"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Freitag, 23. Juli 2021

Let Me Tell You Of The Days Of High Adventure

M. John Harrisons Viriconium - Zyklus 
(Teil 2: The Pastel City)

I don't believe in either heroism or fantasy.
M. John Harrison
 
Teil 1 * Teil 3 * Teil 4 * Teil 5 * Teil 6
 
The Pastel City, der eigentliche Auftakt des Viriconium - Zyklus, erschien 1971 beim Verlag New English Library (die amerikanische Fassung ein Jahr später bei Double Day, eine deutsche Übersetzung 1973 bei Bastei Lübbe). Freilich war der wenig mehr als 100 Seiten umfassende Roman nicht von Anfang an als Startpunkt für eine "Serie" konzipiert. Wie M. John Harrison in einem Interview mit Fantasy-Faction erzählt hat: "At first it was a way of trolling a particular UK SFF editor; then, across the 1970s, the genre fantasy reader. "  
 
Cheryl Morgan beschreibt das Setting der Geschichte in ihrem auf Strange Horizons erschienenen Interview mit dem Autor als "some sort of anti-Shire".  Diese Charakterisierung ist zwar nicht unbedingt falsch, aber ich meine, es wäre etwas irreführend, in ihm bloß einen Gegenentwurf zum tolkienschen Idyll zu sehen. Es steht selbst in einer zu diesem Zeitpunkt bereits recht alten Tradition der der Dying Earth - Geschichten.
 
Ihre Anfänge lassen sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. So finden sich erste Anklänge bereits in Lord Byrons Gedicht Darkness, das vom "Year Without a Summer" inspiriert wurde und eine Welt nach dem Verlöschen der Sonne beschreibt. Als ein direkterer Vorläufer darf das 11. Kapitel von H.G. Wells' The Time Machine (1895) gelten, wenn der Zeitreisende eine sterbende Erde besucht, deren öde Landschaft im dämmrigen Schein einer riesig aufgeblähten, roten Sonne daliegt. Der erste richtige Klassiker des "Mikrogenres" dürfte William Hope Hodgsons 1912 veröffentlichter Roman The Night Land sein. Das kuriose Opus beschreibt eine ferne Zukunft, in der die letzten Überbleibsel der Menschheit nach dem Verlöschen der Sonne in einer riesigen Pyramide hausen, während das umgebende Ödland von bizarren, andersweltlichen Monstrositäten bevölkert wird. In den 30er Jahren folgten Clark Ashton Smiths hauptsächlich in Weird Tales veröffentlichte Geschichten von Zothique, dem dekadenten Letzten Kontinent unter einer sterbenden Sonne. 1950 schließlich erschien Jack Vance' namensgebende Sammlung The Dying Earth, der 1965/66 The Eyes of the Overworld folgte.

The Pastel City ist gleichfalls in einer fernen Zukunft angesiedelt, während der "Abenddämmerung der Welt", nach dem Untergang der letzten der "Afternoon Cultures"

Some seventeen notable empires rose in the Middle Period of Earth. These were the Afternoon Cultures. All but one are unimportant to this narrative, and there is little need to speak of them save to say that none of them lasted for less than a millenium, none for more than ten; that each extracted such secrets and obtained such comforts as its nature (and the nature of the universe) enabled it to find; and each fell back from the universe in confusion, dwindled and died. 
The last of them left its name written in the stars, but no one who came later could read it. More important, perhaps, it built enduringly despite its failing strength -- leaving certain technologies that, for good or ill, retained their properties of operation for well over a thousand years. And more important still, it was the last of the Afternoon Cultures, and was followed by Evening, and by Viriconium. 
Das Imperium von Viriconium, der "Pastel City", lebt im Grunde von den Überresten der vorangegangenen Kultur, deren mysteriöse Maschinen von wagemutigen Forschern und Plünderern wie Tomb "the Dwarf", einem der Helden der ersten beiden Romane, in den weiten Wüsteneien, die einen Gutteil des Umlandes bilden, aufgespürt und ausgegraben werden. Manche dieser Artefakte, wie die baan genannten funkensprühenden Energieklingen, die Luftschiffe und Energiekanonen, werden weiterhin benutzt, auch wenn die Nachgeborenen deren Funktionsweise nicht mehr wirklich verstehen und sie nicht nachbauen können. Wie tegeus-Cromis, Hauptheld der Erzählung, einmal nachdenklich anmerkt: "We are at the mercy of these old machines; we know so little of the forces that drive them." Andere Relikte der "Afternoon Cultures" schmücken als Trophäen den Königspalast: "strange, precious objects that might have been animated sculptures or machines, excavated from ruined cities in the Rust Desert beyond Duirinish." Der Thronsaal von Queen Jane verfügt über "five false windows that showed landscapes to be found nowhere in the kingdom" offenbar irgendwelche riesigen Bildschirme. Eine der bizarren Landschaften, die unsere Helden durchqueren müssen, ist die "Metal-Salt-Marsh":
In the water thickets, the path wound tortuously between umber iron bogs, albescent quicksands of aluminium and magnesium oxides, and sumps of cuprous blue or permanganate mauve fed by slow, gelid streams and fringed by silver reeds and tall black grasses. The twisted, smooth-barked boles of the trees were yellow-ochre and burnt orange; through their tightly woven foliage filtered a gloomy, tinted light. At their roots grew great clumps of multifaceted translucent crystal like alien fungi. [...] Over everything hung the heavy, oppressive stench of rotting metal.

Von der Stadt Viriconium selbst bekommen wir in dieser ersten Erzählung noch erstaunlich wenig zu sehen. Wir hören von der "Proton Circuit" genannten Prachtstraße, die zum Königspalast führt, erhaschen einen Blick auf die "Pastel Towers" "tall and gracefully shaped to mathematical curves, tintetd pale blue or fuchsia or dove-grey" und statten dem "Bistro Californium" und dem "Artists' Quarter" einen kurzen Besuch ab. Dabei wird nebenbei auch wieder der blinde Maler Kristodoulous erwähnt. Doch das war's dann auch schon. Zum allergrößten Teil spielt die Handlung fernab der Metropole.
 
Plot und Figurenensemble wirken bei oberflächlicher Betrachtung wie die einer typischen Heroic Fantasy - Erzählung: Als ein Krieg um die Krone zwischen der jungen Königin Methvet Nian, genannt Queen Jane, und der Thronprätendentin Conna Moidart ausbricht, die sich an die Spitze der "wölfischen" Nordmänner gestellt hat, muss eine Gruppe alter Haudegen nach Jahren wieder zusammenkommen, um das Imperium zu retten. 
Das Motiv der gealterten Helden, die nach langer Trennung erneut auf Abenteuer ausziehen, existiert mindestens seit Alexandre Dumas' Vingt ans après / Zwanzig Jahre später (1845). Und die Gruppe selbst scheint auf den ersten Blick aus geläufigen Stereotypen zu bestehen: Ein Meisterfechter, ein Glücksritter, ein Zwerg mit Axt und ein ergrauter Veteran.
 
Doch schon die Beschreibung des "Ritterordens" der Methven, dem die vier unter dem alten König angehörten, die im Prolog gegeben wird, lässt aufhorchen: "They fought with ruthlessness and a cold competence." Im Laufe der Erzählung blicken unsere Helden immer wieder voll Nostalgie auf ihre "glory days" zurück. Aber waren die "Methven" wirklich je mehr als eine Truppe extrem kompetenter Killer? Doch keine Angst, The Pastel City ist keine Vorwegnahme der Grim & Gritty. Auch wenn's wirklich blutig zugeht, schwelgt Harrison nicht in der voyeuristischen Darstellung von Gewalt. Ebensowenig sind seine Helden einfach zynische Totschläger. Dennoch sollte man als Leser*in von Anfang an eine gehörige Portion Skepsis gegenüber ihrem "Heroismus" mitbringen. Und warum genau ist das Imperium eigentlich verteidigenswert? Würde seinen Bewohnern tatsächlich ein so furchtbares Schicksal blühen, wenn es Conna Moidart gelänge, den Thron zu besteigen? Die Motivation unserer Helden scheint jedenfalls anfangs aus wenig mehr als persönlicher Loyalität gegenüber Queen Jane und Hass auf die "Nordmänner" zu bestehen. 
 
