepherd, Frances de la Tour, Malcolm Tierney, David Calder, David Hargreaves, etc.; journalist Francis Wyndham; artist and photographic archivist David King; and countless others. Those who at least participated in theatrical performances or Young Socialist fairs, or lent their names to fund-raising activities, included actors Judy Geeson, Eleanor Bron, Judi Dench, Glenda Jackson, Marty Feldman, Dudley Moore, Suzi Kendall, Helen Mirren, Roy Kinnear and Anthony Booth; poets Adrian Mitchell and Christopher Logue; comic Spike Milligan; singers Annie Ross and Paul Jones (former lead singer of Manfred Mann); rock bands Slade and UB40, among others; harmonica legend Larry Adler; talk show host Michael Parkinson; and so forth."

Freitag, 19. Januar 2018

Strandgut der Woche

Samstag, 13. Januar 2018

Strandgut der Woche

Freitag, 12. Januar 2018

Willkommen an Bord der "Liberator" – S02/E06: "Trial"

Ein Blake's 7 - Rewatch
 
Letzte Woche konnten wir den vierzigsten Geburtstag von Blake's 7 feiern. Nicht dass dieses Jubiläum in den nerdigen Gefilden des Internets besonders große Wellen geschlagen hätte so zumindest mein Eindruck. Doch soll das bloß ein weiterer Anreiz dafür sein, meinen Rewatch der Serie fortzusetzen. Wie zu erwarten war, habe ich ihn natürlich nicht innerhalb eines Jahres beendet wir befinden uns gerade einmal in der ersten Hälfte der zweiten Staffel! , aber das soll mich nicht davon abhalten, auch weiterhin meinen kleinen Beitrag dazu zu leisten, die Abenteuer der Liberator - Crew in der deutschsprachigen Geek-Gemeinde etwas bekannter zu machen. Sie haben es verdient! {Natürlich  bin ich mir bewusst, dass nur eine Handvoll Leute meinen Blog lesen, aber man muss sich ja schließlich irgendwie motivieren ...}

Trial schließt unmittelbar an die Ereignisse von Pressure Point an.
Nicht chronolgisch, denn auch wenn unklar bleibt, wieviel Zeit zwischen den beiden Episoden verstrichen ist, muss es doch mehr als ein paar Tage gewesen sein. Vielmehr beschäftigt sich Trial mit den Auswirkungen dessen, was in Pressure Point geschehen ist. Und das sowohl auf Seiten der Föderation, als auch auf der der Liberator - Crew.

Servalan war in Pressure Point gezwungen, ihr ganzes Prestige in die Waagschale zu werfen, um bei der zivilen Regierung eine Deaktivierung des Sicherheitssystems des vermeintlichen "Control" - Bunkers zu erreichen, da Travis und sie andernfalls nicht in der Lage gewesen wären, Blake und Genossen in das Gebäude zu folgen. Auch wenn der Freiheitskämpfer sein eigentliches Ziel nicht erreichen konnte {was ja von vornherein ausgeschlossen war} und Gan bei der Flucht ums Leben gekommen ist, endete die Episode doch wieder einmal in einer demütigenden Niederlage für die Oberste Befehlshaberin. Da sie fürchtet, dass dies von ihren Gegnern in der Regierung zu ihrem Sturz ausgenutzt werden könnte, hat sie beschlossen, Travis zum Sündenbock zu machen.
Der Commander war schon früher für seine Misserfolge gemaßregelt worden – so wurde ihm am Ende von Project Avalon sein Kommando entzogen –, doch diesmal soll es ihm im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf kosten. Servalan sorgt dafür, dass er vor ein Militärtribunal gestellt wird, das ihn für von ihm begangene Kriegsverbrechen aburteilen soll. Wir wissen aus Seek-Locate-Destroy der Episode, in der Servalan und Travis eingeführt wurden –, dass ein solches Verfahren schon immer wie ein Damoklesschwert über seinem Haupt gehangen hatte und bislang nur durch den Einfluss der Obersten Befehlshaberin verhindert wurde. Deshalb kann niemand Servalan öffentlich vorwerfen, sie habe den Prozess aus politischen Gründen inszeniert. Sie lässt bloß endlich der Gerechtigkeit ihren Lauf. Und der Ausgang steht praktisch von vornherein fest: Ein Todesurteil. Um ganz sicher zu gehen, sorgt sie auch noch dafür, dass Fleet-Warden General Samor (John Savident) den Vorsitz des Tribunals übernimmt, einer der angesehensten Generäle der Flotte, ein Offizier der "alten Schule", dem niemand unterstellen würde, er ließe sich in seinem Urteil durch politischen Druck beeinflussen.
Servalans Gegner aus dem Umfeld des Präsidenten hoffen den Prozess dennoch irgendwie ausnutzen zu können, um die Position der Obersten Befehlshaberin zu schwächen. Und so werden Senator Bercol (John Bryans) und Secretary Rontane (Peter Miles) zum miliärischen Hauptquartier – einer ringförmigen Raumstation, die wir schon mehrfach in der Serie zu sehen bekommen haben  geschickt, wo das Tribunal zusammen tritt. Der Wortwechsel zwischen zwei einfachen Wachsoldaten, die die Ankunft der Politiker beobachten, macht die gespannte Lage deutlich, die zwischen dem zivilen und dem militärischen Flügel der Föderation herrscht. 
Trooper Par: Don't worry about them. Space Command runs the Federation.
Trooper Lye: Reckon so?
 Par: Know so. And we look after ourselves.
Lye: Tell that to the prisoner.
Par: Broke the rules, didn't he?
Lye: Whose rules?
Par: Only ones that matter: ours.
Dieser Konflikt innerhalb des Staatsapparates der Föderation wird später in der Serie noch eine wichtige Rolle spielen.

