"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Montag, 27. März 2023

Let Me Tell You Of The Days Of High Adventure

Raven - Swordsmistress of Chaos von Richard Kirk

Ich bin in der Vergangenheit schon mehrfach darauf zu sprechen gekommen, dass ab Mitte der 70er Jahre neben den geläufigen männlichen Protagonisten vermehrt Heldinnen in der Sword & Sorcery auftauchten. Dabei habe ich diese Entwicklung, die ihren Höhepunkt in der ersten Hälfte der 80er erreichte, insgesamt als progressiv und emanzipatorisch eingeschätzt und mit den politischen und kulturellen Veränderungen der Zeit, vor allem dem Second Wave - Feminismus, in Verbindung gebracht.

 
Dass es auch anders geht, beweist Raven!
 
Schuld daran, dass ich mit ihr Bekanntschaft geschlossen habe, ist der famose Pulp Librarian. Der hatte nämlich vor einiger Zeit auf Twitter das Cover eines der Bände gepostet. Welches genau weiß ich nicht mehr, ist aber auch nicht wirklich wichtig, denn wenigstens vier der fünf Illustrationen von Chris Achilleos zeigen die Heldin entweder barbusig oder gleich ganz nackt. Für sich genommen sagt das bei dieser Ära und diesem Subgenre zwar noch nichts über den Inhalt aus. Tanith Lees Birthgrave z.B. erging es ähnlich. Aber mein spontaner Eindruck war dennoch: Wow, das schaut nach echt üblem Sword & Sorcery - Schund aus! Und da ich nicht mehr ganz nüchtern war, begab ich mich allsogleich auf ZVAB und siehe da -- alle fünf Bücher waren in deutscher Übersetzung für ein paar Euros zu haben. Wie hätte ich da widerstehen können?
 
Dass sich "Richard Kirk" als ein Pseudonym entpuppte, hat mich nicht wirklich überrascht. Tatsächlich verbergen sich hinter dem Namen gleich zwei britische Schriftsteller. Und zumindest Angus Wells scheint Zeit seines Lebens ein klassischer Pulp-Hack gewesen zu sein, der eine Unzahl an Genre-Romanen fabriziert hat -- hauptsächlich Western und nicht selten in Kooperation mit anderen Autoren.  Als "Ian Evans" war er außerdem für die Novelization des TV - Camp - Klassikers Star Maidens (Die Mädchen aus dem Weltraum) verantwortlich. Nicht erwartet hatte ich allerdings, dass der zweite im Bunde niemand anderes als Robert Holdstock war. Dessen Mythago Wood (1984) habe ich selbst zwar nie gelesen, aber allgemein gilt das Buch ja wohl schon als ein Klassiker der 80er Jahre - Fantasy, meilenweit entfernt von sexploitation-lastigem S&S - Trash. Doch in den 70ern trieb sich Holdstock offenbar häufiger in Pulp-Gefilden herum. Sei es als "Chris Carlsen" mit der Clonan-Reihe Berserker (1977-79) oder als "Robert Black" mit Novelizations von Tyburn - Flicks wie The Legend of the Werewolf (1976) oder den nie produzierten Satanists (1977). Und auch später war er sich nicht zu gut dafür, nebenbei als "Robert Faulcon" etwas Geld mit dem Schreiben der "okkulten" Night Hunter - Serie (1983-89) hinzu zu verdienen. Nicht als ob daran irgendetwas ehrenrührig wäre.
 
Aber genug des Vorgeplänkels. Werfen wir einen Blick in den ersten, 1978 erschienen Band Raven - Swordsmistress of Chaos (Raven - Die Schwertmeisterin). 
 
Das Buch beginnt mit einem Prolog, in dem ein alter, namenloser Wanderer bei irgendeinem ärmlichen Völkchen an einer sturmgepeitschten Meeresküste Unterschlupf für die Nacht gefunden hat und seinen Gastgebern am abendlichen Feuer von der legendären Kriegerin Raven erzählt, an deren Seite er einst in den Kampf gezogen sei. 
Diese Rahmenstruktur findet sich in allen fünf Bänden. Und ich muss sagen: sie hat mir ziemlich gut gefallen. Was wir in der Folge zu lesen bekommen, ist also eine Lagefeuergeschichte, unsere Heldin eine Figur, die längst dabei ist, zu einer Gestalt des Volksmythos zu werden. Was ich cool finde.
Weniger cool wirkten auf mich hingegen die Sun Tsu - mäßigen Aphorismen (aus den "Büchern von Kharwhan"), die den einzelnen Kapiteln vorangestellt sind. Nicht nur klingen sie meist furchtbar pseudo-tiefgründig, sie haben auch nie viel mit dem Inhalt des jeweiligen Kapitels zu tun.
 
Wie bei Geschichten dieses Typs nicht unüblich, setzt die eigentliche Handlung in medias res ein: Junges Mädchen entflieht nächtens den Mauern von Lyand und der Sklaverei. Dicht gefolgt von einem Rudel blutgieriger Hunde. Schon scheint alles verloren, als ein großer schwarzer Vogel aus der Finsternis herabgestoßen kommt und ihre Verfolger zerfetzt. Zu Tode erschöpft sinkt die Flüchtende zu Boden und in einen tiefen Schlaf. 
Ja, der Vogel wird später ihr Namenspatron und ist Symbol für ihre geheimnisvolle "Bestimmung". Warum er sie nicht auch davor bewahrt, am nächsten Morgen gleich wieder einer Karawane von Sklavenhändlern in die Hände zu fallen? Wer weiß? Jedenfalls ist dem Anführer besagter Karawane damit die Möglichkeit gegeben, gleich mal auf das "goldene Haar" und die "schwellenden Brüste" unserer Heldin zu sprechen zu kommen, denn selbstverständlich will der fiese Eunuch sie als Haremssklavin an irgendeinen dekadenten Despoten verschachern. Doch soweit kommt's nicht, denn alsbald schon galoppiert ein wilder Räubertrupp aus der Wüste heran und macht kurzen Prozess mit den Sklavenhändlern. Anführer der Schar ist ein Mann namens Argor, doch der schwarzgewandete Spellbinder (yep, der Typ *ist* ein Zauberer) hat hier offenbar auch eine Menge zu sagen und stellt unsere Heldin unter seinen persönlichen Schutz.
Im Lager der Briganten angekommen, erwarten sie eine luxuriöse Badewanne und jede Menge neuer Klamotten. Und uns die erste Demonstration der hemmungslosen Sexualisierung der Protagonistin. Was ironischerweise auch noch durch ihre eigenen Augen geschieht:
Sie wählte ein Kleid aus schwarzer Seide, das sich eng an die Formen ihres Körpers schmiegte und die Fülle ihrer Brüste und die weiche, klare Linie ihrer Hüften betonte. Es war ärmellos und sie schob eine silberne Spirale auf ihren Oberarm, die zu einem schweren Armband an ihrem linken Handgelenk paßte. Ein schmaler Gürtel aus Platingliedern wand sich um ihre Hüften und sie schlüpfte in kleine schwarz-silberne Sandalen. Ihr Haar ließ sie offen herunterhängen, so daß es in goldenen Wogen über ihre Schultern fiel. Als sie fertig war, prüfte sie ihre Erscheinung in einem großen Spiegel aus poliertem Silber und wunderte sich über das Ergebnis. Ihr Spiegelbild zeigte ihre eine Frau in der ersten Blüte der Weiblichkeit, wenig mehr als ein Mädchen, aber wohl geformt und sinnlich; eine Frau, die das Auge eines Mannes erfreuen konnte.
Zugleich ist diese Passage ein ganz gutes Beispiel für die mitunter etwas ermüdende Art, in der der Text Details von Kleidung, Assecoires und später Bewaffnung aufzählt. Erst recht, wenn man bedenkt, dass unsere Heldin dieses Kostüm nur für eine einzige Szene tragen wird.
 
