"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Samstag, 29. Dezember 2012

Strandgut der Woche

Montag, 24. Dezember 2012

Happy Hogswatch

allen Leserinnen und Lesern, allen zufälligen Besuchern und Besucherinnen!


Wie alle Pratchett-Verfilmungen gilt auch Vadim Jeans Adaption von Hogfather bei vielen als nicht besonders gelungen. Mir persönlich hat sie viel Vergnügen bereitet, und ich denke, dass sie den Geist des Buches recht gut wiedergibt.

Wer eine andere, sehr viel ältere, jedoch gleichfalls ziemlich eigenwillige Version der Geschichte vom Weihnachtsmann kennenlernen will, dem sei die Rankin/Bass-Version von The Life & Adventures of Santa Claus des Freidenkers und Oz-Schöpfer L. Frank Baum aus dem Jahre 1985 empfohlen. Bridget McGovern hat den Film einmal als "The World’s Most Bizarre Animated Christmas Special ... EVER." beschrieben. Und das könnte sogar stimmen.
Weihnachtsmärchen trifft High Fantasy, wenn Santa Claus mit einer Löwin und einem polyglotten Elfen an der Seite und unterstützt von einem ganzen Team ebenso phantastischer wie grotesker Unsterblicher gegen die bösen Awgwas antritt. Ein Weihnachtsfilm mit dreiäugigen Ogern, bösen Drachen und Riesenspinnen, der dennoch warmherzig und im besten Sinne "weihnachtlich" ist? Was will man mehr:

Samstag, 22. Dezember 2012

"Weil man sonst kein Mensch ist"

Wenn ich aus dem Fenster des Zimmers schaue, in dem ich mich gerade befinde, so fällt mein Blick meist auf die beiden weißen Pferde, die auf dem Nachbargrundstück herumstehen. Um ehrlich zu sein, handelt es sich bei ihnen um etwas traurig anmutende Kreaturen. Der eine war einst ein stolzer (und verflucht teurer) Edelhengst aus irgendeinem berühmten, zentralasiatischen Gestüt, doch schon seit einer halben Ewigkeit hat die zwei niemand mehr ausgeritten, und so verbringen sie ihre Tage damit, herumzustehen, sich im Sommer aufdringlicher Fliegenschwärme zu erwehren und beinahe unablässig Gras zu rupfen. Vielleicht täusche ich mich ja, und einem in die Jahre gekommenen Ross erscheint solch ein Dasein paradiesisch, auf mich jedenfalls wirkt es reichlich öde.
Obwohl die beiden also einen eher melancholischen Eindruck machen, erinnern sich mich doch zugleich jedesmal an Astrid Lindgrens Die Brüder Löwenherz. Warum kann ich mir nicht recht erklären, sind Grim und Fjalar im Buch doch keine Schimmel, und auch in Olle Hellboms Verfilmung ist nur Jonathans Pferd weiß. Das Gehirn funktioniert eben manchmal auf etwas wunderliche Weise.

Nun, wie dem auch sei, jedenfalls haben mich die nachbarlichen Zossen schließlich dazu gebracht, nach langer Zeit einmal wieder Lindgrens berühmtes Werk hervorzuholen. Es gehört zu einer Handvoll Büchern, die in mir als Kind die Liebe zum Phantastischen weckten. {Auch wenn die Grundlage dazu sicher bereits durch Märchen und kindgerechte Nacherzählungen germanischer Heldensagen gelegt worden war}. Auf manche von ihnen hat sich mein Blick über die Jahre & Jahrzehnte hin stark gewandelt, wie wohl nicht anders zu erwarten war. So habe ich inzwischen eine eher ablehnende Haltung zu Michael Endes Unendlicher Geschichte, und jede erneute Beschäftigung mit Tolkiens Herr der Ringe macht mein Bild von ihm komplexer {und wohl auch widersprüchlicher}. Mit Lindgrens Brüder Löwenherz und Ronja Räubertochter verhält es sich anders. Als Erwachsener habe ich sie Jahrzehnte lang nicht noch einmal gelesen, und so blieben sie stets umgeben vom warmen, nostalgischen Schein alter Kindheitserinnerungen. Erst in diesem, nun zu Ende gehenden Jahr habe ich sie endlich einmal wieder zur Hand genommen.
Das erste und vielleicht wichtigste Ergebnis dieser neuerlichen Begegnung war, dass meine alte Liebe zu ihnen in keiner Weise darunter gelitten hat. Der Unterschied zwischen den beiden besteht allerdings darin, dass ich im Falle Ronjas hauptäschlich meine alten Eindrücke bestätigt gefunden habe {auch wenn ich zu ihrer Beschreibung heute natürlich "erwachsenere" Begriffe benutzen würde}, während sich mir bei der Lektüre der Brüder Löwenherz eine Reihe von Dimensionen eröffneten, die ich als kindlicher Leser überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Meine Bewunderung für das Buch und vor allem für Astrid Lindgren als einer Autorin, die es auf brillante Weise verstand, gewichtige Themen in einer kindgerechten Erzählung mit großer Ernsthaftigkeit und erstaunlicher Differenziertheit zu behandeln, ist dadurch noch einmal immens gewachsen.

Eines der zentralen Themen des Buches ist bekanntlich der Tod. Lindgren selbst hat darüber einmal erzählt:
Die Brüder Löwenherz sind auf verschiedene Weise entstanden. Erstens bin ich immer viel auf Friedhöfen herumgewandert. Und auf dem Friedhof von Vimmerby las ich einmal die Inschrift auf einem Grabstein: "Hier ruhen die Brüder Fahlén, gestorben im zarten Alter 1860 ..." Da wusste ich plötzlich, dass mein nächstes Buch vom Tod und von diesen beiden kleinen Brüdern handeln sollte. Und dann fing ich an, darüber nachzudenken, was nun mit diesen Brüdern war, die dort lagen, was sie in ihrem Leben erlebt hatten. Aber das war erst der Anfang ...
Die Geschichte beginnt damit, dass Jonathan Löwe seinem kleinen, todkranken Bruder Karl  – genannt "Krümel" ("Skorpan") – von dem wunderbaren Reich Nangijala erzählt, in das die Menschen nach ihrem Tod kommen, um ihm damit die Angst vor dem Sterben zu nehmen. Allerdings ist es Joanthan selbst, der zuerst stirbt, als er "Krümel" aus dem brennenden Mietshaus rettet, in dem die beiden zusammen mit ihrer Mutter leben. Wenig später erliegt Karl seiner Krankheit. In Nangijala finden sich die beiden als Brüder Löwenherz wiedervereinigt, und dort spielt auch die eigentliche Handlung. An ihrem Ende bittet der schwerverletzte, durch Drachenfeuer zu völliger Lähmung verdammte Jonathan seinen Bruder, nun seinerseits ihm beim Sterben zu helfen. Der gemeinsame Freitod der beiden bildet den Schluss des Buches.

Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens 1973 lösten Die Brüder Löwenherz heftige Kontroversen in Schweden aus, nicht nur wegen der positiven Darstellung eines Selbstmords, sondern auch, weil viele Kritiker der Meinung waren, dass solche Themen für ein Kinderbuch nicht angemessen seien.
Vor allem Letzteres ist natürlich Unsinn. Gute Kinderliteratur sollte nicht vor der Beschäftigung mit den schwierigeren und leidvollen Erfahrungen des menschlichen Lebens zurückschrecken. Es kommt ausschließlich darauf an, wie dies geschieht, und Astrid Lindgren verstand es, über solche Themen in einer einfühlsamen, zugänglichen und ihre kindlichen Leser & Leserinnen ernst nehmenden Weise zu schreiben. Als Atheist, der nicht an eine Weiterexistenz nach dem Tode glaubt, erscheint mir ihre Antwort auf die Frage des Sterbens freilich zu einfach. Und hierin vor allem besteht für mich auch die Problematik der Freitodszene. Statt sich mit der grausamen Realität des Verlustes eines geliebten Menschen auseinandersetzen zu müssen, eröffnet sich Karl durch den gemeinsamen Sprung von der Klippe die Möglichkeit, mit seinem Bruder vereint zu bleiben. In der Wirklichkeit haben wir diese Chance nicht.