Apropos: Abgesehen von der Königin, taucht nur noch eine weitere Frau in dem Roman auf. Sie hat nur eine kurze Szene, doch scheint mir diese von großer Bedeutung zu sein: Als tegeus-Cromis in Viriconiums "Artists' Quarter" den ehemaligen Meisterstrategen der "Methven" Norvin Trinor sucht, schickt man ihn im "Bistro Californium" zu einer Adresse in einem besonders ärmlichen Teil des Viertels. Dort trifft er eine Frau an, die er zuerst nicht erkennt.
She was tall, statuesque, and graceful; her narrow face had an air of calm and the self-knowledge that may or may not come with suffering. But her blue robe was faded, patched here and there with material of quite another colour, and her eyes were ringed with tired, lined flesh. He bowed out of courtesy.
Als er realisiert, dass es sich um Trinors Ehefrau Carron Ban handelt, ist er schockiert und peinlich berührt: "It was not the change in her that horrified him, but the poverty that had caused it." Trinor hat sie schon vor längerer Zeit verlassen, ohne irgendwelche Gründe dafür anzugeben. Cromis will das nicht glauben: "But Trinor would not merely have abandoned you! It is cruel of you to suggest such --" Worauf sie völlig zurecht erwiedert: "It was cruel of him to do it, Lord Cromis." Als er ihr monetäre Unterstützung anbietet und dabei die Königin erwähnt, ist ihre Antwort: "I want nothing from this city and its empire."
Wir werden zwar später erfahren, dass Norvin Trinor zum Verräter geworden ist und sich auf die Seite von Conna Moidart geschlagen hat. Doch das ändert nicht wirklich etwas an dem wenig freundlichen Bild von Viriconium, das wir durch die Augen der verbitterten Carron Ban erhalten. Und tegeus-Cromis' ungelenke Reaktion, seine Unfähigkeit, die richtigen Worte zu finden (oder einfach den Mund zu halten), scheint mir nicht nur etwas über seinen individuellen Charakter auszusagen
 
Der melancholische Schwertmeister ist wie gesagt die Hauptfigur des Romans. Immer wieder wird seinem Namen (beinah in der Art eines Epitheton) der Nebensatz hinzugefügt: "who imagined himself a better poet than swordsman". Entscheidend ist dabei natürlich das Wörtchen "imagined". Inwieweit sein Selbstbild vom Poeten gerechtfertigt ist oder von anderen geteilt wird, bleibt dahingestellt. Zwar bekommen wir im Laufe der Erzählung einige seiner schwermütigen Verse zu hören, aber es ist klar, dass er seinen Ruf eher seiner beinahe schon übermenschlichen Fechtkunst verdankt. Zu Anfang sehen wir ihn in seinem Turm an der Meeresküste, wo er eine Art Eremitendasein führt, umgeben von Büchern, Musikinstrumenten und Erinnerungsstücken aus seiner "ruhmreichen" Vergangenheit:
a powered battle-axe that Cromis had got from his friend Tomb the Dwarf after the sea fight at Mingulay in the Rivermouth campaign; [...] the gaudy green-and-gold standard of Thorisman Carlemaker, whom Cromis had defeated single-handed – and with regret, since he had no quarrel with the fine rogue – in the Mountains of Monadliath; [...] finally [...] the hilt of the intangible-bladed baan that had accidentally killed Cromis's sister Galen.   
Wir erfahren übrigens nie, wer Galen getötet hat. Cromis selbst? Nach ihrem Tod hat er sich jedenfalls von der Welt und seinen alten Freunden zurückgezogen
Erst als in unmittelbarer Nähe seines Turmes ein Luftschiff aus Viriconium abstürzt, erwacht er aus seiner melancholischen Lethargie und realisiert, dass das Imperium am Rande des Untergangs steht. Doch seinen tiefen Pessimismus kann der zu philosophischen Grübeleien neigende Cromis auch im weiteren Verlauf der Handlung nie wirklich abschütteln.
 
Der erste seiner alten Kameraden, der sich ihm zugesellt, ist der übermütige Abenteurer Birkin Grif. In späteren Beiträgen werden wir sehen, wie die Figuren in M. John Harrisons erzählerischem Kosmos ab In Viriconium (1982) einen zunehmend "fluiden" Charakter annehmen. Ob wir allerdings auch schon den Birkin Grif aus The Pastel City als eine Variante des zynischen Lebemanns aus Lamia Mutable interpretieren sollten, halte ich für fragwürdig. So wie wir ihn hier erleben, entspricht er von allen Figuren des Romans am ehesten den Traditionen der plebejischen Sword & Sorcery. Kein Lord wie Cromis, sondern ein lärmend-fröhlicher Abenteurer, der bei seinem ersten Auftritt eine Ballade schmettert, "which enumerated the hours of the clock as chimed inside a brothel". Seit dem Zerfall des Ordens der "Methven" hat er sich seinen Lebensunterhalt mit dem Schmuggel von billigem Wein verdient.  

Auf ihrem Weg nach Norden, wo der Krieg gegen Conna Moidart tobt, sammeln sie in irgendeiner Kaschemme den "nasty old man" Theomeris Glyn ein. Von allen Ex-"Methven" ist er am deutlichsten heruntergekommen: "His grey eyes glittered shiftily above his hooked, red-veined nose." Als sie ihn treffen, ist er gerade dabei, ein Schankmädchen zu bedrängen und eine (sehr blutige) Kneipenschlägerei auszulösen. Ob er sich wirklich der Armee anschließen wollte, die vor kurzem hier durchgezogen ist? Wer weiß? "'I'm trying to catch up with the army.' he muttered defensively. 'They left me behind'".

Im postindustriellen Ödland begegnen sie schließlich Tomb the Dwarf, dem vielleicht interessantesten Mitglied des Ensembles. Der "Zwerg" schwingt im Kampfgetümmel regelmäßig eine mächtige "power-axe", was tolkienaffine Leser*innen natürlich sofort an Gimli, Gloins Sohn, denken lassen wird. Doch weit gefehlt – der furchtbar hässliche, zum Sarkasmus neigende "metal-prospector" ist kein bärtig-grimmiger Geselle aus einer quasi-nordischen Sagenwelt, sondern ganz einfach ein kleinwüchsiger Mensch, der sich auf ein riesiges metallen-robotisches Exoskelett schnallt, bevor er sich in die Schlacht stürzt. Tomb ist nicht unbedingt eine anziehende Gestalt. So heißt es bei seiner Einführung von ihm: "as nasty a midget as ever hacked the hands off a priest". Und es bereitet ihm offenbar ein höllisches Vergnügen, sich mit seinem technischen Hilfsmittel in einen schier unbesiegbaren Krieger und Schlächter zu verwandeln. Doch das ist nur die eine Seite seines Charakters. Von allen "Methven" ist er am meisten an der Technologie der Afternoon Cultures interessiert, deren Relikte er unermüdlich in den Wüsteneien um Viriconium sucht. Dabei wird er von einer tiefen, unstillbaren Neugier angetrieben. Als er schließlich Gelegenheit erhält, die verloren gegangene Technik unter sehr viel günstigeren Bedingungen zu studieren, wirkt er wie verwandelt: "I have wasted fifty years of my life."     

Man könnte die Handlung von The Pastel City fantasygemäß in drei aufeinanderfolgende Questen unterteilen. 
 
In der ersten versuchen unsere Helden möglichst schnell das Heerlager von Queen Janes Armee zu erreichen, da sie glauben, dass nur dann eine Hoffnung auf Sieg besteht, wenn einer der ihren die Truppen kommandiert. Cromis macht zuvor einen kurzen Abstecher nach Viriconium, um sich eine offizielle Autorisierung für dieses Unternehmen zu besorgen und nach Norvin Trinor zu suchen. Bevor er erneut zu seinen Gefährten stößt, taucht eines Nachts plötzlich ein metallener Lämmergeier bei seinem Lager auf, der ihm eine merkwürdige Botschaft übermittelt: "tegeus-Cromis of Viriconium should go at once to the tower of Cellur. Which he will find on the Girvan Bay in the South, a little east of Lendalfoot". Außerdem warnt ihn der künstliche Vogel vor den mysteriösen "geteit chemosit". Natürlich leistet Cromis dieser Aufforderung nicht Folge. 
Nach manchen Fährnissen erreichen unsere Helden das Heerlager tatsächlich am Tag vor der großen Schlacht. Doch ihr scheinbarer Erfolg ist bedeutungslos. Ihre Anwesenheit macht keinerlei Unterschied. Nicht nur hält der General sie für irgendwelche dahergelaufenen Wichtigtuer und weigert sich, das Kommando an sie abzugeben. Als Conna Moidarts Armee über dem Tal auftaucht, zeigt sich außerdem, dass diese nicht allein aus Menschen besteht. Der Thronprätendentin ist es gelungen, irgendwelche furchterregenden, golemartigen Automaten aus der Zeit der Afternoon Cultures zu reaktivieren. Die geteit chemosit sind nicht nur schier unbesiegbar, sie besitzen auch die grausige Angewohnheit, ihren Opfern mit chirurgischer Präzision die Gehirne aus dem Schädel zu schneiden. Birkin Grifs kleine Schmugglerbande, deren Mitglieder keine Namen bekommen haben und im Grunde nur dazu da sind, im Laufe des "Abenteuers" einer nach dem anderen getötet zu werden (ein bisschen wie Red Shirts in einer alten Star Trek - Episode), wird völlig ausradiert. Cromis darf zwar den Verräter Norvin Trinor, der die feindlichen Truppen kommandiert, in heroischem Stil zu einem Duell herausfordern, doch auch das ändert nichts am Ablauf der Schlacht. Im vorausgehenden Wortwechsel vertritt Trinor übrigens eine "Philosophie", die vielleicht nicht zufällig an Robert E. Howards Ideal des "gesunden Barbarentums" erinnert:
There is a vitality in the North, Lord Cromis, that was lost to Viriconium when (king) Methven died. She (Conna Moidart) offered me an expanding culture in return for a dead one.
Allein das Auftauchen eines Luftschiffs mit Queen Jane persönlich an Bord, bewahrt unsere Helden (abzüglich des alten Theomeris Glyn, der den Heldentod stirbt) vor dem sicheren Verderben.
 