Die Liberator derweil befindet sich wieder fernab des Sonnensystems im Orbit um einen Planeten, der nach Zens oberflächlicher Analyse unbewohnt sein soll, aber für Menschen akzeptable Umweltbedingungen aufweist. Blake lässt sich von Orac hinunterteleportieren und sorgt gleichzeitig dafür, dass seine Kameraden weder Kontakt mit ihm aufnehmen, noch ihn auf der Oberfläche lokalisieren können.
Auch wenn es eigentlich keinen Grund für ihn geben sollte, sich absetzen zu wollen – abgesehen von seinen möglichen Schuldgefühlen für Gans Tod –, versucht Avon die anderen davon zu überzeugen, dass Blake eben das getan hat, und es für den Rest der Crew nun an der Zeit wäre, endlich einmal an ihre eigenen Interessen zu denken und mit der Liberator das Weite zu suchen. In der Tat ist das Vertrauen der Mannschaft in ihren Anführer durch die Ereignisse von Pressure Point merklich erschüttert worden 
Vila: [Gan] was straightforward, wasn't always expecting to be cheated and double-crossed not like us. He trusted people he trusted Blake completely. 
Jenna: Much good it did him.  
Avon: Welcome back to reality, Jenna.  
Vila: You think he is double-crossing us, Jenna? 
Jenna: I don't know. But you're right about one thing, I'm not like Gan. I don't trust unless I'm trusted in return.
Doch dann entdecken sie eine von Blake aufgezeichnete Botschaft, in der dieser versucht, sein Verhalten zu erklären. Es gehe ihm darum, beiden Seiten Zeit zu geben, um nachzudenken und zu einer Entscheidung zu gelangen:
I almost killed you all. I did kill Gan. For nothing: an empty room, a trick, an illusion. Now I find myself wondering if that's what it's been all along: just a dream. I don't know anymore. I don't know whether we should go on, whether you would even supposing I could ask you to. So, that is what we've got to decide, you and I: where do we go from here?
Avon hält das zwar alles für leeres Geschwätz – "Everything but the self-pity. That was real enough." –, aber der Rest der Crew lässt sich einmal mehr davon überzeugen, dass Blakes Motive edel und selbstlos sind. Worauf das zynische Computergenie sehr pointiert erwidert: "Which only leaves one question to be answered. Is it that Blake has a genius for leadership, or merely that you have a genius for being led?" Und das Ende der Episode wird zeigen, dass er mit seiner Einschätzung des Ganzen möglicherweise gar nicht so falsch liegt.

Blakes Abenteuer auf dem Planeten, der sich rasch als bei weitem nicht so lebensfreundlich entpuppt, wie ursprünglich angenommen,  ist ein exzellentes Beispiel für die wundervolle Bizarrerie, die viele der fremden Welten in Blake's 7 auszeichnet. Claire Lewis ist äußerst charmant in der Rolle der putzigen parasitären Lebensform Zil, die in ständiger Angst davor lebt, von dem "lebenden Planeten" – einer Art gefühllosen Gaia – reabsorbiert zu werden und ihre "Oneness" zu verlieren. 
Als der Planet tatsächlich beginnt, seine Oberfläche von den "Parasiten" zu "reinigen", gerät damit auch Blake in unmittelbare Lebensgefahr. Ein Glück, dass Avon wieder einmal unter Beweis stellt, dass er nicht bloß ein technisches Genie ist, sondern dass er bei aller Abneigung, die er für den fanatischen Freiheitskämpfer empfindet, dennoch nichts unversucht lassen würde, um dessen Leben zu retten. Zusammen mit Cally gelingt es ihm, Blake im letzten Moment auf die Liberator zurückzuholen.