Es wird vermutlich niemanden überraschen, dass die Hintergrundsgeschichte von Raven, die sie wenig später Spellbinder erzählt, einem der gängigsten Klischees der Zeit entspricht: Sie ist ein Opfer sexueller Gewalt. Und als wäre das noch nicht genug, wurde ihre Mutter auch noch im Zuge einer Massenvergewaltigung durch eine ganze Horde von Soldaten getötet. 
Das prominenteste Beispiel für dieses Klischee in der Sword & Sorcery der 70er Jahre war ohne Zweifel Roy Thomas' Version von Red Sonja. Aber zugleich gab es auch schon sehr deutliche Kritik an ihm. Jessica Amanda Salmonson wird nicht allein gewesen sein, wenn sie in ihrer Anthologie Amazons!, die ebenfalls 1978 auf den Markt kam, schreibt: "Ich persönlich finde den Gedanken, daß man Frauen erst einmal vergewaltigen muß, damit sie die Wandlung vom 'Opfer' zum 'Kämpfer' vollziehen können, nicht gerade einnehmend". Und als Marion Zimmer Bradley 1984 begann, ihre Antho-Reihe Sword and Sorceress zu veröffentlichen, war die explizite Darstellung von Vergewaltiung eine der drei No-Go-Regeln, die die Herausgeberin aufstellte.* 
Vielleicht sollten wir dankbar dafür sein, dass wir eine solche auch hier nicht antreffen. Doch das ist ein geringer Trost.
 
Für die Dauer dieses ersten Romans bleibt das Verlangen nach Rache an ihrem Vergewaltiger Karl ir Donwayne, dem Schhwertmeister von Lyand, jedenfalls Ravens "offizielle" Hauptmotivation. Aber der eigentliche Handlungsverlauf wird sehr viel weniger von ihr als vielmehr von Spellbinder bestimmt. Der erkennt in ihr die Auserwählte, "Raven Zeitenwender", deren Kommen in "den Büchern" prophezeit wurde. Wie ihre Bestimmung genau aussieht, verrät er allerdings nicht. Überhaupt ist er sehr knauserig, wenn es darum geht, Informationen zu teilen. Ein ums andere Mal vertröstet er unsere Heldin auf "später", wenn der "richtige Zeitpunkt" dafür gekommen sei. Der dann nie kommt. Auch beweist er ein besonderes Geschick darin, Gespräche von Themen wegzulenken, über die er nicht zu reden gewillt ist. Spellbinder wirkt deshalb nicht nur ziemlich manipulativ, er raubt Raven damit auch ein Gutteil ihrer Agency, denn letztenendes folgt sie meistens seinen kryptischen Anweisungen. Was natürlich dem oberflächlich postulierten Prinzip der "selbstbestimmten Heldin" etwas entgegenläuft. Der Fairness halber sei aber hinzugefügt, dass Raven selbst sich mehrfach fragt, ob sie von Spellbinder manipuliert wird. Und schließlich ist sie in dieser ersten Erzählung noch sehr jung und unerfahren. Ich halte es für durchaus möglich, dass sich die Beziehung der beiden im Laufe der Serie verändert und Raven dabei eigenständiger wird. 
 
Zuerst einmal muss Raven aber ohnehin eine strenge Ausbildung zur Kriegerin unter der Anleitung des Brigantenführers Argor durchlaufen. Was mir durchaus gefallen hat. Es reicht nicht, Raven ein Schwert in die Hand zu drücken , um sie zur Sword & Sorcery - Heldin zu machen. Vorher müssen jede Menge Schweiß und sicher auch etwas Blut vergossen werden. Die Auflistung all der Waffen, in deren Gebrauch sie dabei unterrichtet wird, hat zwar etwas leicht fetischistisches an sich. Aber der realistische Touch, den die Geschichte damit bekommt, ist nett. Insgesamt dauert es ein Jahr, bis Raven zu einem vollwertigen Mitglied der Bande geworden ist, derweil Spellbinder sich wer weiß wo rumtreibt.
 
Kaum ist dieser zurückgekehrt, wird es Zeit für die erste Sexszene. Von den dreien, mit denen uns das Buch beglückt, ist diese sicher die "unproblematischste". (Wenn man nicht zu lange darüber nachdenkt, wie alt Raven zu diesem Zeitpunkt eigentlich sein soll). Dass sich unsere Heldin kurz zuvor noch gefragt hat, ob Spellbinder sie möglicherweise mit irgendeinem Zauber belegt hat, ist zwar schon etwas creepy. Aber in der Folge deutet nichts darauf hin, dass dem tatsächlich so gewesen wäre. Und wenigstens verhält er sich nie so, als habe er einen Besitzanspruch auf sie. Vielmehr betont er mehrfach ausdrücklich: "Raven gehört keinem Mann. Sie geht ihren eigenen Weg zu einem großen Ziel; niemand kann ihr etwas erlauben oder verbieten." Damit erscheint Ravens Selbstbestimmtheit zwar als Teil ihres "Auserwähltenstatus" und mithin als eine Ausnahme. Bei anderen Frauen würde Spellbinder vermutlich nicht so denken. Aber immerhin ...
 
Als Argors Bande wenig später in einem kühnen Handstreich in eine Hafenstadt einfällt und ein dort vor Anker liegendes Handelsschiff kapert, kommen wir in den Genuss der ersten richtigen Kampfszene. In denen geht es grundsätzlich hübsch gory zu. Da spritzen viel Blut und Gehirn durch die Gegend. Was dem allgemeinen Pulp-Charakter des Buches nur angemessen ist. Ganz so wie das rasche Fortschreiten des Plots, in dem es kaum je irgendwelche Ruhepausen oder reflexiven Momente gibt.**
 