Nun, da alles verloren scheint, folgen die drei Überlebenden endlich der Aufforderung des Lämmergeiers und machen sich zusammen mit der Königin auf den Weg zum Turm von Cellur. Diese zweite Queste ist relativ ereignisarm. Der Turm selbst erinnert in seinem Aussehen interessanterweise ein kleines Bisschen an Tolkiens Orthanc:
It had been formed in some unimaginable past from a single obsidian monolith two hundred feet long by seventy or eighty in diameter; raised on its end by some lost, enormous trick of engineering; and fused smoothly at its base into the bedrock of the island. Its five facets were sheer and polished; in each was cut twenty tall, severe windows. 
Cellur "the Birdmaker", der sie hier erwartet, ist allerdings kein heimtückischer Saruman. Der geheimnisvolle Gelehrte, der wie niemand sonst auf der Welt die Technologie der Afternoon Cultures studiert hat, ist zwar nicht an politischen Machtkämpfen interessiert.
– "the victory of Viriconium is as unimportant to me as the victory of the Northmen" –, sieht sich aber dennoch getrieben, in den Konflikt einzugreifen, denn das Erwecken der geteit chemosit bedrohe letztenendes das Überleben der Menschheit. Sobald Conna Moidarts Gegner besiegt wären, würden sich die Automaten zwangsläufig gegen die Sieger wenden:
All weapons are two-edged: it is the nature of weapons to be deadly to both user and victim – but these were the final weapon, the absolute product of a technology dedicated to exploitation of its environment and violent solution of political problems. They hate life. That is the way they were built.
Und so beginnt die dritte Queste. Unsere Helden müssen das "Zentralgehirn" finden, von dem aus die geteit chemosit gesteuert werden, und die Automaten deaktivieren. Ihr Weg führt sie zuerst in einen Dschungel voller Riesenfaultiere und dann zu einer versunkenen Stadt der Afternoon Cultures mit dem romantischen Namen "Thing Fifty". Dort fallen sie Norvin Trinor und seinen Nordmännern in die Hände. Doch glücklicherweise befindet sich der Verräter auf derselben Queste wie sie. Conna Moidart hat in der Zwischenzeit selbst die Gefahr erkannt, die von ihren künstlichen "Verbündeten" ausgeht. Gemeinsam erreicht die Gruppe das "Zerntralgehirn". Den Belehrungen Cellurs folgend macht sich Tomb an dem Mechanismus zu schaffen. Tage vergehen. Schließlich kann Birkin Grif seine angestaute Wut nicht länger kontrollieren und fällt in einer Art Blutrausch über die Nordmänner her. Es kommt zum klassischen Zweikampf mit dem Verräter. Doch ganz wie Cromis' Duell mit Norvin Trinor ist auch diese "heroische" Konfrontation ohne Bedeutung. Denn in einer überraschende Wendung der Ereignisse ist es Tomb nicht nur gelungen, die geteit chemosit zu deaktivieren, er hat auch eine Gruppe von Menschen der Afternoon Cultures, deren Gehirne in dem Komplex aufbewahrt wurden, wieder zum Leben erweckt. Kurz nachdem Grif sein Leben auf Trinors Klinge ausgehaucht hat, wird die Situation mit Hilfe dieser neuen Verbündeten ohnehin bereinigt. 
Wenn man genauer hinschaut, erweist es sich also, dass praktisch alle kriegerisch-"heroischen" Taten der Protagonisten letztenendes zu nichts führen als zu sinnlosem Blutvergießen. Tomb wird zum eigentlichen Helden des Romans nicht durch seine "power-axe" und sein furchteinflößendes Exoskelett, sondern durch sein Wissen und seine technische Findigkeit.  
Der "Zwerg" hat grandiose Pläne. Er wird die Auferstehung ganzer Heerscharen von Menschen der Afternoon Cultures initiieren: "We will build a new Viriconium together, the Methven and the Reborn Men, side by side –". Doch Cromis hält das für einen fatalen Fehler:
They are too beautiful, Tomb; they are too accomplished. If you go on with this, there will be no new empire instead, they will absorb us, and after a millenium's pause, the Afternoon Cultures will resume their long sway over the earth.
No malice will be involved. Indeed, they may thank us many times over for bringing them back to the world. But, as you have said yourself, they have a view of life that is alien to us; and do not forget that it was them who made the waste around us.
Da er seinen Freund nicht von dem Vorhaben abbringen kann, verlässt Cromis ihn und Queen Jane und kehrt in sein selbstgewähltes Exil im Turm an der Meeresküste zurück. Und so findet der eigentliche "Triumph des Guten", die Rückeroberung Viriconiums und das Ende Conna Moidarts sozusagen "off-screen" statt. Wir erleben sie nicht selbst mit, sondern bekommen nur von ihnen erzählt.
Diese finale Wendung ist sicher der offensichtlichste Bruch mit den Konventionen einer generischen Fantasygeschichte. Zumal wir trotz eines versöhnlich anmutenden Epilogs, in dem die Königin Jahre später Cromis aufsucht und ihn zur Rückkehr nach Viriconium überredet, nicht wissen können, welche Folgen die Auferstehung der Menschen der Afternoon Cultures letztlich haben wird.
 
Soweit die bloße Handlung von The Pastel City. Doch der eigentliche Gehalt des Romans liegt im Motivisch-Atmosphärischen.
 
Die Vermischung von Science Fiction - und Fantasy - Elementen war in der Genreliteratur der Zeit nichts ungewöhnliches. Im Gegenteil. Schließlich gilt selbiges auch für solche Meilensteine der Sword & Sorcery wie Tanith Lees Birthgrave (1975) und C.J. Cherrhys Gate of Ivrel (1975). Doch der Effekt, den M. John Harrison damit erzielt, ist ein gänzlich anderer. Bei ihm sind die SciFi - Elemente Relikte der Vergangenheit. Dabei ist das, was wir über den Untergang der Afternoon Cultures erfahren, zwar einerseits deutlich als Kommentar auf die moderne Industriegesellschaft zu lesen. So etwa wenn Birkin Grif beim Anblick der "Metal-Salt-Marsh" sagt:
We should not strive too hard to imitate the Afternoon Cultures. They killed this place with industry and left it for the big monitors. In part, if not in all, they fell because they exhausted the land. We mine the metal they once used, for instance,because there is no ore left in the earth.  
Doch andererseits waren die Afternoon Cultures eindeutig nicht unsere Zivilisation, sondern etwas gänzlich fremdartiges. Einige wenige ihrer Relikte wie die "false windows" (=Bildschirme) in Queen Janes Thronsaal und Cellurs Turm  können wir noch als "moderne" Technologien identifizieren. Doch solche Momente, in denen unser Verständnis über das der Figuren, durch deren Augen wir die Welt betrachten, hinausgeht, sind selten. Im Allgemeinen wirken die Überbleibsel der Afternoon Cultures auf uns ebenso rätselhaft wie auf sie. Das hier ist nicht Fred Saberhagens Empire of the East, in dem die Helden über Panzer und Düsenjäger stolpern. So wissen wir z.B., dass die geteit chemosit Automaten sind, aber sie hinterlassen nicht den Eindruck von Robotern. Die furchterregenden Kreaturen sind etwas anderes, unbegreifliches. Und es ist nicht allein die Technik, die so fremdartig wirkt. Vieles spricht dafür, dass sich die Menschen der Afternoon Cultures auch in ihrem Denken und ihrer Weltsicht sehr deutlich von allem unterschieden, was wir für "normal" halten würden. 
Der Prolog von The Pastel City enthält zwar einen kurzen Abriss der Geschichte Viriconiums, der uns den Hintergrund für den Konflikt zwischen dem Imperium und den Nordmännern erklärt. Doch alles, was davor kam, bleibt äußerst vage. Die Vergangenheit der Welt ist undurchschaubar und rätselhaft geworden. Davon legt selbst die Landschaft Zeugnis ab, die von den Afternoon Cultures geformt wurde. 
The Waste rolled north – umber and ochre, dead, endless. Intersecting streams with high, vertical banks scored deep, meaningless ideographs into the earth. 
 A dim, disturbing phosphorescence of fluctuating colour hung over the mere and its environs; caused by some strange quality of the water there, it gave an even but wan light. There were no shadows. The dripping trees loomed vauguely at the periphery of the clearing.
Ultimatives Symbol der fantastischen Fremdartigkeit der Afternoon Cultures sind die "Name Stars", die von ihnen in den Himmel gesetzt wurden.
The Name Stars burned with a chilly emerald fire: for millenia they had hung there, spelling two words in a forgotten language.
Und weil die Vergangenheit so fantastisch und unverständlich geworden ist, verliert die Welt sozusagen ihre Basis in der Zeit. Wir wissen nicht, wie sie entstanden ist. Für beinah alle Sekundärwelten der klassischen Fantasy ist die Historie ein äußerst wichtiges Fundament. In Viriconium löst sich dieses Fundament im Ungewissen auf. Und damit wird die Welt selbst unscharf, unwirklich. Zumindest in The Pastel City existiert zwar noch das Konzept einer objektiven chronologischen Abfolge von Ereignissen, die zur Gegenwart geführt haben, aber diese Abfolge ist bereits unüberschaubar und damit unsicher geworden. Deutlich ausgedrückt findet sich das in der Figur Cellurs, denn dem geheimnisvollen "Bird Maker" sind seine Herkunft und seine eigentliche Natur selbst ein Rätsel:
Certainly, you may ask who I am, my lord
It is my tragedy that I do not know. I have forgotten. I do not know when I came to this tower, only that I have been here for at least a millenium.
I have no doubt that I was here during the collapse of what you would call the Afternoon Cultures – that, at that time, I had already been here for at least a century. But I cannot remember if I actually belonged to that rather mysterious race. They are lost to me, as they are to you.
I have no doubt also that I am either immortal or cursed whith an extreme longevity; but the secret of that is lost in Time. Whether it was a desease that struck me, or a punishment that was conferred upon me, I do not know. My memory extends reliably for perhaps two hundred years in the past. No further.
That is the curse of the thing, you see: the memory does not last. There is little enough space in one skull for a lifetime's memories. And no room at all for those of a millenium. 
Zeit ist eines der zentralen Motive des Romans. Das Wort "Time" wird durchgehend groß geschrieben, was ihm die Qualität einer metaphysischen Kategorie verleiht. Ja selbst von den komplexen, "mathematischen" Formen der "Pastel Towers" von Viriconium wird gesagt, dass einige sie für "representations of the actual geometrics of Time" hielten. Sicher kann sich da allerdings niemand sein, denn auch dieses Wissen ist längst verloren gegangen.
Aufs engste verwoben mit dem Motiv der Zeit ist das des Verfalls. Beide tauchen immer wieder in den Liedern auf, die tegeus-Cromis zu den Klängen seines exotischen Saiteninstruments anstimmt:
The narrative of this place: other than the smashed arris of the ridge there are only sad winds and silences ... I lay on the cairn one more rock ... I am possessed by Time ...
 
