"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Montag, 27. März 2023

Let Me Tell You Of The Days Of High Adventure

Raven - Swordsmistress of Chaos von Richard Kirk

Ich bin in der Vergangenheit schon mehrfach darauf zu sprechen gekommen, dass ab Mitte der 70er Jahre neben den geläufigen männlichen Protagonisten vermehrt Heldinnen in der Sword & Sorcery auftauchten. Dabei habe ich diese Entwicklung, die ihren Höhepunkt in der ersten Hälfte der 80er erreichte, insgesamt als progressiv und emanzipatorisch eingeschätzt und mit den politischen und kulturellen Veränderungen der Zeit, vor allem dem Second Wave - Feminismus, in Verbindung gebracht.

 
Dass es auch anders geht, beweist Raven!
 
Schuld daran, dass ich mit ihr Bekanntschaft geschlossen habe, ist der famose Pulp Librarian. Der hatte nämlich vor einiger Zeit auf Twitter das Cover eines der Bände gepostet. Welches genau weiß ich nicht mehr, ist aber auch nicht wirklich wichtig, denn wenigstens vier der fünf Illustrationen von Chris Achilleos zeigen die Heldin entweder barbusig oder gleich ganz nackt. Für sich genommen sagt das bei dieser Ära und diesem Subgenre zwar noch nichts über den Inhalt aus. Tanith Lees Birthgrave z.B. erging es ähnlich. Aber mein spontaner Eindruck war dennoch: Wow, das schaut nach echt üblem Sword & Sorcery - Schund aus! Und da ich nicht mehr ganz nüchtern war, begab ich mich allsogleich auf ZVAB und siehe da -- alle fünf Bücher waren in deutscher Übersetzung für ein paar Euros zu haben. Wie hätte ich da widerstehen können?
 
Dass sich "Richard Kirk" als ein Pseudonym entpuppte, hat mich nicht wirklich überrascht. Tatsächlich verbergen sich hinter dem Namen gleich zwei britische Schriftsteller. Und zumindest Angus Wells scheint Zeit seines Lebens ein klassischer Pulp-Hack gewesen zu sein, der eine Unzahl an Genre-Romanen fabriziert hat -- hauptsächlich Western und nicht selten in Kooperation mit anderen Autoren.  Als "Ian Evans" war er außerdem für die Novelization des TV - Camp - Klassikers Star Maidens (Die Mädchen aus dem Weltraum) verantwortlich. Nicht erwartet hatte ich allerdings, dass der zweite im Bunde niemand anderes als Robert Holdstock war. Dessen Mythago Wood (1984) habe ich selbst zwar nie gelesen, aber allgemein gilt das Buch ja wohl schon als ein Klassiker der 80er Jahre - Fantasy, meilenweit entfernt von sexploitation-lastigem S&S - Trash. Doch in den 70ern trieb sich Holdstock offenbar häufiger in Pulp-Gefilden herum. Sei es als "Chris Carlsen" mit der Clonan-Reihe Berserker (1977-79) oder als "Robert Black" mit Novelizations von Tyburn - Flicks wie The Legend of the Werewolf (1976) oder den nie produzierten Satanists (1977). Und auch später war er sich nicht zu gut dafür, nebenbei als "Robert Faulcon" etwas Geld mit dem Schreiben der "okkulten" Night Hunter - Serie (1983-89) hinzu zu verdienen. Nicht als ob daran irgendetwas ehrenrührig wäre.
 
Aber genug des Vorgeplänkels. Werfen wir einen Blick in den ersten, 1978 erschienen Band Raven - Swordsmistress of Chaos (Raven - Die Schwertmeisterin). 
 
Das Buch beginnt mit einem Prolog, in dem ein alter, namenloser Wanderer bei irgendeinem ärmlichen Völkchen an einer sturmgepeitschten Meeresküste Unterschlupf für die Nacht gefunden hat und seinen Gastgebern am abendlichen Feuer von der legendären Kriegerin Raven erzählt, an deren Seite er einst in den Kampf gezogen sei. 
Diese Rahmenstruktur findet sich in allen fünf Bänden. Und ich muss sagen: sie hat mir ziemlich gut gefallen. Was wir in der Folge zu lesen bekommen, ist also eine Lagefeuergeschichte, unsere Heldin eine Figur, die längst dabei ist, zu einer Gestalt des Volksmythos zu werden. Was ich cool finde.
Weniger cool wirkten auf mich hingegen die Sun Tsu - mäßigen Aphorismen (aus den "Büchern von Kharwhan"), die den einzelnen Kapiteln vorangestellt sind. Nicht nur klingen sie meist furchtbar pseudo-tiefgründig, sie haben auch nie viel mit dem Inhalt des jeweiligen Kapitels zu tun.
 
Wie bei Geschichten dieses Typs nicht unüblich, setzt die eigentliche Handlung in medias res ein: Junges Mädchen entflieht nächtens den Mauern von Lyand und der Sklaverei. Dicht gefolgt von einem Rudel blutgieriger Hunde. Schon scheint alles verloren, als ein großer schwarzer Vogel aus der Finsternis herabgestoßen kommt und ihre Verfolger zerfetzt. Zu Tode erschöpft sinkt die Flüchtende zu Boden und in einen tiefen Schlaf. 
Ja, der Vogel wird später ihr Namenspatron und ist Symbol für ihre geheimnisvolle "Bestimmung". Warum er sie nicht auch davor bewahrt, am nächsten Morgen gleich wieder einer Karawane von Sklavenhändlern in die Hände zu fallen? Wer weiß? Jedenfalls ist dem Anführer besagter Karawane damit die Möglichkeit gegeben, gleich mal auf das "goldene Haar" und die "schwellenden Brüste" unserer Heldin zu sprechen zu kommen, denn selbstverständlich will der fiese Eunuch sie als Haremssklavin an irgendeinen dekadenten Despoten verschachern. Doch soweit kommt's nicht, denn alsbald schon galoppiert ein wilder Räubertrupp aus der Wüste heran und macht kurzen Prozess mit den Sklavenhändlern. Anführer der Schar ist ein Mann namens Argor, doch der schwarzgewandete Spellbinder (yep, der Typ *ist* ein Zauberer) hat hier offenbar auch eine Menge zu sagen und stellt unsere Heldin unter seinen persönlichen Schutz.
Im Lager der Briganten angekommen, erwarten sie eine luxuriöse Badewanne und jede Menge neuer Klamotten. Und uns die erste Demonstration der hemmungslosen Sexualisierung der Protagonistin. Was ironischerweise auch noch durch ihre eigenen Augen geschieht:
Sie wählte ein Kleid aus schwarzer Seide, das sich eng an die Formen ihres Körpers schmiegte und die Fülle ihrer Brüste und die weiche, klare Linie ihrer Hüften betonte. Es war ärmellos und sie schob eine silberne Spirale auf ihren Oberarm, die zu einem schweren Armband an ihrem linken Handgelenk paßte. Ein schmaler Gürtel aus Platingliedern wand sich um ihre Hüften und sie schlüpfte in kleine schwarz-silberne Sandalen. Ihr Haar ließ sie offen herunterhängen, so daß es in goldenen Wogen über ihre Schultern fiel. Als sie fertig war, prüfte sie ihre Erscheinung in einem großen Spiegel aus poliertem Silber und wunderte sich über das Ergebnis. Ihr Spiegelbild zeigte ihre eine Frau in der ersten Blüte der Weiblichkeit, wenig mehr als ein Mädchen, aber wohl geformt und sinnlich; eine Frau, die das Auge eines Mannes erfreuen konnte.
Zugleich ist diese Passage ein ganz gutes Beispiel für die mitunter etwas ermüdende Art, in der der Text Details von Kleidung, Assecoires und später Bewaffnung aufzählt. Erst recht, wenn man bedenkt, dass unsere Heldin dieses Kostüm nur für eine einzige Szene tragen wird.
 
Es wird vermutlich niemanden überraschen, dass die Hintergrundsgeschichte von Raven, die sie wenig später Spellbinder erzählt, einem der gängigsten Klischees der Zeit entspricht: Sie ist ein Opfer sexueller Gewalt. Und als wäre das noch nicht genug, wurde ihre Mutter auch noch im Zuge einer Massenvergewaltigung durch eine ganze Horde von Soldaten getötet. 
Das prominenteste Beispiel für dieses Klischee in der Sword & Sorcery der 70er Jahre war ohne Zweifel Roy Thomas' Version von Red Sonja. Aber zugleich gab es auch schon sehr deutliche Kritik an ihm. Jessica Amanda Salmonson wird nicht allein gewesen sein, wenn sie in ihrer Anthologie Amazons!, die ebenfalls 1978 auf den Markt kam, schreibt: "Ich persönlich finde den Gedanken, daß man Frauen erst einmal vergewaltigen muß, damit sie die Wandlung vom 'Opfer' zum 'Kämpfer' vollziehen können, nicht gerade einnehmend". Und als Marion Zimmer Bradley 1984 begann, ihre Antho-Reihe Sword and Sorceress zu veröffentlichen, war die explizite Darstellung von Vergewaltiung eine der drei No-Go-Regeln, die die Herausgeberin aufstellte.* 
Vielleicht sollten wir dankbar dafür sein, dass wir eine solche auch hier nicht antreffen. Doch das ist ein geringer Trost.
 
Für die Dauer dieses ersten Romans bleibt das Verlangen nach Rache an ihrem Vergewaltiger Karl ir Donwayne, dem Schhwertmeister von Lyand, jedenfalls Ravens "offizielle" Hauptmotivation. Aber der eigentliche Handlungsverlauf wird sehr viel weniger von ihr als vielmehr von Spellbinder bestimmt. Der erkennt in ihr die Auserwählte, "Raven Zeitenwender", deren Kommen in "den Büchern" prophezeit wurde. Wie ihre Bestimmung genau aussieht, verrät er allerdings nicht. Überhaupt ist er sehr knauserig, wenn es darum geht, Informationen zu teilen. Ein ums andere Mal vertröstet er unsere Heldin auf "später", wenn der "richtige Zeitpunkt" dafür gekommen sei. Der dann nie kommt. Auch beweist er ein besonderes Geschick darin, Gespräche von Themen wegzulenken, über die er nicht zu reden gewillt ist. Spellbinder wirkt deshalb nicht nur ziemlich manipulativ, er raubt Raven damit auch ein Gutteil ihrer Agency, denn letztenendes folgt sie meistens seinen kryptischen Anweisungen. Was natürlich dem oberflächlich postulierten Prinzip der "selbstbestimmten Heldin" etwas entgegenläuft. Der Fairness halber sei aber hinzugefügt, dass Raven selbst sich mehrfach fragt, ob sie von Spellbinder manipuliert wird. Und schließlich ist sie in dieser ersten Erzählung noch sehr jung und unerfahren. Ich halte es für durchaus möglich, dass sich die Beziehung der beiden im Laufe der Serie verändert und Raven dabei eigenständiger wird. 
 
Zuerst einmal muss Raven aber ohnehin eine strenge Ausbildung zur Kriegerin unter der Anleitung des Brigantenführers Argor durchlaufen. Was mir durchaus gefallen hat. Es reicht nicht, Raven ein Schwert in die Hand zu drücken , um sie zur Sword & Sorcery - Heldin zu machen. Vorher müssen jede Menge Schweiß und sicher auch etwas Blut vergossen werden. Die Auflistung all der Waffen, in deren Gebrauch sie dabei unterrichtet wird, hat zwar etwas leicht fetischistisches an sich. Aber der realistische Touch, den die Geschichte damit bekommt, ist nett. Insgesamt dauert es ein Jahr, bis Raven zu einem vollwertigen Mitglied der Bande geworden ist, derweil Spellbinder sich wer weiß wo rumtreibt.
 