Zur selben Zeit reißt Travis, der zwar ohne Zweifel ein Psychopath, aber nicht dumm ist, und natürlich durchschaut hat, dass Servalan und seine offizielle Verteidigerin Major Thania (Victoria Fairbrother) auf seinen Tod hinarbeiten, die Verhandlung an sich, indem er sein eigenes Plädoyer vorträgt. Er versucht den von ihm befohlenen Massenmord weder zu leugnen noch zu entschuldigen, sondern stellt ihn als eine impulsive Handlung dar, die er ganz aus Instinkt begangen habe. Dieser Instinkt jedoch sei durch seine Ausbildung zum Soldaten und Offizier geformt worden. Wenn Fleet-Warden General Samor und die anderen ihn zum Tode verurteilen, würden sie deshalb auch sich selbst und das ganze System, das sie vertreten, verdammen.

Derweil präsentiert Blake seinen Kameraden das recht erstaunliche Ergebnis seines "In-Sich-Gehens". Die Lektion, die er durch seine Erlebnisse auf dem Planeten gelernt hat, ist offenbar: "I will not surrender to anything" Er gesteht zwar ein, dass er begonnen hatte, an seinen eigenen Mythos der Unbesiegbarkeit zu glauben und dass diese Illusion Gan das Leben gekostet hat. Doch zieht er daraus keineswegs die Lehre, in Zukunft vorsichtiger zu agieren. Oder seine Genossen nicht noch einmal zu belügen. Oder diese von nun an in alle Entscheidungen mit einzubeziehen. Weit gefehlt! Da der missglückte Angriff auf "Control" die Blake - Legende nicht nur in den Augen der Liberator - Crew, sondern auch in denen ihrer Gegner erschüttert hat – "Every Federation trooper, every kill-happy bounty hunter now knows that we are fallible." – sei es das wichtigste, diesen Mythos umgehend wieder herzustellen. Und der beste Weg, um dies zu erreichen, sei ein besonders abenteuerlicher Angriff auf die Föderation. Am besten gleich auf Servalans Hauptquartier!

Ich kann nur widerholen: Avons Einschätzung der Lage klingt immer überzeugender für mich. Doch für den Moment triumphiert einmal mehr Blakes Charisma über die kalte Logik seines Widersachers. 
Dabei ist es besonders ironisch, dass die Attacke auf das militärische Hauptquartier überhaupt erst durch eine neue Erfindung Avons möglich gemacht wird, die die Liberator gegenüber den Sensoren der Föderation weitgehend unsichtbar macht.
Dass der Angriff außerdem dem inzwischen zum Tode verurteilten Travis die Flucht ermöglicht, fügt dem Ganzen eine weitere ironische Facette hinzu.

Trial ist die in meinen Augen bislang beste Episode der zweiten Staffel. Und es wundert mich nicht, dass das Drehbuch für sie von Chris Boucher geschrieben wurde.  
 
 

Sonntag, 7. Januar 2018

Strandgut der Woche

Ein Sowjet-Peplum?

Der alte Kosak Ilja Muromez
Sah: Das war kein geringes Ding.
Einen Tataren Ilja an den Beinen packt,
Schwenkt den Tataren hin und her,
Schlägt mit dem Tataren auf die Tataren ein,
Da ergriffen die Tataren die Flucht vor ihm*

Wer außer mir fühlt sich bei diesen Versen aus dem altrussischen Heldenlied Ilja und Zar Kalin an die Peplums der 50er und 60er Jahre erinnert, jene famosen italienischen Sandalenfilme, in denen bärenstarke Heroen wie Herkules, Maciste oder Samson ihre Widersacher nicht selten auf ganze die selbe Weise durch die Gegend schleudern?

Man ist vermutlich geneigt, anzunehmen, nichts könne dem farbenfrohen Peplum ferner stehen als der stalinistisch sanktionierte sowjetische Film derselben Ära. Doch tatsächlich haben vor allem Alexander Ptuschkos Fantasyepen der 50er Jahre manches gemein mit ihren italienischen Beinah-Zeitgenossen. Natürlich stammen die Helden hier nicht aus dem Sagenkreis der mediterranen Antike, sondern hauptsächlich aus den altrussischen Heldenepen (Bylinen) im Falle der sowjetisch-finnischen Koproduktion Sampo (1959) auch aus der Kalevala , und dem Klima entsprechend rennt keiner von ihnen im Lendenschurz durch die Gegend, aber wenn der Titelheld in Ilja Muromez (1956) einen riesigen Felsblock durch die Gegend wuchtet oder einen der Schergen des bösen Zaren Kalin kurzerhand von den Füßen reißt und kopfunter durchschüttelt, fühlt man sich doch ein bisschen an Herkules, Maciste & Co erinnert.