Rust in our eyes ... metallic perspectives trammel us in the rare earth north ... we are nothing but eroded men ...  
Dabei existiert das Verfallsmotiv auf zwei Ebenen: Der allgemeineren von der "Abenddämerung der Welt" und der spezifischeren vom Niedergang Viriconiums und dem Zerfall des Ordens der "Methven". Queen Jane führt die beiden zusammen, wenn sie sagt: "It is a poor empire I have, win or lose. Everywhere the death of the landscape. In miniature, the end of the world."
 
Man könnte meinen, dass sich eine solche Thematik in einer Dying Earth - Geschichte beinah von selbst verstehen würde. Doch wenn man sich andere Vertreter dieses "Mikrogenres" anschaut, ist dem keinesfalls immer so. Harrison knüpfte hier vielmehr ganz bewusst an eine Gemütslage an, die zu dieser Zeit nicht nur in den bürgerlichen Schichten Englands weit verbreitet war und manchmal als "Post-Imperial Melancholy" bezeichnet wird. Wie er in dem Interview mit Cheryl Morgan sagt:
I don't object to "Post-Imperial Melancholy" as a description except inasmuch as it tends to be applied as if the New Wave writers were unaware of what they were doing as if the critic using the label has somehow discerned an unconscious shared motive we weren't able to see at the time. That's not the case. We were aware of what was happening, and we talked about it a lot.
Die "glorreichen" Tage des Britischen Empire lagen zu dieser Zeit bereits lange zurück. Schon die sog. "Suez-Krise" von 1954, als England gemeinsam mit Israel und Frankreich eine Invasion Ägyptens versucht hatte, hatte auf äußerst demütigende Weise bloßgelegt, dass das einstige Weltreich seine Interessen nicht mehr länger gegen den Willen der USA durchsetzen konnte und sich mit der Rolle eines Juniorpartners des neuen Hegemons bescheiden musste. Und seitdem war es nur noch schlimmer geworden. Ende der 60er / Anfang der 70er hatten die allermeisten Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangt. Vom einstigen Empire war wenig mehr übrig geblieben als das "Commonwealth". Parallel dazu hatte sich ein melancholisch-verklärender Blick auf die Vergangenheit entwickelt. Wie Harrison selbst einmal kommentierte: "When I started writing, Britain was just becoming RetroLand. We had ceased to be a live culture.
Etwas davon findet sich auch in dem nostalgischen Blick der Bewohner Viriconiums auf die Afternoon Cultures. Auch wenn die ursprüngliche Inspiration Mary Webbs Gedicht Viriconium gewesen war, in dem es um die alte Römersiedlung Viriconium Cornoviorum in Shropshire geht.*
Zugleich greift Harrison damit aber auch eines der zentralen Motive der tolkienschen Fantasy auf: Die Trauer über und die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die so viel schöner, edler und wunderbarer war, doch unwiederbringlich verloren ist.
 
Natürlich unterläuft er dabei das Ganze auf subversive Art. Ob die "Methven" je der "edle Ritterorden" waren, als der sie in der Fantasie ihrer Ex-Mitglieder fortleben, ist wie gesagt fragwürdig. Ähnliches gilt für das gesamte Imperium von Viriconium. Gleichfalls erscheinen die Afternoon Cultures den Nachgeborenen zwar wie eine glanzvolle Ära von Macht und Reichtum, doch die verwüsteten Ländereien, durch die unsere Helden wandern, sind das eigentliche Erbe dieser Zivilisation.
Doch das ist noch nicht alles. Daneben gibt es auch noch subtilere Momente. So heißt es bei tegeus-Cromis Aufbruch von seinem Turm bei Balmacara:
Out of some strange sentiment, he had left the light burning in the upper room. But the baan that had killed his sister he had in an insultated sheath next to his skin, because he knew he would not come again, riding to the light out of battle, to Balmacara in the morning.
Das klingt großartig tragisch-heroisch. Doch in Wirklichkeit reitet Cromis hier nicht in den Untergang wie ein epischer Held. Er wird am Ende des Romans sehr wohl zu seinem Turm zurückkehren! Mehr noch: Die ganze finale Wendung, die Auferstehung der Menschen der Afternoon Cultures, ist ein Auf-den-Kopf-Stellen der tolkienschen Melancholie. Die Elben verlassen Mittelerde nicht, sie kehren nach Mittelerde zurück! Doch bleibt ungewiss, ob das ein Segen oder ein Fluch ist.
 
Im Rückblick war M. John Harrison nicht wirklich zufrieden mit dem, was er in The Pastel City erreicht hatte:
I tried to make a fantasy that was a bit more "realistic": more human. I realised that was not possible – because fantasy is based on a big simple idea about people, rather than on the way people actually act 
Ich für meinen Teil halte den Kurzroman zwar schon für eine sehr lohnenswerte Lektüre. Zumal Harrison sich bereits in seinen frühen Werken als ein brillanter Stilist erweist. Dennoch ist The Pastel City auch für mich in erster Linie das Sprungbrett für seinen Nachfolger A Storm of Wings. Viele der Ideen und Motive, die hier bloß angedeutet werden, gelangen dort zur vollen Entfaltung. Der erste Teil des Viriconium - Zyklus ist trotz allem immer noch ein relativ "normaler" Fantasyroman. Richtig weird wird's erst ab dem nächsten Mal. 
 

 
 

* ViroconVirocon 
Still the ancient name rings on
And brings, in the untrampled wheat,
The tumult of a thousand feet.

 Where trumpets rang and men marched by,
None passes but the dragon-fly.
Athwart the grassy town, forlorn,
The lone dor-beetle blows his horn.

The poppy standards droop and fall
Above one rent and mournful wall:
In every sunset-flame it burns,
Yet towers unscathed when day returns.

And still the breaking seas of grain
Flow havenless across the plain:
The years wash on, their spindrift leaps
Where the old city, dreaming, sleeps.

Grief lingers here, like mists that lie
Across the dawns of ripe July;
On capital and corridor
The pathos of the conqueror.

The pillars stand, with alien grace,
In churches of a younger race;
The chiselled column, black and rough,
Becomes a roadside cattle-trough:

The skulls of men who, right or wrong,
Still wore the splendour of the strong,
Are shepherds’ lanterns now, and shield
Their candles in the lambing field.

But when, through evening’s open door,
Two lovers tread the broken floor,
And the wild-apple petals fall
Round passion’s scarlet festival;

When cuckoos call from the green gloom
Where dark, shelving forests loom;
When foxes bark beside the gate,
And the grey badger seeks his mate  

There haunts within them secretly
One that lives while empires die,
A shrineless god whose songs abide
Forever in the countryside.

aus: Mary Webb: Poems and The Spring of Joy. S. 53f.