Kaum ist dieser zurückgekehrt, wird es Zeit für die erste Sexszene. Von den dreien, mit denen uns das Buch beglückt, ist diese sicher die "unproblematischste". (Wenn man nicht zu lange darüber nachdenkt, wie alt Raven zu diesem Zeitpunkt eigentlich sein soll). Dass sich unsere Heldin kurz zuvor noch gefragt hat, ob Spellbinder sie möglicherweise mit irgendeinem Zauber belegt hat, ist zwar schon etwas creepy. Aber in der Folge deutet nichts darauf hin, dass dem tatsächlich so gewesen wäre. Und wenigstens verhält er sich nie so, als habe er einen Besitzanspruch auf sie. Vielmehr betont er mehrfach ausdrücklich: "Raven gehört keinem Mann. Sie geht ihren eigenen Weg zu einem großen Ziel; niemand kann ihr etwas erlauben oder verbieten." Damit erscheint Ravens Selbstbestimmtheit zwar als Teil ihres "Auserwähltenstatus" und mithin als eine Ausnahme. Bei anderen Frauen würde Spellbinder vermutlich nicht so denken. Aber immerhin ...
 
Als Argors Bande wenig später in einem kühnen Handstreich in eine Hafenstadt einfällt und ein dort vor Anker liegendes Handelsschiff kapert, kommen wir in den Genuss der ersten richtigen Kampfszene. In denen geht es grundsätzlich hübsch gory zu. Da spritzen viel Blut und Gehirn durch die Gegend. Was dem allgemeinen Pulp-Charakter des Buches nur angemessen ist. Ganz so wie das rasche Fortschreiten des Plots, in dem es kaum je irgendwelche Ruhepausen oder reflexiven Momente gibt.**
 
Dementsprechend haben sich wenige Seiten später Raven und Spellbinder auch schon (fürs erste) von den Briganten getrennt und die eigentliche "Queste" hat begonnen. Erstes Anlaufsziel ist die Metropole von Lyand. Die Stadt also, in der Raven als Sklavin aufgewachsen ist. Die Aussicht, dabei möglicherweise Donwayne vor die Klinge zu bekommen, ist denn auch Ravens erster Antrieb für die Reise. Doch der Schwertmeister hat inzwischen die Fronten gewechselt und ist in die Dienste des konkurrierenden Stadtstaats Karshaam getreten. Und so nimmt das Unternehmen schon bald eine andere Wendung. 
Die beiden reisen weiter zum "Tempel des Steins". Bei dem handelt es sich offenbar um einen als Götzen verehrten Meteoriten. Aber wie so vieles andere in diesem ersten Buch, bleibt auch die wahre Natur des "Steins" schleierhaft. Auf jedenfall erhält Raven durch ihn (?) eine ziemlich wirre Vision, in der sie (meist sehr gewalttätige) Szenen aus Vergangenheit und Zukunft sieht, inklusive "Fahrzeuge aus Metall und Vögel aus Stahl". SciFi-Elemente waren in der Sword & Sorcery der 70er Jahre keine Seltenheit, aber ob es im weiteren Verlauf der "Saga" noch mehr davon geben wird, bleibt vorerst ebenso ungewiss. Wichtiger, wenn auch nicht wirklich viel informativer, ist, was Raven von einer körperlosen Stimme über ihre "Bestimmung" erzählt bekommt. Sie sei ein "Katalysator der Geschichte", ein "Angelpunkt der Welt". Ihr Handeln werde die Entwicklung der noch jungen Zivilsation entscheidend mitbestimmen. Sie sei dazu berufen, die herrschende Ordnung zu zerstören, damit aus dem Chaos eine neue und bessere geboren werden könne. All das wird mit einigen volltönenden "philosophischen" Phrasen über die "gegenseitige Abhängigkeit aller Dinge" gewürzt. Wer oder was hier zu Raven spricht, bleibt mysteriös. Sie selbst fragt sich mehrmals, ob das Ganze nicht ein Trick Spellbinders sein könnte. Doch das scheint eher unwahrscheinlich.
Für den weiteren Handlungsverlauf ist bei diesem ganzen Szenario aber ohnehin nur von Bedeutung, dass Raven den "Auftrag" erhält, den "Schädel des Quez" zu finden und nach Karshaam zu bringen. Und ja, der Rest des Buches ist im Grunde die Jagd nach einem magischen MacGuffin.
 
Leider entpuppt sich deren erste Etappe schon bald als der unangenehmste Teil der Erzählung. 
Auf Spellbinders Betreiben hin organisieren sich die beiden ein Fischerboot und setzen Segel in Richtung der übel beleumundeten "Geisterinsel" Kharwhan. Ravens Mentor besitzt offenbar irgendwelche Verbindungen zu den dort lebenden Zauberern, die allgemein mit Furcht und Misstrauen betrachtet werden. Deren genaue Natur offenzulegen, weigert er sich allerdings standhaft. Ist er ein Agent der Zauberer in der "Außenwelt"? Oder vielleicht ein verbanntes Mitglied der Bruderschaft? Wir erfahren es nicht. Jedenfalls hält er es für notwendig, Kharwan aufzusuchen. Doch bevor die beiden die Ufer der Insel erreichen, geraten sie in ein gewaltiges (und anscheinend magisches) Unwetter. Ihr Boot kentert und sie können von Glück sagen, dass sie schließlich von einem "Wikingerschiff" unter dem Kommandso des berüchtigten "Seewolfs" Gondar Todbringer aufgefischt werden.
Für uns Lesende ist das freilich keine so glückliche Wendung. Welchen Charakter die Konfrontation zwischen Raven und Gondar annehmen wird, zeigt sich bereits darin, dass die Autoren es für an der Zeit hielten, die Sexualisierung ihrer Heldin mal wieder ordentlich hochzuschrauben. Bietet das Schiffbrüchigenszenario dafür doch auch eine gar zu verführerische Vorlage. Was sich dann so liest:
Sie wurde sich plötzlich ihrer dürftigen Kleidung bewußt, denn der Blick des Seewolfs war für sie wie ein Spiegel. Sie richtete sich auf. Das feuchte Haar umrahmte ihr Gesicht und fiel bis auf ihre Hüften. Wind und Wasser ließen ihre Brustwarzen unter dem dünnen Stoff ihres Hemdes erstarren und sie zeichneten sich unter dem durchsichtigen Zeug ab, als ihre Brüste sich hoben, wie um seinen Blick herauszufordern. Das Hemd reichte nur bis zu ihren Oberschenkeln und darunter war sie nackt. Die makellose Linie ihrer auf Deck gespreizten Beine war durch nichts verhüllt.
Sehr geschmackvoll.
Selbstverständlich betrachtet der Seewolf Raven als legitime "Beute". Dass sie äußerst aggressiv darauf reagiert, als Spellbinder daraufhin mal wieder die Rolle ihres Beschützers spielen will, könnte man sympathisch finden: "Bin ich ein Stück Vieh, das dem Sieger vorgeworfen wird? Ich sage euch beiden, ich suche mir meinen Mann selbst aus und wer sich daran nicht halten will, wird nwenig Freude an mir haben." Aber das wird dadurch konterkarriert, dass sie Gondar offenbar selbst sexuell anziehend findet. Verglichen mit dem eher hageren Spellbinder ist der "goldmähnige Riese" mit seinen "Muskelwülsten aus Stahl" halt auch ein gar zu prachtvolles Exemplar von "Hyper-Makulinität". Und so endet die Konfrontation der beiden fürs erste mit einer Art "Red Sonja - Herausforderung": Wenn er sie "haben" will, muss er sie im Zweikampf besiegen. Was dem Hünen imponiert.
Nach der Rückkehr in den Heimathafen der Seewölfe kommt es allerdings erst einmal zu einem kleinen Magierduell zwischen Spellbinder und Gondars "Hofzauberer" Belthis, an dessen Ende sich letzterer geschlagen aus dem Staub macht. Wir werden den fiesen Kerl noch wiedersehen. Erst dann können Raven und Gondar die Klingen kreuzen. Ihr Kräftemessen endet mit einem Patt. Doch kaum ist der Kampf vorbei, Ravens Stolz befriedigt und die unmittelbare Drohung von Gewalt beseitigt, lädt sie den Hünen auch schon in ihr Bett ein. Es folgt Sexszene Nummer 2.
 
Was die ganze Gondar-Episode so extrem unangenehm für mich gemacht hat, ist der Umstand, dass es sich bei ihr um die geradezu perfekte Illustration einer typisch "patriarchalen" Doppelmoral in Bezug auf sexuelle Gewalt handelt. Oberflächlich betrachtet lässt der Roman natürlich keinen Zweifel daran, dass Vergewaltigung ein verabscheungswürdiges Verbrechen ist. Und das Buch endet erwartungsgemäß mit Ravens Rache an Karl ir Donwayne. Aber was genau macht Gondar eigentlich besser als den Schwertmeister von Lyand? Sicher, er vergewaltigt Raven nicht. Aber das ist nicht sein Verdienst. War der Seewolf nicht drauf und dran, genau das zu tun, sobald er sie im "durchscheinenden Hemd" an Bord seines Schiffes erblickt hatte? Einzig Ravens kämpferisches Auftreten hat das verhindert. Und wir dürfen wohl davon ausgehen, dass viele andere Frauen vor ihr nicht so viel Glück hatten.  Selbst der "ehrenhafte Zweikampf" geht doch letztlich um die Frage, ob er das "Recht" hat, ihr Gewalt anzutun! Aber diese (vorsichtig ausgedrückt) "sexuelle Aggressivität" soll in Gondars Fall wohl nicht negativ, sondern als Ausdruck seiner extremen "Männlichkeit" gelesen werden. Die Autoren entblöden sich nicht einmal, uns nach dem Kampf folgende Dialogzeilen vorzusetzen:
"Nun", sie lächelte gleichfalls,"ein freiwillig gegebenes Geschenk ist doch sicher wertvoller als ein mit Gewalt erzwungenes?"
"Wahr", stimmte er zu, "aber es gibt Zeiten, da fällt es einem Mann schwer, auf den Geber zu warten."
Und Raven versetzt ihm daraufhin nicht etwa einen saftigen Kinnhaken, sondern steigt mit ihm ins Bett! Natürlich findet man unter den "klassischen" Sword & Sorcery - Helden der Conan-Schule so manche, die in ihrer Neigung zur sexuellen Gewalt nicht viel besser dastehen als der Seewolf. Aber in einer aus weiblicher Sicht erzählten Geschichte stößt so was irgendwie noch übler auf.
 
Wenigstens verliebt sich Raven nicht Hals über Kopf in den blonden Hünen. Sie hat bloß Sex mit ihm. Ein geringer Trost, aber es ist schon erfreulich, dass sie sich auch weiterhin ihre Unabhängigkeit bewahrt. Gondar möchte sie zwar sofort zu seiner "Seekönigin" machen, doch davon will  sie nichts wissen und weist dieses Ansinnen rasch und bestimmt zurück. Sie ist weder an einer dauerhaften Beziehung interessiert, noch hat sie vor, länger als nötig unter den Seewölfen zu verweilen. Immerhin befindet sie sich nach wie vor auf einer Queste. Gondar ist darüber zwar nicht glücklich, lässt sich aber dazu überreden, Raven und Spellbinder mit seiner wilden Horde bei der Suche nach dem "Schädel des Quez" zu unterstützen. Warum die Zaubererinsel Kharwan als Aufbewahrungsort des Artefaktes nicht länger in Frage kommt, muss ich irgendwie überlesen haben. Stattdessen taucht plötzlich wieder Ravens mysteriöser Namenspatron, der riesige Schwarze Vogel, auf, dem man über das Binnenmeer an die Küste des wilden Landes Ishkar folgt.         
 
