"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Freitag, 30. Mai 2014

Strandgut der Woche

Donnerstag, 29. Mai 2014

Alkohol, überalterte Teens und Lurchi der Lahme

Mein letzter Ausflug in die phantastischen Gefilde des B-Movies der 50er Jahre begann wie so oft als Versuch, einer heraufziehenden depressiven Phase entgegenzuwirken. Das dabei einsetzende Gefühl einer inneren Lähmung macht jede wirkliche Aktivität mehr oder weniger unmöglich, aber solange sich die Intensität dieses Gefühls noch in gewissen Grenzen hält, ist es zumindest möglich, sich auf passive Weise etwas Ablenkung zu verschaffen. So zumindest verhält es sich bei mir. Und es ist schon beinah zu einer kleinen Tradition geworden, dass ich mich in solchen Fällen dem SciFi- und Monsterschlock der Fifties zuwende. Diesmal entschied ich mich außerdem dazu, dies mit einem ersten Besuch in Lord Blood-Rah's Nerve Wrackin' Theatre zu verbinden.



Ich bin schon seit längerem ein eifriger Hörer seines bei Drunken Zombie beheimateten Podcasts, in dem der gute Lord regelmäßig klassische Radiohörspiele der gruseligen Art präsentiert. Sein Nerve Wrackin' Theatre funktioniert im Grunde genauso, nur geht es hier um alte SciFi- und Horror-B-Movies.
Das Konzept, den Streifen alle zehn Minuten zu unterbrechen, um einige alte Trailer oder die Kommentare Seiner Lordschaft einzuschieben, würde auf mich im Normalfall ziemlich irritierend wirken. Wenn ich mir einen Film anschaue, so will ich ihn für gewöhnlich am Stück und als Ganzes genießen {oder durchleiden}. Wirklich empfehlen kann ich das Nerve Wrackin' Theatre also nicht, aber wenn man weiß, was einen erwartet, kann dieser Mix auch recht amüsant sein, und vor allem einige der Trailer fand ich äußerst appetitanregend ...

Doch genug des Vorgeplänkels! Welchen Film genau habe ich mir denn nun angeschaut? – Diesen hier:



Die 50er Jahre waren die goldene Zeit der Riesenmonster-Flicks. Genaugenommen hatten am Anfang dieses Subgenres zwar Filme wie Harry Hoyts The Lost World (1925) und vor allem Merian C. Coopers King Kong (1933) gestanden, und mit Streifen wie Son of Kong (1933) und Mighty Joe Young (1949) existierte sogar bereits eine kleine Tradition des "Riesenaffen"-Kinos, doch erst der von einer Atombombe und dem Genie Ray Harryhausens zum Leben erweckte Dinosaurier in The Beast from 20.000 Fathoms (1953) öffnete die Tore für jene Invasion monströsen Getiers, das für einige Zeit die Herrschaft über einen Gutteil des B-Movie-Universums an sich reißen sollte.* Ein Jahr später bereits krabbelten die Riesenameisen von Them! über die Leinwand, und in den nächsten Jahren wurde das Publikum in den Autokinos u.a. mit der Riesenspinne aus Jack Arnolds Tarantula (1955), den gigantischen Grashüpfern aus Bert I. Gordons Beginning of the End (1957), der gewaltigen Gottesanbeterin aus Nathan H. Jurans The Deadly Mantis (1957) und den monströsen Krabben aus Roger Cormans Attack of the Crab Monsters (1957) beglückt. Anders als der alte Kong war keines dieser Ungeheuer ein echter Charakter. So gut wie alle von ihnen lassen sich als blinde, zerstörerische Naturkräfte beschreiben. Auch schwang in den meisten dieser Monsterflicks etwas von der Furcht vor den möglichen Folgen moderner Technik und Wissenschaft mit. Zwar verdanken nicht alle Ungeheuer der Fifties ihre Geburt {oder ihr Erwachen} der Detonation einer Atombombe, aber trotzdem sind sie alle unverkennbar Kinder des beginnenden Nuklearzeitalters.