Sonntag, 18. Juli 2021

Strandgut

Freitag, 9. Juli 2021

Let Me Tell You Of The Days Of High Adventure

M. John Harrisons Viriconium - Zyklus (Teil 1)

 
A good ground rule for writing in any genre is:
start with a form, then undermine its confidence 
in itself. Ask what it's afraid of, what it's trying to hide 
– then write that. 
M. John Harrison

 

Teil 2 * Teil 3 * Teil 4 * Teil 5 * Teil 6

Ich geb' zu, es ist schon etwas dreist, diesen Beitrag unter dem Banner von "Let Me Tell You Of The Days Of High Adventures" zu veröffentlichen. Wohl nur die wenigsten würden den Viriconium - Zyklus als Sword & Sorcery bezeichnen. Und das aus gutem Grund. In allen seinen Werken verweigert sich der britische Autor M. John Harrison immer wieder ganz bewusst irgendwelchen Genrekonventionen:  

I am not in favour of categorisation (or even taxonomy, though I know some very nice people who do it). My urge is less to transgress genre boundaries than insult them, in the medical sense. 

Und doch denke ich, dass es nicht völlig an den Haaren herbeigezogen ist, die Viriconium - Geschichten zumindest im Umfeld der Sword & Sorcery anzusiedeln. Harrison hat die ersten beiden Kurzromane The Pastel City und A Storm of Wings einmal als "anti-fantasy" bezeichnet. Sie entstanden in kritischer Auseinandersetzung mit den inhaltlichen und formalen Konventionen des Genres – sowohl der High als auch der "Low" Fantasy. Damit sind sie für mich Teil eines Gespräches innerhalb des Genres. Selbst wenn die ursprüngliche Absicht des Autors die gewesen war, die Leserschaft generischer Fantasystories vor den Kopf zu stoßen.  

Michael John Harrison wurde am 26. Juli 1945 in Rugby, Warwickshire, geboren. Die Stadt ist Sitz der berühmten Eliteschule gleichen Namens ("a place were aristocratic children are educated"), doch als Kind aus einer Mittelklassefamilie (der Vater war Ingenieur), besuchte der junge Harrison selbstverständlich die sehr viel bescheidenere Dunsmore (heute Ashlawn) School, was er in einem Brief an Harlan Ellison einmal so beschrieben hat:

I was educated with unbelievable ineptitude at a meat-factory of a school that guaranteed to turn a teenager into a horn-rimmed research chemist in no less than eight years [...] I loathed it. (1)
Nicht zufällig könnten einem bei dieser Formulierung Assoziationen zu Alan Parkers Filmadaption von Pink Floyds The Wall (1982) kommen. Der historisch-soziale Hintergrund ist derselbe. 
Ganz allgemein fühlte sich Harrison in diesem kleinbürgerlichen Milieu von früh an "bored, alienated, resentful and entrapped". Das Großbritannien der Nachkriegszeit war eine Welt, auf die ein sensibler junger Mensch wie er nicht anders als mit dem Verlangen nach Rebellion reagieren konnte: "Everything exciting was going on outside the world defined by parents and school". Hierin dürfte denn auch eine der wichtigsten Wurzeln für seine bald schon erwachenden Liebe zum Phantastischen gelegen haben.
I liked anything bizarre, from being about four years old. I started on Dan Dare and worked up to the Absurdists. At 15 you could catch me with a pile of books that contained an Alfred Bester, a Samuel Beckett, a Charles Williams, the two or three available J. G. Ballards, On the Road by Jack Kerouac, some Keats, some Allen Ginsberg, maybe a Thorne Smith.
Eines der prägendsten literarischen Erlebnisse dieser Zeit war jedoch sicher seine erste Lektüre von T.S. Eliots The Waste Land im Alter von 14 Jahren: Harrison fühlte sich "like being rolled over". Was ihn an dem Gedicht so sehr faszinierte, war u.a. die Art, in der Eliot "
[makes] a whole thing out of fragments and at the same time demonstrates that it is still fragmentary." Der Einfluss von The Waste Land ist auch im Viriconium-Zyklus mitunter noch deutlich spürbar.
Nachdem er 1963 die Schule hinter sich gebracht hatte, fand er sich für die nächsten Jahre "more out of  employment than in".
I spent a short time working with horses in a fox-hunting stable, where I learned that a feudal system still operates in rural England, and that the New Peasantry like it. Or maybe they're the Old Peasantry, still dizzy from learning that the world is round and that Jesus has pretty much had it. I spent an even shorter time at a teacher training-college, where I learned that 90% of teachers are dedicated to produce clean, short-haired adding-machines, using children for raw material. (1)
In seiner Freizeit bearbeitete er seine E-Gitarre oder schrieb Saki-Pastiches.
1966 wurde Harrisons erste Kurzgeschichte Marina in Kyril Bonfigliolis Magazin Science Fantasy veröffentlicht. (2) Im selben Jahr brach er seine Lehrerausbildung ab und zog nach London.
 
Wohl nicht zufällig treffen wir in den Viriconium - Geschichten immer wieder auf Figuren, die aus der Provinz kommen und in die Metropole ziehen, wo sie Teil der großstädtischen Bohème werden. Dabei werden ihre Wünsche und Hoffnungen letztenendes stets auf die eine oder andere Weise enttäuscht. Harrisons erste Erfahrungen mit Swinging Londons Künstler- und Intellektuellenszene scheinen gleichfalls nicht die Besten gewesen zu sein. Das lässt zumindest seine allererste Viriconium - Geschichte Lamia Mutable vermuten, die er im März 1967 (3) schrieb, "while living off potatoes & eggs & listening to Jeff Beck’s 'Beck’s Bolero' in an attic room off the Holloway Road". Veröffentlicht wurde sie allerdings erst 1972 in Harlan Ellisons Anthologie Again, Dangerous Visions. Harrison selbst charakterisierte sie als "a snide parody of London intellectual life" (4).
 
Lamia Mutable ist nicht gerade der beste Startpunkt für unser etwas dreistes Unternehmen, den Viriconium - Zyklus unter Sword & Sorcery  zu fassen. Und da wir der Geschichte in überarbeiter Form ohnehin noch einmal unter dem Titel The Dancer From the Dance begegnen werden, brauchen wir uns vielleicht auch nicht gar zu genau mit ihr zu beschäftigen. Erwähnt sei aber zumindest, dass wir in ihr zum ersten Mal das Bistro Californium betreten, jenen Treffpunkt von Viriconiums Bohème, der in beinah allen Geschichten des Zyklus vorkommt. Auch einigen seiner hier erwähnten Stammgästen wie "Kristodoulos, the blind painter" werden wir später wieder begegnen. 
Die Story beginnt mit einem Autodafé. Unter den Zuschauern befinden sich Birkin Grif und seine Partnerin Lamia, "the woman without skin". Die beiden sind "amused, but unimpressed" und vergleichen das Geschehen mit anderen Spektakeln, denen sie offenbar in der Vergangenheit beigewohnt haben: "Pompeii" "Gomorrah" "Jeanne d'Arc""Hiroshima" "Virgil Grissom" "Buchenwald". Zurück im Bistro Californium gesellt sich der groteske Dr. Grishkin zu ihnen. Er erklärt, dass er sie zu den "ash-flats of Wisdom" führen werde. Eine Aufforderung, der sie nicht widerstehen können, auch wenn Grif skeptisch nachhakt: "But will He be there? There is little sense in risking so much if He is not there." Obwohl es sich um ein verbotenes Unternehmen handelt, machen sich die Drei schließlich zu der Ödnis jenseits der Stadtgrenzen auf.
Wisdom is a wilderness. Long ago, there was a war here; or perhaps it was a peace. Most of the time there is but small difference between the two; love and hate lean so heavily upon one another, and both are possessed of a monstrous ennui. Certainly, somethig destroyed whatever Wisdom was; so well that no one has known its former nature for two centuries. 
Als sie ihr Ziel inmitten der Aschefelder erreicht haben, taucht "Er" nicht auf. Stattdessen beginnt Lamia zu tanzen und eine Reihe von Metamorphosen zu durchlaufen. Am Ende verwandelt sie sich in einen menschlichen Fötus. Grif protestiert: "Cheat! Liar! This is not what we came here for, this is not it at all, you have cheated ... it isn't fair!" Worauf Grishkin erwiedert:
Fair? You have yet to learn the rules of the game! Fair? There is no fairness to inevitability. This was inevitable, Mr. Birkin Grif; inevitable because it has happened. Accept it because of that. Do not look to me for fairness. [...] You expect too much, my friend. You desire: and expect the universe to provide. But this is not the way of things. No indeed. 
Am Ende tötet Grishkin die beiden, denn "he has a tidy mind".
Lamia Mutable ist eine faszinierende Lektüre und schon allein sprachlich-stilistisch sehr beeindruckend.  Aber ich müsste lügen, wollte ich behaupten, 100%ig verstanden zu haben, was Harrison mit der Geschichte genau aussagen wollte. Es ist klar, dass vor allem der Schlusspart "I Remember Corinth" stark auf John Keats' Gedicht Lamia anspielt. Dabei übernimmt Dr. Grishkin die Rolle des Philosophen Apollonius, unter dessen wissendem Blick Lamia ihre ursprüngliche Gestalt annimmt. Er sagt sogar ausdrücklich: "I expected a snake." Schon Keats' Graubart ist eine ambivalente Figur, doch Grishkin ist schlicht abstoßend und monströs. Allerdings erscheinen Grif und Lamia kaum in besserem Licht. Ich sehe in ihnen Vertreter einer selbstverliebten Intelligenzija, die menschlichem Leid mit einer zynischen Distanziertheit gegenüberstehen. Aber vielleicht suchen selbst sie nach einem tieferen Sinn im Dasein? Und das ist es, was Grishkin ihnen verspricht? Die Figur des mysteriösen "He", den Grif in den Aschefeldern anzutreffen hofft, hat mich jedenfalls an Samuel Becketts Warten auf Godot denken lassen. Und die "Philosophie" die Grishkin am Ende predigt, ließe sich als eine bittere Parodie auf den Existenzialismus interpretieren, der sich in den intellektuellen Kreisen dieser Zeit ja großer Beliebtheit erfreute.
 