Aber bevor wir uns diesen Streifen etwas genauer betrachten, wollen wir einen kurzen Blick darauf werfen, wie sich die offizielle Position von Partei & Staat in der UdSSR zu den überkommenen Stoffen aus Märchen und Sage entwickelt hatte. Ist dies doch der Kontext, in dem man die Produktion von Ptuschkos phantastischen Filmen zu sehen hat.

Im ersten Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution hatte eine solche offizielle Parteilinie nicht existiert.
Wie in den meisten Bereichen des sowjetischen geistigen und kulturellen Lebens hatte es in den 20er Jahren auch in der Folkloristik einen lebendigen und offenen Wettstreit zwischen unterschiedlichen Denkrichtungen gegeben. Neben der an vorrevolutionäre Traditionen anknüpfenden "historischen Schule", deren führende Vertreter S.K. Schambinago, M.N. Speranski und die Brüder Boris & Juri Sokolow waren, standen die "finnische" bzw. "historisch-geographische" und die formalistische Schule. Vor allem die Formalisten standen dem Marxismus zwar denkbar fern, doch hatten auch sie unter keinen staatlichen Restriktionen zu leiden.
Zur selben Zeit hatten die Vertreter der RAPP (Russische Vereinigung Proletarischer Schriftsteller) und des Proletkult (Proletarische Kulturbewegung) einen wahren Feldzug gegen die Folklore eröffnet, in der sie bloß ein reaktionäres Überbleibsel der Vergangenheit erblickten, das es schnellstmöglich auszurotten gelte. So hatten sie u.a. versucht, das Märchen aus der Kinderliteratur zu verbannen. Schließlich hieß der Held da gar zu oft "Iwan Zarewitsch". Wenn es darum ging, pseudoradikale und simplistische Ideen zu entwickeln, war auf die Bannerträger der "proletarischen Kultur" stets Verlass.
Als die stalinistische Bürokratie in der zweiten Hälfte der 20er Jahre begann, ihre absolute Kontrolle über alle Bereiche des sowjetischen Lebens zu konsolidieren, bediente sie sich der RAPP, um die Literarur ihrer Herrschaft dienstbar zu machen und in ein bloßes Propagandawerkzeug zu verwandeln. Von 1929 bis 1932 wurden deren Ideen zur quasi-offiziellen Doktrin. Als das ZK 1932 die Auflösung aller unabhängigen Schriftstellerverbände befahl, fiel dann allerdings auch die RAPP in Ungnade und wurde in der Folge zum Sündenbock für alle möglichen "Exzesse" und "Abweichungen" der vorangegangenen Jahre gemacht, zu denen auch die unterschiedlose Verdammung der Folklore gehörte.
Das weitere Schicksal der Märchen, Sagen und Heldenepen war aufs engste verknüpft mit der Wiederbelebung des großrussischen Nationalismus, die zentraler Bestandteil der reaktionären Kehrtwende war, welche die stalinistische Führung Mitte der 30er Jahre in allen Bereichen der Kultur vollzog. 
Der altgediente Agitprop-Dichter Demjan Bedny bekam dies 1936 auf bittere Weise zu spüren, als er ein neues Libretto für Alexander Borodins romantische Oper Bogatyri (Die Recken) verfasste, in dem er die waffenklirrende Herrlichkeit der alten Ritter und Helden verspottete. Molotow soll nach der Premiere wutentbrannt erklärt haben: "Eine Schande! Die Recken waren große Männer!"** Die Operninszenierung wurde umgehend vom Spielplan genommen und nur durch jahrelange rückgratlose Kriecherei konnte sich der Dichter das Wohlwollen Stalins schließlich zurückerobern.
Die Bylinen galten von nun als "patriotische Dichtungen". Zugleich wurden sie einer populistischen Neuinterpretation unterzogen. Die Folkloristen der "historischen Schule", die in den 20ern manch Elemente des Marxismus aufgegriffen hatten, sahen in den Heldengesängen {wohl nicht ganz zu Unrecht} ein künstlerisches Produkt der feudalen Aristokratie und ihrer Gefolgschaften (Druschina), das erst später in die bäuerlichen Massen "herabgesickert" sei. Eine solche Sichtweise war nun nicht länger akzeptabel, und die betreffenden Wissenschaftler wurden dementsprechend gemaßregelt. Stattdessen griff man auf die "völkischen" Vorstellungen der deutschen Romantik zurück und erklärte die Bylinen zusammen mit dem ganzen Rest der Folklore zu Schöpfungen des kollektiven "Volksgeistes", dem man zur "kommunistischen" Einsegnung rasch noch das Attribut "werktätig" hinzufügte. Dabei konnten die Stalinisten leider einmal mehr den alten Maxim Gorki als ihren "Literaturpapst" missbrauchen. Hatte dieser in seiner Rede auf dem Ersten Allunionskongress des Sowjetischen Schriftstellerverbandes 1934 doch gesagt:

Noch einmal möchte ich Sie daran erinnern, Genossen, dass die bedeutendsten und markantesten, künstlerisch vollkommensten Typen von der Folklore, dem mündlichen Schaffen des arbeitenden Volkes, hervorgebracht wurden. Herkules, Prometheus, Mikula Seljaninowitsch, Swjatogor, ferner Doktor Faust, die weise Wassilissa, der ironisch gestaltete Glückspilz Iwan der Trottel und schließlich Petruschka, der den Doktor, den Popen, den Polizisten, den Teufel und sogar den Tod besiegt -- sie alle sind vollkommene Gestalten, bei deren Schöpfung Ratio und Intuition, Gedanke und Gefühl harmonisch miteinander verschmolzen.***
Der gute Gorki war schon immer ein Romantiker gewesen. Und gerade das macht ihn in vielem sympathisch. Für eine Autorität im Bereich der historischen Literaturwissenschaft sollte man ihn jedoch lieber nicht halten. Nicht unerwähnt bleiben soll allerdings, dass von allen Recken des Kiewer Bylinen - Kreises Ilja Muromez noch am ehesten in dieses völkisch-romantische Bild passt, ist er doch ohne Zweifel bäuerlicher Herkunft und gerät mehr als einmal in Konflikt mit Fürst Wladimir, dem russischen König Artus.

Der aus der Ukraine stammende Regisseur Alexander Ptuschko hatte seine ersten großen Erfolge im Bereich des Animationsfilms feiern können. Seine beeindruckendste Leistung war dabei wohl Der neue Gulliver (1933) gewesen, in dem Kinderdarsteller Wladimir Konstantinow mit ganzen Heerscharen von Stop-Motion-Figuren interagiert. In der Folge hatte er sein eigenes Stop-Motion-"Kollektiv" bei Mosfilm aufgebaut, das sich in erster Linie auf Märchenstoffe konzentrierte.
Der Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion 1941 führte zu einem deutlichen Bruch in Ptuschkos Laufbahn. Er wurde zusammen mit einem Großteil der sowjetischen Filmindustrie nach Kasachstan evakuiert, wo er zwar weiterarbeitete, aber keine eigenen Filme mehr drehte.
Als er nach dem Ende des Weltkriegs erneut auf dem Regiestuhl Platz nahm, wandte er sich zwar wieder phantatischen Stoffen zu, diesmal jedoch im Realfilm. Seine Meisterschaft der Stop-Motion-Technik kam ihm dabei natürlich auch weiterhin zu Gute. Ilja Muromez (1956) war nach der Steinernen Blume (1949) und Sadko (1952) sein drittes Werk in dieser zweiten Schaffensphase.
Auch wenn der Film ein gutes Jahrzehnt nach dem Ende des Krieges entstand, scheint es mir wichtig, das furchtbare Gemetzel, dem Abermillionen Sowjetbürger und -bürgerinnen zum Opfer gefallen waren und das einen entsprechend tiefen Eindruck im gesellschaftlichen Bewusstsein hinterlassen hatte, als Hintergrund mit in Betracht zu ziehen, wenn man sich Ilja Mumorez anschaut. Der heroische Widerstand der Bevölkerung gegen die Naziinvasoren war in der offfiziellen Propaganda zum "Großen Vaterländischen Krieg" verklärt und damit aufs engste mit der Wiedergeburt des großrussischen Nationalismus verbunden worden. Hieran knüpft Ilja Mumorez an, denn die Verteidigung der "Heimat", des geliebten "Mütterchens Russland" ist das zentrale Motiv des epischen Streifens.