Andererseits glaube ich, dass gerade diese Szene sehr deutlich zeigt, dass der Tod ein zwar bedeutendes, aber keineswegs das wichtigste Thema der Brüder Löwenherz ist. Wenn der gemeinsame Selbstmord auch keine adäquate Antwort auf das Problem von Tod und Verlust darstellt, so ist er doch der ultimative Beweis der Liebe zwischen den beiden Brüdern. Und diese unverbrüchliche Bruderliebe steht denke ich in Wirklichkeit im Zentrums der Erzählung.
Zu Beginn verhält sich der ältere Jonathan wie eine Art Ersatzvater, der den kleinen "Krümel" vor allem Übel und allem Leid zu behüten versucht. Doch im Laufe der Erzählung lernt er, ihn als eine gleichberechtigte Persönlichkeit zu respektieren.  Als Jonathan in das von dem finsteren Tengil beherrschte Heckenrosental aufbricht, lässt er Karl im Kirschtal zurück, weil er ihn dort sicher weiß. Später jedoch ist er ohne Protest bereit, ihn nach Karmanjaka – das Land des Tyrannen – mitzunehmen. Karl will ihn auf diese gefährliche Reise begleiten und er respektiert diese Entscheidung:
"Nicht ohne mich", rief ich. "Noch einmal darfst du mich nicht allein lassen! Wo du hingehst, da gehe ich auch hin."
Er sah mich lange an, und dann lächelte er.
"Ja, wenn du wirklich willst, dann will ich es auch", sagte er. (S. 137)
Jemanden zu lieben, bedeutet eben nicht, ihn auf Dauer von allem Unangenehmen abzuschirmen.
Wie an dem Zitat zu sehen, ist es "Krümel", der die Geschichte erzählt. Das sollte man sich immer dann ins Bewusstsein zurückrufen, wenn einem Jonathan als eine gar zu makellose Heldenfigur erscheint. Wir sehen ihn durch die liebenden und bewundernden Augen eines Kindes. Es ist darum nur zu verständlich, dass jede seiner Entscheidungen und Handlungen als hundertprozentig richtig beschrieben wird. Dabei zeigt gerade die Wandlung im Verhalten Jonathans gegenüber Karl, dass auch der ältere Bruder dazulernt und eine Entwicklung durchmacht. Als Leser & Leserinnen können wir es uns deshalb durchaus erlauben, eine etwas kritischere Haltung gegenüber ihm einzunehmen als dies dem Erzähler möglich ist.  Wir werden darauf noch zurückkommen.

Neben Tod und Bruderliebe bilden Märchen & Abenteuer das dritte Hauptthema der Erzählung.
Einerseits sind Die Brüder Löwenherz selbst ein Märchen, auch wenn der Bezug zu den Konventionen des Genres nicht ganz so deutlich ausfällt wie etwa in Mio, mein Mio. Zur Beurteilung der Erzählung ist dies dennoch sehr wichtig. So mag es auf den ersten Blick billig und unrealistisch erscheinen, wenn die Brüder entgegen aller Wahrscheinlichkeit den geheimen Zugang zur Katlahöhle mit Hilfe eines Fuchses entdecken. Im Rahmen eines Märchens aber ist diese Wendung völlig in Ordnung, worauf Karl in gewisser Weise auch hindeutet, wenn er erzählt:
Vielleicht war alles schon vorherbestimmt, seit der Urzeit der Märchen und Sagen? Vielleicht wurde Jonathan schon damals um des Heckenrosentals willen zu Orwars Retter bestimmt? Vielleicht gab es unsichtbareMärchenwesen, die, ohne dass wir es ahnten, unsere Schritte lenkten? Wie sonst hätte Jonathan gerade dort, wo wir unsere Pferde abgestellt hatten, einen Zugang zur Katlahöhle finden können? Es war rätselhaft, genauso rätselhaft, wie es gewesen war, dass ich bei all den vielen Häusern im Heckenrosental gerade auf dem Matthishof gelandet war und nicht woanders.(S. 179f.)
Zugleich aber sind Die Brüder Löwenherz eine Geschichte über Märchen. Als Jonathan seinem Bruder zum ersten Mal von Nangijala erzählt, beschreibt er es als ein Land, in dem "noch die Zeit der Lagerfeuer und der Sagen" sei, von dort "stammten alle Märchen und Sagen, [...] denn gerade dort passiere ja all so was. Wenn man dort hinkomme, erlebe man von früh bis spät und sogar nachts Abenteuer" (S. 7).  Was könnte sich ein Kind Großartigeres wünschen? Und erst recht ein Kind, das ans Bett gefesselt ist, wie der kranke Karl? In Nangijala angekommen zeigt sich allerdings sehr schnell, dass Abenteuer nicht nur aus Schwimmen, Reiten und Lagefeuer machen bestehen. Jedes Märchen setzt die Existenz von Gewalt, Schmerz, Tod und Verlust voraus. Und es bedeutet ganz etwas anderes, ob man eine solche Geschichte selbst erlebt oder sie erzählt bekommt. Kein Wunder, dass "Krümel" am Ende des Buches die Aussicht, dass im nächsten Jenseitsreich Nangilima gleichfalls die "Zeit der Lagerfeuer und Sagen" herrschen soll, alles andere als erfreulich findet. Jonathan versichert ihm jedoch sofort, dort seien "böse und grausame Sagen" keine Wirklichkeit mehr, sondern lebten nur in den Erzählungen fort.
Indem wir Karls Erfahrungen unmittelbar teilen und auf diese Weise sehr eindringlich vor Augen geführt bekommen, was es bedeuten würde, Teil eines Märchens zu sein, eröffnet sich uns ein neuer Zugang zu dieser Art Erzählungen. Nicht, dass Astrid Lindgren dem Märchen damit seinen magischen Reiz nehmen wollte. Sei zeigt uns vielmehr, dass es dabei um sehr viel mehr geht als bloß um farbenfrohe und spannende Geschichten. Es geht um die ganze Bandbreite der menschlichen Erfahrung, und dazu gehören eben auch Schmerz, Gewalt und Tod. Gleichzeitig weist sie auf das Zwiespältige der Sehnsucht nach dem Abenteuer hin.