Die nächsten fünfunddreißig Seiten lesen sich wie eine eigene kleine Sword & Sorcery - Erzählung, die zwar nicht unbedingt mit Originalität glänzt und einen etwas enttäuschenden Höhepunkt besitzt, für mich aber doch den gelungensten Teil des Buches darstellt. Sicher nicht zufällig verschwindet dabei die sonst so aufdringliche Sexualisierung Ravens völlig. Selbst ihre Beziehung zu Gondar und Spellbinder nimmt plötzlich rein kameradschaftliche Formen an. 
"Lost World" / "Lost Civilization" - Szenarien à la H. Rider Haggard (King Solomon's Mines; She) spielten von früh an eine wichtige Rolle in der Sword & Sorcery. So stolpert Conan auf seinen Abenteuern regelmäßig über irgendwelche "uralten Ruinen" oder ganze "versunkene Städte" wie Xuthal (The Slithering Shadow) und Xuchotl (Red Nails). Dass dieser Topos oftmals mit kolonialistischen und rassistischen Altlasten verbunden ist, steht außér Frage. Es ist schließlich kein Zufall, dass es sich bei Charles R. Saunders' erster veröffentlichter Imaro - Geschichte M'ji Ya Wazimu (The City of Madness) um eine Art ironischen Kommentar auf den Topos handelt. Man kann sich deshalb sicher gut vorstellen, wie angenehm überrascht ich davon war, ausgerechnet in Raven eine Variation auf das Thema vorzufinden, die völlig frei von diesen unerfreulichen Elementen ist.
An der Küste des menschenleeren Landes angekommen, werden erst einmal ein paar Erkundungstrupps in die nähere Umgebung geschickt. Gerüchteweise hört man von "Tiermenschen" und "Kannibalen", die hier irgendwo hausen sollen, aber vorerst bleibt alles ruhig. Schließlich brechen Raven, Spellbinder und Gondar mit einer größeren Gruppe ins Landesinnere auf, dabei immer noch dem Schwarzen Vogel folgend. 
Holdstock & Wells gelingt es im Weiteren recht geschickt, eine sich langsam steigernde Atmosphäre der Bedrohlichkeit aufzubauen. Zuerst marschiert man tagelang durch eine weite Savannenlandschaft. Nach einiger Zeit erkranken einige der Seewölfe an einem geheimnisvollen Fieber und müssen zurückgelassen werden. Schließlich erreicht die Gruppe den oberen Rand einer gewaltigen Senke, in deren Tiefen ein dichter Urwald wuchert. Der steile, aus dem Fels gehauene Pfad ist das erste Anzeichen dafür, dass die Region nicht so menschenleer ist, wie es erscheint. Am Fuß der Klippe schlägt man ein Lager für die Nacht auf. Am nächsten Morgen werden die Leichen der Wachtposten mit herausgerissener Kehle gefunden. Von den nächtlichen Angreifern keine Spur. Der Urwald entpuppt sich als dämmrige Hölle voller vermodernder Vegetation, beunruhigender Geräusche und Unmassen von Creepy Crawlies: "Große aufgequollene Spinnen flohen vor ihnen und schillernde Kreaturen mit unnatürlich vielen Beinen und scharfen Greifzangen liefen wild durcheinander." Der Ekelfaktor wird in diesem Zusammenhang mitunter vielleiht etwas dick aufgetragen. Nach zwei Tagen Fußmarsch (und einigen weiteren Red Shirt - Leichen) kommt es endlich zum offenen Angriff der Tiermenschen. Ein Schildwall wird gebildet; erneut spritzt viel Blut durch die Gegend und Gliedmaßen werden abgehackt; Raven und Spellbinder retten sich gegenseitig das Leben; dann plötzlich ertönt ein unheimlicher Schrei aus den Tiefen des Urwalds:
Das Geheul war mit keinem anderen Geräusch zu vergleichen, das sie jemals gehört hatten. Tiefer als das Kreischen einer Katze, schriller als ein Wolfsruf, enthielt es Merkmale von beidem. Seewölfe, die mit freudigem Kriegsgeschrei die Körper ihrer Feinde zerhackt hatten, legten Zeigefinger und Daumen zum Zeichen der Allmutter zusammen. Raven spürte, wie ihr Mund trocken wurde, während ein Schauer sie durchlief. In dem Geräusch lag etwas, das noch unnatürlicher war, als die gräßliche Erscheinung ihrer Angreifer, als erhebe ein Dämon in den tiefsten Tiefen seiner unbeschreiblichen Hölle seine Stimme.
Dem unheimlichen Ruf folgeleistend ziehen sich die Tiermenschen in den Dschungel zurück. 
An dieser Stelle hat die kleine Ishkar-Erzählung für mich ihren Höhepunkt in einer Mischung aus wüster Action und der Andeutung andersweltlichen Horrors erreicht. Die Tiermenschen sind übrigens keine "Affenmenschen", wie man bei diesem Szenario vielleicht hätte erwarten können, sondern groteske Hybridwesen,  die einen an Michael Moorcocks Elric - oder Corum - Bücher denken lassen. Vielleicht eines der Motive, die Raven als britische Sword & Sorcery auszeichnen.  
Leider wirkt das bald folgende "große Finale" nach dem wunderbar stimmungsvollen Geheul wie ein nicht eingelöstes Versprechen. Denn als unsere Gefährten einen halb zerfallenen Tempelbau im Urwald entdecken, wartet dort kein cthulhuides Grauen auf sie, sondern bloß der "König der Tiermenschen". Mit dem Torso eines "griechischen Gottes" und dem Kopf eines riesigen Wolfes ist der zwar auch eine recht beeindruckende Erscheinung, aber im Grunde halt bloß eine etwas größere Ausgabe all der übrigen Mischkreaturen. Da hatte ich mehr erwartet. Und dass der Zweikampf um den "Schädel des Quez", der aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen bei den Tiermenschen gelandet ist, von Spellbinder und nicht von Raven ausgefochten wird, war eine wirklich herbe Enttäuschung. Die einzige Entschuldigung dafür wäre, dass unsere Heldin ja noch ganz am Anfang ihrer Karriere steht. Ich kann bloß hoffen, dass sie in späteren Büchern dann völlig aus dem Schatten ihres Mentors treten wird.
Eine neckische Überraschung erwartet uns freilich noch. Der "Schädel des Quez" entpuppt sich nämlich als eine formidable Waffe, aus dessen Augen Spellbinder magische "Laserstrahlen" verschießen kann. Vor meinem inneren Auge sah ich das sofort als Szene aus einem schlockigen Roger Corman - S&S - Flick der 80er Jahre. Grandios!
 
Nachdem die Queste zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht und Gondar mit seinen Seewölfen in die Heimat Kragg zurückgeschickt wurde, machen Raven und Spellbinder sich zur Hauptstadt des Reiches Karshaam auf. Dorthin sollen sie dem Orakelspruch zufolge, den Schädel bringen. Und dort wartet ja auch Karl ir Dorwayne auf seine gerechte Strafe. Zu dumm bloß, dass ihnen der aus Kragg geflohene Zauberer Balthis zuvorgekommen ist. Der hat sich hier erneut den Status eines "Hofmagiers" gesichert und sorgt dafür, dass Spellbinder umgehend in den Kerker geworfen wird, um dort auf seine Hinrichtung zu warten. Den Schädel will Balthis als ultimative Waffe in den geplanten Eroberungsfeldzügen des Altan (Herrschers) einsetzen. Raven bleibt vorerst auf freiem Fuß, da der Hexer sie für keine Bedrohung hält.
 
Nach bald vierzig Seiten ohne Sexploitation dachten sich Holdstock & Wells offenbar, dass es nun aber wirklich an der Zeit sei, dem gegenzusteuern. Und was fehlt uns noch? -- Richtig! Eine lesbische Sexszene. Also verguckt sich Krya, Schwester und Gattin des Altan, augenblicklich in Raven.
Amüsanterweise bemühen sich die beiden Autoren nicht einmal mehr groß zu kaschieren, dass Sexszene Nr. 3 ausschließlich zur Aufreizung der (männlichen) Leserschaft existiert. Für den weiteren Handlungsverlauf ist sie nämlich praktisch ohne Bedeutung. Obwohl dem eigentlich nicht so sein sollte. Raven geht nämlich nur deshalb auf Kryas Avancen ein, weil sie hofft, auf diese Weise eine Verbündete für die Befreiung Spellbinders zu gewinnen. Aber trotzdem es ihr gelingt, die Herrscherin dahingehend zu manipulieren, kommt es weder zur versprochenen Begnadigung, noch spielt Krya irgendeine Rolle in der eigentlichen Rettungsaktion am Ende des Buches. Und das wird im Text nicht weiter kommentiert oder als "Verrat" dargestellt. Vielmehr verschwindet die Herrscherin einfach weitgehend aus der Handlung, nachdem sie ihre Rolle als Sexpartnerin ausgespielt hat. Was vermutlich das Beste ist, was ihr passieren konnte.
Man könnte fast meinen, die ganze Krya-Episode sei nachträglich (und nur unzureichend) in die Handlung eingefügt worden. Was mich nicht wundern würde, existiert sie doch offenbar nur aus einem Grund. Aber für das, was sie ist, wirkt sie relativ verträglich. Jedenfalls hätte es viel schlimmer kommen können. So habe ich vor einiger Zeit begonnen, nebenbei immer mal ein paar Seiten von John Jakes' alter S&S - Parodie Mention My Name in Atlantis (Tolle Tage in Atlantis) zu lesen, und da kommt die Homophobie mitunter wirklich knüppeldick! Verglichen damit ist die Darstellung der lesbischen Herrscherin echt harmlos. Zwar bedienen Wells & Holdstock mit ihr das alte Klischee der Identifikation von Homosexualität und Dekadenz. Aber selbst darin sind sie eher zurückhaltend. Krya ist keine Orgien feiernde "Messalina" und ihr sexuelles Verlangen wird nicht als "widernatürlich" oder verwerflich dargestellt. Vor allem aber wird sie in der Folge von den Autoren weder "bestraft" noch gedemütigt -- sei es für ihren "Verrat" oder ihre Sexualität. Und nach anfänglichem Zögern hat  Raven durchaus Spaß am Sex mit der Herrscherin.

Bevor sie zu Spellbinders Rettung schreiten kann, muss unsere Heldin natürlich erst einmal mit Karl ir Dowayne abrechnen. Wie es ihr gelingt, ein öffentliches Duell mit dem Schwertmeister organisiert zu bekommen, mag etwas ungelenk wirken. Aber was macht das schon, wenn wir dafür einen angemessen dramatischen Endkampf präsentiert bekommen? Der besonders blutrünstig ausfällt, da Raven dank der magischen Manipulationen des hinterhältigen Balthis, gewzungen ist, den Widerling quasi in Stücke zu hacken, bevor der endlich sein unwürdiges Leben aushaucht. Was sich dann u.a. so liest:
Der zweite (Wurf)Stern traf sein Kinn, schnitt durch den Unterkiefer und grub sich in den Gaumen.
Er blickte auf Raven, verständnisloses Erstaunen in den Augen, als die abgetrennte Zunge zwischen den geöffneten Lippen herausfiel.    
Die finale Befreiungsaktion wartet dann noch mal mit magischen Explosionen und Massenaufruhr in den Straßen auf, bevor Raven und Spellbinder glücklich aus Karshaam entflohen sind und neuen Abenteuern entgegenreiten können.
 