Der Film beginnt mit dem riesenhaften Recken Swjatogor, der dabei ist, die Erde, die eine mythische Gestalt wie ihn nicht länger zu tragen vermag, zu verlassen. Doch bevor sich er und sein Pferd in einen Teil des Kaukasus-Gebirges verwandeln, übergibt er sein Schwert einer Gruppe wandernder Sänger mit dem Auftrag, einen Helden zu suchen, der würdig ist, es in seiner Nachfolge zu führen.
Derweil wird das Dorf Karatscharowo von den bösen Tungaren/Tataren überfallen. Ilja (Boris Andrejew) muss hilflos mitanschauen, wie seine geliebte Wassilissa (Ninel Myschkowa) von den asiatischen Kriegern entführt wird, denn auch wenn er "den Körper eines Riesen" besitzt, ist es ihm seit seiner Geburt unmöglich, seine Glieder zu bewegen.
Wenig später tauchen die Sänger in der Siedlung auf, erkennen in Ilja den gesuchten Helden, verabreichen ihm einen magischen Heiltrunk und übergeben ihm Swjatogors Schwert.. Von seinem Fluch befreit und mit übermenschlichen Kräften gesegnet, beschließt der Bauernsohn, nach Kiew an den Hof des Fürsten Wladimir zu ziehen, um als Recke für die Verteidigung der russischen Heimat zu kämpfen. Von einem Nachbarn**** erhält er ein Fohlen, das auf wundersame Weise in drei Tagen zu einem Streitross heranwächst.  
Auf dem Weg nach Kiew begegnet Ilja Muromez dem monströsen Räuber Nachtigall, dessen Pfeifen einem Sturmwind gleicht, und bezwingt ihn. Am Hof von Fürst Wladimir (Andrei Abrikosow) angekommen, gerät er zuerst in einen kurzen Streit mit dem jungen, draufgängerischen Recken Aljoscha Popowitsch (Sergei Stoljarow), der ihn aufgrund seiner bäuerlichen Herkunft etwas spöttisch und herablassend behandelt. Doch nachdem Ilja den gefangenen Nachtigall vorgeführt und damit sein Heldentum unter Beweis gestellt hat, kommt es unter Vermittlung des alten Kriegers Dobrynja Nikititsch (Georgi Djomin) rasch zur Versöhnung und zum Bruderschwur der drei Recken.
Als wenig später ein Gesandter des Tugaren-Zars Kalin in Kiew eintrifft eine zu monströser Größe angeschwollene Gestalt, die auf einem von Sklaven getragenen Schild hockt und die Tributforderungen seines Herrn überbringt, zögert Ilja nicht lange und erschlägt den anmaßenden Gesellen.***** Diplomatie gehört offensichtlich nicht zu den Talenten unseres Helden, was sein Ansehen beim Volk von Kiew jedoch nur noch steigert. Freilich hat er sich mit dem feigen und verräterischen Mischatychka (Sergei Martinson) auch schon sofort einen Feind am Hofe gemacht.
Als Fürst Wladimir unseren Helden auf einen entfernten Grenzposten schickt, belohnt das Schicksal ihn damit, eine Gelegenheit zu erhalten, seine geliebte Wassilissa aus den Klauen der Tungaren zu befreien.
Das Glück der beiden ist freilich nicht von langer Dauer, denn aufgrund von Mischatychkas Machenschaften landet die nunmehr schwangere Schönheit alsbald schon wieder in der Gefangenschaft von Zar Kalin (Schukur Burchanow). In der Folge beschließt der böse Tyrann, den kleinen Sokolnitschek an Sohnesstatt anzunehmen. Iljas und Wassilissas Kind wächst in wenigen Jahren zu einem unvergleichlichen Krieger (Alexander Schworin) heran, vergisst darüber jedoch seine wahre Herkunft.
Derweil ist Ilja Muromez nach Kiew zurückgekehrt, wo Mischatychka dafür gesorgt hat, dass er beim Fürsten Wladimir in Ungnade gefallen ist und als vermeintlicher Rebell in den Kerker geworfen wurde, woraufhin Aljoscha Popowitsch und Dobrynja Nikititsch den Hof verlassen haben.
Doch als Zar Kalin seine unermesslichen Heerscharen gegen Russland {Rus}****** in Bewegung setzt, muss der Kiewer Herrscher einsehen, dass sein Reich ohne die drei Recken dem sicheren Untergang geweiht ist.

Zuerst einmal die Schwachpunkte des Films: Das patriotische Pathos kann mitunter schon etwas auf die Nerven gehen. Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft die "russische Heimat" beschworen wird, die es gegen die heidnischen Barbaren zu verteidigen gelte.*******
Regelrechte Actionszenen scheinen nicht Alexander Ptuschkos Stärke gewesen zu sein. Oder vielleicht hatte Hauptdarsteller Boris Andrejew einfach nicht das Zeug dazu, einen Kampf Mann gegen Mann glaubhaft rüberzubringen, weshalb man auf solche Szenen lieber verzichtete. Mitunter wirkt es beinah so, als wären die entsprechenden Sequenzen aus dem Film herausgeschnitten worden: Wir bekommen den Beginn eines Kampfes zu sehen und springen dann völlig abrupt zu dessen Ende. Sehr merkwürdig ...
Die Handlung selbst wirkt mitunter seltsam sprunghaft. Was sich zum Teil dadurch erklären lässt, dass das Drehbuch sich alles in allem überraschend eng an den alten Heldenliedern orientiert, die gleichfalls episodischen Charakter tragen. Die altrussische Heldenepik hat meines Wissens nach kein einziges wirkliches "Epos" wie die Ilias, das Ramayana, den Gesar oder das Nibelungenlied hervorgebracht. Von Drehbuchschreiber Michail Kochnjew hinzugefügte Figuren wie Wassilissa und Mischatychka dienen dazu, die Episoden zu einer durchgehenden Handlung zusammenzubinden, können den ursprünglichen Charakter aber nicht gänzlich verschleiern.
Diese erstaunliche Quellentreue entschuldigt bis zu einem gewissen Grad auch, dass keine der Figuren über irgendeine nennenswerte menschliche Tiefe oder Komplexität verfügt. Schade ist es dennoch, dass z.B. Iljas "Reckenbrüder" recht blasse Gestalten bleiben. So wird zwar anfangs das Motiv einer Liebesaffäre eingeführt, die der draufgängerische Aljoscha Popowitsch mit einem Edelfräulein unterhält, wovon deren Eltern gar nicht begeistert sind. Doch löst sich dieser Handlungsstrang schon bald in Wohlgefallen auf und wird nicht noch einmal aufgegriffen.