Dementsprechend haben sich wenige Seiten später Raven und Spellbinder auch schon (fürs erste) von den Briganten getrennt und die eigentliche "Queste" hat begonnen. Erstes Anlaufsziel ist die Metropole von Lyand. Die Stadt also, in der Raven als Sklavin aufgewachsen ist. Die Aussicht, dabei möglicherweise Donwayne vor die Klinge zu bekommen, ist denn auch Ravens erster Antrieb für die Reise. Doch der Schwertmeister hat inzwischen die Fronten gewechselt und ist in die Dienste des konkurrierenden Stadtstaats Karshaam getreten. Und so nimmt das Unternehmen schon bald eine andere Wendung. 
Die beiden reisen weiter zum "Tempel des Steins". Bei dem handelt es sich offenbar um einen als Götzen verehrten Meteoriten. Aber wie so vieles andere in diesem ersten Buch, bleibt auch die wahre Natur des "Steins" schleierhaft. Auf jedenfall erhält Raven durch ihn (?) eine ziemlich wirre Vision, in der sie (meist sehr gewalttätige) Szenen aus Vergangenheit und Zukunft sieht, inklusive "Fahrzeuge aus Metall und Vögel aus Stahl". SciFi-Elemente waren in der Sword & Sorcery der 70er Jahre keine Seltenheit, aber ob es im weiteren Verlauf der "Saga" noch mehr davon geben wird, bleibt vorerst ungewiss. Wichtiger, wenn auch nicht wirklich viel informativer, ist, was Raven von einer körperlosen Stimme über ihre "Bestimmung" erzählt bekommt. Sie sei ein "Katalysator der Geschichte", ein "Angelpunkt der Welt". Ihr Handeln werde die Entwicklung der noch jungen Zivilsation entscheidend mitbestimmen. Sie sei dazu berufen, die herrschende Ordnung zu zerstören, damit aus dem Chaos eine neue und bessere geboren werden könne. All das wird mit einigen volltönenden "philosophischen" Phrasen über die "gegenseitige Abhängigkeit aller Dinge" gewürzt. Wer oder was hier zu Raven spricht, bleibt mysteriös. Sie selbst fragt sich mehrmals, ob das Ganze nicht ein Trick Spellbinders sein könnte. Doch das scheint eher unwahrscheinlich.
Für den weiteren Handlungsverlauf ist bei diesem ganzen Szenario aber ohnehin nur von Bedeutung, dass Raven den "Auftrag" erhält, den "Schädel des Quez" zu finden und nach Karshaam zu bringen. Und ja, der Rest des Buches ist im Grunde die Jagd nach einem magischen MacGuffin.
 
Leider entpuppt sich deren erste Etappe schon bald als der unangenehmste Teil der Erzählung. 
Auf Spellbinders Betreiben hin organisieren sich die beiden ein Fischerboot und setzen Segel in Richtung der übel beleumundeten "Geisterinsel" Kharwhan. Ravens Mentor besitzt offenbar irgendwelche Verbindungen zu den dort lebenden Zauberern, die allgemein mit Furcht und Misstrauen betrachtet werden. Deren genaue Natur offenzulegen, weigert er sich allerdings standhaft. Ist er ein Agent der Zauberer in der "Außenwelt"? Oder vielleicht ein verbanntes Mitglied der Bruderschaft? Wir erfahren es nicht. Jedenfalls hält er es für notwendig, Kharwan aufzusuchen. Doch bevor die beiden die Ufer der Insel erreichen, geraten sie in ein gewaltiges (und anscheinend magisches) Unwetter. Ihr Boot kentert und sie können von Glück sagen, dass sie schließlich von einem "Wikingerschiff" unter dem Kommandso des berüchtigten "Seewolfs" Gondar Todbringer aufgefischt werden.
Für uns Lesende ist das freilich keine so glückliche Wendung. Welchen Charakter die Konfrontation zwischen Raven und Gondar annehmen wird, zeigt sich bereits darin, dass die Autoren es für an der Zeit hielten, die Sexualisierung ihrer Heldin mal wieder ordentlich hochzuschrauben. Bietet das Schiffbrüchigenszenario dafür doch auch eine gar zu verführerische Vorlage. Was sich dann so liest:
Sie wurde sich plötzlich ihrer dürftigen Kleidung bewußt, denn der Blick des Seewolfs war für sie wie ein Spiegel. Sie richtete sich auf. Das feuchte Haar umrahmte ihr Gesicht und fiel bis auf ihre Hüften. Wind und Wasser ließen ihre Brustwarzen unter dem dünnen Stoff ihres Hemdes erstarren und sie zeichneten sich unter dem durchsichtigen Zeug ab, als ihre Brüste sich hoben, wie um seinen Blick herauszufordern. Das Hemd reichte nur bis zu ihren Oberschenkeln und darunter war sie nackt. Die makellose Linie ihrer auf Deck gespreizten Beine war durch nichts verhüllt.
Sehr geschmackvoll.
Selbstverständlich betrachtet der Seewolf Raven als legitime "Beute". Dass sie äußerst aggressiv darauf reagiert, als Spellbinder daraufhin mal wieder die Rolle ihres Beschützers spielen will, könnte man sympathisch finden: "Bin ich ein Stück Vieh, das dem Sieger vorgeworfen wird? Ich sage euch beiden, ich suche mir meinen Mann selbst aus und wer sich daran nicht halten will, wird wenig Freude an mir haben." Aber das wird dadurch konterkarriert, dass sie Gondar offenbar selbst sexuell anziehend findet. Verglichen mit dem eher hageren Spellbinder ist der "goldmähnige Riese" mit seinen "Muskelwülsten aus Stahl" halt auch ein gar zu prachtvolles Exemplar von "Hyper-Makulinität". Und so endet die Konfrontation der beiden fürs erste mit einer Art "Red Sonja - Herausforderung": Wenn er sie "haben" will, muss er sie im Zweikampf besiegen. Was dem Hünen imponiert.
Nach der Rückkehr in den Heimathafen der Seewölfe kommt es allerdings erst einmal zu einem kleinen Magierduell zwischen Spellbinder und Gondars "Hofzauberer" Belthis, an dessen Ende sich letzterer geschlagen aus dem Staub macht. Wir werden den fiesen Kerl noch wiedersehen. Erst dann können Raven und Gondar die Klingen kreuzen. Ihr Kräftemessen endet mit einem Patt. Doch kaum ist der Kampf vorbei, Ravens Stolz befriedigt und die unmittelbare Drohung von Gewalt beseitigt, lädt sie den Hünen auch schon in ihr Bett ein. Es folgt Sexszene Nummer 2.
 