Es fällt mir gar nicht so leicht, ein abschließendes Urteil über Raven - Swordsmistress of Chaos zu fällen. Einerseits ist das schon die Art von Sword & Sorcery - Schund die ich erwartet hatte. Und es käme mir sicher nie in den Sinn, eine ernsthafte Empfehlung für den Roman auszusprechen. Aber so sehr mich das auch selbst überrascht: Ich glaube, ich werde bei Zeiten auch mal einen Blick in die weiteren Bände der Serie werfen. Jetzt, wo ich sie schon mal hab'. Sicher, das Sexploitation-Element ist aufdringlich, nervig und mitunter (wie in der Gondar-Episode) auch richtig unangenehm, aber nicht nur die Ishkar-Erzählung zeigt, dass Wells & Holdstock durchaus in der Lage sind, ein nett pulpiges Sword & Sorcery - Garn zu spinnen. Dass die Plotführung dabei oft ziemlich hanebüchen erscheint, hat mich nicht groß gestört. Auch würzen sie ihre Geschichte mit genug Rätseln und Andeutungen, um Appetit auf eine Fortsetzung zu machen. Welche Verbindung besteht zwischen Spellbinder und den Zauberern von Kharwhan? Welches Ziel verfolgt der Schwarzgewandete wirklich? Wie wird sich die Beziehung zwischen Raven und ihm im weiteren Verlauf der Saga fortentwickeln? Was hat es mit den mysteriösen Magiern selbst auf sich? Wer oder was steckt hinter dem "Orakel-Stein"? Worin konkret besteht Ravens Bestimmung als "Zeitenwenderin"? usw. usf. Der mit Abstand beste Köder aber ist der Epilog: Denn aus dem, was der alte Mann am Meer (den wir jetzt ziemlich klar als Spellbinder identifizieren können) zum Abschluss seiner Erzählung sagt, geht klar hervor, dass Ravens Saga kein glücklich-triumphales Ende beschieden ist. Dass sie ihre Bestimmung zwar erfüllen, damit aber kein Goldenes Zeitalter einleiten wird. Im Gegenteil. Die Welt der Rahmenerzählung wirkt eher postapoalyptisch. Und ich bin schon neugierig, zu erfahren, wie es dazu gekommen ist.     
 


* Ironischerweise enthält der Band mit Glen Cooks Severed Heads (Abgetrennte Köpfe) und Jennifer Robersons Blood of Sorcery (Blut der Zauberei) dann trotzdem zwei Rape-Revenge-Stories, von denen ich zumindest die erstere aber für durchaus lesenswert halte.
 
** Die Figur des "Titus of Ghorm", der in dieser Passage auftaucht, könnte eine Anspielung auf Mervyn Peakes Gormenghast und dessen Protagonisten Titus Groan sein. Was sich im Kontext einer solchen Story doch recht kurios ausnimmt.

Donnerstag, 2. März 2023

Klassiker-Reread: "Die Legenden der Drachenlanze" von Tracy Hickman & Margaret Weis (7/7)

Hier nun also der abschließende Teil des Gesprächs, das Christina F. Srebalus, Alessandra Reß und ich anlässlich unseres Rereads der "Legenden" geführt haben. Alessandras Beispiel folgend stelle ich dem der Übersicht halber eine Liste aller sechs vorherigen Beiträge voran.

Jetzt aber los ...

 
(4) Zeitreise, Völkerproblematiken und Fazit
 

[Christina] Mich würde interessieren, wie ihr die Zeitreise umgesetzt fandet. Ich muss sagen, dass es für mich in gewisser Weise eine ikonische Zeitreise ist, weil es, soweit ich mich erinnere, die erste komplexere Zeitreise außerhalb der Science-Fiction ist, der ich begegnet bin und es (glaube ich, gern verbessern, falls nicht) in High Fantasy sonst eher selten vorkommt. Der Klappentext vom deutschen Band 4 "Die Königin der Finsternis" spoilert da leider unverschämt die Erkenntnis der Zeitschleife. Aber ich mochte, wie mit linearer Zeit, Gleichzeitigkeit und Schleifen hantiert wurde, obwohl Paradoxa kaum behandelt oder nur sehr oberflächlich betrachtet wurden. Die Diskrepanz zwischen Raistlin und Fistandantilus (dessen Rolle er in der Zeitschleife übernimmt) und zwischenzeitliche Überlegungen, ob er dann schon Fistandantilus war, als der Raistlin – also sich selbst – getroffen hat etc. haben mir die Lektüre schöner gemacht. Ebenso war Astinus, der Chronist, dadurch spannender. (An einer Stelle streicht der den Namen „Denubis“ durch und ersetzt ihn durch Crysania, Das untermauert, dass vielleicht ein Buch gleich am Anfang zu lesen, um die Lösung zu haben, nicht geklappt hätte).

[Peter] Also spontan würden mir auch keine anderen Beispiele von Zeitreisen in der High Fantasy einfallen. Bin in dem Subgenre aber auch nicht so belesen. Interessant fand ich das Ganze auf jeden Fall, auch wenn ich mich gerade bei der Stelle, an der die Zeitebenen sich überschneiden und Raistlin aus der "Vergangenheit" mit Dalamar in der "Gegenwart" Kontakt aufnimmt, gefragt habe: Macht das noch Sinn? Oder verfängt sich die Story da in Widersprüchen? Aber so was gehört wohl irgendwie zu Zeitreisegeschichten. ;-)

 
Zuerst einmal eröffnet die Zeitreise halt die Möglichkeit, coole Settings zu besuchen. Mir hat vor allem Istar, der Schauplatz von „Die Stadt der Göttin“, recht gut gefallen. Diese Despotie des "Guten" mit ihrer Heuchelei, ihren Intrigen und ihrem unterschwelligen Elfenrassismus, die am Ende sogar einen Genozid an den "bösen" Völkern/Rassen plant. Fand ich spannend.
 
Im weiteren Verlauf hatte ich dann allerdings häufiger wieder das etwas frustrierende Gefühl verpasster Möglichkeiten. So fand ich es zwar faszinierend, dass es einen Punkt gibt, an dem Raistlin und Fistandantilus quasi verschmelzen und es eigentlich offen bleibt, wer von den beiden ihren Kampf überlebt hat. Aber das wird dann nie wieder so richtig aufgegriffen. Ähnlich ging es mir bei dem Zeitschleife-Ding. Denn im Grunde hat ja die ganze Handlung des zweiten Bandes (Buch 3 & 4) etwas extrem tragisches. Caramon, Raistlin und Crysania scharen ein riesiges Heer von Verzweifelten und Entwurzelten um sich, geben diesen eine neue Hoffnung und ein neues Ziel inmitten einer quasi postapokalyptischen Welt. Aber eigentlich führen sie sie dabei in den Untergang. Dessen ist sich anfangs zwar nur Raistlin bewusst (und dem ist es halt mehr oder weniger egal), aber trotzdem hat mir da irgendwie das entsprechende Pathos gefehlt. Und Caramon mag ja nicht der schnellste Denker sein, aber dass er anscheinend so gar nicht realisiert, was er da gerade als General von "Fistandantilus' Armee" macht, fand ich irgendwie ... unbefriedigend.
 
[Alessandra] Wenn man Science Fantasy wie "Pern" mal außer Acht lässt, fallen mir auch wenig Beispiele für Zeitreisen in der klassischen Fantasy ein. Außer bei Brandon Sanderson; beim erneuten Lesen sind mir ohnehin einige Parallelen zwischen Drachenlanze und "Die Sturmlicht Chroniken" aufgefallen, was ich gerade in Hinblick auf den gemeinsamen mormonischen Hintergrund der Autor/-innen interessant fand. Aber das nur am Rande.

Beim ersten Lesen habe ich die Zeitreise glaube ich gar nicht groß hinterfragt und manches wurde mir damals nicht so klar – zum Beispiel weiß ich noch, dass mich die Verschmelzung zwischen Raistlin und Fistandantilus sehr irritiert hat. Jetzt beim Reread hat das zugleich besser und schlechter funktioniert. Einerseits fand ich gerade dieses tragische Moment, das Peter erwähnt hat, sehr berührend, wie auch Raistlins generelles Hadern mit seiner Rolle und seiner "gespaltenen Identität". Andererseits empfand ich vieles als nicht wirklich stimmig oder zu konstruiert. Z. B. ist das Individuum ja eigentlich irrelevant im Zeitstrom – anders kann man nicht erklären, dass Crysania im veränderten Zeitstrahl einfach Denubis' Rolle einnimmt oder Caramon die von Pheragas, Fistandantilus‘ General. Aber kaum taucht ein Kender auf, ist alles anders? Nur weil Kender ein "Fehler" des Gottes Reorx waren? Come on ... Das sind diese Art Fantasy-Logiken, auf die es mir heute schwer fällt, mich einzulassen, auch wenn sie ja irgendwo das Fremde, den sense of wonder der Anderwelten unterstreichen. Aber es hat eben auch ein Flair von "Deus ex machina", erst recht wenn es um diesen Zeitreisekristall geht, der zufälligerweise vor allem im letzten Band immer gerade dann zur Hand ist, wenn Tanis und Caramon ihn gerade brauchen können. Aber ich muss auch sagen, generell kein großer Fan von Zeitreise-Plots zu sein. Im Vergleich schlägt Drachenlanze da noch gut ab, ich konnte diesen Aspekt der Handlung ganz gut ignorieren ;-) (Nebenbei: Etwas enttäuschend ist es ja schon, dass Krynn bis auf die Mode und 1, 2 Gnomenerfindungen innerhalb von ein paar Jahrhunderten völlig austauschbar ist, was die grundsätzliche gesellschaftliche Entwicklung angeht.)

 
[Christina] Ich konnte der Lösung, dass die Zeit nur durch Kender und Gnome veränderbar ist, durchaus etwas abgewinnen, da sich bei Zeitreisen immer die Frage stellt, ob Zeit jetzt linear oder eine Sammlung unendlich vieler parallel verlaufender Alternativen ist und ob bzw. wie sich Zeitreisende darauf bewegen. 
 
Hier wird die Zeit als grundsätzlich linear angenommen, sodass kleine Veränderungen durch das Menschen-Trio nur wie ein Stein sind, der in einen Fluss geworfen wird, und dadurch nicht den Strom der Zeit verändert. Tolpans Eingreifen brachte da zum einen etwas Suspense und zum anderen die Möglichkeit, auch etwas größere Ereignisse zu ändern, ohne aber gleich zu stark dem Butterfly-Effekt von alternativen Entwicklungen der Zeitachse zu unterliegen und nie wieder zurück kommen zu können – zumindest oberflächlich macht es meiner Meinung nach die Zeitreise plausibler (oder komplex genug, dass man sie nicht mehr so einfach hinterfragen kann).
 
[Peter] Da wir's gerade von Kendern und Gnomen haben ... Dass ganze Völker (oder "Rassen") auf Stereotypen reduziert werden, ist in "klassischer" High Fantasy wohl ziemlich verbreitet. Und kennt man ja z.B. auch aus der SciFi. (Star Trek, du bist gemeint.) Aber was mir bei dieser Lektüre der "Legends" wirklich unangenehm aufgestoßen ist, war die Erkenntnis, dass sie in "Drachenlanze" dabei zugleich zu fleischgewordenen "running gags" werden. Bei Tas/Tolpan und dem Gnomen (Gnimsh?) fand ich das in erster Linie nervig. (Und spätestens nach einer Seite nicht mehr lustig). Aber die Gully Dwarves /Gossenzwerge sind wirklich übel. Schon aus den 80er Jahren hatte ich die als plumpe Comic-Relief-Figuren in Erinnerung. Aber wie viel übler wirken die heute auf mich. Im Grunde sind sie nichts anderes als wirklich unangenehm ableistische Karikaturen. Und Hickman & Weis fanden sie offenbar so lustig, dass sie sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit in die Handlung einbauen mussten. Vom Gasthaus in Solace bis zur Fliegenden Zitadelle über Palanthas ...