Auch die eher burlesken Elemente des Films lassen sich übrigens auf die alten Heldenlieder zurückführen. So etwa  wenn am Ende der bezwungene Zar Kalin kurzerhand in einen Sack gestopft und von den Recken davongetragen wird. Was einen eigenartigen Kontrast zu den recht grausigen Toden bildet, die seine beiden engsten Berater zu erleiden haben. Diese werden auf Lanzen aufgespießt und über dem Schlachtgetümmel regelrecht zur Schau gestellt. 

In einem Punkt weicht Ptuschkos Film allerdings sehr deutlich von seinen Quellen ab: Der Kampf zwischen Vater und Sohn ist ein in der Heldenepik weitverbreitetes Motiv. In Irland haben wir Cú Chulainn und Connla, im persischen Shahnahmeh Rostam und Sohrab, in der germanischen Überlieferung Hildebrand und Hadubrand. Und das sind nur die bekanntesten. In ihrer klassischen Form endet diese Konfrontation stets mit dem Tod des Sohnes. Und die altrussischen Bylinen folgen in ihrer Schilderung des Kampfes zwischen Ilja Muromez und seinem Sprössling ganz dieser Tradition.******** Ptuschko hingegen gibt der Begegnung eine glückliche Wendung. Der Film endet gar mit der Übergabe von Swjatogors Schwert an Sokolnitschek, der damit die Rolle seines Vaters als Verteidiger Russlands übernimmt.

Eine der sympathischeren Facetten von Ilja Mumorez ist das wenig schmeichelhafte Bild, das der Film von den Bojaren, Fürst Wladimirs mächtigsten Vasallen, zeichnet. Keiner von ihnen ist ein regelrechter Verräter wie der böse Ratgeber Mischatychka, aber sie alle empfinden wenig Sympathie für den plebejischen Ilja und streiten sich lieber über konkurrierende Besitzansprüche an Ländereien, Forsten und Flüssen, anstatt die Verteidigung ihrer Heimat gegen Zar Kalin zu organisieren.********* Als positiver Gegenentwurf erscheint der Handwerker Rasumey (Michail Pugowkin), der widerrechtlich Holz aus den Waldungen der Bojaren entwendet, um Waffen zum Kampf gegen die Feinde herzustellen. In die finale Schlacht greift er entscheidend mit den von ihm entwickelten Ballisten ein.

Es wird behauptet, Ilja Muromez sei bis heute der Rekordhalter in der Anzahl von Statisten und Pferden, die die Leinwand bevölkern. Ob dies stimmt, weiß ich nicht, aber die Szenen, in denen wir Zar Kalins Heer nach Kiew marschieren sehen, hinterlassen in der Tat einen Eindruck, der dem in der Byline beschriebenen sehr nahe kommt:

Herbeigezogen war eine Macht so groß,
 Dass vom Geschrei der mächtigen Menschenschar  
Und vom lauten Gewieher der Pferde all 
Das menschliche Herz bekümmert ward. 
Der alte Kosak Ilja Mumorez 
Ritt hin durch die Weite des blachen Felds, 
Sah aber kein Ende der Heeresmacht. 
Er sprengt' einen hohen Berg hinan, 
Sah um sich nach allen vier Seiten hin, 
Schaut' auf die feindliche Heeresmacht, 
Doch konnt er kein Ende der Macht erschaun.  
Und um wieviel beeindruckender sind diese kurzen Szenen als all die computergenerierten Heerscharen, denen wir seit Peter Jacksons Lord of the Rings im Kino begegnen.