Aber auch wenn M. John Harrisons erste Begegnung mit der Londoner Bohème nicht gar so erbaulich gewesen sein sollte, die entscheidende Wende kam schon bald, als er Michael Moorcock kennenlernte. Dieser leitete seit der Mai/Juni - Nummer 1964 das Magazin New Worlds, das sich rasch zum Zentrum der New Wave entwickelt hatte, zu der u.a. J.G. Ballard, Brian W. Aldiss, Barrington J. Bayley, John Sladek, Norman Spinrad und Thomas M. Disch gehörten. Als Harrison zu der Bewegung stieß, war nach seiner eigenen Einschätzung "all the important work" bereits getan. Dennoch muss er es genossen haben, eine Gruppe Gleichgesinnter zu finden, die wie er der Science Fiction {und allgemeiner der phantastischen Literatur} eine neue Richtung geben wollten:
We had such ambitions, from the poltical to the literary. [...] I think we took a field that was frightened of practically everything, from its own sexuality to the politics of the day, and shook it until it took due note of those things.
Es ist unmöglich, den Charakter und die Bedeutung der New Wave richtig einzuschätzen, wenn man sie ausschließlich im Kontext der Science Fiction - Literatur betrachtet. Harrison selbst hat einmal ganz richtig bemerkt: "New Worlds and the New Wave were a reflection of the more general cultural changes which went on from the late 1950s to the late 1970s". Doch selbst das greift meiner Meinung nach noch etwas zu kurz. Denn diese kulturellen Veränderungen spiegelten ihrerseits auf die eine oder andere Weise tiefere gesellschaftliche und politische Entwicklungen wider.
 
Viele der Initiatoren der New Wave hatten noch sehr direkte Erfahrungen mit dem Krieg gemacht. Wie Moorcock einmal gesagt hat: "I'd come out of the London Blitz, Ballard from the Japanese civilian prison camps [in Schanghai], and Aldiss from the war in Malaya". (5) Liest man seinen Essay A Child's Christmas in the Blitz, bekommt man freilich den Eindruck, dass das Leben im bombardierten London aus kindlicher Perspektive weniger mit Grauen als vielmehr mit einem Gefühl von Abenteuer und Freiheit verknüpft war. (6) Doch wie dem auch sei, ganz sicher waren diese Erfahrungen für die betreffenden Autoren von großer Bedeutung. Die von ihnen ins Leben gerufene Bewegung jedoch muss in erster Linie als eine Reaktion auf die Ordnung gesehen werden, die aus dem großen Weltgemetzel erwachsen war.
 
Zum besseren Verständnis ist es nötig, hier etwas weiter auszuholen. Vom Mai 1940 an wurde Großbritannien von einer "Nationalen Koalition" aus Tories und Labour Party mit Winston Churchill als Premierminister regiert. Eine offizielle Opposition gab es während des Krieges de facto nicht mehr. Damit einher ging ein allgemeiner "Burgfrieden", d.h. eine Unterdrückung des Klassenkampfes durch Labour und die Gewerkschaftsbürokratie. Nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion im Frühjahr 1941 schlossen sich diesem auch die Stalinisten der KPGB an. Dennoch kam es ab 1941 immer häufiger zu wilden Streiks. Weitsichtigere Vertreter des britischen Establishments wie der liberale Ökonom William Beveridge waren sich bewusst, dass umfangreiche Reformen von Nöten waren, wenn sich nicht das wiederholen sollte, was nach dem 1. Weltkrieg geschehen war, als Großbritannien jahrelang von heftigsten Klassenkämpfen erschüttert worden war, die das Land mit dem Generalstreik von 1926 schließlich an den Rand einer Revolution geführt hatten. (7)
Mit dem Ende des Krieges kam es weltweit zu einem gewaltigen Aufschwung des Klassenkampfes. In England gelang es der herrschenden Elite, diese Bewegung weitgehend in parlamentarische Kanäle zu lenken. Die Wahlen von 1945 führten zu einem überwältigenden Sieg der Labour Party. Unter dem neuen Premier Clement Attlee wurden die Fundamente des modernen "Wohlfahrtsstaates" gelegt: Gründung des NHS (National Health Service) und umfangreicher sozialer Sicherungssysteme (National Insurcance Act von 1946); ein ehrgeiziges öffentliches Wohnungsbauprogramm; Verstaatlichung einer Reihe von Schlüsselindustrien. 
Das Wahlmanifest der Labour Party stellte dies als erste Schritte auf dem Weg zum Sozialismus dar (8), und Ken Loach hat noch 2013 in seinem (trotzdem ganz sehenswerten) Dokumentarfilm The Spirit of '45 versucht, diesen Mythos wiederzubeleben. Tatsächlich jedoch reagierte die Attlee-Regierung extrem feindselig auf alle selbstständigen Regungen der Arbeiterklasse. Wiederholt setzte sie Armee und Justizapparat zur Unterdrückung von Streiks ein. Die Verstaatlichungen (begleitet von großzügigen Entschädigungszahlungen) wurden auf gänzlich bürokratische Weise durchgeführt, ohne auch nur formelle Zugeständnisse an das Prinzip der Arbeiterkontrolle. Vielleicht am deutlichsten zeigte sich der Klassencharakter der Labour-Regierung in ihrer brutalen imperialistischen Außenpolitik. (9)
 
Ohne Zweifel führten die Sozialreformen auf längere Sicht zu einer deutlichen Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen breiter Schichten der arbeitenden Bevölkerung. Auch wenn die ersten Jahre nach dem Krieg immer noch von rigider Rationierung und einem staatlich verhängten Lohnstopp geprägt waren. Doch die Klassenstruktur der Gesellschaft und die eigentlichen Machtverhältnisse wurden nicht angetastet. Alle Hoffnungen auf eine radikalere Umwälzung der alten Ordnung wurden enttäuscht. Die überkommenen sozialen Hierarchien blieben weiter bestehen vom feudalen Plunder der Monarchie an der Spitze bis hinab zur Despotengewalt von Dorfschullehrer oder Familienvater. Und mit ihnen natürlich auch die sie legitimierende Moral und Kultur.
 
Kein Wunder, dass sich schon bald Anzeichen der Rebellion gegen diese Ordnung zeigten. Wenn auch nicht unbedingt in einer politisch bewussten Form. So tauchten in den frühen 50er Jahren die Teddy Boys (und Girls) als eine "Bewegung" der revoltierenden Arbeiterklasse-Jugend auf. Jazz, Blues und später Rock 'n Roll gaben diesem Lebensgefühl musikalischen Ausdruck. Wie Moorcock einmal erzählt hat: 

I became an enthusiast for the blues, in common with many of my generations, and learned some of Woody Guthrie’s licks from Jack Elliot. I met Big Bill Broonzy and Muddy Waters and Howlin’ Wolf. Their music was the music of hard times and though I don’t pretend a white Londoner shared the same experience as that of a black Clarksdale share-cropper, that music did find an echo in my soul so that I was also privileged to enjoy the enthusiasms and pleasures of Rock and Roll from its earliest years. 

Prominenten literarischen Ausdruck fand das Aufbegehren zuerst in den Werken der sog. "Angry Young Men", Schriftstellern wie John Osborne (Look Back in Anger), Kingsley Amis (Lucky Jim) und Alan Sillitoe (Saturday Night and Sunday Morning). Etwas abseits dieser Strömung stand Harold Pinter mit seinen frühen Stücken wie The Room, The Birthday Party, The Caretaker und The Homecoming