[Alessandra] Ich fürchte, das ist nicht nur in der High Fantasy verbreitet – ich finde es manchmal gruselig, wie solche Stereotype selbst in der Urban Fantasy des 21. Jahrhunderts noch reproduziert werden ... (Wobei ich aus Autorensicht der Fairness halber zugeben muss, dass man in diese Stereotype schneller reintappt, als es einem lieb ist. Reflexion ist da eine praktische Sache, aber gar nicht so leicht, wenn man grad von der eigenen Welt und den Gepflogenheiten des Genres gefangen ist.) Dennoch, ich stimme dir auf jeden Fall zu, dass Drachenlanze ein krasses Beispiel ist, gerade wenn es um diese "Comic Reliefs" geht. Möchte an dieser Stelle anmerken – ich fand Tolpan schon nervig, bevor es cool wurde :p Das sind so Punkte, bei denen ich es total spannend fände, die Rezeption von, sagen wir 1990 mit der von jetzt zu vergleichen. Offenbar genossen solche Figuren und Völker früher ja Rückhalt bei der Leserschaft, gerade Tolpan hatte noch 2005, als ich mich viel im Drachenlanze-Forum herumgetrieben habe, eine große Fangemeinde. Es wirkt immer so platt, zu sagen "da hat sich auf jeden Fall was getan", aber ja ... hier hat sich was getan, glücklicherweise.

[Christina] Die Darstellung aller Völker ist aus heutiger Sicht unfassbar eindimensional und oftmals sehr negativ und voller Ismen, auch wenn Menschen immerhin noch ein paar Unterschiede aufweisen. Ich bin in der Hinsicht gespannt auf die neuen Bücher, weil diese den Sprung schaffen müssten, dem gereiften Bewusstsein der Leserschaft gerecht zu werden (auch wenn fraglich bleibt, wie man so viel Lore gut abwandelt). In den alten Büchern sind die Völker, vor allem die Gossenzwerge, so hochproblematisch dargestellt mit einer Freude an aktiver Erniedrigung und Herabwürdigung, dass ich die Stellen nicht gelesen hätte, hätte ich das nicht für diese Besprechung lesen "müssen". (Z.B. das in Solace, als die Gossenzwergin das verschüttete Bier auflecken soll! An meinem Lesegefühl an der Stelle, hab ich erkannt, dass die Debatten und der öffentliche Diskurs der letzten Jahre/Jahrzehnte mindestens für mich etwas geändert haben und somit sicherlich auch allgemein eine Sensibilisierung dahingehend stattgefunden hat und weiterhin stattfindet, denn solche Darstellung sollte nicht mehr geschrieben und reproduziert werden und gehört auch von alten Fans reflektiert.) Da holt auch die Gossenzwergin Bupu nicht mehr viel raus, bei der als "irgendwie wichtig" versucht wird, das Volk besser darzustellen.

Was Tolpan betrifft, weiß ich noch, dass ich die Figur als Jugendliche mochte und es z.B. im LARP damals auch eine große Welle Kender-Spielende gab (die auch da stereotypisch gehasst wurden). Ich finde ihn als naiv-optimistische Figur immer noch ganz gut, um dem Depri-Ethos der anderen Figuren manchmal was entgegenzusetzen, aber das Abstürzen in Slapstick (bei der Zitadelle hätte ich auch wieder gern weitergeblättert) und die Reduktion auf Diebstahl/Kleptomanie waren mir beim Reread auch sehr zu wider.

[Peter] Ja, bei der Bierstelle ist mir auch übel geworden. Was mir aber zugleich gezeigt hat, dass sich an der Rezeption (zumindest meiner eigenen) tatsächlich etwas geändert hat. Denn in den 80ern fand ich die Gully Dwarves zwar doof und unlustig, aber ich muss zugeben, dass mir das extrem Kränkende und Herabwürdigende ihrer Darstellung bei meiner ersten Lektüre nicht aufgestoßen ist. Der Stereotyp des "witzigen Idioten" war damals halt leider noch ein völlig "normaler" und geläufiger Bestandteil der Populärkultur. Was es natürlich nicht besser macht oder entschuldigt.

[Alessandra] Wie genau ich die Gossenzwerge beim ersten Lesen empfunden habe, kann ich gar nicht mehr genau sagen. Aber nun ... ich fand auch Dobby 2004 noch lustig ...

Christina hat eben ja erwähnt, dass die neuen Bücher hier einiges anders machen müssen. Die Ankündigung für die neue, quasi eingeklagte Trilogie – die inzwischen als "Dragons of Deceit" auf Englisch veröffentlicht wurde – war damals unser ausschlaggebender Grund, Drachenlanze für den 2023er-Reread auszuwählen. Ich war von der Ankündigung damals nicht soo begeistert. Drachenlanze hatte seine Zeit und ich habe in den jüngeren Büchern wie der Mina-Trilogie durchaus schon Entwicklung gesehen. Trotzdem war ich skeptisch, ob es neuen Büchern gelingen würde, einerseits den "Drachenlanze-Geist" wiederzubeleben, andererseits nicht die alten Probleme zu reproduzieren. Dass dann Hickman auf Twitter auch noch ein Anti-Diversity/Modernity-Meme gepostet hatte – angeblich aus Unwissenheit – hat meine Skepsis verstärkt. Vielleicht wäre es einfach besser gewesen, die Reihe in der Nostalgiekiste zu lassen? Nun habe ich die neue Trilogie noch nicht gelesen. Die bisherigen Besprechungen scheinen geteilter Meinung zu sein. Wenn ihr wirklich der Sprung ins Jahr 2022 gelungen ist, Hut ab. Trotzdem bleibt das zwiespältige Gefühl auch nach dem Reread erhalten. Die Bücher sind super zu lesen und ich bin wieder auf den Geschmack gekommen, plane auch noch ein paar Bände der "Neuen Generation" zu lesen (irgendwie reizt es mich jetzt noch mal, Raistlins Rückkehr zu lesen). Und doch sind sie einfach inhaltlich nicht mehr zeitgemäß. Gemessen daran, dass ich total viel Spaß mit diesem Reread hatte und gerade wieder munter Krynn fangirle (Pinterest weiß es ...), ist es seltsam, zu diesem Fazit zu kommen, dennoch: Stand Jetzt würde ich sagen, es ist Zeit für Neues. :)

[Christina] Ich schließe mich dem an. Aus nostalgischen Gründen, die aber vor allem mit den Umständen während meiner Rezeption als Jugendliche, die die „Chroniken“ zusammen mit ihrem Vater gelesen hat, zusammenhängen, war ich über das Reread sehr glücklich. Auch, um bestimmt verklärte Erinnerungen gerade zu rücken und mit einem geschulteren Blick zu betrachten (und in so netter Runde zu besprechen), hat es sich sehr gelohnt. Gewisse Figuren bzw. Figurenkonstellationen wie die Geschwisterbeziehung von Raistlin und Caramon werden immer eine Bedeutung für mich haben.

Aber würde ich es heute zum ersten Mal lesen, fände ich sie evtl. noch solide, könnte der Geschichte aber wohl nicht mehr so viel abgewinnen, und die problematischen Darstellungen würden zum Lektüreabbruch führen.

Ich wünsche mir generell etwas mehr Mut zu Neuem. Zwar bin ich grundsätzlich neugierig, wie und ob ein Transfer der Stoffe für die jetzige Zeit und für heutige Lesende gelingen, aber gleichzeitig befürchte ich, dass nur ein Nostalgie-Gefühl bedient und damit eine zu alt gewordene Kuh nochmal gemolken werden soll.

[Peter] Bei mir hat der Nostalgie-Faktor ja keine so große Rolle gespielt. Ich bin mehr mit einem "historischen Interesse" an diesen Reread rangegangen. Schließlich waren die Drachenlanze-Bücher extrem erfolg- und einflussreich. Ohne sie hätten wir vielleicht nie die spätere Flut an RPG-Tie-in-Novels bekommen. Und ich mag ja eigentlich alte Sachen und lese sie gern. Aber nach dieser Lektüre fühle ich mich schon gedrängt, zu erklären: Es gibt sehr viel bessere alte Sachen! 

Ja, die Bücher lesen sich recht flüssig weg. (Auch wenn man hie und da finde ich spürt, dass Weis & Hickman an ihre schriftstellerischen Grenzen stoßen). Und vor allem die Raistlin-Caramon-Beziehung ist immer noch reizvoll und interessant. Aber alles in allem kam mir das Ganze dann halt doch arg altbacken vor. Und hat mich in meinem Verdacht bestärkt, dass der High-Fantasy-Boom der 80er Jahre in vielem vielleicht ein Rückschritt gewesen ist. Weshalb ich auch nicht plane, einen Blick in die neuen Bücher zu werfen. Dafür ist das Interesse an dem Franchise bei mir einfach zu gering. 

Spaß hat mir unser Gespräch natürlich trotzdem gemacht und ich bereue den Reread nicht.

[Alessandra]: Dem schließe ich mich an, es hat viel Spaß gemacht. Danke für das Gespräch, mit dem wir wohl einige Blogposts füllen können.

[Christina] Ja! Vielen Dank für die Einladung hier zu. Fand es sehr anregend und total nett ... mag gar nich aufhören.

[Peter] Wir haben zu danken. Es war eine besondere Freude, dich dabei zu haben!

Sonntag, 26. Februar 2023

Klassiker-Reread: "Die Legenden der Drachenlanze" von Tracy Hickman & Margaret Weis (5/7)

 
Nachdem vorgestern auf FragmentAnsichten der erste Teil des Gesprächs erschienen ist, das Christina, Alessandra und ich anlässlich unseres Rereads der "Legenden der Drachenlanze" geführt haben, nun also die (erste) Fortsetzung.
 
(2) Das Gute, das Böse und konservative Fantasy 

[Alessandra] Auf der "Metaebene", wenn man so will, ging es für mich in dem Buch auch viel um das Hinterfragen von Gut und Böse – was ein bisschen paradox ist, wenn man bedenkt, dass Krynn in dieser Hinsicht eine sehr flache, statische Trennung vornimmt. Immerhin haben wir hier einen expliziten „Gott des Guten“ (=Paladin) und eine „Göttin des Bösen“ (=Takhisis). Insofern ist es kein Wunder, dass dieses Hinterfragen oft etwas halbherzig anmutet. Trotzdem hat es einige sehr starke Stellen hervorgebracht. Ich denke, dass man Par-Salian keine Sympathien entgegenbringt, war von Weis/Hickman durchaus gewollt - spätestens in der Szene, in der er halb in eine Statue verwandelt wird, geht Caramon ja hart mit ihm ins Gericht. Die wohl intensivste Szene war für mich aber die, in der Raistlin nach der Schlacht von Pax Tharkas die toten Gossenzwerge findet, die die Festung verteidigt haben (in "Die Königin der Finsternis", dt. Band 4). Er stellt fest, dass davon nichts in den Geschichtsbüchern stand und fragt sich, ob das ein Zeichen ist, dass die Zeit bereits verändert wurde und er nicht mehr in einer Schleife gefangen ist. Direkt danach wird ihm aber klar, dass es bloß niemanden interessiert hat, was aus den Gossenzwergen wurde und es daher nicht in den Schriften stand. Diese Stelle sorgt erstens dafür, dass Raistlins Motivation – ähnlich wie bei deinem Beispiel mit dem Pestdorf, Peter – klarer wird. Zweitens wird er dadurch symapthischer, was nach allem, was er Crysania, seinem Bruder, Dalamar und so ziemlich jedem anderen auf seinem Weg während der Bücher antut, auch bitter nötig ist, allem Verständnis für seinen Seelen-Unfrieden zum Trotz. Und drittens zeigt es, dass selbst die "Neutralen", repräsentiert durch den Schreiber Astinus, sich offenbar nicht um die Schwachen kümmern. Es ist schade, dass solche Stellen im Unverhältnis stehen zu den sonst stereotypen Einteilungen.