Ray Kellogs gigantische Krustenechse ist ein relativ später (1959) und seeehr billiger Sprössling dieser Monstermode, und ganz so wie die Riesentarantel in Bert I. Gordons Earth vs. The Spider (1958) kommt auch sie ohne irgendeine "vernünftige" Erklärung für ihre Existenz einher. Atombombentests oder irre Forscher suchen wir hier vergeblich. Uns wird zu Beginn des Streifens ganz einfach erklärt, in der "Wildnis des Westens" gäbe es nach wie vor solche unvorstellbaren Kreaturen. Und anders als in den meisten phantastischen B-Movies der Ära ist es interessanterweise auch kein Wissenschaftler/Universitätsprofessor/Schullehrer, der den Kampf gegen das Ungetüm anführt. Unsere Helden sind vielmehr ein jugendlicher Automechaniker (Don Sullivan) und ein bodenständiger Kleinstadt-Sheriff (Fred Graham), was irgendwie ganz sympathisch wirkt. Aber leider besitzt der Streifen trotz der Eröffnungsszene, die uns hoffen lässt, dass hier keine Zeit verschwendet wird und wir ohne Umschweife zur Sache kommen, nicht das perfekte Pacing von Mr. BIGs Arachniden-Flick. Noch nach gut der Hälfte des Filmes wissen die Protagonisten nicht einmal, dass sie es mit einer giftigen Riesenechse zu tun haben! Stattdessen bekommen wir das eher langweilige Treiben einiger ziemlich überaltert aussehender "Teenager", die französische Kandidatin für den Titel "Miss Universum 1957" und ein paar "humorvolle" Alkoholikerszenen zu sehen. Nicht nur sorgt Western- und TV-Veteran Shug Fisher als ortsansässige Saufnase Old Man Harris für ein paar Lacher {oder auch nicht}, unser Mechaniker-Held Chase Winstead darf außerdem den sturzbesoffenen DJ Horatio Alger 'Steamroller' Smith (Ken Knox) aus dem Straßengraben ziehen, was zum Ausgangspunkt für eine bizarre Nebenhandlung um Chase' beginnende Musikerkarriere wird {inklusive einiger eingestreuter Songs von eher zweifelhafter Qualität}.
So weit klingt das alles nicht sonderlich berauschend, doch ein Monsterflick steht oder fällt letztlich mit seinem monströsen Protagonisten. Wie also ist es um unsere riesige Gila-Echse selbst bestellt? Leider auch nicht besonders gut. Dass bei einem Budget von schätzungsweise $138.000 kein Geld für irgendwelche aufwendigen Modelle, wie wir sie etwa aus Them! oder The Deadly Mantis kennen, vorhanden war, versteht sich von selbst. Also bekommen wir einfach eine ganz normale Krustenechse zu sehen, die durch die Gegend marschiert. Bestenfalls darf sie dabei im Finale über ein paar Modellautos krabbeln, wobei sie ulkigerweise sehr viel größer wirkt, als bisher der Anschein war. Wie Jack Arnold mit Tarantula gezeigt.hatte, kann man auch mit realen Tieren großartige Effekte erzielen, doch in The Giant Gila Monster scheint man nicht einmal simple Rückprojektionen (rear projections) verwendet zu haben. Nie hat man das Gefühl, dass es zu einer echten "Berührung" zwischen dem Ungeheuer und den Menschen, Autos, Zügen etc. kommen würde. Außerdem schaut eine Krustenechse zwar faszinierend aus, wirklich gruselig ist sie aber nicht. Erst recht nicht, wenn sie die meiste Zeit über bloß träge und vor sich hin zischelnd und züngelnd durchs Unterholz kriecht, statt in guter Monstermanier die Menschheit zu terrorisieren. "Lurchi der Lahme" schien mir deshalb schon bald der passende Name für unseren Reptilienfreund zu sein. {Und ja, ich weiß, Salamander sind keine Reptilien ...}

Alles in allem war The Giant Gila Monster also eher eine Enttäuschung. Interessanter wurde es erst, als ich begann, nach ein paar Informationen über den Hintergrund des Streifens zu suchen.
Ray Kellogs eigentliches Metier waren Special Effects. In den 50er Jahren wirkte er in diesem Bereich an der Produktion von über hundert Filmen mit, hauptsächlich für 20th Century Fox, deren SFX-Abteilung er schließlich leitete. Die Chance, sich auch als Regisseur zu versuchen, bot sich ihm erst, als ihn Radiomogul Gordon McLendon für die Mitarbeit an einigen billigen Flicks zu gewinnen versuchte, die dieser für seine Autokinos in und um Dallas produzieren wollte. Kellog nahm den Job unter der Bedingung an, dass er selbst auf dem Regiestuhl platznehmen dürfe. Neben The Giant Gila Monster entstanden unter seiner Leitung außerdem noch The Killer Shrews und My Dog, Buddy. Als Produzent fungierte dabei jedesmal Ken Curtis, der seinerseits eigentlich Schauspieler war {bekannt vor allem aus einer Reihe klassischer John Ford - Western sowie als Festus Haggen aus Gunsmoke / Rauchende Colts}.
Eine recht interessante Kombination, wie ich finde. Und falls sich jemand fragt, ob Kellog in der Folge eine zweite Karriere als Regisseur hingelegt hat: Die Antwort lautet 'nein'. Von einer einzigen Episode der TV-Serie The Monroes abgesehen, durfte er bloß noch einmal als Co-Regisseur bei John Waynes militaristischem Machwerk The Green Berets (1968) mitwirken – nichts, worauf man sonderlich stolz sein könnte.
Gordon McLendon war übrigens eine ziemlich faszinierende, wenn auch kaum besonders sympathische Persönlichkeit. 1947 gründete er gemeinsam mit seinem Vater den Radiosender KLIF in Dallas sowie das Liberty Broadcasting System (LBS), das drei Jahre später bereits zum zweitgrößten Radionetzwerk der USA herangewachsen war. Mit der Zeit erwarb die Familie zahlreiche Sender wie KNUS-FM (Dallas), KOST (Los Angeles), WYSL-AM (Chicago), KABL-FM (San Francisco), KILT (Houston), KTSA (San Antonio) und KELP (EL Paso). McLendon gilt als einer der großen Innovatoren des amerikanischen Radios, so führte er u.a. Verkehrsberichte, Jingles, Nachrichtenkanäle und sog. "easy listening" - Programme ein. Politisch ein konservativer Südstaaten-Demokrat und Mitglied der einflussreichen Suite 8F - Gruppe texanischer Geschäftsmänner nutzte McLendon sein Radioimperium auch dazu, entsprechende Propaganda zu betreiben: "This included his attacks on federal aid to education, racial desegregation of public schools and equal voting rights for all races." Lyndon B. Johnsons Sozialreformen ("Great Society"), veranlassten ihn Mitte der 60er Jahre schließlich dazu, aus der Demokratischen Partei auszutreten. McLendon zählte u.a. FBI-Chef J. Edgar Hoover zu seinen Freunden und unterhielt enge Beziehungen zu Geheimdienstkreisen. 1975 gehörte er zu den Mitbegründern der Association of Former Intelligence Officers. Gerüchte bringen ihn u.a. mit Gerry Hemmings Anti-Castro-Organisation Interpen in Verbindung.