 
Dies war der Hintergrund, vor dem sich die künftige New Wave herauszubilden begann, lange bevor Michael Moorcock die Leitung von New Worlds übernahm. 
Irgendwann Mitte der 50er Jahre lernten er und Barrington Bayley sich in den familiären Kreisen der Londoner SF-Szene kennen, die sich regelmäßig in der "old Globe Tavern near Leather Lane" traf. Rasch entwickelte sich eine enge Freundschaft zwischen den beiden. Es waren "hard times, poor times". Die beiden führten eine typische Bohème-Existenz; lebten oft von der Hand in den Mund; schrieben alles, was sich irgendwie verkaufen ließ; und hatten doch nicht selten kaum etwas zu Essen im Haus. Daneben führten sie stundenlange Gespräche über die Unzulänglichkeiten der existierenden Science Fiction - Literatur. Hier wurden die Grundlagen für die spätere Entwicklung gelgt.
Ein wichtiger Wendepunkt war anscheinend eine "Konferenz", die Moorcock zusammen mit John Brunner 1960 organisierte und die ziemlich ernüchternde Resultate zeitigte. Er erzählte darüber später:
[We] decided to call a conference of SF writers, with a view to starting some kind of association. The meeting was very disappointing to me, Barry Bayley and Jimmy (Ballard). We’d hoped to hear some stimulating stuff about, as it were, a new literature for the space age. Instead all these guys were interested in was ‘how to break into new markets — how to sell to TV’ and so on.
Ein Gutes kam allerdings doch aus dieser "Konferenz": Moorcock und Ballard, die sich bis dahin nur flüchtig gekannt hatten, stellten fest, dass sie in vielem ähnliche Ansichten über das Genre und sein Potential besaßen. Von da ab kamen sie regelmäßig zusammen, und diese Treffen, an denen oft auch Bayley teilnahm, ließen sich vielleicht als der Geburtsort der New Wave bezeichnen. Ballards Essay Which Way to Inner Space? und Moorcocks Aufsatz Play With Feeling, die im Mai 1962 bzw. April 1963 in New Worlds erschienen, wären dann so etwas wie ihre ersten "Manifeste". In letzterem warf Moorcock der gängigen Science Fiction der Zeit offen den Fehdehandschuh hin:
Let's have a quick look at what a lot of science fiction lacks. Briefly, these are some of the qualities I miss on the whole – passion, subtlety, irony, original characterization, original and good style, a sense of involvement in human affairs, colour, density, depth, and, on the whole, real feeling from the writer. I want to read an author who feels what he is talking about as well as knowing it. (10)
John Carnell, der langjährige Herausgeber von New Worlds und Science-Fantasy, der so etwas wie der Doyen der britischen SciFi der 50er und frühen 60er war, ließ sich mitunter zwar dazu überreden, auch Sachen wie Ballards The Terminal Beach oder Moorcocks Deep Fix zu veröffentlichen. Doch im Großen und Ganzen vertrat er einen eher konservativen Geschmack. Ballard und Moorcock spielten deshalb mit dem Gedanken, ein eigenes Magazin herauszugeben. Das erledigte sich natürlich, als letzterem 1964 überraschend angeboten wurde, die Leitung von New Worlds zu übernehmen. Und so wurde ironischerweise ausgerechnet Großbritanniens dienstältestes Science Fiction - Magazin zum Fokus, um den herum sich die Bewegung der Neuerer gruppieren konnte.
 
Die New Wave wird sehr oft als eine Revolte gegen die Konventionen der "Golden Age" - SF beschrieben. Entsprechend feindselig wurde sie von den konservativeren Kreisen des Fandoms aufgenommen. In Moorcocks Worten
When I started, it could be anything we wanted it to be. Of course, that was before we hit the very orthodox hard-core sf fans whose response to our work has scarcely changed in fifty years. These boys and girls don’t want anyone taking away their big throbbing machines or loveable vermin. As I said at Armadillocon recently, the sf fan world offered New Worlds nothing but antagonism. We triumphed in spite of it ...
Charles Platt, der 1966 zu dem Kreis um Moorcock stieß, hat in seinem Buch Gestalter der Zukunft (Dream Makers) sehr humorvoll beschrieben, wie man der New Worlds - Clique regelmäßig begegnete, wenn sie auf einem der traditionellen Szenetreffpunkte wie in der schon erwähnten Globe Tavern aufkreuzte:
Einmal schlug mich ein Fan, dem man es nie richtig machen konnte und der zufällig gerade mit einem Gipsbein herumhumpelte, mit seiner Krücke an den Kopf; aber im allgemeinen wurden die Dinge nicht so weit getrieben. Wir waren nur den ständigen Angriffen von verbitterten Fans ausgesetzt, die Moorcock in rüdem Ton vorwarfen (und ihn deshalb verdammten), "ihr" Science-Fiction-Magazin ruiniert zu haben, indem er es in ein elitäres pseudointellektuelles Gebilde voller Selbstmitleid und poetischer Zügellosigkeit verwandelt hatte [...] Daraufhin pflegte Moorcock sich das Haar zu raufen und dumpfe, kehlige Geräusche wie ein in die Enge getriebener Hund von sich zu geben, oder er beschimpfte und beleidigte sie oder drohte ihnen. Keine dieser Taktiken konnte diese einseitigen, verärgerten Leser jedoch ablenken. Sie hatten die Trägheit auf ihrer Seite. (11)
Doch das war nur ein Aspekt der New Wave. Tatsächlich ging der Ehrgeiz ihrer führenden Vertreter weit darüber hinaus, die Science Fiction endlich "erwachsen" machen zu wollen. Und schon gar nicht war ihr Ziel bloße Provokation. Ihnen ging es darum, geeignete literarische Formen für eine kritische Auseinandersetzung mit den Realitäten der Nachkriegsgesellschaft zu schaffen. Der klassische Sozialrealismus hatte sich dafür in ihren Augen als unzulänglich erwiesen. So bezeichnete J.G. Ballard einmal die Bewegung der "Angry Young Men" der 50er als
ein "völlig provinzielles Phänomen", das "dem literarischen Establishment nicht sonderlich wehgetan" habe. (12) Demgegenüber schien ihnen gerade die Science Fiction ein bislang weitgehend ungenutztes Potential zu enthalten. Ihre Haltung gegenüber dem Genre war deshalb auch keineswegs rein negativ. Vielmehr entdeckten sie wichtige Anknüpfungspunkte in den Werken der subversiveren Vertreter der amerikanischen SF wie Alfred Bester, Philip K. Dick, Cyril Kornbluth, Frederik Pohl und Ray Bradbury. Freilich sahen sie in diesen bloß die Anfänge einer Entwicklung, die es bewusst voranzutreiben gelte. Dabei sprengten sie sehr bewusst die überkommenen Genregrenzen. Eines ihrer größten Vorbilder bei diesem Unternehmen war William Burroughs, den Michael Moorcock im Editorial der ersten von ihm gestalteten Ausgabe von New Worlds quasi zum "Patron Saint" der Bewegung ausgerufen hatte:  
 [I]n a sense his work is the SF we've all been waiting for – it is highly readable, combines satire with splendid imagery, discusses the philosophy of science, has insight into human experience, uses advanced and effective literary techniques, and so on.
Entgegen all der Vorwürfe verbohrt-konservativer Fans, sie seien elitäre Pseudointellektuelle, die dem Genre den "Spaß" nehmen wollten, ging es Moorcock & Genossen gerade darum, eine neue Form der Literatur zu schaffen, die zugleich populär und kritisch-intelligent seien sollte.
More and more people are turning away from the fast-stagnating pool of the conventional novel – and they are turning to science fiction (or speculative fantasy). This is a sign, among others, that a popular literary reanissance is around the corner. Together, we can acclerate that renaissance. (13)  
J.G. Ballard hatte sich schon 1960 in das kleinbürgerliche Refugium von Shepperton zurückgezogen, wo er bis zum Ende seines Lebens wohnen sollte. Moorcock hingegen umarmte begeistert das Bohème-Leben der Swinging Sixties: "From 1963 to 1976 was my (rough) decade. I knew we had discovered ourselves in a golden age and that it would not last. I became determined to enjoy that age while it did continue." Er wohnte in Ladbroke Grove, dem Zentrum der Londoner Counter Culture, "England's answer to New York's Greenwich Village or San Francisco's Height Ashbury". Hier im Mekka der Hippies, Freaks und Bohèmiens befand sich auch das "Büro" von New Worlds. Und das war sehr passend. Die New Wave war Teil der allgemeineren kulturellen und politischen Revolte der 60er Jahre. 
 
Deren Nährboden war durchaus widersprüchlich. Verglichen mit der harschen Welt der unmittelbaren Nachkriegsjahre einer Ära, die sich in mancherlei Hinsicht bis in die zweite Hälfte der 50er Jahre erstreckt hatte war dies ein Jahrzehnt des materiellen Aufschwungs für breitere Schichten der Bevölkerung. Aber entgegen einer weit verbreiteten Ansicht, bedeutet eine solche Entwicklung nicht automatisch auch ein Anwachsen von "Zufriedenheit" und Konformismus. Eine solche Ära kann in den Menschen auch Wünsche und Hoffnungen erwecken, die die bürgerliche Gesellschaft unmöglich befriedigen oder erfüllen kann, was dann gerade erst recht zu einem Anwachsen rebellischer Haltungen führt. Auch ist eine solche Zeit des Aufschwungs geeignet, Optimismus und Kampfeswille der Menschen zu stärken, während Krise und wirtschaftlicher Niedergang leicht zu Verzweifelung und Passivität führen können. 
Allerdings zeigte sich vor allem in den späten 60er Jahren dann auch bereits immer deutlicher, dass die materielle Basis, auf der dieser Aufschwung und das gesamte 1945 initiierte Projekt sozialer Reform und gesellschaftlichen "Kompromisses" beruhte, nicht von Dauer sein würde. Der Weltwirtschaftsboom der Nachkriegszeit ging zu Ende, das Fundament der keynesianischen Wirtschaftspolitik begann zusehends abzubröckeln. Spätestens ab 1969 kam es dann zu einem explosiven Anwachsen des Klassenkampfes, der in den frühen 70ern schließlich eine beinah vorrevolutionäre Intensität erreichte.
 