Was die ganze Gondar-Episode so extrem unangenehm für mich gemacht hat, ist der Umstand, dass es sich bei ihr um die geradezu perfekte Illustration einer typisch "patriarchalen" Doppelmoral in Bezug auf sexuelle Gewalt handelt. Oberflächlich betrachtet lässt der Roman natürlich keinen Zweifel daran, dass Vergewaltigung ein verabscheungswürdiges Verbrechen ist. Und das Buch endet erwartungsgemäß mit Ravens Rache an Karl ir Donwayne. Aber was genau macht Gondar eigentlich besser als den Schwertmeister von Lyand? Sicher, er vergewaltigt Raven nicht. Aber das ist nicht sein Verdienst. War der Seewolf nicht drauf und dran, genau das zu tun, sobald er sie im "durchscheinenden Hemd" an Bord seines Schiffes erblickt hatte? Einzig Ravens kämpferisches Auftreten hat das verhindert. Und wir dürfen wohl davon ausgehen, dass viele andere Frauen vor ihr nicht so viel Glück hatten.  Selbst der "ehrenhafte Zweikampf" geht doch letztlich um die Frage, ob er das "Recht" hat, ihr Gewalt anzutun! Aber diese (vorsichtig ausgedrückt) "sexuelle Aggressivität" soll in Gondars Fall wohl nicht negativ, sondern als Ausdruck seiner extremen "Männlichkeit" gelesen werden. Die Autoren entblöden sich nicht einmal, uns nach dem Kampf folgende Dialogzeilen vorzusetzen:
"Nun", sie lächelte gleichfalls,"ein freiwillig gegebenes Geschenk ist doch sicher wertvoller als ein mit Gewalt erzwungenes?"
"Wahr", stimmte er zu, "aber es gibt Zeiten, da fällt es einem Mann schwer, auf den Geber zu warten."
Und Raven versetzt ihm daraufhin nicht etwa einen saftigen Kinnhaken, sondern steigt mit ihm ins Bett! Natürlich findet man unter den "klassischen" Sword & Sorcery - Helden der Conan-Schule so manche, die in ihrer Neigung zur sexuellen Gewalt nicht viel besser dastehen als der Seewolf. Aber in einer aus weiblicher Sicht erzählten Geschichte stößt so was irgendwie noch übler auf.
 
Wenigstens verliebt sich Raven nicht Hals über Kopf in den blonden Hünen. Sie hat bloß Sex mit ihm. Ein geringer Trost, aber es ist schon erfreulich, dass sie sich auch weiterhin ihre Unabhängigkeit bewahrt. Gondar möchte sie zwar sofort zu seiner "Seekönigin" machen, doch davon will  sie nichts wissen und weist dieses Ansinnen rasch und bestimmt zurück. Sie ist weder an einer dauerhaften Beziehung interessiert, noch hat sie vor, länger als nötig unter den Seewölfen zu verweilen. Immerhin befindet sie sich nach wie vor auf einer Queste. Gondar ist darüber zwar nicht glücklich, lässt sich aber dazu überreden, Raven und Spellbinder mit seiner wilden Horde bei der Suche nach dem "Schädel des Quez" zu unterstützen. Warum die Zaubererinsel Kharwan als Aufbewahrungsort des Artefaktes nicht länger in Frage kommt, muss ich irgendwie überlesen haben. Stattdessen taucht plötzlich wieder Ravens mysteriöser Namenspatron, der riesige Schwarze Vogel, auf, dem man über das Binnenmeer an die Küste des wilden Landes Ishkar folgt.         
 
Die nächsten fünfunddreißig Seiten lesen sich wie eine eigene kleine Sword & Sorcery - Erzählung, die zwar nicht unbedingt mit Originalität glänzt und einen etwas enttäuschenden Höhepunkt besitzt, für mich aber doch den gelungensten Teil des Buches darstellt. Sicher nicht zufällig verschwindet dabei die sonst so aufdringliche Sexualisierung Ravens völlig. Selbst ihre Beziehung zu Gondar und Spellbinder nimmt plötzlich rein kameradschaftliche Formen an. 
"Lost World" / "Lost Civilization" - Szenarien à la H. Rider Haggard (King Solomon's Mines; She) spielten von früh an eine wichtige Rolle in der Sword & Sorcery. So stolpert Conan auf seinen Abenteuern regelmäßig über irgendwelche "uralten Ruinen" oder ganze "versunkene Städte" wie Xuthal (The Slithering Shadow) und Xuchotl (Red Nails). Dass dieser Topos oftmals mit kolonialistischen und rassistischen Altlasten verbunden ist, steht außér Frage. Es ist schließlich kein Zufall, dass es sich bei Charles R. Saunders' erster veröffentlichter Imaro - Geschichte M'ji Ya Wazimu (The City of Madness) um eine Art ironischen Kommentar auf ihn handelt. Man kann sich deshalb sicher gut vorstellen, wie angenehm überrascht ich davon war, ausgerechnet in Raven eine Variation auf das Thema vorzufinden, die völlig frei von diesen unerfreulichen Elementen ist.
An der Küste des menschenleeren Landes angekommen, werden erst einmal ein paar Erkundungstrupps in die nähere Umgebung geschickt. Gerüchteweise hört man von "Tiermenschen" und "Kannibalen", die hier irgendwo hausen sollen, aber vorerst bleibt alles ruhig. Schließlich brechen Raven, Spellbinder und Gondar mit einer größeren Gruppe ins Landesinnere auf, dabei immer noch dem Schwarzen Vogel folgend. 
Holdstock & Wells gelingt es im Weiteren recht geschickt, eine sich langsam steigernde Atmosphäre der Bedrohlichkeit aufzubauen. Zuerst marschiert man tagelang durch eine weite Savannenlandschaft. Nach einiger Zeit erkranken einige der Seewölfe an einem geheimnisvollen Fieber und müssen zurückgelassen werden. Schließlich erreicht die Gruppe den oberen Rand einer gewaltigen Senke, in deren Tiefen ein dichter Urwald wuchert. Der steile, aus dem Fels gehauene Pfad ist das erste Anzeichen dafür, dass die Region nicht so menschenleer ist, wie es erscheint. Am Fuß der Klippe schlägt man ein Lager für die Nacht auf. Am nächsten Morgen werden die Leichen der Wachtposten mit herausgerissener Kehle gefunden. Von den nächtlichen Angreifern keine Spur. Der Urwald entpuppt sich als dämmrige Hölle voller vermodernder Vegetation, beunruhigender Geräusche und Unmassen von Creepy Crawlies: "Große aufgequollene Spinnen flohen vor ihnen und schillernde Kreaturen mit unnatürlich vielen Beinen und scharfen Greifzangen liefen wild durcheinander." Der Ekelfaktor wird in diesem Zusammenhang mitunter vielleiht etwas dick aufgetragen. Nach zwei Tagen Fußmarsch (und einigen weiteren Red Shirt - Leichen) kommt es endlich zum offenen Angriff der Tiermenschen. Ein Schildwall wird gebildet; erneut spritzt viel Blut durch die Gegend und Gliedmaßen werden abgehackt; Raven und Spellbinder retten sich gegenseitig das Leben; dann plötzlich ertönt ein unheimlicher Schrei aus den Tiefen des Urwalds:
Das Geheul war mit keinem anderen Geräusch zu vergleichen, das sie jemals gehört hatten. Tiefer als das Kreischen einer Katze, schriller als ein Wolfsruf, enthielt es Merkmale von beidem. Seewölfe, die mit freudigem Kriegsgeschrei die Körper ihrer Feinde zerhackt hatten, legten Zeigefinger und Daumen zum Zeichen der Allmutter zusammen. Raven spürte, wie ihr Mund trocken wurde, während ein Schauer sie durchlief. In dem Geräusch lag etwas, das noch unnatürlicher war, als die gräßliche Erscheinung ihrer Angreifer, als erhebe ein Dämon in den tiefsten Tiefen seiner unbeschreiblichen Hölle seine Stimme.
Dem unheimlichen Ruf folgeleistend ziehen sich die Tiermenschen in den Dschungel zurück. 
An dieser Stelle hat die kleine Ishkar-Erzählung für mich ihren Höhepunkt in einer Mischung aus wüster Action und der Andeutung andersweltlichen Horrors erreicht. Die Tiermenschen sind übrigens keine "Affenmenschen", wie man bei diesem Szenario vielleicht hätte erwarten können, sondern groteske Hybridwesen,  die einen an Michael Moorcocks Elric - oder Corum - Bücher denken lassen. Vielleicht eines der Motive, die Raven als britische Sword & Sorcery auszeichnen.  
Leider wirkt das bald folgende "große Finale" nach dem wunderbar stimmungsvollen Geheul wie ein nicht eingelöstes Versprechen. Denn als unsere Gefährten einen halb zerfallenen Tempelbau im Urwald entdecken, wartet dort kein cthulhuides Grauen auf sie, sondern bloß der "König der Tiermenschen". Mit dem Torso eines "griechischen Gottes" und dem Kopf eines riesigen Wolfes ist der zwar auch eine recht beeindruckende Erscheinung, aber im Grunde halt bloß eine etwas größere Ausgabe all der übrigen Mischkreaturen. Da hatte ich mehr erwartet. Und dass der Zweikampf um den "Schädel des Quez", der aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen bei den Tiermenschen gelandet ist, von Spellbinder und nicht von Raven ausgefochten wird, war eine wirklich herbe Enttäuschung. Die einzige Entschuldigung dafür wäre, dass unsere Heldin ja noch ganz am Anfang ihrer Karriere steht. Ich kann bloß hoffen, dass sie in späteren Büchern dann völlig aus dem Schatten ihres Mentors treten wird.
Eine neckische Überraschung erwartet uns freilich noch. Der "Schädel des Quez" entpuppt sich nämlich als eine formidable Waffe, aus dessen Augen Spellbinder magische "Laserstrahlen" verschießen kann. Vor meinem inneren Auge sah ich das sofort als Szene aus einem schlockigen Roger Corman - S&S - Flick der 80er Jahre. Grandios!
 