Schaut man mit diesem Wissen ausgestattet noch einmal auf The Giant Gila Monster zurück, dann kann man ein paar zusätzliche Überlegungen zu dem Film anstellen.
Ganz offensichtlich sollte er ein Teenager-Publikum ansprechen, was sich vor allem an der Figur des Helden zeigt. Zwar ist nicht ganz klar, wie alt Chase eigentlich sein soll, aber er wird mit allem ausgestattet, was männliche Teens der Zeit begeistert haben muss: Schnelle Autos {er ist nicht bloß Mechaniker, seine Spezialität besteht auch im Frisieren von Motoren}, eine hübsche Freundin und eine beginnende Karriere im Musikbusiness. Letzteres wird noch dadurch verstärkt, dass  Horatio 'Steamroller' Smith von dem populären KLIF-DJ Ken Knox gespielt wird. Und mit der autoriären Vaterfigur des reichen Mr. Wheeler besitzt der Film sogar so etwas wie eine Inkarnation des bösen Establishments {"The Man"}, und damit einen Fokus für die möglicherweise vorhandenen rebellischen Gefühle des Publikums.** Dennoch passt der Streifen erstaunlich gut zu McLendons konservativen Überzeugungen. Denn Chase fungiert nicht nur als Identifikations-, sondern auch als Vorbildfigur. Er ist fleißig und verantwortungsbewusst, kümmert sich aufopferungsvoll um seine Familie {vor allem um seine kleine, behinderte Schwester} und nutzt seinen Einfluss auf die örtliche Jugend, um diese von gar zu wilden Eskapaden abzuhalten. Kein Wunder, dass Sheriff Jeff ihn überaus schätzt und gegen die Attacken von Mr. Wheeler verteidigt.
Aus dieser Perspektive betrachtet wirkt The Giant Gila Monster beinah schon clever gemacht. Er bedient die vage "rebellischen" Wunschvorstellungen seines Publikums und predigt diesem zugleich konservative Werte von Fleiß, Verantwortungsbewusstsein und Familiensinn. Zu einem besseren Film macht ihn das nicht, aber vielleicht wenigstens zu einem etwas interessanteren.


* Gegen den letzte Woche in die Kinos gelangten neuen Godzilla ist, wie nicht anders zu erwarten war, hier und da der Vorwurf des "cultural appropriation" erhoben worden. Wenn Hollywood Big G. zusammen mit einem größtenteils weißen Ensemble auf die Leinwand bringt, dann sei das eine Form von Kulturimperialismus. Unabhängig davon, dass ich ohnehin wenig von dem ganzen Konzept des "cultural appropriation" und dem ihm zugrundelegenden Verständnis von Kultur halte, zeigt sich hier wieder einmal, wie oft solche Formen der Kritik auf historischer Unwissenheit beruhen. Über die Jahrzehnte sind Godzilla und seine Kaiju-Kumpels zwar ohne Zweifel zu Ikonen des japanischen B-Movies geworden, doch Ishiro Hondas Originalfilm Gojira von 1954 war in vielerlei Hinsicht eine Art Remake von The Beast from 20.000 Fathoms. War das dann auch "cultural appropriation"? 
** Interessanterweise enthält McLendon & Kellogs zweiter Horror - Flick The Killer Shrews nichts Vergleichbares, obwohl die beiden als Double-Feature gezeigt wurden, also für dasselbe Publikum konzipiert waren. Nebenbei bemerkt: Riesige Spitzmäuse ("shrews") mögen auf den ersten Blick als Monster zwar noch lächerlicher wirken als eine Krustenechse, aber die mörderischen Nager sind erstaunlich gut in Szene gesetzt. Um genau zu sein, sind sie das einzig positive an diesem Streifen, der im Ganzen gesehen ähnlich inkompetent, aber sehr viel unsympathischer wirkt als The Giant Gila Monster. {ERGÄNZUNG: Spitzmäuse sind keine Nagetiere, aber "mörderische Nager" klingt doch nett, oder?}

Samstag, 24. Mai 2014

Strandgut der Woche

Mittwoch, 21. Mai 2014

"The Amazing Spider-Man 2" - Kritik einer Kritik

Vor gut zwei Wochen erschien auf Tor.com ein Beitrag von Emily Asher-Perrin zu The Amazing Spider-Man 2, den ich für ziemlich problematisch, gerade deshalb aber auch für recht interessant halte.