Und damit kommen wir zum vierten großen Thema der Brüder Löwenherz: Revolution.
Keine Angst, ich werde jetzt nicht versuchen, aus einem vielgeliebten Kinderbuch ein kommunistisches Pamphlet zu machen. Das ist Astrid Lindgrens Erzählung nicht, und in meinen Augen ist das auch verdammt gut so.
Eher zufällig habe ich ungefähr zur selben Zeit wie die Brüder Löwenherz auch einmal wieder Geoffrey Treases Die Verschwörung gegen den Hunger (Comrades for the Charter) aus dem Jahre 1934 gelesen – gleichfalls ein Kinderbuch, das sich mit dem Thema Revolution beschäftigt. Doch welch himmelweiter Unterschied besteht zwischen diesen beiden Werken! Nun ist Treases Erzählung nicht phantastisch, sondern historisch-realistisch  – sie spielt vor dem Hintergrund der englischen Chartisten-Bewegung der 1840er Jahre*  –, und deshalb mag ein Vergleich nicht ganz fair erscheinen.  Aber so sehr ich es auch begrüße, wenn ein Autor versucht, seiner kindlichen Leserschaft historisches Wissen zu vermitteln, dieses Buch schmeckt mir einfach zu sehr nach Agitprop – und Agitprop kann ich nur dann leiden, wenn er sich entweder mit dem Grotesken verbindet, wie in Wladimir Majakowskis Mysterium Buffo, oder wenn er so harsch und ehrlich daherkommt, wie in einigen von Ernst Busch gesungenen Liedern.
Von so etwas sind Die Brüder Löwenherz dankenswerterweise meilenweit entfernt. Und doch – die eigentliche Geschichte dreht sich um einen revolutionären Kampf, und ich denke, es ist kein Zufall, dass das Buch Anfang der 70er Jahre geschrieben wurde, zu einer Zeit also, als weltweit revolutionäre Kämpfe tobten. Und Astrid Lindgren, die seit den 30er Jahren Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Schwedens war, stand schon immer auf der Linken.
Wie auch immer die bewussten Intentionen der Autorin ausgesehen haben mögen, auf jedenfall behandelt sie das Thema Revolution auf bewundernswert differenzierte Weise.
Nangijala besteht aus zwei Tälern. Im Kirschtal herrschen Friede und Gemeinschaftsgeist: "[H]ier [...] ist alles umsonst. Wir geben und helfen einander, wann und wo es nötig ist" (S. 38). Das Heckenrosental aber ist von dem Tyrannen Tengil und seinen Gefolgsleuten erobert worden, die seine Bewohner versklavt haben. Den Kampf gegen ihn führen Sophia und Orvar. Jonathan hat sich ihnen angeschlossen. Als er auszieht, um den in der Katlahöhle gefangen gesetzten Orvar zu befreien, kann Karl zuerst nicht verstehen, warum sein Bruder sich ins Lebensgefahr begibt, um einen Mann zu retten, den er noch nie gesehen hat:
Ich fragte Jonathan, warum er sich in eine solche Gefahr begeben müsse. Ebenso gut könnte er doch zu Hause am Feuer sitzen und es sich gut gehen lassen. Aber da antwortete mir Jonathan, es gebe Dinge, die man tun müsse, selbst wenn es gefährlich sei.
"Aber warum bloß?", fragte ich.
"Weil man sonst kein Mensch ist, sondern nur ein Häuflein Dreck", erwiederte er. (S. 59)
Es gibt Situationen, in denen man Stellung beziehen und sich engagieren muss, wenn man seine eigene Menschenwürde behalten will. Im Laufe der Erzählung lernt auch Karl, dies zu verstehen. Die Geschichte läuft jedoch nicht auf eine simple, romantische Verherrlichung des Freiheitskampfes hinaus. Astrid Lindgren lässt keinen Zweifel daran, dass auch der Kampf der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker hart und grausam ist. Als "Krümel" seinen Bruder fragt, ob es stets "böse Sagen" wie die von Tengil geben müsse, antwortet dieser:
"Nein, [...] wenn der Kampf einmal vorüber ist, wird Nangijala wohl wieder ein Land, wo Sagen und Märchen schön sind und das Leben leicht und einfach ist wie früher. [...] Aber dieser letzte Kampf, Krümel, kann nur ein böses Märchen sein, eine Sage vom Tod und nichts als dem Tod. Und deshalb muss Orwar diesen Kampf leiten, nicht ich. Denn ich tauge nicht dazu, einen Menschen zu töten." (S. 166)
Orvar erscheint als ein harter, leidenschaftlicher Mann, dessen ganzer Wille auf den kommenden Aufstand ausgerichtet ist, und der keinerlei Bedenken hat, im Namen der Freiheit Menschenleben zu opfern. Karls Haltung wirkt nicht ohne Grund  stets etwas distanziert, wenn er von ihm erzählt. Was  jedoch nicht bedeuten soll, dass Orvar der altbekannten Karrikatur des 'fanatischen Revolutionärs' entsprechen würde, hinter dessen Freiheitspathos sich bereits der kommende neue Diktator ankündigt. Er besitzt ganz einfach all die Eigenschaften, die man braucht, um der Führer eines bewaffneten Aufstands zu sein. Und Lindgren lässt keinen Zweifel daran, dass zum Sturz einer Despotie Gewalt notwendig und legitim ist.  Die Verantwortung für das Blutvergießen liegt eindeutig auf Seiten der Unterdrücker, was die folgende Szene auf eindrucksvolle und beinahe unheimliche Weise deutlich macht:
Wir kamen an einem von Apfelbäumen umgebenen Häuschen vorbei, und Matthias sagte:
"Da wohnt der, den sie vorhin erschlagen haben."
Auf der Türschwelle saß eine Frau. Ich erkannte sie vom Marktplatz her wieder, ihr Schreien, als Tengil auf ihren Mann wies, klang mir noch in den Ohren. Jetzt hatte sie eine Schere in der Hand und war dabei, ihr langes blondes Haar abzuschneiden.
"Was tust du, Antonia?", fragte Matthias. "Was machst du mit deinem Haar?"
"Bogensehnen", sagte Antonia.
Mehr sagte sie nicht. Doch nie werde ich den Ausdruck ihrer Augen vergessen, als sie dies sagte." (S. 134)
Doch damit ist die Problematik der revolutionären Gewalt nicht gelöst. Sie bleibt Gewalt. Wir wissen, das Tengils Soldaten keine 'abscheulichen Orks' und keine gesichtslosen 'Stormtroopers' sind, sondern Menschen. Kader, Veder und Dodik sind sicher keine besonders sympathischen Zeitgenossen, aber sie sind dennoch Menschen.
Jonathans Weigerung, mit der Waffe in der Hand am Aufstand teilzunehmen, wirkt darum erst einmal verständlich und fast bewundernswert. Dennoch ist Orvars Argument nicht so leicht von der Hand zu weisen: "Wenn alle wären wie du, dann würde das Böse ja bis in alle Ewigkeit herrschen!" (S. 213). Und hatte Jonathan nicht selber gesagt: "Eines Tages schlägt auch für Tengil die Stunde." Und als "Krümel" ihn gefragt hatte, was genau er damit meine, hatte da er nicht geantwortet: "Dass es ihm genauso geht, wie es allen Tyrannen früher oder später ergeht [...] Dass er wie eine Laus zerquetscht wird und für immer verschwindet." (S. 57)
Und tatsächlich ist am Ende er es, der Tengils Tod herbeiführt, indem er ihm die Kriegslure entwindet und die fürchterliche Katla seinem eigenen Willen unterwirft. Nach allem, was wir über das Verhältnis des Drachenweibchens zu der Lure und ihrem Träger wissen, muss Jonathan ihr eigentlich befohlen haben, den Tyrannen zu töten, auch wenn dies nicht ausdrücklich gesagt wird. Es besteht natürlich die Möglichkeit, dass Katlas Hass auf ihren ehemaligen Herrn so groß ist, dass sie sich – kaum von ihm befreit – sofort auf ihn stürzt, unabhängig von den Befehlen ihres neuen Meisters. Doch auch dann bliebe zumindest die Tatsache bestehen, dass Jonathan nichts versucht, um dies zu verhindern. So oder so – er trägt die Verantwortung für den Tod des Despoten.
Ziel dieser Schilderung ist es sicher nicht, Jonathans Ideal der Gewaltlosigkeit als verlogen darzustellen. Vielmehr wird uns damit deutlich gemacht, dass es für moralische Konflikte wie diesen keine einfachen Lösungen gibt.
Angesichts dieser differenzierten Auseinandersetzung mit dem Problem der revolutionären Gewalt fühlte ich mich bei meiner erneuten Lektüre von  Die Brüder Löwenherz mehr als einmal an die Zeilen aus Bert Brechts Gedicht An die Nachgeborenen erinnert:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir,
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit,
Konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es so weit sein wird,
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist,
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.
**
Zum Abschluss noch ein paar Worte über die Verfilmung aus dem Jahre 1977.


Astrid Lindgren hatte das große Glück, an vielen der frühen – und heute klassischen – Filmadaptionen ihrer Werke unmittelbar mitwirken zu können und dabei auf einen kongenialen, und ihr bald schon in tiefer Freundschaft verbundenen Regisseur zu treffen: Olle Hellbom. Produkt ihrer berühmteste Zusammenarbeit sind sicher die Pippi Langstrumpf - Filme mit Inger Nilsson, doch daneben zeichnete Hellbom u.a. für Ferien auf Saltkrokan, eine Reihe von Episoden von Michel aus Lönneberga und eben Die Brüder Löwenherz verantwortlich. Ursprünglich sollte er auch bei Ronja Räubertochter die Regie führen, doch erlag er anderthalb Jahre vor Drehbeginn einem Krebsleiden, woraufhin Tage Danielsson die Aufgabe übernahm.
Ich weiß nicht so recht, was ich über Hellboms Brüder Löwenherz anderes sagen soll, als dass es sich um eine Adaption des Buches handelt, die diesem voll und ganz gerecht wird, ohne dabei zu vergessen, dass der Film eigene Stilmittel besitzt, um eine Geschichte zu erzählen. Keine bloß buchstabengetreue Umsetzung also, sondern eine sehr gelungene cineastische Anverwandlung des Stoffes. An einigen Stellen (Katla; die Schlacht) spürt man zwar die durch das Budget gesetzten Grenzen, doch davon einmal abgesehen, handelt es sich meiner Meinung nach um einen der wirklich großen phantastischen Kinderfilme, und wer ihn noch nicht gesehen hat, sollte dies schleunigst nachholen.*** Für seine überragende Qualität verantwortlich sind neben dem Regisseur Hellbom und der Drehbuchautorin Lindgren vor allem der Chefkameramann Rune Ericson, der denselben Job auch in Danielssons Ronja übernehmen sollte, sowie ein Team ausgezeichneter Schauspieler & Schauspielerinnen. Neben Lars Söderdahl als Karl und Staffan Götestam als Jonathan seien genannt: der Theaterexzentriker Allan Edwall als Matthias; die zu ihrer Zeit sehr berühmte Bühnendarstellerin Gunn Wållgren als Sophia (sie sollte 1982 die Großmutter in Ingmar Bergmans Fanny und Alexander spielen); sowie der v.a. durch seine Titelrolle in der Knut Hamsun - Adaption Hunger (1966) bekannte Per Oscarsson als Orvar (er sollte 1984 als Borka in das Lindgren-Universum zurückkehren). 

 

* Allen Fantasyfreunden & -freundinnen, die nicht wissen, wer die Chartisten waren, empfehle ich wärmstens Freedom and Necessity von Emma Bull & Steven Brust. Und dem Rest auch.
** Bertolt Brecht: Werke. Bd. 12: Gedichte 2. S. 87.
*** Auf Youtube findet sich das schwedische Original mit englischen Untertiteln.

Strandgut der Woche

Samstag, 15. Dezember 2012

Weihnachtliche Metaphysik

Was ist der beste Beweis dafür, dass es keine göttliche Vorsehung gibt? Ganz einfach: Die Existenz von
Und wer mir nicht glaubt, der möge auf obigen Link drücken und dabei eine Flasche Wodka in Reichweite bereit halten. Es versteht sich hoffentlich von selbst, dass ich für etwaige psychologische Folgeschäden nicht aufkomme.

Vielen Dank auch an Lee & Darren vom BlackDog Podcast, die mich dazu verführt haben, mir diese Monstrosität anzuschauen! Das nächste Mal  lade ich lieber Yog-Sothoth und Shub-Niggurath auf ein paar Plätzchen und ein Glas Glühwein ein. Fürchterlicher können die auch nicht sein.

PS: Dieses eine Mal bin ich der Copyright-Polizei wirklich dankbar. Sie hat mich davor bewahrt, diesen "Film" in seiner Gänze ertragen zu müssen  ...