Dies war der gesellschaftliche Kontext, in dem sich die New Wave entfaltete. Auf ihre Art war sie Teil einer vielgestaltigen Revolte gegen die bürgerliche Gesellschaft. Wie Moorcock in Starship Stormtroopers geschrieben hat:
During the sixties, in common with many other periodicals, our New Worlds believed in revolution. Our emphasis was on fiction, the arts and sciences, because it was what we knew best. We attacked and were in turn attacked in the all-too-familiar rituals. Smiths refused to continue distributing the magazine unless we "toned down" our contents. We refused. We were, they said, obscene, blasphemous, nihilistic etc., etc. The Daily Express attacked us. A Tory asked a question about us in the House of Commons why was public money (a small Arts Council grant) being spent on such filth.   
Zugleich konnte die New Wave aber auch bestimmte Aspekte der Counter Culture kritisch reflektierten. Die aus den Erfahrungen der späten 40er und 50er Jahre gespeiste Wut, die jemand wie Moorcock auf die herrschende Ordnung verspürte, war in vielem schärfer und erbitterter als der mitunter etwas naiv-sentimentale Idealismus der "peace and love hippies":   
Originally there was politics and realistic organisation going on. I was never very happy about our idealism being taken over by the flower children. They made hippies less frightening to the general public and that didn't help our cause either!
Sein Jerry Cornelius ist zwar unverkennbar ein Kind der Swinging Sixties, doch waren die Geschichten um den "English Assassin" durchaus als eine Form der Kritik und des Kommentars auf die Zeit gedacht. Auch wenn viele Leser*innen in ihm vielleicht bloß eine Ikone der Counter Culture sahen.
 
Kehren wir nach diesem langen Exkurs zum Abschluss wieder zu M. John Harrison zurück. Als er 1967 zu dem Kreis um Michael Moorcock stieß, erkannte man in ihm auf Anhieb einen Gesinnungsgenossen: "They liked that I was perpetually angry". Seit er in seiner Schulzeit zum ersten Mal Bernard Shaw gelesen hatte, war er "hooked on polemic". Schon bald erschienen kritische Essays und Kurzgeschichten von ihm in New Worlds und 1968 wurde er einer der Redakteure des Magazins.
It was like being able to swim in the stuff. You were able to read J.G. Ballard's latest short story as a manuscript, and that blew your eyeballs out of your head in 1969, 1970 [...] My head exploded for about five years.
Wie eine ganze Reihe Mitglieder der New Wave tendierte auch Harrison zum Anarchismus und besaß anscheinend besondere Sympathie für die "Situationisten". Nach ihnen benannte er die hippieartigen Kommunem in seinem postapokalyptischen Debütroman The Committed Men (1971). Und auch in seiner 1974 erschienen subversiven Space Opera The Centauri Device, von der er inzwischen allerdings keine besonders hohe Meinung mehr hat, spielen Anarchisten eine nicht unwichtige Rolle.
Für eine ganze Reihe von Jahren war Harrison als Kritiker wie Autor eine wichtige Figur der New Wave. "Michael Moorcock had a considerable influence over me, as a person, until the late 1970s." Zwischen 1969 und 1971 schrieb er sogar drei Jerry Cornelius - Stories, die dieser für besonders gelungen hielt.

Einer von Harrisons Artikeln, die in New Worlds erschienen, war By Tennyson Out of Disney. Darin unternahm er eine Frontalattacke auf die tolkiengeprägte Fantasy. Leider ist es mir nicht gelungen, Zugriff auf den Text zu bekommen, obwohl er natürlich gerade in Bezug auf den Viriconium - Zyklus von besonderem Interesse wäre. Doch ist wohl anzunehmen, dass Harrison darin ähnliche Positionen vertritt wie sie Moorcock später in seinem sehr viel bekannteren Essay Epic Pooh ausgeführt hat. Zumal sich seine kritische Haltung in dieser Frage bis heute wenig verändert hat:
My feeling about escapist fiction has softened a little down the years but it has never really changed. I think it's undignified to read for the purposes of escape. After you grow up, you should start reading for other purposes. You should have a more complicated relationship with fiction than simple entrancement. If you read for escape you will never try to change your life, or anyone else's. It's a politically barren act, if nothing else. The overuse of imaginative fiction enables people to avoid the knowledge that they are actually alive.
Harrison betrachtet das, was er als "commercial fantasy" bezeichnet, als "a literature of comfort and escape". Sicher ein häufig gehörter Vorwurf, aber was seinen Ansatz interessant macht, ist, dass er diese Funktion nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Struktur ausmacht. 
Ein Element dessen ist seiner Ansicht nach das "Worldbuilding" im Sinne einer Katalogisierung und "Rationalisierung" der imaginierten "Sekundärwelt". So schreibt er in dem 2001 in Fantastic Metropolis erschienenen Aufsatz What it Might Be Like to Live in Viriconium:
The commercial fantasy [...] is often based on a mistaken attempt to literalise someone else’s metaphor, or realise someone else’s rhetorical imagery. For instance, the moment you begin to ask (or rather to answer) questions like, “Yes, but what did Sauron look like?”; or, “Just how might an Orc regiment organise itself?”; the moment you concern yourself with the economic geography of pseudo-feudal societies, with the real way to use swords, with the politics of courts, you have diluted the poetic power of Tolkien’s images. You have brought them under control. You have tamed, colonised and put your own cultural mark on them.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Verlangen nach "Abschluss" ("closure"). Am Ende müsse sich alles zu einer "runden" und damit leicht konsumierbaren Ordnung zusammenfügen, die ein beruhigendes und befriedigendes Gefühl hinterlässt, sei es im Stile des "Monomythos" (der "Heldenreise") oder auf eine andere Art. Harrison identifiziert diese von ihm nicht bloß aus polemischen Gründen "kommerziell" genannte Form der Phantastik mit den auf bloßen Konsum ausgerichteten Denk- und Verhaltensweisen der spätkapitalistischen Gesellschaft.

In den nächsten Artikeln werden wir dann sehen, wie sich diese kritische Haltung gegenüber der "kommerziellen Fantasy" in den Viriconium - Erzählungen ausgedrückt findet, und wie sich vor allem die späteren Teile des Zyklus immer deutlicher diesen formalen Ansprüchen verweigern.

 
 
 
(1) In: Harlan Ellison (Hg.): Again, Dangerous Visions. S. 768.
 
(2) Schon wenige Jahre später wollte er von dieser Story nichts mehr wissen: "My first short story was published in 1966; I won't say where, because it embarrasses me. The story, that is." Für ihn begann seine Schriftstellerkarriere eigentlich erst 1968 mit ersten Veröffentlichungen in New Worlds und John Carnells New Writings in S.F.
 
(3) Dieses Datum gibt er in seinem Nachwort in Again, Dangerous Visions an. Auf seinem Blog schreibt er zwar, es sei Februar 1966 gewesen, doch erscheint mir das wenig wahrscheinlich. 
 
(4) In: Harlan Ellison (Hg.): Again, Dangerous Visions. S. 776.
 
(5) "Get the Music right": Michael Moorcock Interviewed by Terry Bisson. In: Michael Moorcock: Modern Times 2.0. S. 90.
 
(6) Wenn ich mich recht erinnere, habe ich ganz ähnliches einmal in einem Interview mit Borribles - Schöpfer Michael de Larrabeiti gelesen.
 
(7) Hab die stürmischen Ereignisse dieser Jahre vor Zeiten mal in diesem Blogpost beschrieben.
 
(8) "The Labour Party is a Socialist Party, and proud of it. Its ultimate purpose at home is the establishment of the Socialist Commonwealth of Great Britain - free, democratic, efficient, progressive, public-spirited, its material resources organised in the service of the British people."
 
(9) Großbritannien war zwar gezwungen, Indien 1949 in die Unabhängigkeit zu entlassen, wobei der Subkontinent in die Indische Republik und Pakistan geteilt wurde mit grauenhaften Folgen für die Bevölkerung vor allem des Punjab und Bengalens. Doch im Allgemeinen versuchte die Attlee-Regierung das verrottende Empire mit aller Gewalt zusammenzuhalten. Man beteiligte sich an der militärischen Niederschlagung antikolonialer Aufstände in Indonesien, Malaysia und Vietnam. In den afrikanischen Kolonien wurden Streiks und Proteste regelmäßig mit der Verhängung des Ausnahmezustands, Polizeiknüppeln und Gewehrkugeln, sowie der Inhaftierung nationalistischer Führer beantwortet. Wo immer Großbritanniens geopolitische und wirtschaftliche "Interessen" bedroht wurden, wie 1951 im Iran und in Ägypten, setzte man auf die gute alte "Gunboat Diplomacy" militärischer Drohung und Erpressung. Daneben unterstütze man in Griechenland die Monarchisten gegen die kommunistische Partisanenbewegung.
 
 
(11) Charles Platt: Gestalter der Zukunft. Science Fiction und wer sie macht. S. 320. 
 
(12) Zit. nach: Charles Platt: Gestalter der Zukunft. S. 339.