Drei Tage zuvor hatte die Autorin bereits eine kürzere, spoilerfreie Besprechung des Films gepostet, in dem sie ihn völlig zurecht als "a slapdash mess" beschrieben hatte. Ehrlich gesagt ist das meiner Meinung nach noch übermäßig freundlich ausgedrückt. Der $200 Mio - Streifen ist ein besonders krasses Beispiel für die Kombination aus Zynismus und Inkompetenz, die wir von vielen der großen Blockbuster inzwischen gewohnt sind. Kreiert von Leuten, die nicht die leiseste Ahnung davon zu haben scheinen, wie man eine Geschichte filmisch erzählt, und die offenbar glauben, man könne dem zahlenden Publikum den letzten Dreck vorsetzen, und dennoch einen ordentlichen Profit einheimsen.
Für die finale Version des Drehbuchs zeichneten nicht zufällig Roberto Orci und Alex Kurtzman (The Island, Mission Impossible III, Transformers, Star Trek, Transformers II, Cowboys & Aliens, Star Trek Into Darkness) verantwortlich – die beiden bestbezahltesten Hacks in der Geschichte von Hollywood. Ihre Scripts bestehen fast immer aus der simplen Aneinanderreihung von Set pieces und Actionszenen ohne Struktur oder stimmigen Handlungsaufbau. Diesmal allerdings haben sie sich dabei selbst übertroffen. The Amazing Spider-Man 2 wirkt beinah wie eine Parodie auf all die Sünden des modernen Blockbusters.
Regisseur Marc Webb trägt dafür vermutlich nur einen kleinen Teil der Schuld. Sein Debüt 500 Days of Summer (2009) war bei aller Cleverness ein letzlich steriler, weil von der gesellschaftlichen Wirklichkeit weitgehend abgehobener Film, der nicht den Eindruck hinterließ, das Werk eines Künstlers mit einer tiefen Persönlichkeit oder einem kritischen Blick auf die Welt zu sein. Als Webb ein Jahr später in die Dienste von Sony Pictures trat, um den ersten Amazing Spider-Man - Streifen zu drehen, brauchte es nicht viel, um aus ihm das zu machen, was sich das Studio wünschte: Einen bloßen Befehlsempfänger. Webb besaß offenbar keinen starken künstlerischen Charakter, der gebrochen oder korrumpiert werden musste. The Amazing Spider-Man 2 trägt nicht seine Handschrift, ganz einfach deswegen, weil er keine individuelle Handschrift mehr besitzt. Der Mann macht einfach das, was von ihm erwartet wird.
Dass dieser Streifen zudem wieder einmal eine geradezu verbrecherische Verschwendung von schauspielerischem und technischem Talent darstellt, versteht sich beinah von selbst. Wenn es noch irgendeines Belegs für den verrotteten Zustand der amerikanischen Filmindustrie braucht, so könnte es kaum einen besseren geben, als dass dieser Streifen tatsächlich gedreht wurde. Um Jay Baumans treffenden Kommentar aus Episode 70 von Half in the Bag zu zitieren: "This movie should be an inspiration to aspiring screenwriters, because now you understand that you don't have to have a plot or any sort of sufficient character motivation to ge a movie made."

Was mich an Emily Asher-Perrins zweitem Artikel zuerst einmal irritiert hat, ist, dass die darin formulierte Kritik ausschließlich inhaltlicher, und wenn man so will "politischer" Natur ist. Die Frage, ob der Streifen als Film funktioniert, bleibt völlig ausgeblendet.
Man könnte einwenden, dieses Thema sei bereits im ersten Artikel abgehandelt worden und müsse deshalb nicht noch einmal aufgegriffen werden. Was völlig in Ordnung wäre, wenn der Beitrag nicht den Eindruck hinterlassen würde, die Autorin sei der Ansicht, eine bloß inhaltliche Veränderung hätte aus The Amazing Spider-Man 2 einem sehenswerten Film gemacht. Und das ist ein echtes Problem. Filme {Bücher, Comics etc.} werden nicht automatisch "gut", weil sie die "richtige" Ideologie vertreten. Nun denke ich nicht, dass Asher-Perrin dies tatsächlich glaubt. Aber die Art, in der sie ihre Gedanken darlegt, lässt dennoch diesen Eindruck entstehen. Und damit schwächt sie ganz empfindlich ihre eigene Argumentation, setzt sie sich doch dem Verdacht aus, es gehe ihr ausschließlich um die "richtige", "politisch korrekte" Botschaft.
Das allein macht den Artikel bereits problematisch. Doch leider halte ich auch Emily Asher-Perrins inhaltliche Kritik für fragwürdig.
Sie macht diese an zwei Charakteren fest: Max Dillon/Electro und Gwen Stacy.