Nachdem die Queste zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht und Gondar mit seinen Seewölfen in die Heimat Kragg zurückgeschickt wurde, machen Raven und Spellbinder sich zur Hauptstadt des Reiches Karshaam auf. Dorthin sollen sie dem Orakelspruch zufolge, den Schädel bringen. Und dort wartet ja auch Karl ir Donwayne auf seine gerechte Strafe. Zu dumm bloß, dass ihnen der aus Kragg geflohene Zauberer Belthis zuvorgekommen ist. Der hat sich hier erneut den Status eines "Hofmagiers" gesichert und sorgt dafür, dass Spellbinder umgehend in den Kerker geworfen wird, um dort auf seine Hinrichtung zu warten. Den Schädel will Balthis als ultimative Waffe in den geplanten Eroberungsfeldzügen des Altan (Herrschers) einsetzen. Raven bleibt vorerst auf freiem Fuß, da der Hexer sie für keine Bedrohung hält.
 
Nach bald vierzig Seiten ohne Sexploitation dachten sich Holdstock & Wells offenbar, dass es nun aber wirklich an der Zeit sei, dem gegenzusteuern. Und was fehlt uns noch? -- Richtig! Eine lesbische Sexszene. Also verguckt sich Krya, Schwester und Gattin des Altan, augenblicklich in Raven.
Amüsanterweise bemühen sich die beiden Autoren nicht einmal mehr groß zu kaschieren, dass Sexszene Nr. 3 ausschließlich zur Aufreizung der (männlichen) Leserschaft existiert. Für den weiteren Handlungsverlauf ist sie nämlich praktisch ohne Bedeutung. Obwohl dem eigentlich nicht so sein sollte. Raven geht nämlich nur deshalb auf Kryas Avancen ein, weil sie hofft, auf diese Weise eine Verbündete für die Befreiung Spellbinders zu gewinnen. Aber trotzdem es ihr gelingt, die Herrscherin dahingehend zu manipulieren, kommt es weder zur versprochenen Begnadigung, noch spielt Krya irgendeine Rolle in der eigentlichen Rettungsaktion am Ende des Buches. Und das wird im Text nicht weiter kommentiert oder als "Verrat" dargestellt. Vielmehr verschwindet die Herrscherin einfach weitgehend aus der Handlung, nachdem sie ihre Rolle als Sexpartnerin ausgespielt hat. Was vermutlich das Beste ist, was ihr passieren konnte.
Man könnte fast meinen, die ganze Krya-Episode sei nachträglich (und nur unzureichend) in die Handlung eingefügt worden. Was mich nicht wundern würde, existiert sie doch offensichtlich nur aus einem Grund. Aber für das, was sie ist, wirkt sie relativ verträglich. Jedenfalls hätte es viel schlimmer kommen können. So habe ich vor einiger Zeit begonnen, nebenbei immer mal ein paar Seiten von John Jakes' alter S&S - Parodie Mention My Name in Atlantis (Tolle Tage in Atlantis) zu lesen, und da kommt die Homophobie mitunter wirklich knüppeldick! Verglichen damit ist die Darstellung der lesbischen Herrscherin echt harmlos. Zwar bedienen Wells & Holdstock mit ihr das alte Klischee der Identifikation von Homosexualität und Dekadenz. Aber selbst darin sind sie eher zurückhaltend. Krya ist keine Orgien feiernde "Messalina" und ihr sexuelles Verlangen wird nicht als "widernatürlich" oder verwerflich dargestellt. Vor allem aber wird sie in der Folge von den Autoren weder "bestraft" noch gedemütigt -- sei es für ihren "Verrat" oder ihre Sexualität. Und nach anfänglichem Zögern hat  Raven durchaus Spaß am Sex mit der Herrscherin.

Bevor sie zu Spellbinders Rettung schreiten kann, muss unsere Heldin natürlich erst einmal mit Karl ir Donwayne abrechnen. Wie es ihr gelingt, ein öffentliches Duell mit dem Schwertmeister organisiert zu bekommen, mag etwas ungelenk wirken. Aber was macht das schon, wenn wir dafür einen angemessen dramatischen Endkampf präsentiert bekommen? Der besonders blutrünstig ausfällt, da Raven dank der magischen Manipulationen des hinterhältigen Belthis, gewzungen ist, den Widerling quasi in Stücke zu hacken, bevor der endlich sein unwürdiges Leben aushaucht. Was sich dann u.a. so liest:
Der zweite (Wurf)Stern traf sein Kinn, schnitt durch den Unterkiefer und grub sich in den Gaumen.
Er blickte auf Raven, verständnisloses Erstaunen in den Augen, als die abgetrennte Zunge zwischen den geöffneten Lippen herausfiel.    
Die finale Befreiungsaktion wartet dann noch mal mit magischen Explosionen und Massenaufruhr in den Straßen auf, bevor Raven und Spellbinder glücklich aus Karshaam entflohen sind und neuen Abenteuern entgegenreiten können.
 