[Christina] Ich finde, dass das gar nicht mal nur "Metaebene" ist, sondern sehr früh als zentrales Motiv herausgestellt wird. In "Die Brüder" (dt. Band 1, Kapitel 11) diskutieren Raistlin und Crysania exakt darüber: Was ist das Böse? Raistlin erklärt, dass sein geschwächter Körper der Preis für seine Macht war, welche Crysania aber als böse anprangert. Dann fragt er, ob Ehrgeiz automatisch böse sei und ein paar Seiten später zeigt er ihr das Armenviertel von Palanthas, dessen Elend von den sich "gut" nennenden Leuten ignoriert wird. Crysania will sich auch abwenden, doch Raistlin zwingt sie hinzusehen:

"Wir sind nicht so verschieden. [...] Ich lebe in einem Turm und widme mich meinen Studien. Du lebst in deinem Turm und widmest dich deinem Glauben. Und die Welt dreht sich" (Raistlin) "Das ist das wahre Böse", sagte Crysania zu den Flammen. "Dazusitzen und nichts zu tun."

Das war für mich der Aufhänger (auch nochmal zum Punkt der Motivation) der gesamten „Legenden“-Reihe. Und dieses Nichtstun ist ja genau das, was Astinus, Par-Salian und irgendwie auch die Götter (s. das Pestdorfkapitel) machen.

[Peter] Stimme all dem voll und ganz zu. Die Pax-Tharkas-Szene war sogar eine der ganz wenigen, die ich auch nach Jahrzehnten noch in Erinnerung hatte. (Zu schade bloß, dass die vorhergehende, in der wir zu sehen bekommen, wie die Gossenzwerge tatsächlich gestorben sind, so völlig missglückt ist. Da sollen sie lächerlich und tragisch zugleich wirken, was für mich so gar nicht funktioniert hat.) Und Par-Salian fand ich eigentlich eine ganz interessante (und ziemlich unsympathische) Figur. Wenn er z. B. eingesteht, dass die Zauberer-Konklave Raistlin in gewisser Weise als "lebendige Waffe" für den Krieg gegen Takhisis "geformt" hat. Oder er fest damit rechnet, dass Crysania sterben wird, wenn er sie in die Vergangenheit schickt.

Mein Problem bei dem Ganzen ist allerdings, dass mir diese Thematik nicht wirklich konsequent durchgeführt zu sein scheint. Es gibt all diese Szenen, in denen die Figuren (und das ganze Gut-gegen-Böse-Dings) sehr viel ambivalenter erscheinen. Aber am Ende gibt es dann doch wieder eine sehr klare Einteilung. Darum bin ich mir auch etwas unsicher, wie wir die Raistlin-Crysania-Szene aus dem ersten Buch eigentlich lesen sollen. Wenn die beiden bei ihrer gemeinsamen "Queste" tatsächlich auch von dem Wunsch angetrieben werden, die Ungerechtigkeiten der Welt zu beseitigen, wie haben wir es dann zu bewerten, dass diese Queste am Ende als eindeutig "böse" verdammt wird?

[Christina] Wird sie das denn? Ich finde, nur Raistlins Weg wird als Hybris entlarvt/geframet und gleichzeitig bekommt er ein bisschen Vergebung (Redemption-Arc?), wenn er am Ende Caramon und Crysania die Flucht ermöglicht. Wie gesagt, das "Tal des Leidens" für eine danach bessere Welt zu durchschreiten, "verdammt" die Quest in meinen Augen nicht per se. Ist aber die Frage, ob die Welt dann wirklich besser ist. Aber ja, sie war grundsätzlich fragwürdig und hätte die Welt in ihren Tod gestürzt, also will ich dir auch nicht völlig widersprechen.

[Alessandra] Ich bin da bei Christina – ich habe es nicht so verstanden, als würde der Weg von Raistlin und Crysania grundsätzlich als böse verdammt. Er war quasi ein Bug, von der Welt nicht vorgesehen – was mich, nebenbei bemerkt, auch hat fragen lassen, was überhaupt das Wesen der Götter ausmacht. Wäre Raistlin erfolgreich gewesen, hätte das ja bedeutet, dass Götter im Prinzip nur mächtige Magiekundige sind. 

In Bezug auf die ethische Bewertung vor allem von Raistlin fand ich es interessant, wie in den letzten beiden Bänden (auf Englisch dann im letzten Band) dessen Halbschwester Kitiara als Gegenspielerin inszeniert wurde. Obwohl sie keine Apokalypse herbeiführt, wird sie uns hier als "die Böse" präsentiert. Sie handelt ähnlich berechnend wie Raistlin und verrät wie er ihre Freunde, wenn es mehr Macht für sie bedeutet.

Trotzdem wird Raistlin gewissermaßen Vergebung zuteil, ihr nicht, sondern sie wird im Gegenteil zu einem Leben als Untote an der Seite eines verfluchten Ritters verdammt. Ich mag Kitiara als Figur nicht besonders und war immer froh, wenn ihre Kapitel vorbei waren. Aber wie sie als das kaltherzige Böse dargestellt wurde, dem nur in der Liebe zu Tanis ein wenig Sympathien zugestanden wurde, war schon nicht ganz fair. (Am Ende war ich auch geneigt, es als latent sexistisch zu lesen, dass alle weiblichen Figuren im Buch, die über Macht verfügen, an dieser mehr oder weniger zugrunde gehen.)

[Peter] Uff ja, Kitiara ... Die halt ich ganz grundsätzlich für eine ziemlich problematische Figur. Das fängt schon damit an, dass sie und Laurana in den "Chronicles" zumindest anfangs hauptsächlich dazu existieren, die innere Zerrissenheit von Tanis zu verkörpern. Die Elfin und die Menschenfrau. Die Gute und die Böse. Darum sind sie auch in fast allem als Gegensatzpaar konstruiert. Das fängt schon bei Äußerlichkeiten an: Langes blondes Wallehaar bei Laurana, kurze braune Locken bei Kit. Was das Ganze für mich aber besonders unangenehm macht, ist, dass sich dieser Gegensatz vor allem in der Sexualität zeigt. Laurana ist die reine und unschuldige Jungfrau. Kitiara ist promiskuitiv, hat Spaß am Sex mit vielen wechselnden Partnern. Und das wird eindeutig als "verwerflich" dargestellt. Darum finde ich das Schicksal, das ihr Weis & Hickman letztlich bereiten, auch so gruselig. Sie wird dazu verdammt, in alle Ewigkeit die "Geliebte" eines lebenden Leichnams zu sein! In gewisser Weise wird sie mit dem bestraft, worin sie "gesündigt" hat. Jedenfalls werde ich das Gefühl nicht los, dass diese Figur viel von einer extrem konservativen Reaktion auf die Veränderungen der Zeit enthält. "Sexuelle Revolution" und so. Und auch auf deren Widerspiegelung in Teilen der Fantasyliteratur der 70er.

[Alessandra] An dem Punkt grätsche ich kurz rein. Generell hatte ich beim Lesen oft den Eindruck, dass wir hier die Art von Fantasy haben, die quasi dafür verantwortlich ist, dass wir uns heute so aktiv gegen Klischees und -ismen stellen müssen, die sich im Genre (vor allem in Subgenres wie eben der High Fantasy) lange verfestigt hatten. Bücher wie "Der Träumer in der Zitadelle" oder "Wenn Voiha erwacht", die wir in vorherigen Rereads besprochen hatten, waren da deutlich progressiver sowohl im Weltenbau als auch der Figurenzeichnung, obwohl sie älter sind als Drachenlanze. Und so sehr ich die "Legenden" auch mag und ihnen zugutehalte, dass sie sich manchmal durchaus um Ambivalenzen bemüht haben – das konservative Bild wird hier ja immer wieder sichtbar. Auch wenn es um die Figur von Crysania geht. Sobald sie auch nur mal das entfernteste Anzeichen von sexueller Anziehung verspürt, wird sie direkt von Raistlin zurechtgewiesen. Und meistens folgt dann auch noch ein selbstreflexiver Monolog von ihr, in dem sie feststellt, dass Raistlin Recht hatte und sie vom Weg abgekommen ist, sich hat ablenken lassen oder was auch immer. 

[Christina] Noch mal zu Kitiara: Auch wenn das vielleicht Haarspalterei ist, Peter, aber ist es dann wirklich eine problematische Figur oder sind nicht eher die anderen Figuren im Umgang mit ihr (und letztlich der Plot) problematisch? Ich weiß natürlich, wie du das meinst und stimme euch beiden in den Beobachtungen zu, aber ich dachte zuerst, es käme gleich ganz viel Kritik an Handlungen der Figur Kitiara.

Interessanterweise hab ich wenige Erinnerungen an sie aus den „Chroniken“, außer dass ich sie als Jugendliche wirklich mochte und sie teilweise sowas wie eine Vorbildfunktion als selbstbestimmte Frau (mit viel Wut) für mich hatte. Auch jetzt in den „Legenden“ war sie zwar eindeutig als die Böse konzipiert, aber – wie ihr oben herausgearbeitet habt – ihrer Zeit voraus.

Der Sexismus und allgemein -ismen sind mir auch extrem stark aufgefallen. Crysania und Kitiara hatten hier sehr deutliche Heilige-und-Hure-Vibes und die anderen Frauen waren zu weinenden Hausfrauen degradiert worden. (Übrigens gab es nur bei den Frauen zerrissene Kleidung, und höchstens bei Caramon mal einen knappen Lendenschurz *räusper*). 

Aber auch die Darstellung von kognitiven Leistungen, Körpergewicht, Krankheiten etc. war extrem unsensibel, teilweise war das für mich wirklich nur noch schwer zu ertragen und nur mit Hinblick auf die Zeit aus der es stammt lesbar.

[Peter] Mein Eindruck ist, dass Kitiara auf viele Leserinnen genau so gewirkt hat. Als Beispiel einer selbstbestimmten Frau, als Identifikationsfigur, Vorbild oder Inspiration. Jedenfalls hab ich das schon ein paar Mal so gelesen. Aber im Kontext der Erzählung erscheinen doch gerade diese Züge explizit oder implizit als Teil dessen, was sie zu einer der Bösen macht, oder? Und macht es das nicht irgendwie noch unangenehmer? Als "ihrer Zeit voraus" würde ich die Figur jedenfalls auf gar keinen Fall bezeichnen. Es gab gerade in der Sword & Sorcery der 70er und frühen 80er bereits eine ganze Reihe von Frauenfiguren, die mindestens ebenso selbstbestimmt aufgetreten sind, ohne deshalb als böse oder unmoralisch abqualifiziert zu werden. Nicht selten waren die da sogar die Heldinnen. Meine persönliche Tinfoil-Hat-Theorie ist ja, dass Kitiara (ob bewusst oder unbewusst) eine konservative Reaktion auf genau diesen neuen Typ Fantasyheldin darstellt. Beweisen kann ich das natürlich nicht. Margaret Weis hat nach eigener Aussage praktisch keine zeitgenössische Fantasyliteratur gelesen. Aber bei Hickman wird das sicher anders ausgesehen haben. Who knows?