Was letztere betrifft, so richtet sich ihr Ärger vor allem gegen den {comic-kanonischen} Tod Gwens, in dem sie eine bloße Wiederholung des alten sexistischen Klischees, "that every woman who takes a risk must be punished for it", sieht. Dass es dieses Klischee gibt, würde ich nie in Frage stellen. Ob es allerdings wirklich so allgegenwärtig ist, wie Asher-Perrin anzunehmen scheint? Viele der Beispiele, die sie für seine angebliche Omnipräsenz anführt, lassen einen eher vermuten, dass die Autorin übermäßig stark darauf fixiert ist, selbiges in allen möglichen Geschichten zu finden. Bei etwas genauerer Betrachtung erweisen sich viele ihrer Belege nämlich als wenig stichhaltig:
  • "Little Red Riding Hood strays from the path and gets eaten by a wolf until a woodsman comes to free her from his belly". Ich hab' da noch mal rasch bei Charles Perrault und den Brüdern Grimm nachgeschaut. In der älteren französischen Version verlässt das Mädchen den Pfad überhaupt nicht, und wird dennoch aufgefressen. Einen heroischen Jäger gibt's da nicht. In der jüngeren deutschen Fassung vertändelt sie zwar {auf Antreiben des Wolfes hin} etwas Zeit mit dem Suchen von Blumen abseits des Weges, doch lässt sich das wohl kaum als ein "riskantes" Unternehmen bezeichnen, für das sie anschließend bestraft würde. Okay, sie verstößt damit gegen eine ausdrückliche Anordnung ihrer Mutter. Insofern könnte man dieses Beispiel vielleicht gelten lassen.
  • "Padmé Amidala risked forbidden love with a Jedi only to have him turn to the Dark Side and kill hundreds of children". Ja, Anakins Verwandlung in Darth Vader ist die Folge einer verbotenen Liebe, aber ist sie tatsächlich eine "Strafe" für Padmés Fehlverhalten? Den Star Wars - Prequels liegen äußerst fragwürdige Wertvorstellungen zu Grunde, aber diese bestehen in meinen Augen weniger in einem "Frauen dürfen keine Regeln brechen", als vielmehr in einer tiefen Furcht vor leidenschaftlichen Gefühlen. Es kommt deshalb zur Katastrophe, weil Anakin und Padmé gemeinsam gegen die sex- und gefühlsfeindlichen Regeln der Jedi verstoßen, nicht weil Padmé "ein Wagnis eingeht". Dass die Filme auch ein sexistisches Element enthalten, will ich gar nicht leugnen, doch sehe ich dieses eher darin, dass Padmés einzige Funktion in der Erzählung darin besteht, den Anlass für Anakins Fall zu liefern und Mutter der künftigen Helden Luke und Leia zu sein.   
  • "Jessica Atreides went against the plans of the Bene Gesserit and watched her family crumble around her". Wenn ich mich recht entsinne, führt Jessicas Regelbruch letztlich dazu, dass ihr Sohn zum wohl mächtigsten Individuum im Universum wird. Und auch wenn sie auf dem Weg dorthin ihren Gatten verloren hat: Kann man das wirklich als "Strafe" interpretieren?
  • "The female superheroes who belonged to the first generation of Minutemen are respectively raped and murdered". Alan Moores Watchmen stellt eine kritische Auseinandersetzung mit den Konventionen des Superheldengenres und den ihnen zugrundeliegenden politischen und moralischen Werten dar. Das Schicksal der weiblichen "Minutemen" muss in diesem Kontext betrachtet werden. In ihm bloß die blinde Wiederholung eines überkommenen Klischees zu sehen, wäre meiner Meinung nach völlig verfehlt. 
Und wie nun verhält es sich mit Gwen Stacys Tod? Ich kann verstehen, dass dieser bei Teilen des Publikums so ankommen kann, wie dies im Falle von Emily Asher-Perrin offennbar geschehen ist. Dennoch halte ich ihre Argumentation für wenig überzeugend.
Im Grunde beschreibt sie selbst, wie es zu dieser angeblichen "reassert[ion] of a needless cliché " gekommen ist. Einerseits sollte Gwen wie eine "aktive Heldin" erscheinen, weshalb sie Peter zur Hilfe kommt, d.h. "ein Wagnis eingeht". Andererseits wollte man nicht zu weit vom offiziellen "Kanon" abweichen, weshalb sie sterben musste. Die Kombination dieser beiden Vorgaben führte ungewollt zu etwas, was dem alten Klischee ähnlich sieht.
Mit anderen Worten: Das Ganze ist einfach das Produkt besonders denkfauler Drehbuchschreiber, die ohne Sinn und Verstand irgendwelche Motive und Versatzstücke durcheinandergerührt haben. Und darin, nicht in irgendwelchen sexistischen Untertönen, besteht das echte Problem. Eben darum aber wirkt es auf mich auch so ungemein irritierend, wenn Asher-Perrin schreibt:
We believe that this character, this woman, matters more than a single famous moment in comics history that happened over 40 years ago. We believe she has proved herself worthy of our respect and recognition beyond her ability to die. Beyond her ability to teach harsh life lessons. Beyond her ability to provide hope and new resolve for the man who loved her. We believe she is a hero on her own merits, deserving of a hero’s story.
We believe in Gwen Stacy’s right to live.
Dieser leidenschaftliche Appell bezieht sich auf eine Figur aus einem Film, in dem man vergeblich nach irgendwelchen ausgeformten oder in sich kohärenten Charakteren suchen würde. Einem Film, in dem die Motivationen der Charaktere einzig dazu dienen, von einem vorgeformten Set piece zum nächsten überzuleiten, weshalb sie häufig sprunghaft, widersprüchlich und unglaubwürdig wirken. Dieser Streifen hat selbst kein "Recht zu leben"!
Natürlich kann man sich ausmalen, wie eine interessantere Version der Geschichte von Peter und Gwen aussehen könnte, was Emily Asher-Perrin dann auch tut. Doch erweckt sie dabei den Eindruck, als hätte The Amazing Spider-Man 2 diese Version tatsächlich umsetzen können, wenn die Macher bloß ein wenig mutiger gewesen wären. Das aber wäre völlig unmöglich gewesen, ganz einfach, weil Orci und Kurtzman nicht verstehen, wie man eine Geschichte {ganz gleich welche Geschichte} filmisch erzählt. Bestenfalls wäre dabei die Verschwindung einer guten Idee herausgekommen.