Strandgut der Woche

Donnerstag, 13. Dezember 2012

A Christmas Carol

Hin und wieder wird der Oscar sogar Leuten verliehen, die ihn wirklich verdient haben. So z.B. 1972 Richard Williams für seine Adaption von Charles Dickens' A Christmas Carol:


Mörderischer Tolkienismus?

Am 13. Dezember 2011 fährt der fünfzigjährige Buchhalter Gianluca Casseri mit seinem grauen Polo in die Innenstadt von Florenz. Er parkt in der Nähe der Piazza Dalmazia, steigt aus, geht zu einer Gruppe senegalesischer Straßenhändler, wartet kurz, zieht seine Smith & Weston und eröffnet das Feuer. Samb Modou (40) und Diop Mor (54) sind auf der Stelle tot, Moustapha Dieng (34) bleibt schwerverletzt auf dem Straßenpflaster liegen. Der Mörder entkommt. Etwa drei Stunden später zückt er in der Nähe des Doms erneut seine Pistole und verwundet zwei weitere Senegalesen. Er flieht vor der Polizei in eine Tiefgarage und jagt sich dort eine Kugel in den Kopf.

Der erste Jahrestag der rassischten Morde von Florenz scheint mir ein passender Anlass, um einige der Gedanken, die mir damals durch den Kopf gegangen sind, hier niederzuschreiben.

Wie in vielen vergleichbaren Fällen wurde auch hier sofort betont, der Täter sei ein "introvertierter Einzelgänger" und "klassischer einsamer Wolf" gewesen. Als Psychogramm Casseris mag dies zutreffen. Sein persönliches Weltbild war offenbar in der Tat reichlich bizarr. Dennoch führt diese Konzentration auf die individuellen Spinnereien des jeweiligen Rassisten {ob gewollt oder ungewollt} stets dazu, von dem allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Kontext abzulenken, in dem diese Verbrechen verübt werden. Ein echtes Paradebeispiel hierfür war die Berichterstattung über den Prozess gegen  den norwegischen Terroristen und Massenmörder Anders Breivig. Im Fall Casseri muss man sich zuerst einmal klarmachen, dass seit geraumer Zeit alle Fraktionen des politischen Establishments in Italien versuchen, eine ausländerfeindliche Stimmung (insbesondere gegen afrikanische Immigranten, Albanier und Roma) heraufzubeschwören. Doch darüberhinaus bemühen sich im Zuge der Wirtschaftskrise überall in Europa Medien und Politik darum, in altbewährter Weise irgendwelche Sündenböcke für die gesellschaftliche Misere zu präsentieren. Sei es, dass "faule Griechen" oder "skrupellose Chinesen" für die Probleme verantwortlich gemacht werden. Sei es, dass im Zuge von "Burka"- oder "Beschneidungs"-Debatten antimuslimische Vorurteile geschürt werden. Sei es, dass man einen wüsten Medienrummel um den tumben Rassisten Thilo Sarrazin veranstaltet, und seinen Anhängern in jeder zweiten Talkshow ermöglicht, ihre abstrusen Ansichten als "diskussionswürdigen Beitrag" zu präsentieren. Und während die EU den Friedensnobelpreis einsackt, schafft sie in Griechenland de facto die Demokratie ab, verdammt die arbeitende Bevölkerung zu Elendsverhältnissen, wie sie seit den 30er Jahren auf diesem Kontinent nicht mehr existiert haben, und heißt stillschweigend gut, dass die Regierung in Athen zur Ablenkung Treibjagd auf Migranten und Migrantinnen machen lässt, während ihre Polizisten in Scharen zur faschistischen Partei Chrysi Avgi überlaufen.  Die Sonntagsreden etablierter Politiker über Toleranz und Völkerverständigung sind ungefähr so glaubwürdig wie der offizielle Antifaschismus der alten DDR. Ein besonders zynisches Beispiel dafür war die kürzliche Einweihung des Berliner Mahnmals für die von den Nazis ermordeten Sinti und Roma.

So gesehen mag es etwas widersprüchlich erscheinen, wenn ich das Augenmerk meiner Leserinnen und Leser dennoch auf eine von Casseris persönlichen Eigentümlichkeiten lenken will. Doch handelt es sich dabei um etwas, was uns Freunde und Freundinnen des Phantastischen ganz unmittelbar berührt. Der Mörder von Florenz nämlich hat über sich selbst geschrieben:

Er wird 1961 in Ciriegio (PT) geboren, während der Mensch in den Weltraum fliegt und der Himmel sich in der größten Sonnenfinsternis des XX. Jahrhunderts verdunkelt. Im Alter von 12 Jahren, überwältigt von der Begegnung mit H.P. Lovecraft, entfernt er sich endgültig aus dem ihn umgebenden geordneten Kosmos. Seine vielfältigen Interessen im Bereich Fantasy, alle rigoros nicht aktuell, reichen von Flash Gordon bis zum Sci-Fi-Kino der 50er Jahre, von den Autoren der Weird Tales bis zu Val Newtons [sic]* Filmen und darüber hinaus.
Gianluca Casseri war ein begeisterter Fantasyfan! Mehr noch – von 2001 bis 2005 war er Herausgeber des Magazins La Soglia (Die Schwelle), das sich u.a. mit Tolkien, Robert E. Howard und Bram Stoker beschäftigte. Bis heute wird die entsprechende Ausgabe auf der Website der italienischen Tolkiengesellschaft zum Verkauf angeboten. Und wie dort zu lesen ist, war Casseri selbst Mitglied der STI (Societá Tolkienista Italiana). Das ist kein nebensächliches Detail. In Italien hat die Affinität bestimmter Personen und Gruppen der neofaschistischen Szene zum Werk des ‘Professors’ eine lange Tradition. Nicht ohne Grund nannte die Movimento Sociale Italiano – die offen faschistische Vorläuferin von Gianfranco Finis Alleanze Nazionale – das Schulungslager ihrer Jugendbewegung 1980 ‘Campo Hobbit’. Am 5. Mai 2000 veranstaltete die italienische Tolkiengesellschaft gemeinsam mit der rechten Kulturvereinigung Raldo und der der AN nahestehenden Studentenorganisation Azione Universitaria einen Kongress unter dem Titel „J.R.R. Tolkien – Die Reise der Gefährten ins dritte Jahrtausend". Dort konnte man u.a. einem Vortrag über die ‘Beziehung von Spiritualität und Kriegertum’ im Werk des ‘Professors’ lauschen. Einer der Referenten war Alberto Lombardo, Präsident des Studienzentrums La Runa, dem auch Casseri angehörte. Wie Professor Roger Griffins in seinem Aufsatz Revolts Against the Modern World überzeugend dargelegt hat, besteht eine enge Verwandtschaft zwischen der Tolkienbegeisterung vieler italienischer Neofaschisten und dem Kult um Julius Evola, mit dessen Ideen sich La Runa identifiziert. Lebendige Verkörperung dieser Verbindung ist Gianfranco de Turris – bis heute ein prominentes Mitglied der italienischen Tolkiengesellschaft und zugleich ein Verehrer des Gurus der faschistischen Esoterik, dem er noch persönlich seine Aufwartung machen konnte. Auch Casseri zeigte sich offenbar nicht nur vom Herr der Ringe, sondern auch von "keltischen Riten, Neopaganismus [...] und arischen Herrenrassen" fasziniert.

Dieser Mix aus Fantasy und Faschismus ist keineswegs eine nationale Eigenart des Heimatlandes von d’Annunzio, Mussolini und Marinetti:

  • Jussi Halla-aho – Philologe, rassistischer Blogger und führendes Mitglied der ultrarechten ‘Wahren Finnen’ – nennt als seine Hobbies ‘Schießen’ und ‘Tolkien Lesen’.
  • Die British National Party versucht den ‘Professor’ immer mal wieder als ‘einen der ihren’ zu vereinnahmen.
  •  Der südafrikanische Rechtsradikale Stephen Goodson stellte nicht nur die absurde Behauptung auf, Tolkien sei ein Anhänger der faschistischen League of Empire Loyalists gewesen, sondern benutzt ihn auch als Aushängeschild für seine hirnverbrannten Ideen.
  • In dem vom stellvertretenden NPD-Bundesvorsitzenden Holger Apfel 2004 herausgegebenenen Taschenkalender fanden sich neben Germanenkitsch und Geschichtsklitterung auch Ergüsse über Tolkien (neben Ezra Pound & Ernst Jünger).
  • Als Gimli-Darsteller John Rhys-Davies – selbsterklärter Verteidiger der ‘traditionellen, weißen, männlichen Kultur’ – seine ignoranten und rassistischen Äußerungen von sich gab, in denen er das Anwachsen der muslimischen Bevölkerung Europas als eine ‘demographische Katastrophe’ bezeichnete, die die ‘westliche Zivilisation’ bedrohe, berief er sich dabei auf den Herr der Ringe: „I think that Tolkien says that some generations will be challenged. And if they do not rise to meet that challenge, they will lose their civilisation. That does have a real resonance with me."
  • Im Jahr 2008 veröffentlichte Third Way Publications ein Büchlein mit dem Titel Tolkien and Politics. Zwei der drei Autoren – David Kerr & Patrick Harrington – gehören zur Führungsriege der britischen National Liberal Party, die 1989/90 aus dem Zusammenbruch der faschistischen National Front hervorgegangen ist. Harrington ist zudem Generalsekretär der Gewerkschaft Solidarity, die enge Beziehungen zur BNP unterhält. Während ihrer Zeit in der National Front gehörten beide dem sog. ‘Political Soldier’ - Flügel an, der sich auf die Ideen von Evola berief. Ziel ihres Buches ist es offenbar, Tolkien für die rechtsliberale, nationalistische Politik ihrer Partei zu vereinnahmen, wobei sie jedoch bemüht sind, sich von den offen rassistischen Tolkienisten abzugrenzen.
  • Die sich fürchterlich intellektuell gebärdenden Schreiberlinge des österreichischen Magazins Der Funke, die ihre Mission im Kampf gegen den ‘marxistisch-universalistischen Wahnsinn’ und für die ‘ethnokulturelle Identität’ Europas sehen, haben die folgende Erklärung abgegeben: "Die Vereinigung aller identitären Kräfte Europas ist die große Aufgabe unserer Generation. Dabei sollen die nationalen Besonderheiten nicht aufgegeben werden, sondern in einer großen Gemeinschaft bewahrt und erhalten werden. Wir wollen eine Festung, ein Bollwerk der Identität im globalen Meer des Amerikanismus werden! Tolkiens Herr der Ringe ist voll von Metaphern, die genau dieser Vision entsprechen. Es geht um das Bewahren der Eigenart, den Erhalt einer Vielfalt an Völkern, Staatssystemen und Identitäten, gegen eine dunkelrote Flut, aus degenerierten Einheitsmenschen, die von einem totalitären System (dem Auge) auf einen universalen Eroberungszug geschickt werden. Wie die Völker Mittelerdes müssen wir interne Streitigkeiten beilegen und uns gemeinsam gegen den Feind stellen! Wir müssen die Leuchtfeuer eines wehrhaften Europas der Vaterländer entzünden, von Madrid bis Paris, von Berlin bis nach Rom, von Wien bis nach Moskau! " (**) Die Gruppe unterhält freundschaftliche Beziehungen zur rechtsextremen Organisation Casa Pound, mit der auch Casseri in engem Kontakt stand.
  • In den USA finden sich faschistoide Tolkienisten naturgemäß vor allem unter den christlichen Fundamentalisten. Als Beispiele mögen SF-Autor John C. Wright*** , Blogger Theodore Beale (Vox Day)**** und der katholische Hochschuldozent Ken Craven dienen.
Ich selbst liebe und verehre den 'Professor' und sein Werk. Dennoch werde ich es mir jetzt nicht so leicht machen, und ganz einfach die Briefe Tolkiens zitieren, in denen er auf unmissverständliche Weise seinem Hass auf und seiner Verachtung für den Rassismus und Antisemitismus der Nazis Ausdruck verliehen hat. Ausnahmsweise bin ich in diesem Fall auch einmal der Meinung, dass man das literarische Werk betrachten sollte, ohne auf die Ansichten seines Schöpfers Rücksicht zu nehmen.
Man darf wohl davon ausgehen, dass diese rechtsextremen Tolkienisten nur eine verschwindend kleine Minderheit unter den Bewunderern des ‘Professors’ darstellen. Das bedeutet meiner Meinung nach aber nicht, dass wir übrigen sie als einen Haufen von Wirrköpfen abtun sollten, mit denen man sich nicht ernsthaft auseinandersetzen müsste. Leute wie Stephen Gordon und Holger Apfel versuchen vielleicht wirklich bloß, die Beliebtheit des Herr der Ringe für ihre politischen Ziele auszunutzen, doch die meisten sind ohne Zweifel ehrliche Tolkienliebhaber. Sie fühlen sich offenbar von irgendetwas im Werk des ‘Professors’ angesprochen.

Mein Eindruck ist, dass ein Großteil der deutschen Tolkienfans die Vereinnahmung ihres Idols durch rechte Kreise leider entweder überhaupt nicht wahrnimmt oder ganz einfach zu ignorieren versucht. Andererseits sind viele von ihnen sehr schnell bereit, den ‘Professor’ gegen seine ‘linken’ Kritiker zu verteidigen. Über die Frage des Rassismus im Herr der Ringe sind in der Vergangenheit zwar durchaus kontroverse Diskussionen auf Websites wie herr-der-ringe-film.de oder tolkienforum.de geführt worden. Doch über diesen Einzelaspekt hinaus vermisse ich eine kritische Auseinandersetzung mit der Weltanschauung, die dem tolkienschen Werk zugrundeliegt. Dabei muss es ja Gründe geben, warum sich Leute wie Beale, Craven oder eben Gianluca Casseri ausgerechnet vom Herr der Ringe angezogen fühlen. Und ich denke es sind nicht die berüchtigten "black men like half-trolls with white eyes and red tongues" in der Schilderung der Schlacht auf den Pelennor-Feldern.

Besonders problematisch erscheinen mir in diesem Zusammenhang die Essays von Frank Weinreich – nachzulesen auf seiner Website polyoinos.de. Ich weiß, ich habe hier schon einmal gegen den guten Dr. Weinreich polemisiert, aber nein, ich denke nicht, dass ich eine ungesunde Fixierung auf ihn besitze. Es ist ganz einfach so, dass seine Webpräsenz unter den deutschsprachigen Tolkienisten nicht nur am umfangreichsten, sondern auch am gehaltvollsten zu sein scheint. Und dass er in der deutschen Fangemeinde des 'Professors" einen gewissen Ruf genießt, scheint außer Frage zu stehen. 
Weinreich weist nicht nur alle traditionellerweise gegen Tolkien vorgebrachten Anschuldigungen (Rassismus, Sexismus, Autoritarismus) entschieden zurück, sondern versucht ihn darüberhinaus auch als einen Verfechter von "politischer Freiheit und [...] Pluralismus" , als einen Vertreter der "Ideale der Aufklärung" darzustellen. Auf die Argumente, die er dafür vorbringt, werde ich jetzt nicht eingehen. Das muss auf ein andermal verschoben werden. Allerdings denke ich, dass jedem einigermaßen kritischen Leser und jeder kritischen Leserin Tolkiens ohnehin klar sein sollte, dass dessen Werk Ausdruck einer extrem antiaufklärerischen Weltsicht ist. Vorausgesetzt, man versteht unter Aufklärung den Glauben, dass die Menschen kraft ihrer Vernunft die Welt nicht nur immer besser zu begreifen, sondern auch zum Positiven zu verändern vermögen. Die traurige Ironie besteht darin, dass Weinreich das eigentlich genauso sieht, nur dass es für ihn als ‘Modernitätskritik’ etwas durchaus begrüßenswertes darstellt. Für ihn ist die sogenannte ‘Entzauberung’ der Welt durch den Rationalismus scheinbar der Sündenfall der Moderne, alle gesellschaftlichen und psychologischen Übel der letzten zweihundert Jahre Folge des dadurch hervorgerufenenen ‘Sinnverlustes’. Tolkiens Identifikation des Bösen mit Technik, Industrie und dem planmäßigen Eingreifen in die Geschichte – im Herr der Ringe besonders prägnant verkörpert in der Gestalt des Saruman – kommt seinen eigenen Überzeugungen deshalb sehr entgegen. Es ist darum auch nicht verwunderlich, dass er nicht sehen will, dass eben dies den reaktionären Gehalt von Tolkiens Werk ausmacht. Weinreich hat zwei Essays geschrieben, in denen er die Ansicht vertritt, die Fantasy – insbesondere die tolkiensche – sei eine direkte Nachfahrin der Romantik. Und das ‘Revolutionäre’ der romantischen Dichter sieht er dabei ausgerechnet in deren Wissenschaftsfeindlichkeit, in ihrem Feldzug gegen "Newton, der mit dem Prisma das Licht in seine Farben aufgespalten und den Regenbogen damit entwoben hatte". Einer dieser beiden Aufsätze trägt den Titel Äxte am Stamm der Moderne. Gruselig, wenn man sich vergegenwärtigt, wer im letzten Jahrhundert diese Äxte mit der größten Verve geschwungen hat. Mit den abgeholzten Stämmen wurden die Öfen von Auschwitz und Treblinka befeuert.
Ich möchte Frank Weinreich wirklich nicht zu nahe treten – auch wenn wir in politischen Fragen wohl eher selten einer Meinung wären, halte ich ihn doch für alles andere als einen Rechten –, aber genau diese antimoderne Afterromantik ist es, die meiner Meinung nach für die faschistoiden Tolkienisten die Anziehungskraft von Herr der Ringe und Silmarillion ausmacht. Nicht zufällig polemisieren auch Theo Beale und John C. Wright mit Vorliebe gegen die Wissenschaft. Von den Evola-Jüngern ganz zu schweigen. Das Hauptwerk des ‘Operetten-Okkultisten’, wie Umberto Eco ihn einmal genannt hat, heißt nicht ohne Grund Rivolta contro il Mondo Moderno (Revolte gegen die moderne Welt).