[Alessandra] Was die Darstellung von Krankheiten angeht: Ich hab Raistlin in der Vergangenheit manchmal als (einigermaßen) positives Beispiel für die Darstellung von "Helden"-Figuren mit Behinderung / chronischer Krankheit genannt. Aber nach der erneuten Lektüre muss ich auch sagen, dass das in meiner Erinnerung deutlich unproblematischer war. In "Die Stadt der Göttin" erhält er durch die Zeitreise ja einen "jüngeren, stärkeren, gesünderen" Körper und ich fand es z. B. ganz schön unangenehm, wie das an seine Fähigkeit gekoppelt wurde, Zuneigung zu Crysania zu empfinden. (Mal ganz davon abgesehen, dass ich irgendwann reichlich verwirrt war, wie viel von seinen Beeinträchtigungen jetzt eigentlich angeboren ist und was durch die Prüfung / Fistandantilus verursacht wurde. Und wenn man davon absieht, dass Raistlin viel hustet und einige issues durch das soziale Stigma hat, wird nie so ganz deutlich, was die Krankheit nun eigentlich für Barrieren für ihn mitbringt.)

Seine physische Darstellung spielt generell damit zusammen, wie in den Büchern die Figuren über ihre Optik charakterisiert werden (wie eben auch schon mit Kit und Laurana beschrieben). Richtig übel fand ich z. B., wie in "Der Hammer der Götter" (dt. Band 5) der fiese Hauptmann von Kitiara schon dadurch auf die Seite des Bösen gestellt wird, dass er einen krummen Rücken hat – und das ist dann auch noch gleich die Begründung dafür, weshalb Kit nichts mit ihm anfängt. Hinzu kommen Figuren wie die Gossenzwerge oder auch Tolpan, die quasi aufgrund von Volkszugehörigkeit einen minderen Intellekt eingeschrieben bekommen haben. Ich glaube, Weis/Hickman hatten hier durchaus einen hehren Anspruch an sich selbst, aber in der Ausführung tummeln sich u. a. Ableismen und Lookismus.

[Peter] Also was Raistlins "Gebrechen" angeht, ist es "kanonisch" glaub ich so, dass er von Geburt an schwächlich war. Wenn ich mich recht erinnere, wäre er sogar als Baby gestorben, wenn Kitiara nicht so verbissen um sein Leben gekämpft hätte. Die "Prüfung" hat das wohl nur noch einmal verstärkt. Aber um ehrlich zu sein, war ich bei der Lektüre jetzt ähnlich verwirrt, was seinen Körperzustand in den unterschiedlichen Zeitebenen betrifft. Mal ist er plötzlich der "starke junge Mann" mit dem "muskulösen Körper", dann hustet er doch wieder Blut. Wie's gerade für die Szene passt ...

[Christina] Ich habe Raistlin auch als besseres Beispiel für behinderte/chronisch kranke Figuren im Hinterkopf gehabt, was sich beim Reread leider nicht mehr bestätigt.

Die Darstellung von Alkoholismus und PTBS war auch sehr stereotyp abwertend geschrieben – als weinerlich übersensibel (allerdings spannend zu Rollenklischees, weil der trinkende Caramon ja anfangs als der Versager-Mann schlechthin dargestellt wird, er aber später seine Weichheit bzw. gefühlvolle Empathie schönerweise behält). Gerade was den psychischen Aspekt angeht, hätte das viel Tiefe ins Buch bringen können, war aber nur auf Ekel und "stell dich mal nicht so an"-Momente beschränkt. Dass das dann auch durch ein bisschen Sport bei den Gladiatoren behoben werden konnte, war hart realitätsfern

Auffällig war dann auch, dass die bösen Figuren alle verschiedene Disabilities hatten, die sie äußerlich als Böse für die Leserschaft kennzeichnen sollten [Dazu 2 Literaturempfehlungen, die sich mit Disabilities motivgeschichtlich auseinandersetzen –> "Literary Disability Studies – Theorie und Praxis in der Literaturwissenschaft" Hrsg. Matthias Luserke-Jaqui; "Entstellt – über Märchen, Behinderung und Teilhabe" von Amanda Leduc]

Zu der Verwirrung bei Raislin möchte ich noch hinzufügen, dass die Augen mich etwas verwirrt haben, weil die Stundenglasaugen, mit denen er Verfall sieht, hatte er ja erst nach der Prüfung. Aber in der Zeit gereist hatte er dann zwischendurch seinen Vor-Prüfungs-Körper, jedoch mit spiegelnden Augen? Ständig "zerbrachen" seine Augen in den Büchern oder hatten nur einen "kleinen Spalt", bevor die Betrachtenden wieder nur sich selbst sahen ... da hab ich entweder etwas überlesen oder die Erklärung/Trennung nicht verstanden.

[Peter] Da ich zufällig grad die allererste Drachenlanze-Kurzgeschichte "The Test of the Twins" gelesen habe, die noch vor den „Chroniken“ im "Dragon Magazine" erschienen ist, und in der es um die Prüfung geht, kann ich zumindest so viel dazu sagen: Auch dort ist bereits von "spiegelnden Augen" die Rede. Allerdings mehr als Metapher. Soll wohl verdeutlichen, wie verschlossen und kontrolliert Raist ist. Niemand darf seine Emotionen lesen können. In den "Legenden" scheint das dann allerdings manchmal wörtlich genommen zu werden. Schon komisch. Ich denke aber auch, dass die ausdruckslosen Augen auf Raistlins "innere Leere" verweisen sollen, die vor allem gegen Ende dann so oft betont wird.

 

Weiter geht's übermorgen dann erneut auf FragmentAnsichten mit den Themen "Die Figur Raistlin und Figurenkonstellationen".

Montag, 20. Februar 2023

Klassiker-Reread: "Die Legenden der Drachenlanze" von Tracy Hickman & Margaret Weis (2/7)

Mormonisches in Krynn
 
Nach unserer Beschäftigung mit der Entstehung der ursprünglichen  Dragonlance - Saga, nun also der zweite "Begleitartikel" zum diesjährigen Klassiker-Reread von Alessandra Reß und mir. (Bei dem wir diesmal Christina F. Srebalus als Guest Star dabei hatten). Nummer Drei wird übermorgen auf  FragmentAnsichten erscheinen. 
 
Ob dieser Eindruck einer strengen statistischen Überprüfung standhalten würde, sei dahingestellt, aber wenn man einen Blick auf die amerikanische SFF wirft, wird man das Gefühl nicht los, dass Autor*innen mormonischen Glaubens überdurchschnittlich stark in ihr vertreten sind. Die bekanntesten Namen dürften Orson Scott Card, Stephenie Meyer und Brandon Sanderson sein. Doch gibt es noch eine Menge anderer wie z.B. Shannon Hale, James Dashner, Anne Perry und Jessica Day George. Ob sie dem Glauben ihrer Kirche alle ähnlich stark verbunden sind wie Tracy Hickman, weiß ich natürlich nicht. (1) 
 
Erklärungsansätze für dieses Phänomen scheint es eine ganze Menge zu geben. Der Spötter und Zyniker in mir würde ja sagen, dass das Book of Mormon mit seiner bizarren "Urgeschichte Amerikas" als eines einst von Israeliten besiedelten "Gelobten Landes" selbst schon ein Stück Fantasyliteratur ist, die Affinität also bis zu Joseph Smith und den Anfängen der Kirche der Heiligen der Letzten Tage zurückreicht. Tatsächlich erklärte YA-Autorin Julie Berry einmal in einem Interview mit dem Boston Globe:
I think Mormons believe a lot of things that are pretty fantastic – we believe in miracles and angels and ancient prophets and rediscovered Scripture – so maybe it is almost natural for us to dive into these other stories. 
SF-Autor Scott Parkin hingegen zieht zur Erklärung ein relativ unverkrampftes und offenes Verhältnis zu Rationalismus und Wissenschaft heran, das den Mormonismus gegenüber anderen strenggläubigen Strömungen auszeichne:
At its base, Mormons believe there is pretty much a rational basis for everything, including our relationship to God. That things can be understood. So the idea that there are rational explanations and that it’s okay to explore those explanations is one of the reasons why the rigors of science fiction appeals to so many Mormons.
Darüberhinaus erwähnt er ein Gefühl des Außenseitertums, des "Andersseins", das von vielen Mormon*innen geteilt werde und möglicherweise dazu beitrage, warum sie sich zur Phantastik im allgemeinen, nicht nur zur Science Fiction, hingezogen fühlten:
Mormons have always had this sense of alienation, of being on the margins of society, they have a sense of what it means to be isolated, to not be understood by the broader culture, and this gives us a bit of an alien mindset. 
In ihrem Artikel “Is It Something in the Water?” Why Mormons Write Science Fiction and Fantasy erwähnen Katherine Morris & Kathleen Dalton Woodbury die kurze Erzählung The Angel of the Praries als "perhaps the first example of Mormon speculative fiction". Ihr Verfasser Parley P. Pratt war einer der ursprünglichen Zwölf Apostel der Kirche und die Story fand den Beifall des Propheten persönlich. Allerdings ließe sich fragen, ob diese utopische Vision einer theokratischen Regierung, die nach dem Untergang der Vereinigten Staaten über ein blühendes Amerika (und den Rest der Welt) herrscht, diese Bezeichnung tatsächlich verdient, unterscheidet sie sich doch kaum von all den offiziellen "göttlichen Offenbarungen" aus der Frühzeit der Bewegung. 
Ein geeigneterer Kandidat scheint mir da Nephi Andersons 1898 erschienener Roman Added Upon zu sein. Der schildert den Entwicklungsgang mehrerer Seelen von Luzifers Rebellion und dem Krieg im Himmel über die irdische Existenz bis hin zur gottgleichen Freiheit nach der Auferstehung. In seiner Thematik wirkt er wie die Bestätigung einer These, die Literatur- und Religionswissenschaftler Terryl Givens in seinem Buch People of Paradox aufgestellt hat und derzufolge sich die Affinität zur phantastischen Literatur aus dem Charakter der mormonischen Theologie erklären  lasse:
Science fiction (or the more-encompassing ‘speculative fiction’), though still struggling for respect as serious art, is the literary form best suited to the exposition and exploration of ideas at the margins of conventional thinking, whether in technology, ethics, politics, or religion. And indeed, some Mormon doctrine is so unsettling in its transgression of established ways of conceiving reality that it may be more at home in the imagined universes of Card than in journals of theology.

Ein Beispiel dafür sei die mormonische Lehre der "Apotheosis", derzufolge alle Menschen das Potential besitzen, sich nach einer langen, unterschiedliche Existenzformen durchlaufenden Evolution bis auf das Niveau des göttlichen Daseins hinaufzuentwickeln – also quasi selbst Götter zu werden! Eben das wird in dem langen Gedicht beschrieben, das den letzten Teil von Added Upon bildet. Wobei dieser kuriose Evolutionsprozess sogar mit pseudo-darwinistischen Elementen angereichert wird:

In this celestial world, the fittest have
Survived. To them alone the pow'r is given
To propagate their kind. 'Twas wisely planned.
The race of Gods must not deteriorate.
Thus everlasting increase is denied
To those who have not reached perfection's plane.
Herein is justice, wisdom all-divine,
That every child born into spirit world
Has perfect parentage, thus equal chance
Is given all to reach the highest goal,
And win the race which runs up through the worlds.

Das lässt aufhorchen, denn ähnelt das nicht in gewisser Weise Raistlins ehrgeizigem Verlangen in den Legends - Büchern? Und wie hat man sein Ziel, ein leibhaftiger Gott werden zu wollen, vor diesem Hintergrund zu beurteilen? – Eine spannende Frage, der ich hier aber nicht weiter nachgehen will. Stattdessen werde ich mich im folgenden hauptsächlich mit Motiven aus der ersten Dragonlance - Trilogie befassen, die meines Erachtens ziemlich deutliche mormonische Anklänge aufweisen.   