Wenn ich Asher-Perrins Umgang mit dem Thema "Gwen Stacys Tod" in erster Linie etwas eigenartig finde, so enthält ihr Kommentar zur Figur Electro sehr viel ernstzunehmendere Probleme. Selten deutlich zeigt sich dabei der reaktionäre Inhalt der fälschlich oft als "radikal" oder "links" verstandenen Identitätspolitik.
Die Autorin ist überzeugt davon, dass das Schicksal des von Jamie Foxx gespielten Max Dillon "some clear racial undertones" aufweise, "specifically [his] pain at being rendered invisible throughout his life. His erasure is a very faint reflection of the erasure of many people of color throughout the history of the world".
Ihr stärkstes Argument zur Untermauerung dieser These ist der Umstand, dass Max sich mehrfach als "the invisible man" bezeichnt, was Asher-Perrin für eine Anspielung auf Ralph Ellisons berühmten Roman desselben Titels hält. Ich finde das als "Beweis" zwar etwas schwach, kann mir aber durchaus vorstellen, dass einer der drei Drehbuchschreiber im Laufe der {ähem} "Entwicklung" des Scripts irgendwann tatsächlich gedacht haben könnte, das sei doch eine clevere Idee, die dem von ihnen produzierten Machwerk etwas  mehr "Gravitas" verleihen würde. Solche oberflächlichen Anspielungen auf das Thema Rassismus sind in Hollywood-Filmen unserer Zeit nicht wirklich selten. Sie geben dem Ganzen einen etwas "liberaleren" Anstrich und sind ein billiger Ersatz für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Anders ausgedrückt: Sie sind leicht zu machen, ungefährlich und bringen einem dennoch den Beifall "progressiver" Kritiker ein. Dass die Anspielung in diesem Fall so vermurkst und undeutlich einherkommt, wäre dann bloß ein weiterers Beispiel für die miserable Qualität des Drehbuchs.
So weit, so gut. Doch nehmen wir einmal an, das Rassismus - Motiv sei auf gelungenere Weise ausgearbeitet und umgesetzt worden. Hätte es sich bei ihm dann um etwas wirklich begrüßenswertes gehandelt?
Max Dillon soll offensichtlich den Typus des "kleinen Angestellten" verkörpern, der übersehen und ignoriert wird, dessen Leistungen nirgends Anerkennung finden, derweil sich die in der gesellschaftlichen Hierarchie über ihm Stehenden die Früchte seiner Arbeit aneignen. Abermillionen von Menschen befinden sich in einer ähnlichen Lage, doch ihre Hautfarbe spielt dabei zuerst einmal überhaupt keine Rolle. Das Ausbeutungsverhältnis, unter dem sie leiden, besitzt seine Wurzeln im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Rassismus kommt dabei allenfalls als ein sekundäres, verstärkendes Moment hinzu.
Wenn wir in Max Dillon tatsächlich einen Stellvertreter "der Farbigen" sehen würden, dann würde damit bloß ein völlig verzerrtes Bild der gesellschaftlichen Realität befördert.
In aller wünschenswerten Klarheit tritt uns hier die reaktionäre Funktion vor Augen, die die Identitätspolitik  – unabhängig von den Wünschen und Motiven ihrer einzelnen Vertreter und Vertreterinnen  – in Wirklichkeit besitzt. Indem sie das Hauptaugenmerk auf Fragen wie "Rasse" {oder "Geschlecht"} legt, verschleiert sie den zentralen Gegensatz in unserer Gesellschaft, den Klassenkonflikt, und spaltet gleichzeitig die arbeitende Bevölkerung. Damit trägt sie unmittelbar zum Erhalt des Status Quo bei.
Emily Asher-Perrin gibt uns dafür ein vorzügliches Beispiel, wenn sie zu erklären versucht, was an dem Handlungsstrang um Max Dillon ihrer Meinung nach misslungen ist:
This is mainly due to refusing Max Dillon any true nemesis in the film, a person he can rightfully focus his personal hurt on. He focuses it on Spider-Man, but he’s wrong to do so, and the film makes that clear in no uncertain terms. So who should Dillon be blaming? Shouldn’t there be a face, a name? He has one smarmy supervisor at Oscorp who insists that he stay at work on his birthday, but who is really responsible here? Who took Max’s genius work out from under him and slapped their name across it? Where is this vile corporate weasel?
And no, we can’t just say Oscorp at large, throw our hands up and be done with it. Why? Because that is one of the biggest problems with tackling the topic of racism itself—the refusal to give it a face. Saying, well, it was an organization. A scary group. The current zeitgeist. And by doing that, we let everyone today feel comfortable with their own privilege, by giving them this assurance they cannot possibly be contributing to it. Because big scary overlords allow things like this. Boards of Directors. Councils. By preventing Max Dillon from having any individuals to cite in his life-long battle against invisibility, we remove our own culpability from this system of erasure. It’s not our fault that Max Dillon didn’t get ahead in life! He’s goofy and needs to grow a backbone. No one is responsible for that but him.
This comes off worse when we realize that the only people Dillon is ever capable of allying himself to during the film are white men. First it’s Spider-Man, and once he’s put off the hero, it’s Harry Osborn who comes to his rescue.
Ein wirklich erstaunlicher Abschnitt. Zuerst einmal erklärt die Autorin die primitivste Methode, einen gesellschaftlichen Konflikt darzustellen  – seine Personalisierung –, zum künstlerischen Königsweg. Nun gut, bei einer Superheldenstory dürfte das vielleicht sogar der Fall sein. Was aber bloß einmal mehr belegt, dass dieses Format für eine komplexere und ernsthaftere Auseinandersetzung mit der Welt ziemlich ungeeigmnet ist. Tatsächlich aber sind Asher-Perrins Motive hier ohnehin nicht ästhetischer, sondern politischer Natur. Es geht ihr darum, dass wir Rassismus gerade nicht als Teil eines allgemeineren Systems von Ausbeutung und sozialer Ungleichheit betrachten sollen. Dass wir gerade nicht die Verantwortung für die Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaft bei den Mächtigen und Reichen suchen sollen. Wir {und damit sind ausschließlich die Weißen gemeint} sind vielmehr dazu aufgerufen, ein Bewusstsein unserer angeblich "privilegierten" Stellung zu entwickeln. Mit anderen Worten, wir sollen uns selbst als die Schuldigen betrachten. Unklar ist, was diese "Erkenntnis" im Weiteren bewirken und wie sie den Max Dillons dieser Welt helfen soll. Im Grunde läuft das Ganze auf eine Art quasireligiöses Exerzitium, ein "Me culpa! Mea culpa! Mea maxima culpa!" hinaus. An den realen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen ändert das rein gar nichts. Und tatsächlich geht es Emily Asher-Perrin auch gar nicht darum, dass Menschen ausgebeutet, sondern dass sie "ausgeblendet", "nicht wahrgenommen" werden. Dieses Problem aber kann behoben werden, ohne das irgendetwas an den existierenden Macht- und Eigentumsverhältnissen verändert werden müsste. Alles, was es dazu braucht, ist ein verändertes Bewusstsein. Die Millionen Max Dillons müssen dann zwar weiter malochen, damit die Reichen immer reicher werden können, aber dafür bringt man ihnen wenigstens etwas mehr "Respekt" entgegen.