Wenn wir Tolkien sowohl gegen eine Vereinnahmung von rechts als auch gegen eine undifferenzierte Verdammung von links verteidigen wollen, dann sollten wir nicht gerade seine reaktionärste Seite als progressiv feiern! Die einzig richtige Antwort auf die faschistoiden Tolkienisten besteht in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem ‘Professor’, die nicht davor zurückschreckt, ihn dort als Reaktionär zu brandmarken, wo er sich ein solcher erweist.


Eine Bemerkung zum Abschluss: Ich habe keine Ahnung, wie eng die nationalen Tolkiengesellschaften miteinander verbunden sind. Aber angesichts der Tatsache, dass ihre italienische Schwesterorganisation allem Anschein nach eng mit rechtsextremen Kreisen verflochten ist, frage ich mich doch, ob die deutsche Tolkiengesellschaft sich in dieser Frage nicht einmal offiziell zu Wort melden sollte.


* Gemeint ist doch wohl Val Lewton.
** Der entsprechende Eintrag scheint nicht mehr zu existieren.
*** In der SF&F-Community machte Wright erstmals 2009 mit homophoben Hasstiraden von sich Reden. Hal Duncan, Autor von The Book of All Hours, reagierte mit einem ebenso eloquenten wie intelligenten Offenen Brief . Wer mal wieder richtig Kotzen will, braucht sich nur ein bisschen auf dem Blog des gottesfürchtigen Mannes umzuschauen: Dort erfährt er oder sie erhellendes über die Verbrechen des Feminismus, kann Johns Kreuzzugspredigten lauschen oder sich gleich Down the Slippery Slope to Sodom geben, einen allgemeinen 'Untergang des christlichen Amerika' - Sermon, der ein gutes Beispiel für die psychische Verfasstheit des US-Faschismus abgibt.
**** Ich habe hier schon vor einiger Zeit meine Meinung über das Arschloch 'Theo' dargelegt. 

Dienstag, 11. Dezember 2012

Die Zeit der Gespenster

Now I remember those old women's words,
Who in my wealth would tell me winter's tales
And speak of spirits and ghosts that glide by night

Christopher Marlowe, The Jew of Malta (II, 1)


Unaufhaltsam nähert sich die Weihnachtszeit die Zeit von flackerndem Kerzenschein, geschmückten Tannenbäumen, duftenden Lebkuchen ... und Gespenstergeschichten. So jedenfalls, wenn wir uns einer der wirklich nachahmenswerten Traditionen unserer britischen Freunde & Freundinnen anschließen, wofür ich hier mit allem Nachdruck plädieren will.
Oft bekommt man zu hören, dass es sich dabei um eine Erfindung des viktorianischen Zeitalters, ja vielleicht sogar um eine Kreation von Charles Dickens höchstpersönlich, handele, aber wie Mr. Jim Moon in einem seiner stets lesenswerten Posts dargelegt hat, reichen die Wurzeln wenigstens bis in die Zeit von Good Queen Bess zurück. Damals freilich lief das Ganze noch unter der Bezeichnung "winter's tales", wie uns z.B. obiges Zitat von Christopher Marlowe zeigt – dem fantastischen Vorläufer und Rivalen Will Shakespeares mit der sympathischen Schwäche für amoralische Übermenschen und schwule Könige ...
Was einem Freund oder einer Freundin des Phantastischen in diesem Zusammenhang als allererstes einfallen dürfte, sind jedoch die klassischen Spukgeschichten von Montague Rhodes James. Berichtet Monty doch selbst, dass er viele von ihnen einem Kreis von Freunden, Kollegen und Studenten in der Julzeit vorgetragen habe. Will man sich einen Eindruck davon machen, wie dies wohl ausgesehen haben könnte, dann gibt es dafür kaum eine bessere Gelegenheit als die im Jahre 2000 produzierten Ghost Stories for Christmas mit Christopher Lee. Die erste Episode (A Warning to the Curious) habe ich hier bereits vor geraumer Zeit einmal vorgestellt, nun will ich die zweite präsentieren, die auf M.R. James' Geschichte Number 13 basiert:


Und da wir es gerade mit dem guten Monty zu tun haben, kann ich nun auch ganz elegant zum eigentlichen Anlass für diesen Post übergehen – WERBUNG.
Wer klassische Gespenstergeschichten wie Number 13 liebt, der sollte sich nicht nur die aktuelle Episode von Hypnobobs zu Gemüte führen, in der Mr. Jim Moon eine´weitere Geschichte von M.R. James – The Haunted Dolls' House  – vorträgt. Er oder sie dürfte sich vielleicht auch für das erste eBook interessieren, das der Bibliothekar der Träume soeben auf den Markt gebracht hat: Seven of Spectres.


Der Band enthält sieben schaurige Geschichten, u.a.von Edith Nesbit, W.F. Harvey, Bram Stoker und M.R. James. Jede von ihnen ist mit einer Einführung versehen, die sich sicher ganz wie Jims Podcasts durch enzyklopädisches Wissen, geistreichen Witz und eleganten Stil auszeichnen. Ein ideales Weihnachtsgeschenk für alle Liebhaber & Liebhaberinnen des  gepflegten Grauens (so sie denn über ein Kindle verfügen).

Horror im Zeitalter von Englands Revolutionen

Teil 1: Witchfinder General

Während unserer Streifzüge durch die phantastischen Gefilde des britischen Horrors der 60er und 70er Jahre sind wir bisher ausschließlich Filmen der beiden wohl bekanntesten Produktionsfirmen der Ära begegnet: Hammer und Amicus. Doch sie waren nicht die einzigen, die in jener Zeit mit Genre-Werken ihr Geld verdienten, was nicht verwundert, da diese Nische inmitten der krisengeschüttelten englischen Filmindustrie damals noch am ehesten Gewinn abzuwerfen versprach. Zumindest eine dritte Produktionsfirma verdient es, in Erinnerung behalten zu werden: Tigon British Film Productions, gegründet 1966 von Tony Tenser, der zuvor bereits als Produzent von Roman Polanskis ersten englischsprachigen Filmen Repulsion (1965) und Cul-de-sac (1966) fungiert hatte.
Mit einem Großteil der Beiträge Tigons zum phantastischen Kino bin ich selbst nicht vertraut. Ein Zustand, den ich baldmöglichst zu ändern gedenke, klingt manches hier doch recht verführerisch: So ist Curse of the Crimson Altar (1968) nicht nur angeblich eine Art Adaption von Lovecrafts Dreams in the Witch-House, sondern auch Boris Karloffs letzter englischsprachiger Film, bevor er für den knappbemessenen Rest seiner Karriere im spanischen Horror untertauchte. In The Body Stealers (1969) wurde die fliegende Untertasse aus dem zweiten Doctor Who - Film  (Daleks  Invasion Earth [1966]) recycelt. Und The Haunted House of Horror (1969) gilt als einer der frühen Vorläufer des Teen-Slasherfilms der 80er Jahre. Bekannte Namen wie Peter Cushing, Christopher Lee und Ian Ogilvy springen allenthalben ins Auge. Außerdem Robert Flemyng, der unter Genrefans wohl vor allem für seine Titelrolle in Riccardo Fredas L'Orribile segreto del Dr. Hichcock / The Horrible Dr. Hitchcock (1962) bekannt sein dürfte, später aber auch kleinere Parts in Jack Golds sträflich unterschätztem The Medusa Touch (1978), Steven Soderberghs Kafka (1991) und Shadowlands (1993)  Richard Attenboroughs Film über die Liebesbeziehung zwischen C.S. Lewis und Joy Davidman  übernehmen sollte.

Doch welch verborgene Schätze und Kuriositäten in Tigons Sortiment auch noch auf uns warten mögen, heute werden wir uns erst einmal mit den wahrscheinlich bekanntesten Filmen aus Tony Tensers Werkstatt beschäftigen: Michael Reeves' Witchfinder General (1968) und Piers Haggards Blood on Satan's Claw (1970).
Im zweiten Teil der BBC-Dokumentation A History of Horror stellt Mark Gatiss  die beiden neben The Wicker Man (1973) und erklärt das Trio zu den bedeutendsten Vertretern eines kurzlebigen Subgenres, das er "Folk Horror" tauft. Eine interessante, meiner Meinung nach aber nicht ganz geglückte Kombination. Einerseits existieren zwar  in der Tat stilistische und motivische Ähnlichkeiten zwischen Haggards Film und The Wicker Man, doch passt Witchfinder General dabei nicht recht ins Schema. Andererseits berühren sich Reeves' Streifen und Blood on Satan's Claw in ihrem gemeinsamen historischen Setting, was wiederum auf Robin Hardys Geniestreich nicht zutrifft. Was für alle drei gilt ist, dass sie sich deutlich von den Konventionen sowohl der "gotischen" Hammer-Produktionen als auch der Portmanteau-Streifen aus dem Hause Amicus abheben. Damit stellten sie, wie Gatiss ganz richtig bemerkt, u.a. den Versuch dar, dem im Niedergang begriffenen Brit-Horror neues Leben einzuhauchen, womit ihnen jedoch leider kein Erfolg beschieden war.