Es fällt mir gar nicht so leicht, ein abschließendes Urteil über Raven - Swordsmistress of Chaos zu fällen. Einerseits ist das schon die Art von Sword & Sorcery - Schund die ich erwartet hatte. Und es käme mir sicher nie in den Sinn, eine ernsthafte Empfehlung für den Roman auszusprechen. Aber so sehr mich das auch selbst überrascht: Ich glaube, ich werde bei Zeiten auch mal einen Blick in die weiteren Bände der Serie werfen. Jetzt, wo ich sie schon mal hab'. Sicher, das Sexploitation-Element ist aufdringlich, nervig und mitunter (wie in der Gondar-Episode) auch richtig unangenehm, aber nicht nur die Ishkar-Erzählung zeigt, dass Wells & Holdstock durchaus in der Lage sind, ein nett pulpiges Sword & Sorcery - Garn zu spinnen. Dass die Plotführung dabei oft ziemlich hanebüchen erscheint, hat mich nicht groß gestört. Auch würzen sie ihre Geschichte mit genug Rätseln und Andeutungen, um Appetit auf eine Fortsetzung zu machen. Welche Verbindung besteht zwischen Spellbinder und den Zauberern von Kharwhan? Welches Ziel verfolgt der Schwarzgewandete wirklich? Wie wird sich die Beziehung zwischen Raven und ihm im weiteren Verlauf der Saga fortentwickeln? Was hat es mit den mysteriösen Magiern selbst auf sich? Wer oder was steckt hinter dem "Orakel-Stein"? Worin konkret besteht Ravens Bestimmung als "Zeitenwenderin"? usw. usf. Der mit Abstand beste Köder aber ist der Epilog: Denn aus dem, was der alte Mann am Meer (den wir jetzt ziemlich klar als Spellbinder identifizieren können) zum Abschluss seiner Erzählung sagt, geht klar hervor, dass Ravens Saga kein glücklich-triumphales Ende beschieden ist. Dass sie ihre Bestimmung zwar erfüllen, damit aber kein Goldenes Zeitalter einleiten wird. Im Gegenteil. Die Welt der Rahmenerzählung wirkt eher postapoalyptisch. Und ich bin schon neugierig, zu erfahren, wie es dazu gekommen ist.     
 


* Ironischerweise enthält der Band mit Glen Cooks Severed Heads (Abgetrennte Köpfe) und Jennifer Robersons Blood of Sorcery (Blut der Zauberei) dann trotzdem zwei Rape-Revenge-Stories, von denen ich zumindest die erstere aber für durchaus lesenswert halte.
 
** Die Figur des "Titus of Ghorm", der in dieser Passage auftaucht, könnte eine Anspielung auf Mervyn Peakes Gormenghast und dessen Protagonisten Titus Groan sein. Was sich im Kontext einer solchen Story doch recht kurios ausnimmt.

Donnerstag, 2. März 2023

Klassiker-Reread: "Die Legenden der Drachenlanze" von Tracy Hickman & Margaret Weis (7/7)

Hier nun also der abschließende Teil des Gesprächs, das Christina F. Srebalus, Alessandra Reß und ich anlässlich unseres Rereads der "Legenden" geführt haben. Alessandras Beispiel folgend stelle ich dem der Übersicht halber eine Liste aller sechs vorherigen Beiträge voran.

Jetzt aber los ...

 
(4) Zeitreise, Völkerproblematiken und Fazit
 

[Christina] Mich würde interessieren, wie ihr die Zeitreise umgesetzt fandet. Ich muss sagen, dass es für mich in gewisser Weise eine ikonische Zeitreise ist, weil es, soweit ich mich erinnere, die erste komplexere Zeitreise außerhalb der Science-Fiction ist, der ich begegnet bin und es (glaube ich, gern verbessern, falls nicht) in High Fantasy sonst eher selten vorkommt. Der Klappentext vom deutschen Band 4 "Die Königin der Finsternis" spoilert da leider unverschämt die Erkenntnis der Zeitschleife. Aber ich mochte, wie mit linearer Zeit, Gleichzeitigkeit und Schleifen hantiert wurde, obwohl Paradoxa kaum behandelt oder nur sehr oberflächlich betrachtet wurden. Die Diskrepanz zwischen Raistlin und Fistandantilus (dessen Rolle er in der Zeitschleife übernimmt) und zwischenzeitliche Überlegungen, ob er dann schon Fistandantilus war, als der Raistlin – also sich selbst – getroffen hat etc. haben mir die Lektüre schöner gemacht. Ebenso war Astinus, der Chronist, dadurch spannender. (An einer Stelle streicht der den Namen „Denubis“ durch und ersetzt ihn durch Crysania, Das untermauert, dass vielleicht ein Buch gleich am Anfang zu lesen, um die Lösung zu haben, nicht geklappt hätte).

[Peter] Also spontan würden mir auch keine anderen Beispiele von Zeitreisen in der High Fantasy einfallen. Bin in dem Subgenre aber auch nicht so belesen. Interessant fand ich das Ganze auf jeden Fall, auch wenn ich mich gerade bei der Stelle, an der die Zeitebenen sich überschneiden und Raistlin aus der "Vergangenheit" mit Dalamar in der "Gegenwart" Kontakt aufnimmt, gefragt habe: Macht das noch Sinn? Oder verfängt sich die Story da in Widersprüchen? Aber so was gehört wohl irgendwie zu Zeitreisegeschichten. ;-)

 
Zuerst einmal eröffnet die Zeitreise halt die Möglichkeit, coole Settings zu besuchen. Mir hat vor allem Istar, der Schauplatz von „Die Stadt der Göttin“, recht gut gefallen. Diese Despotie des "Guten" mit ihrer Heuchelei, ihren Intrigen und ihrem unterschwelligen Elfenrassismus, die am Ende sogar einen Genozid an den "bösen" Völkern/Rassen plant. Fand ich spannend.
 
Im weiteren Verlauf hatte ich dann allerdings häufiger wieder das etwas frustrierende Gefühl verpasster Möglichkeiten. So fand ich es zwar faszinierend, dass es einen Punkt gibt, an dem Raistlin und Fistandantilus quasi verschmelzen und es eigentlich offen bleibt, wer von den beiden ihren Kampf überlebt hat. Aber das wird dann nie wieder so richtig aufgegriffen. Ähnlich ging es mir bei dem Zeitschleife-Ding. Denn im Grunde hat ja die ganze Handlung des zweiten Bandes (Buch 3 & 4) etwas extrem tragisches. Caramon, Raistlin und Crysania scharen ein riesiges Heer von Verzweifelten und Entwurzelten um sich, geben diesen eine neue Hoffnung und ein neues Ziel inmitten einer quasi postapokalyptischen Welt. Aber eigentlich führen sie sie dabei in den Untergang. Dessen ist sich anfangs zwar nur Raistlin bewusst (und dem ist es halt mehr oder weniger egal), aber trotzdem hat mir da irgendwie das entsprechende Pathos gefehlt. Und Caramon mag ja nicht der schnellste Denker sein, aber dass er anscheinend so gar nicht realisiert, was er da gerade als General von "Fistandantilus' Armee" macht, fand ich irgendwie ... unbefriedigend.
 