PS: Zu welch bizarren  Fehlwahrnehmungen der Wirklichkeit die Identitätspolitik führen kann, wird uns in den Kommentaren zu Emily Asher-Perrins Artikel auf hübsch eindringliche Weise demonstriert. "Stolen" bringt folgenden, meiner Meinung nach recht vernünftig klingenden Einwand vor:
Just because Max is black doesn't mean his woes are an allegory for racism. [...] A stronger argument would be that Max's issues are related to more recent events, where aspects of our modern society are fighting against the corporate treatment of society. Max's tormentors are never given a name and a face because his villian is the corporation. I believe his story ties into the banking/financial crisis, where individuals were erased from the economy (losing houses, jobs, etc) by the irresponsible actions of banks. However, it is the bank as a whole that enables this, not any particular person (mortgage lenders, securities traders, CEO). No single person is entirely responsible for Max's poor treatment, but the corporation's systems and values as a whole that enable the poor treatment and systematic erasure of his life. Yes, it's harder to empathize with Max, but life is complicated.
Nun denke ich zwar nicht, dass Max Dillons Schicksal als eine Art Allegorie auf die Folgen der Krise von 2008 funktioniert, aber "Stone" versucht zumindest, die Geschichte mit dem allgemeineren Zustand der US-Gesellschaft zu verknüpfen. Und was bekommt er als Reaktion auf diesen Versuch von "Aeryl" zu hören?
What you are missing is that those things were already happening to black people, before the crash. It's really minimizing to Black American history to be like, "Well, this is only a relevant story because now it's happening to white people too"
Ist "Aeryl" ernsthaft der Überzeugung, Armut sei vor 2008 nur unter Schwarzen verbreitet gewesen?!? Die Mehrheit aller Armen in den Vereinigten Staaten ist stets weiß gewesen, ganz einfach, weil die Mehrheit der Bevölkerung weiß ist. Der Rassismus der US-Gesellschaft zeigt sich in diesem Punkt bloß darin, dass der prozentuale Anteil der Armen an der schwarzen {und hispanischen} Bevölkerung höher ist als der entsprechende Anteil an der weißen Bevölkerung.

Samstag, 17. Mai 2014

Strandgut der Woche

Donnerstag, 15. Mai 2014

Die Tugenden des klassischen japanischen Films

Vor ein paar Tagen hat mein Twitterkumpel NUTS4R2 auf seinem Blog {den zu besuchen ich allen Filmfreundinnen & -freunden nur wärmstens empfehlen kann} eine Besprechung von Kenji Misumis Zatôichi monogatari / The Tale of Zatoichi aus dem Jahre 1962 veröffentlicht. Im Unterschied zu ihm hatte ich leider nie die Gelegenheit, mir sämtliche Zatoichi - Filme {und von denen gibt es reichlich} anzuschauen. Meine Kenntnis des Franchises beschränkt sich auf einige der frühen Streifen aus der ersten Hälfte der 60er Jahre. Doch wie dem auch sei, jedenfalls hat mich sein Post dazu animiert, mich ebenfalls wieder einmal den Abenteuern des blinden Masseurs und Schwertkämpfers zuzuwenden. Inzwischen bin ich bei Zatōichi kyōjō-tabi / Zatoichi the Fugitive, dem vierten Teil der Reihe angelangt ...

Wollte ich mich an einer eigenen Besprechung von The Tale of Zatoichi versuchen, so liefe das bloß darauf hinaus, dass ich ganze Passagen aus NUTS4R2s Post klauen und mit ein paar eigenen Ideen garnieren würde. Darum lasse ich das lieber sein. Doch hat mir der Film wieder einmal vor Augen geführt hat, warum ich das klassische japanische Kino so sehr liebe. Und damit meine ich vor allem jenes Goldene Zeitalter der 50er und frühen 60er Jahre, als die großen Meister Masaki Kobayashi, Akira Kurosawa, Kenji Mizoguchi und Yasujirō Ozu Japans Film zu Weltruhm führten
Zum einen waren die großen japanischen Filmemacher jener Zeit im wahrsten Sinne des Wortes Poeten des Kinos. Besonders deutlich wird dies, wenn man ihre Werke mit denen der Neorealisten Italiens – jener anderen damals gerade in voller Blüte stehenden Provinz der internationalen Filmkunst – vergleicht. Ich liebe Pier Paolo Pasolini, Roberto Rossellini, Vittorio de Sicca und Luchino Visconti, und ich würde auch ihren frühen, besonders "realitäsverhafteten" Filmen nicht die poetische Qualität absprechen wollen. Aber in ihrer "Rauheit" und "Unmittelbarkeit" unterscheiden sie sich doch sehr deutlich von den Werken ihrer japanischen Kollegen. Diesen ist selbst dann, wenn sie brutale und unmenschliche gesellschaftliche Realitäten darstellen, oft eine Art ästhetischer "Zartheit" eigen, die einen mitunter an den Stil der alten japanischen Malerei erinnert. Auch können wir in vielen dieser Filme – sowohl was die Cinematographie als auch was das Spiel der Darsteller und Darstellerinnen angeht – nicht selten einen leicht "stilisierten" Zug entdecken, in dem möglicherweise die Traditionen des japanischen Theaters nachklingen. Auf viele heutige westliche Betrachter und Betrachterinnen mag dies vielleicht etwas irritierend – weil "unnatürlich" – wirken. Für mich jedoch trägt es sehr viel zum ästhetischen Genuss bei.
Der zweite Grund für meine innige Zuneigung ist die tiefe Menschlichkeit, die in diesen Filmen Ausdruck findet. Sie sind nicht sentimental, noch zeichnen sie ein geschöntes Bild vom Menschen und der Welt. Aber auch dann, wenn sie uns eine brutale, dreckige und grausame Realität vor Augen führen {und das ist sehr häufig der Fall}, sind sie doch frei von Zynismus oder Misanthropie. In diesem Punkt gleichen sie den großen Werken der Italiener. Wie diese betrachten auch die japanischen Filmemacher ihre Charaktere voller Mitgefühl und Sympathie, ohne deshalb ihre Schwächen auszublenden. Beide Filmstile sind Ausdruck eines tiefempfunden Hasses auf die Ungerechtigkeit der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und einer ebenso großen Liebe zu den Menschen. Und wer solche Gefühle "sentimental" findet, tut mir einfach bloß leid ...