Doch ist es in erster Linie nicht das wahrhaft epische Ausmaß seiner Massenszenen, was Ilja Mumorez zu einem visuell atemberaubenden Film macht. Es ist die berückende Schönheit der Cinematographie. Der Streifen war der erste sowjetische Film im Breitbildformat, und Ptuschko nutzt diese technische Neuerung zur Erschaffung gewaltiger Panoramabilder, wobei er gleichzeitig eine quasi-malerische ästhetische Sensibilität unter Beweis stellt.
Nicht ohne Grund hat Mario Bavas Biograph Tim Lucas Parallelen zwischen dem Werk des sowjetischen Filmemachers und dem des italienischen Maestros gezogen. Wie bei Bava wirken auch bei Ptuschko manche Einstellungen wie filmgewordene Gemälde. Oder um den Namen eines anderen Großmeisters in Spiel zu bringen: In einer Szene sehen wir ein von Leichen übersätes Schlachtfeld, während im Hintergrund ein Trupp berittener Krieger entlangzieht – schwarze Silhouetten gegen den weiten Himmel. Augenblicklich fühlte ich mich an Akira Kurosawas Kagemusha erinnert.
Dabei schafft Ptuschko immer wieder höchst eigenwillige Bilder, wie den gewaltigen Berg aus lebendigen Menschen, den Zar Kalin hinaufreitet, um das Schlachtfeld zu überblicken.
Und auch wenn der finale Auftritt des dreiköpfigen Drachen Smei Goryny nicht an das heranreicht, was Ray Harryhausen zwei Jahre später in The 7th Voyage of Sinbad (1958) auf die Leinwand zaubern würde, ist er doch ein neckisches Ungeheuer, das den drei Recken und Sokolnitschek außerdem die Gelegenheit für einen letzten gemeinsamen Kampf bietet. Sehr schön fand ich übrigens, dass sich die Krieger dabei immer mal wieder mit Eimern voller Wasser überschütten lassen, um gegen die gewaltige Hitze des Drachen ankommen zu können.

Alles in allem ist Alexander Ptuschkos Ilja Muromez vielleicht kein Meisterwerk des phantatischen Kinos, aber doch ein Film, den ich allen Freunden & Freundinnen etwas altmodischer Fantasy wärmstens ans Herz legen kann. Dabei sollten sie jedoch tunlichst einen großen Bogen um die von Roger Corman kreierte, gekürzte und umgeschnittene amerikanische Fassung machen, die 1960 unter dem Titel The Sword and the Dragon in die Kinos gelangte. Zumal Mosfilm eine restaurierte und mit englischen Untertiteln versehene Originalversion auf Youtube zugänglich gemacht hat.    


* In: Ilja und der Räuber Nachtigall. Bylinen. S. 108f.
** Vgl.: Jürgen Rühle: Theater und Revolution. S. 101.
*** Maxim Gorki: Die sowjetische Literatur. In: Wie ich schreibe. Literarische Porträts, Aufsätze, Reden und Briefe. S. 566.
**** Wikipedia identifiziert den Nachbarn mit Mikula Seljaninowitsch, einem bäuerlichen Recken aus dem Nowgoroder Bylinen - Kreis. Ich kann mich nicht erinnern, dass der Name im Film tatsächlich fällt. Es gibt jedoch Überlieferungen, nach denen Iljas Reckenross in der Tat ein Nachkomme von Mikulas berühmtem Pferdchen sein soll. Auch passt das Bild des pflügenden Bauern ikonographisch gut zu dem Nowgoroder Helden. 
***** Gut möglich dass die Gestalt des Gesandten von "Idolischche Poganoje", dem riesenhaften "Götzenmann", inspiriert wurde. In der entsprechenden Byline prahlt dieser gegenüber Ilja Muromez: "Und ich ess zu jeder Mahlzeit soviel Brot,/ Wieviel drei Backöfen fassen,/ Und ich trinke dazuu drei Eimer voll,/ Jeweils drei Eimer voll grünen Weins,/ Und in meiner Kohlsuppe steckt immer ein ganzes Kalb, ein russisches."   
****** Ob die Kiewer Rus als "russisch" oder als "ukrainisch" einzuschätzen ist, mögen die konkurrierenden Nationalisten der beiden Länder unter sich ausmachen. Ich halte solche Fragestellungen für absurd und ahistorisch.
******* Die alten Heldenlieder enthalten freilich nicht selten tatsächlich ein protonationalistisches, mit der Idee des "Heiligen Russland" verknüpftes Element.
******** Interassenterweise existitiert eine Variante, in der es Ilja mit einer amazonenhaften Tochter zu tun bekommt. Der Ausgang ist allerdings derselbe.
********* Ein wenig hat mich diese Szene an die unter Stalin populär gewordene Interpretation der Herrschaft Iwans des Schrecklichen erinnert, dessen brutales Vorgehen gegen die alten Bojaren mit ihren feudalen Partikularinteressen als ein progressiver Schritt in der Geschichte Russlands interpretiert wurde. Der sowjetische Diktator sah sich selbst wohl als eine Art moderner Iwan Grosny.