[Alessandra] Wenn man Science Fantasy wie "Pern" mal außer Acht lässt, fallen mir auch wenig Beispiele für Zeitreisen in der klassischen Fantasy ein. Außer bei Brandon Sanderson; beim erneuten Lesen sind mir ohnehin einige Parallelen zwischen Drachenlanze und "Die Sturmlicht Chroniken" aufgefallen, was ich gerade in Hinblick auf den gemeinsamen mormonischen Hintergrund der Autor/-innen interessant fand. Aber das nur am Rande.

Beim ersten Lesen habe ich die Zeitreise glaube ich gar nicht groß hinterfragt und manches wurde mir damals nicht so klar – zum Beispiel weiß ich noch, dass mich die Verschmelzung zwischen Raistlin und Fistandantilus sehr irritiert hat. Jetzt beim Reread hat das zugleich besser und schlechter funktioniert. Einerseits fand ich gerade dieses tragische Moment, das Peter erwähnt hat, sehr berührend, wie auch Raistlins generelles Hadern mit seiner Rolle und seiner "gespaltenen Identität". Andererseits empfand ich vieles als nicht wirklich stimmig oder zu konstruiert. Z. B. ist das Individuum ja eigentlich irrelevant im Zeitstrom – anders kann man nicht erklären, dass Crysania im veränderten Zeitstrahl einfach Denubis' Rolle einnimmt oder Caramon die von Pheragas, Fistandantilus‘ General. Aber kaum taucht ein Kender auf, ist alles anders? Nur weil Kender ein "Fehler" des Gottes Reorx waren? Come on ... Das sind diese Art Fantasy-Logiken, auf die es mir heute schwer fällt, mich einzulassen, auch wenn sie ja irgendwo das Fremde, den sense of wonder der Anderwelten unterstreichen. Aber es hat eben auch ein Flair von "Deus ex machina", erst recht wenn es um diesen Zeitreisekristall geht, der zufälligerweise vor allem im letzten Band immer gerade dann zur Hand ist, wenn Tanis und Caramon ihn gerade brauchen können. Aber ich muss auch sagen, generell kein großer Fan von Zeitreise-Plots zu sein. Im Vergleich schlägt Drachenlanze da noch gut ab, ich konnte diesen Aspekt der Handlung ganz gut ignorieren ;-) (Nebenbei: Etwas enttäuschend ist es ja schon, dass Krynn bis auf die Mode und 1, 2 Gnomenerfindungen innerhalb von ein paar Jahrhunderten völlig austauschbar ist, was die grundsätzliche gesellschaftliche Entwicklung angeht.)

 
[Christina] Ich konnte der Lösung, dass die Zeit nur durch Kender und Gnome veränderbar ist, durchaus etwas abgewinnen, da sich bei Zeitreisen immer die Frage stellt, ob Zeit jetzt linear oder eine Sammlung unendlich vieler parallel verlaufender Alternativen ist und ob bzw. wie sich Zeitreisende darauf bewegen. 
 
Hier wird die Zeit als grundsätzlich linear angenommen, sodass kleine Veränderungen durch das Menschen-Trio nur wie ein Stein sind, der in einen Fluss geworfen wird, und dadurch nicht den Strom der Zeit verändert. Tolpans Eingreifen brachte da zum einen etwas Suspense und zum anderen die Möglichkeit, auch etwas größere Ereignisse zu ändern, ohne aber gleich zu stark dem Butterfly-Effekt von alternativen Entwicklungen der Zeitachse zu unterliegen und nie wieder zurück kommen zu können – zumindest oberflächlich macht es meiner Meinung nach die Zeitreise plausibler (oder komplex genug, dass man sie nicht mehr so einfach hinterfragen kann).
 
[Peter] Da wir's gerade von Kendern und Gnomen haben ... Dass ganze Völker (oder "Rassen") auf Stereotypen reduziert werden, ist in "klassischer" High Fantasy wohl ziemlich verbreitet. Und kennt man ja z.B. auch aus der SciFi. (Star Trek, du bist gemeint.) Aber was mir bei dieser Lektüre der "Legends" wirklich unangenehm aufgestoßen ist, war die Erkenntnis, dass sie in "Drachenlanze" dabei zugleich zu fleischgewordenen "running gags" werden. Bei Tas/Tolpan und dem Gnomen (Gnimsh?) fand ich das in erster Linie nervig. (Und spätestens nach einer Seite nicht mehr lustig). Aber die Gully Dwarves /Gossenzwerge sind wirklich übel. Schon aus den 80er Jahren hatte ich die als plumpe Comic-Relief-Figuren in Erinnerung. Aber wie viel übler wirken die heute auf mich. Im Grunde sind sie nichts anderes als wirklich unangenehm ableistische Karikaturen. Und Hickman & Weis fanden sie offenbar so lustig, dass sie sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit in die Handlung einbauen mussten. Vom Gasthaus in Solace bis zur Fliegenden Zitadelle über Palanthas ...

[Alessandra] Ich fürchte, das ist nicht nur in der High Fantasy verbreitet – ich finde es manchmal gruselig, wie solche Stereotype selbst in der Urban Fantasy des 21. Jahrhunderts noch reproduziert werden ... (Wobei ich aus Autorensicht der Fairness halber zugeben muss, dass man in diese Stereotype schneller reintappt, als es einem lieb ist. Reflexion ist da eine praktische Sache, aber gar nicht so leicht, wenn man grad von der eigenen Welt und den Gepflogenheiten des Genres gefangen ist.) Dennoch, ich stimme dir auf jeden Fall zu, dass Drachenlanze ein krasses Beispiel ist, gerade wenn es um diese "Comic Reliefs" geht. Möchte an dieser Stelle anmerken – ich fand Tolpan schon nervig, bevor es cool wurde :p Das sind so Punkte, bei denen ich es total spannend fände, die Rezeption von, sagen wir 1990 mit der von jetzt zu vergleichen. Offenbar genossen solche Figuren und Völker früher ja Rückhalt bei der Leserschaft, gerade Tolpan hatte noch 2005, als ich mich viel im Drachenlanze-Forum herumgetrieben habe, eine große Fangemeinde. Es wirkt immer so platt, zu sagen "da hat sich auf jeden Fall was getan", aber ja ... hier hat sich was getan, glücklicherweise.

[Christina] Die Darstellung aller Völker ist aus heutiger Sicht unfassbar eindimensional und oftmals sehr negativ und voller Ismen, auch wenn Menschen immerhin noch ein paar Unterschiede aufweisen. Ich bin in der Hinsicht gespannt auf die neuen Bücher, weil diese den Sprung schaffen müssten, dem gereiften Bewusstsein der Leserschaft gerecht zu werden (auch wenn fraglich bleibt, wie man so viel Lore gut abwandelt). In den alten Büchern sind die Völker, vor allem die Gossenzwerge, so hochproblematisch dargestellt mit einer Freude an aktiver Erniedrigung und Herabwürdigung, dass ich die Stellen nicht gelesen hätte, hätte ich das nicht für diese Besprechung lesen "müssen". (Z.B. das in Solace, als die Gossenzwergin das verschüttete Bier auflecken soll! An meinem Lesegefühl an der Stelle, hab ich erkannt, dass die Debatten und der öffentliche Diskurs der letzten Jahre/Jahrzehnte mindestens für mich etwas geändert haben und somit sicherlich auch allgemein eine Sensibilisierung dahingehend stattgefunden hat und weiterhin stattfindet, denn solche Darstellung sollte nicht mehr geschrieben und reproduziert werden und gehört auch von alten Fans reflektiert.) Da holt auch die Gossenzwergin Bupu nicht mehr viel raus, bei der als "irgendwie wichtig" versucht wird, das Volk besser darzustellen.