Nun ist Kenji Misumi sicher keiner der ganz großen Regisseure des klassischen japanischen Films gewesen, und seine Story of Zatoichi reicht auch innerhalb des Genres der "Jidaigeki" (~ "Historienfilme") nicht an solche Meisterwerke wie Mizoguchis Sanshō dayū / Sansho the Bailiff (1954), Kurosawas Shichinin no samurai / Seven Samurai (1954) oder Kobayashis Seppuku / Harakiri (1962) heran. Aber dennoch handelt es sich bei ihr um einen brilliant geschriebenen, inszenierten und gespielten Film, neben dem 90% der heutzutage produzierten Flicks {vom Hollywood-Blockbuster bis zum Arthouse-Indie-Streifen} schamrot im Boden versinken sollten.
Zudem besitzt der  Streifen einige, im Vergleich zu seinen "großen Brüdern" auffällige Eigenheiten. Anders als in vielen "Jidaigeki" der Zeit ist der von Shintaro Katsu genial verkörperte Protagonist Zatoichi kein Samurai oder Ronin. Er entstammt vielmehr der Unterschicht des feudalen Japan. Als umherziehender Masseur (anma) geht er ursprünglich dem Beruf nach, der einem blinden Mann im Land der Aufgehenden Sonne zu Beginn des 19. Jahrhunderts am ehesten angemessen war. Doch schließlich widmet er sich auf verbissene Weise dem Studium der Fechtkunst, da er auf diese Weise hofft, sich den Respekt verschaffen zu können, der ihm bisher vorenthalten wurde. Aber aufgrund seines niederen Standes kann er selbst als unvergleichlicher Meister des Schwertes kein anerkannter "Krieger" werden. Dieses Privileg ist dem Adel vorbehalten. Symbolischen Ausdruck findet das darin, dass Zatoichi nie ein "Katana" (Samuraischwert), sondern stets sein bald schon legendäres "Shikomi-zue" ("Stockschwert") führt. Die einzige Möglichkeit, die sich ihm anbietet, ist es der "Yakuza" (der halboffiziellen, gildenartig organisierten Verbrecherwelt) beizutreten. Schon im allerersten Zatoichi-Film bereut der blinde Schwertkämpfer diesen Entschluss, doch gelingt es ihm nicht, sich aus der Welt der "Oyabun/Kumichō" ("Bosse"/"Paten") und ihrer Gefolgsleute und gedungenen Killer zu befreien. Wie auch? Steht ihm im Grunde doch überhaupt kein anderer Weg offen in der von Unterdrückung, allgemeinem gesellschaftlichen Zerfall und Korruption gezeichneten Welt der späten Edo-Zeit (1830/40).

Allen Freundinnen und Freunden der Filmkunst kann ich nur leidenschaftlich ans Herz legen, sich einmal dem guten Zatoichi zuzuwenden. Sie werden es nicht bereuen. Und zum Abschluss nun rasch noch zwei Stücke aus dem Soundtrack des großen Akira Ifukube – Fans des Phantastischen vielleicht am ehesten als Komponist der Musik zu Ishirō Hondas Gojira / Godzilla (1954) und Schöpfer des berühmten Brüllens von Big G. bekannt:

   


PS: Da ich gerade zum ersten Mal Kenji Mizoguchis Shin heike monogatari / Tales of the Taira Clan (1955) gesehen habe, hierzu noch kurz ein paar Worte: Der Film gehört sicher nicht zu den ganz großen Werken des Meisters, aber er verdient nicht nur als einer der zwei Farbfilme des Regisseurs Interesse, sondern auch aufgrund seines historischen Settings. Die in ihm erzählte Jugendgeschichte von Taira no Kiyomori (1118-1181) mag in vielem von der geschichtlichen Realität abweichen, doch sie entwirft ein lebendiges Bild der Klassenkämpfe am Ende der Heian-Zeit, insbesondere des sich immer weiter verschärfenden Konfliktes zwischen dem alten Hofadel von Kyōto, den mächtigen buddhistischen Mönchsorden (vor allem dem Klosterimperium von Hiei) und der aufsteigenden Kriegeraristokratie der Samurai.

Dienstag, 13. Mai 2014

R.I.P. HR Giger

Gestern Nachmitag erlag der Schweizer Künstler und Alien-Schöpfer HR Giger im Alter von vierundsiebzig Jahren den Verletzungen, die er sich bei einem schweren Sturz zugezogen hatte. Mit ihm hat die phantastische Kunst einen ihrer ganz großen Meister verloren. Viele haben seinen Stil zu imitieren versucht, doch nur wenige haben dabei die Intensität seiner düsteren Visionen erreicht.


Samstag, 10. Mai 2014

Strandgut der Woche