Witchfinder General und Blood on Satan's Claw spielen beide im 17. Jahrhundert. Ersterer während des Bürgerkriegs genauer gesagt 1645, im Jahr der Schlacht von Naseby , letzterer irgendwann nach der "Glorious Revolution" von 1688/89, in der William von Oranien mit Unterstützung eines Großteils der englischen Elite James II. gestürzt hatte und vom Parlament zum neuen König gemacht worden war.* In der Geschichte Englands war dieses Jahrhundert eine Ära tiefer Umwälzungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – von Ökonomie, Politik und Religion bis hin zu Essgewohnheiten und Kleidermoden. Wie Christopher Hill in seinem Buch The Century of Revolution sehr anschaulich dargelegt hat, vollzog sich in ihm die Geburt des modernen bürgerlichen England mit vielen seiner charakteristischen Züge. Und wie jede Epoche revolutionärer Kämpfe und Konvulsionen war auch diese eine Zeit großer Verunsicherung, in der Institutionen und Wertvorstellungen, die für Jahrhunderte als unantastbar gegolten hatten, quasi über Nacht umgestürzt wurden. Coleridge sprach von der "grand crisis of morals, religion and government". Um bloß das offensichtlichste Beispiel zu nennen: Die Hinrichtung eines Königs von Gottes Gnaden im Januar 1649 bedeutete den blutigen Bruch mit einer uralten politischen und religiösen Tradition. Die Welt schien aus dem Lot geraten, und eine neue gesellschaftliche, moralische und geistige Ordnung musste sich erst allmählich herausbilden und stabilisieren.

Vor diesem Hintergrund haben wir unsere beiden Filme zu betrachten.

Schon die Eröffnungsszene von Witchfinder General macht deutlich, dass wir es mit keinem gewöhnlichen Horrorstreifen zu tun haben. Inmitten einer idyllisch anmutenden grünen Hügellandschaft mit friedlich grasenden Schafen wird ein Galgen errichtet. Die Dorfbewohner schleppen eine in Todesangst kreischende Frau herbei. Als sie am Fuße des Galgens ohnmächtig zusammenbricht, schüttet man ihr einen Eimer Wasser ins Gesicht. Sie soll ihre Hinrichtung bewusst miterleben. Dazu trägt ein Pastor Passagen aus der Offenbarung des Johannes vor. Der Kontrast zwischen der Schönheit der Landschaft und der Grausamkeit der Menschen wird sich als eines der Leitmotive des Filmes erweisen. Es folgen die Titles vor dem Hintergrund der verfremdeten Gesichter verzweifelter, leidender und gefolterter Frauen. Anschließend vermittelt uns eine Erzählerstimme aus dem Off einen Eindruck vom historischen Kontext, in dem sich die Geschichte abspielen wird: "England is in the grip of bloody civil war ... the structure of law and order has collpased ... local magistrates indulge their individual whims ... justice and injustice are dispensed in more or less equal quantities ... an atmosphere in which the unscrupulous revel".
Im Zentrum der Geschichte steht die historische Gestalt des berüchtigten Hexenjägers Matthew Hopkins, der gemeinsam mit seinem Kompagnon John Stearne für die blutigsten Hexenverfolgungen der englischen Geschichte verantwortlich war, in deren Verlauf zwischen 1644 und 1646 schätzungsweise 300 Menschen (in der überwältigenden Mehrzahl Frauen) dem Henker überantwortet wurden. Hopkins und Stearne betrieben ihr mörderisches und einträgliches Handwerk vor allem in Suffolk, Essex und Norfolk, d.h. in einer Region, die sich fest unter parlamentarischer Kontrolle befand. Dennoch wäre es falsch, wollte man in ihnen Vertreter jener Kräfte sehen, auf denen die revolutionäre Bewegung basierte. Hopkins Behauptung, das Parlament habe ihn zum "Witchfinder General" ernannt, war frei erfunden, und in historischer Perpektive gesehen war es gerade die Puritanische Revolution, die das Ende der Hexenverfolgungen einleitete. Um Christopher Hills Cromwell-Biographie God's Englishman zu zitieren:
The second wife of Oliver's grandfather, Sir Henry Cromwell, was alledged to have been killed by witchcraft, and in 1593 a woman was hanged for the crime. Sir Henry endowed a sermon against witchcraft, to be preached at Huntingdon [Cromwells Heimatort] annually for all time. Oliver must have heard many such sermons. In 1646 a witch was executed at Huntingdon. Yet the occupation of  Scotland by English troops under Cromwell's command led to a virtual cessation of witch persecution there. In England the burning of witches was coming to an end, and educated men were ceasing to believe in their existence. The last execution of a witch in England took place in 1685, the last known trial in 1717.**

Begrüßenswerterweise stellt auch Reeves' Film die Hexenverfolgungen nicht als Produkt der Revolution, sondern der allgemeinen Zerrüttung der Gesellschaft dar. Der Protagonist Richard Marshall ist selbst ein "Roundhead", d.h. ein Soldat in der New Model Army, und Cromwell, der einen Kurzauftritt hat, wirkt sogar recht sympathisch. Wir erleben, wie er nach gewonnener Schlacht in kameradschaftlicher Atmosphäre zusammen mit seinen Offizieren ein zünftiges Mahl genießt, was der realen Persönlichkeit des künftigen Lordprotectors tatsächlich eher entsprechen dürfte, als das verbreitte Klischee vom fanatischen Puritaner mit Leichenbittermiene.  


Die eigentliche Erzählung folgt den Konventionen einer klassischen Rachegeschichte, die jedoch am Ende eine unerwartete Wendung nimmt. Während eines kurzen Urlaubs von der Truppe reitet Richard (Ian Ogilvy) zurück in sein Heimatdorf Brandeston und besucht dort Pastor John Lowes (Rupert Davies), den Vater seiner Verlobten Sarah (Hilary Dwyer). Lowes, der der parlamentarischen Partei kritisch gegenübersteht, nimmt ihm das Versprechen ab, seine Tochter so bald wie möglich von hier fortzubringen, dann dürfe er sie heiraten. Im Dorf nämlich beginnt man zu munkeln, er sei ein heimlicher Papist und Royalist, und der Pastor hat das Gefühl, dies werde bald eine böse Wendung nehmen. Richard jedoch muss zuerst einmal zurück zu seinem Regiment. Beinahe zur selben Zeit treffen Matthew Hopkins (Vincent Price) und John Stearne (Robert Russell) in Brandeston ein. Lowe wird als vermeintlicher Hexer verhaftet und ersten Folterungen unterworfen. Sarah versucht ihren Vater zu retten, indem sie Hopkins zu verstehen gibt, sie sei bereit,mit ihm zu schlafen. Ein Angebot, auf das der "fromme" Hexenjäger bereitwillig eingeht. Lowe wird vorerst verschont, doch als Stearne die momentane Abwesenheit seines "Meisters" ausnutzt und Sarah vergewaltigt, verliert dieser jedes Interesse an dem Mädchen und lässt ihren Vater und zwei weitere "Hexen" hinrichten. Als Richard zurückkommt und von der verzweifelten Sarah erfährt, was man ihr und ihrem Vater angetan hat, "heiratet" er sie in einem improvisierten Zeremoniell und schwört gleichzeitig, Rache zu nehmen an Hopkins und seinem Kumpanen. Sarah zieht auf sein Betreiben hin nach Lavenham. Unglücklicherweise begibt sich auch der Hexenjäger an diesen Ort, um dort seinem grausigen Geschäft nachzugehen. Richard derweil macht sich nach dem Sieg der New Model Army bei Naseby gemeinsam mit zwei Kameraden auf die Jagd nach Hopkins und gelangt dabei gleichfalls nach Lavenham. Stearne versucht Hopkins zur Flucht vor dem zu allem bereiten Rächer zu überreden, doch dieser erwiedert eiskalt: "You're forgetting our powers... he could be a witch." Und so werden Richard und Sarah als "Hexen" verhaftet. Während Hopkins dem jungen Soldaten ein "Geständnis" abzupressen versucht, indem er ihn die Folterung seiner Geliebten miterleben lässt, gelingt es diesem, sich aus seinen Fesseln zu befreien. Er stürzt sich auf den Hexenjäger. Als kurz darauf seine Kameraden in das Verlies eindringen, bietet sich ihnen ein grausiger Anblick. Richard hackt wie wahnsinnig mit einer Axt auf den halbtoten Hopkins ein. Als einer der Soldaten dem Hexenjäger den Gnadenschuss verpasst, heult Richard auf: "You took him from me... You took him from me... You took him from me..." Und Sarah bricht in irre, verzweifelte Schreie aus, mit denen der Film endet.