Was Tolpan betrifft, weiß ich noch, dass ich die Figur als Jugendliche mochte und es z.B. im LARP damals auch eine große Welle Kender-Spielende gab (die auch da stereotypisch gehasst wurden). Ich finde ihn als naiv-optimistische Figur immer noch ganz gut, um dem Depri-Ethos der anderen Figuren manchmal was entgegenzusetzen, aber das Abstürzen in Slapstick (bei der Zitadelle hätte ich auch wieder gern weitergeblättert) und die Reduktion auf Diebstahl/Kleptomanie waren mir beim Reread auch sehr zu wider.

[Peter] Ja, bei der Bierstelle ist mir auch übel geworden. Was mir aber zugleich gezeigt hat, dass sich an der Rezeption (zumindest meiner eigenen) tatsächlich etwas geändert hat. Denn in den 80ern fand ich die Gully Dwarves zwar doof und unlustig, aber ich muss zugeben, dass mir das extrem Kränkende und Herabwürdigende ihrer Darstellung bei meiner ersten Lektüre nicht aufgestoßen ist. Der Stereotyp des "witzigen Idioten" war damals halt leider noch ein völlig "normaler" und geläufiger Bestandteil der Populärkultur. Was es natürlich nicht besser macht oder entschuldigt.

[Alessandra] Wie genau ich die Gossenzwerge beim ersten Lesen empfunden habe, kann ich gar nicht mehr genau sagen. Aber nun ... ich fand auch Dobby 2004 noch lustig ...

Christina hat eben ja erwähnt, dass die neuen Bücher hier einiges anders machen müssen. Die Ankündigung für die neue, quasi eingeklagte Trilogie – die inzwischen als "Dragons of Deceit" auf Englisch veröffentlicht wurde – war damals unser ausschlaggebender Grund, Drachenlanze für den 2023er-Reread auszuwählen. Ich war von der Ankündigung damals nicht soo begeistert. Drachenlanze hatte seine Zeit und ich habe in den jüngeren Büchern wie der Mina-Trilogie durchaus schon Entwicklung gesehen. Trotzdem war ich skeptisch, ob es neuen Büchern gelingen würde, einerseits den "Drachenlanze-Geist" wiederzubeleben, andererseits nicht die alten Probleme zu reproduzieren. Dass dann Hickman auf Twitter auch noch ein Anti-Diversity/Modernity-Meme gepostet hatte – angeblich aus Unwissenheit – hat meine Skepsis verstärkt. Vielleicht wäre es einfach besser gewesen, die Reihe in der Nostalgiekiste zu lassen? Nun habe ich die neue Trilogie noch nicht gelesen. Die bisherigen Besprechungen scheinen geteilter Meinung zu sein. Wenn ihr wirklich der Sprung ins Jahr 2022 gelungen ist, Hut ab. Trotzdem bleibt das zwiespältige Gefühl auch nach dem Reread erhalten. Die Bücher sind super zu lesen und ich bin wieder auf den Geschmack gekommen, plane auch noch ein paar Bände der "Neuen Generation" zu lesen (irgendwie reizt es mich jetzt noch mal, Raistlins Rückkehr zu lesen). Und doch sind sie einfach inhaltlich nicht mehr zeitgemäß. Gemessen daran, dass ich total viel Spaß mit diesem Reread hatte und gerade wieder munter Krynn fangirle (Pinterest weiß es ...), ist es seltsam, zu diesem Fazit zu kommen, dennoch: Stand Jetzt würde ich sagen, es ist Zeit für Neues. :)

[Christina] Ich schließe mich dem an. Aus nostalgischen Gründen, die aber vor allem mit den Umständen während meiner Rezeption als Jugendliche, die die „Chroniken“ zusammen mit ihrem Vater gelesen hat, zusammenhängen, war ich über das Reread sehr glücklich. Auch, um bestimmt verklärte Erinnerungen gerade zu rücken und mit einem geschulteren Blick zu betrachten (und in so netter Runde zu besprechen), hat es sich sehr gelohnt. Gewisse Figuren bzw. Figurenkonstellationen wie die Geschwisterbeziehung von Raistlin und Caramon werden immer eine Bedeutung für mich haben.

Aber würde ich es heute zum ersten Mal lesen, fände ich sie evtl. noch solide, könnte der Geschichte aber wohl nicht mehr so viel abgewinnen, und die problematischen Darstellungen würden zum Lektüreabbruch führen.

Ich wünsche mir generell etwas mehr Mut zu Neuem. Zwar bin ich grundsätzlich neugierig, wie und ob ein Transfer der Stoffe für die jetzige Zeit und für heutige Lesende gelingen, aber gleichzeitig befürchte ich, dass nur ein Nostalgie-Gefühl bedient und damit eine zu alt gewordene Kuh nochmal gemolken werden soll.

[Peter] Bei mir hat der Nostalgie-Faktor ja keine so große Rolle gespielt. Ich bin mehr mit einem "historischen Interesse" an diesen Reread rangegangen. Schließlich waren die Drachenlanze-Bücher extrem erfolg- und einflussreich. Ohne sie hätten wir vielleicht nie die spätere Flut an RPG-Tie-in-Novels bekommen. Und ich mag ja eigentlich alte Sachen und lese sie gern. Aber nach dieser Lektüre fühle ich mich schon gedrängt, zu erklären: Es gibt sehr viel bessere alte Sachen! 

Ja, die Bücher lesen sich recht flüssig weg. (Auch wenn man hie und da finde ich spürt, dass Weis & Hickman an ihre schriftstellerischen Grenzen stoßen). Und vor allem die Raistlin-Caramon-Beziehung ist immer noch reizvoll und interessant. Aber alles in allem kam mir das Ganze dann halt doch arg altbacken vor. Und hat mich in meinem Verdacht bestärkt, dass der High-Fantasy-Boom der 80er Jahre in vielem vielleicht ein Rückschritt gewesen ist. Weshalb ich auch nicht plane, einen Blick in die neuen Bücher zu werfen. Dafür ist das Interesse an dem Franchise bei mir einfach zu gering. 

Spaß hat mir unser Gespräch natürlich trotzdem gemacht und ich bereue den Reread nicht.

[Alessandra]: Dem schließe ich mich an, es hat viel Spaß gemacht. Danke für das Gespräch, mit dem wir wohl einige Blogposts füllen können.

[Christina] Ja! Vielen Dank für die Einladung hier zu. Fand es sehr anregend und total nett ... mag gar nich aufhören.

[Peter] Wir haben zu danken. Es war eine besondere Freude, dich dabei zu haben!