Michael Reeves war ohne Zweifel ein talentierter junger Regisseur, der möglicherweise einer der Meister des Genres hätte werden können, wäre er nicht bald nach Fertigstellung von Witchfinder General im Alter von 25 Jahren an einer Überdosis Barbiturate gestorben. Seine Karriere hatte er als Regieassistent seines Idols Don Siegel begonnen, um 1966 in Italien seinen ersten Film – La Sorella di Satana aka The She Beast aka Revenge of the Blood Beast  – mit Horror-Ikone Barbara Steele zu drehen. Aus eigener Anschauung kann ich über diesen Streifen nichts sagen, aber sein nächtes Werk der für Tigon produzierte Film The Sorcerers (1967)  zeigt bereits sehr deutlich, dass er und Drehbuchautor Tom Baker ein Händchen für unkonventionelle und intelligente Genrefilme hatten. Die unglückliche Konfrontation zwischen jugendlichem Ennui, Gier nach Leben und Verbitterung des Alters inmitten der Welt der Swinging Sixties verdient es nicht nur wegen Boris Karloff, Catherine Lacey und Ian Ogilvy gesehen zu werden.

Wäre es Reeves möglich gewesen, seine künstlerische Vision ohne Einschränkungen umzusetzen, so wäre Witchfinder General vielleicht wirklich das Juwel des Brit-Horrors geworden, welches viele heute in ihm sehen wollen. Doch leider war dem nicht so. Dafür gab es mehrere Gründe.
Zuerst einmal war Witchfinder General eine Koproduktion von Tigon und American International Pictures. Und während Reeves für die Rolle des Matthew Hopkins ursprünglich Donald Pleasance vorgesehen hatte, bestand AIP darauf, dass ihr hauseigener Horrorstar Vincent Price den Hexenjäger spielen sollte. Letztenendes erwies sich dies als gar nicht so schlecht, doch der Weg dorthin war äußerst dornig. Es gibt zahllose Geschichten darüber, wie sich Steeves und Price am Set gegenseitig anfeindeten. Der große Vincent drückte es so aus:
Michael Reeves didn’t really know how to deal with actors. He really got all our backs up. He’d come to you and say the one thing you shouldn’t tell an actor that gives him no security at all. We didn’t get on at all. He would stop me and say, ‘Don’t move your head like that.’ And I would say, ‘Like what? What do you mean?’ and he’d say, ‘There – you’re doing it again. Don’t do that.’ He was only twenty-four years old when he did that film. He had only done two others. He didn’t know how to talk to actors. He hadn’t the experience, or talked to enough of them, to know how. All the actors on the picture had a very bad time.
Ian Ogilvy, der seit den Tagen ihrer gemeinsamen Amateurfilme an allen von Reeves' Projekten beteiligt gewesen war, bestätigt, dass es dem Regisseur schwer fiel, Schauspielern seine Ideen zu vermitteln und sie anzuleiten:
I was always the hero, and he was always threatening to fire me and get somebody else. I would say ‘Okay,’ and he would always come back to me, because he liked working with people he knew. He didn’t like directing actors at all. He used to say, ‘Cast it right, and that will do.’ So he really liked getting on with making the movie. If he found an actor he could leave alone, he would use them over and over again. I was just the one he used again.
Es ist verständlich, warum Reeves nicht glücklich darüber war, mit Vincent Price arbeiten zu müssen. Das wirklich gruselige an der Figur des Matthew Hopkins ist das kleinliche, dreckige und banale seiner Bösartigkeit.  Er ist keiner jener Schurken mit Stil und Flair, die Price so oft mit Bravour gespielt hatte. Sein oft übertrieben theatralischer und leicht ironischer Habitus wäre hier gänzlich Fehl am Platze gewesen.
Hopkins gibt zwar vor, "das Werk des Herrn" zu vollbringen, aber im Grunde spricht nichts dafür, dass er selbst an Hexerei und Teufelswerk glaubt. Sein Kumpan Stearne versucht gar nicht erst, den Eindruck zu erwecken, als verfolge er neben Sadismus, Saufen und Sex noch irgendwelche anderen Interessen. Im Vergleich dazu bemüht Hopkins sich zwar, nach außen hin das Image des gestrengen und gesetzestreuen Hexenjägers aufrecht zu erhalten. Nichtsdestoweniger geht es auch ihm offensichtlich nur um das Einsacken stattlicher Belohnungen und das Missbrauchen wehrloser Frauen. Der bekannte Filmkritiker Robin Wood hat das Paar einmal als eine grausige Parodie auf Don Qixote und Sancho Pansa beschrieben: "Hopkins with his head in the clouds, convinced he is doing God’s work; Stern with his feet on the ground, doing what he does because he does it well and gets paid for it." Dem kann ich mich nicht recht anschließen. Hopkins spielt den "Don Qixote", auch gegenüber Stearne, aber in Wirklichkeit ist er nicht der Fanatiker, der auf perverse Weise idealistische Großinquisitor. Im Herzen ist er genauso ein mieses kleines Dreckschwein wie sein Helfer. Das faszinierende an ihrer Beziehung besteht darin, dass Stearne seinen "Meister" längst durchschaut hat und ihn dies auch immer wieder spüren lässt. Zwischen den beiden herrscht eine permanente Spannung, genährt von gegenseitiger Verachtung. Hopkins  freilich ist der intelligentere und kaltblütigere der beiden, was ihm auf Dauer die Oberhand sichert.
Man kann sich Donald Pleasance sehr gut in der Rolle des Matthew Hopkins vorstellen. Er hätte das heuchlerische und widerwärtige dieser Figur sicher sehr gut herausgearbeitet. Doch erstaunlicherweise ist es gerade Vincent Price, dessen Spiel den vielleicht bedeutendsten Beitrag zur Qualität von Witchfinder General leistet. Trotz ihrer "Kommunikationsprobleme" gelang es Mike Reeves schließlich , seinen ungeliebten Hauptdarsteller in die gewünschte Richtung zu treiben. Price realisierte dies erst im Nachhinein:
Afterwards, I realized what he wanted was a low-key, very laid-back, menacing performance. He did get it, but I was fighting with him almost every step of the way. Had I known what he wanted, I could have cooperated. I think it’s one of the best performances I’ve ever given.
Man kann dem guten Vincent da eigentlich bloß beipflichten. Und die Tatsache, dass es Price ist, der den Hexenjäger auf so großartige Weise spielt, verleiht dem Ganzen noch eine zusätzliche Nuance. Denn so zurückhaltend er auch agiert, es bleibt dennoch etwas von dem ihm eigenen würdevollen Stil erhalten, bloß wissen wir, dass es sich in diesem Fall nur um eine Fassade handelt, hinter der sich die primitiven Gelüste des wahren Matthew Hopkins verbergen.

Wenn AIPs Einmischung – unabhängig von den Beweggründen der amerikanischen Finanziers – zu letztlich positiven Resultaten  führte, lässt sich selbiges nicht über die anderen beiden Stolpersteine sagen, mit denen sich Reevs herumärgern musste: Dem geringen Budget (83.000  £) und der Zensur.
Der wichtigste Grund, warum Witchfinder General nicht der Film geworden ist, der er hätte werden können, besteht meiner Meinung nach darin, dass es ihm nicht gelingt, die allgemeine Atmosphäre von Gewalt, Angst und Unsicherheit plastisch darzustellen, aus der das Grauen der Hexenverfolgungen entsprang. Von den Folterungen und Hinrichtungen abgesehen, ist der Streifen erstaunlich unblutig. Einen Teil der Verantwortung dafür muss den Zensoren zugesprochen werden. Reeves und Baker hatten erleben müssen, wie ihre ersten zwei Scripte von staatlicher Stelle als "pervers" und "sadistisch" zurückgewiesen wurden. Und selbst der schließlich fertiggestellte Film wurde noch mit der Schere malträtiert. Doch so ärgerlich dies auch ist, als verheerender erwies sich letztlich das Geldproblem. Entscheidend ist dabei vor allem, dass eine Sequenz gestrichen wurde, die die Schlacht von Naseby dargestellt hätte. Der geköpfte Soldat wäre dabei zwar ohnehin der Zensur zum Opfer gefallen, doch auch ohne solch drastische Bilder, hätte man auf diese Weise einen Eindruck davon vermitteln können, was jener "blutige Bürgerkrieg", von dem zu Beginn die Rede war, für die Engländer jener Zeit wirklich bedeutete. So bekommen wir nicht mehr zu sehen als eine Handvoll Soldaten im Grünen und die Requirierung einiger Pferde, was nicht ausreicht, um den blutigen Hexenwahn in seinem historischen Kontext zu verankern.

Dennoch bleibt Witchfinder General ein wirklich sehenswerter Film, nicht nur wegen Vincent Price, sondern auch, weil er die gerade heutzutage so beliebte Rachestory kritisch unterläuft, indem er den zu Beginn so "edel" anmutenden Rächer am Ende zu einem blutgierigen und sadistischen Monstrum macht. Niemand wird Genugtuung empfinden, wenn er oder sie miterleben muss, wie Richard Marshall immer wieder auf den am Boden liegenden, wehrlosen Hopkins einhackt.


* Hier und da liest man zwar, auch dieser Film spiele in den 1640er Jahren, doch bringt der Richter einen ironischen Trinkspruch auf  "Seine Katholische Majestät" James III. aus, auf dass er "für immer im Exil bleibe", was eindeutig belegt, dass die Handlung nach dem Sturz von James II. spielt, als dessen Sohn im französischen Exil zum jakobitischen Thronprätendenten ausgerufen worden war.
** Christopher Hill: God's Englishman. Oliver Cromwell and the English Revolution. S. 258.