Das zentrale Thema zumindest des ersten Bandes der Chronicles ist die Rückkehr des Wissens um die Wahren Götter nach Jahrhunderten (nicht nur) spiritueller Finsternis, in die Krynn nach dem Cataclysm (2) versunken war. Dies geschieht in Form der "Disks of Mishakal", die die Gefährten in der ersten Hälfte von Dragons of Autumn Twilight aus der versunkenen Stadt Xak Tsaroth bergen. In die einhundertsechzig aus Platin geformten Scheiben ist die Wahre Lehre eingraviert und sie werden später zu so etwas wie der Bibel der neu aufgerichteten Kirche der Guten Götter.
 
Wenn man sich des mormonischen Hintergrunds von Tracy Hickman bewusst ist, wird man gar nicht anders können als hierin eine deutliche Parallele zu den "Goldplatten" zu sehen, von denen Joseph Smith behauptete, dass er sie 1827 unter Anleitung des Engels Moroni im Hügel "Cumorah" im Westen des Staates New York gefunden habe. Auf diesen Platten sollen die "alten Überlieferungen" aufgezeichnet gewesen sein, die den Inhalt des Book of Mormon bilden.
 
Doch damit endet die Sache noch nicht. Wirklich interessant wird es erst mit Goldmoon und Riverwind, die in erster Linie für das Auffinden der "Disks" verantwortlich sind. Dass letzterem auf seiner Queste "a woman dressed in blue light" (die Göttin Mishakal) erschienen ist, könnte man mit Smiths wiederholten Engelsvisionen vergleichen. Aber sehr viel wichtiger ist, dass sich in den beiden Figuren etwas vom mormonischen Blick auf die amerikanischen Ureinwohner widerzuspiegeln scheint. Sie sind "barbarians from the Plains" und gehören zum Stamm der Que-Shu. In dem von Mary Kirchoff herausgegebenen Band The Art of the Dragonlance Saga bekommt man zu lesen:
Goldmoon's character was really unclear until the novels gave her depth. All the artists knew about her at the beginning was that she had silvery golden hair, in contrast to the rest of the tribe, which was viewed as being similar to American indians. (3)
Um die (mögliche) Bedeutung dessen zu verstehen, ist es nötig einen etwas längeren Exkurs in die bizarre Geschichtsmythologie des Mormonismus zu unternehmen.
 
Das Book of Mormon erzählt von vier hebräischen Volksstämmen, die vor Urzeiten Amerika besiedelt hätten. Von diesen interessieren uns hier allerdings nur die Nephiten und die Lamaniten. Die beiden sollen gemeinsam um 600 v.u.Z. die Gestade des neuen "Gelobten Landes" erreicht haben. Bald schon kam es zu Zwistigkeiten zwischen den gottesfürchtigen Nephiten und den abtrünnigen Lamaniten, woraufhin Gott letztere mit einem Fluch belegte, dessen Folgen so beschrieben werden:
And he had caused the cursing to come upon them, yea, even a sore cursing, because of their iniquity. For behold, they had hardened their hearts against him, that they had become like unto a flint; wherefore, as they were white, and exceedingly fair and delightsome, that they might not be enticing unto my people the Lord God did cause a skin of blackness to come upon them. [...]
And because of their cursing which was upon them they did become an idle people, full of mischief and subtlety, and did seek in the wilderness for beasts of prey. (4)
Dieser Fluch wurde Jahrhunderte später noch einmal verstärkt, nachdem die Lamaniten die Nephiten in einem blutigen Krieg vollständig ausgerottet hatten:
for this people shall be scattered, and shall become a dark, a filthy, and a loathsome people, beyond the description of that which ever hath been amongst us, yea, even that which hath been among the Lamanites, and this because of their unbelief and idolatry. (5)
Dass die Lamaniten mit den amerikanischen Ureinwohnern gleichzusetzen sind, wird besonders deutlich, wenn der Prophet Nephi in einer Vision die künftige europäische Kolonisierung Amerikas schaut. Wobei die damit verbundenen Verbrechen und Gewalttaten göttlichen Segen erhalten.
And it came to pass that I beheld many multitudes of the Gentiles upon the land of promise; and I beheld the wrath of God, that it was upon the seed of my brethren [den Lamaniten]; and they were scattered before the Gentiles and were smitten.
And I beheld the Spirit of the Lord, that it was upon the Gentiles, and they did prosper and obtain the land for their inheritance; and I beheld that they were white, and exceedingly fair and beautiful, like unto my people [den Nephiten] before they were slain. (6)
Eine dunkle Hautfarbe als äußeres Zeichen der Verworfenheit eines Volkes zu betrachten, war eine geläufige rassistische Vorstellung der Zeit. Insbesondere im Zusammenhang mit dem sog. "Fluch von Ham", der als religiöse Rechtfertigung für die Sklaverei in den Südstaaten verwendet wurde – auch von mormonischen Autoritäten (7). Im Fall der Lamaniten kommen aber noch einige spezifischere Elemente hinzu. 
Es ist sicher kein Zufall, dass sie als "an idle people" bezeichnet werden, während es von den Nephiten ausdrücklich heißt: "I, Nephi, did cause my people to be industrious, and to labor with their hands." (2 Nephi 5, 17) Die indigenen Völker als "faul" oder "träge" zu bezeichnen, war unter den europäischen Kolonisatoren ziemlich weit verbreitet. Verantwortlich dafür war nicht einfach bloß irgendeine Idee von "weißer Überlegenheit", sondern das Aufeinanderprallen zweier grundverschiedener Gesellschaftssysteme und der auf ihrer Basis erwachsenen Lebensweisen und Wertvorstellungen. Der auf dem Privateigentum basierende Siedler-Kapitalismus auf der einen, die auf unterschiedlichen Formen des Stammeseigentums basierenden indigenen Gesellschaften andererseits. Das äußerte sich auch in der jeweiligen "Arbeitsmoral". Die vom Protestantismus mit religiösen Weihen versehene bürgerliche Grundtugend des "Fleißes", d.h. des "geregelten", disziplinierten "Arbeitstages", musste vor allem den Jäger- und Sammlervölkern fremd sein, einfach weil sie in ihrer Welt keinen Sinn machte. (8)
 
Dass der weiße Siedlerrassismus der Gesellschaft, in der Joseph Smith aufgewachsen war, Eingang in seine "Heilige Schrift" fand, ist vielleicht nicht so verwunderlich. Aber der mormonische Blick auf die Ureinwohner ist durchaus ambivalenter. 
Auf den Lamaniten ruht zwar ein Fluch, aber sie sind zugleich Nachkommen des Auserwählten Volkes. Ihre Wiederaufnahme in die Gnade Gottes wird als eines der zentralen Ereignisse der (nahe bevorstehenden) Endzeit erwartet. Was u.a. die starken Missionsbemühungen und die relativ "tolerante", wenn auch paternalistische Einstellung der frühen Kirche gegenüber den Ureinwohnern erklärt. (9) Als die Mormonen ab 1847 begannen, in Utah einzuwandern, zeigte sich dann allerdings sehr schnell, dass die materielle Dynamik der Kolonisierung stärker war als alle möglichen religiös-ideologischen Vorbehalte. Wie überall an der amerikanischen "Frontier" endete der Zusammenprall der beiden Gesellschaftsformen auch hier mit dem Untergang der indigenen, mit Landraub, Vertreibung, Mord, Hunger, Seuchen und Elend für die eingeborenen Stämme. (10) 
 
Joseph Smiths Nachfolger Brigham Young kodifizierte in seiner Lehre von den "cursed lineages" eine rassistische Hierarchie der "verworfenen Völker". Dabei standen die Lamaniten allerdings immer noch an der Spitze, vor den Juden und den Schwarzen (den Nachfahren Kains). (11) Und ihre künftige Bekehrung blieb auch weiterhin wichtiger Bestandteil der mormonischen Heilsgeschichte. Freilich ist auch diese Vorstellung alles andere als frei vom Rassismus des 19. Jahrhunderts. So wird im Zweiten Buch Nephi prophezeit:
And then shall they rejoice; for they shall know that it is a blessing unto them from the hand of God; and their scales of darkness shall begin to fall from their eyes; and many generations shall not pass away among them, save they shall be a white and a delightsome people. (12)
Wenn eine dunkle Hautfarbe äußeres Anzeichen eines göttlichen Fluches ist, macht es nur Sinn, dass dessen Aufhebung mit der Verwandlung in ein "weißes" Erscheinungsbild einhergeht. Und lange Zeit wurde das in der mormonischen Kirche sehr wörtlich genommen. Wie es 1855 ein Missionar, der unter den Shoshonen am Salmon River in Idaho tätig war, besungen hat:
For we are going to the land of Laman
To plant the Gospel standard there,
To bring them out from degredation
To a people, white and fair. (13)

Vor allem in Reaktion auf die Bürgerrechtsbewegung der 50er & 60er Jahre ist diese wörtliche Interpretation inzwischen zwar aus der Mode gekommen, aber sie stellt doch einen wichtigen Bestandteil mormonischer Tradition dar.

Vor diesem Hintergrund gewinnt Goldmoons " silvery golden hair" doch eine spezielle Bedeutung.
Dass die "Plains People" nach dem Vorbild der amerikanischen Ureinwohner gezeichnet sind, steht außer Frage. Und der Umstand, dass die Stämme ständig im Kampf miteinander liegen, verweist gleichfalls auf die Lamaniten: "And behold also, the Lamanites are at war one with another; and the whole face of this land is one continual round of murder and bloodshed; and no one knoweth the end of the war" (Mormon 8, 8). Doch gleichzeitig kommt von ihnen das Heil. Die Figur des stolzen, verschlossenen und wenig gesprächigen Riverwind lässt unschwer gewisse Züge des "edlen Wilden" erkennen. Ein Klischee, das auch in der Frühzeit des Mormonismus seine Rolle bei der Herausbildung des ambivalenten Lamaniten-Bildes gespielt hatte. Aber zugleich ist er ein Pariah unter seinem eigenen Volk. Denn wie Goldmoon erzählt:
Riverwind's familiy was cast out of our tribe years ago for refusing to worship our ancestors- His grandfather believed in ancient gods who existed before the Cataclysm, though he could find little evidence of them left on Krynn. (14) 
Man könnte seine Familie durchaus mit Lamaniten vergleichen, die dem allgemein in Vergessenheit geratenenen "wahren Glauben" ihrer Vorväter auch in der Zeit der Gottferne die Treue gehalten haben. Und er selbst wird sogar beinah zum Märtyrer, als der Stamm ihn steinigen will, und nur göttliche Intervention ihm das Leben rettet.
Dennoch ist es nicht er, sondern Goldmoon, die am Ende zur ersten "wahren Klerikerin" seit dem Cataclysm wird, nachdem sie sich selbst geopfert hat und von den Göttern ins Leben zurückgeschickt wurde. Durch sie kehrt der "wahre Glaube" in die Welt zurück. Ist es da so abwegig, ihr auffällig "weißes" Erscheinungsbild mit den mormonischen Vorstellungen von der Wiederaufnahme der Lamaniten in die Gnade Gottes zu verknüpfen?
 
Allerdings behält Goldmoon ihre religiöse Führungsrolle nicht lange bei. Sobald die Gefährten die versklavte Bevölkerung von Abanasinia aus der Festung Pax Tharkas befreit haben, tritt Graubart Elistan an die Spitze. Er wird der eigentliche Neubegründer der "Kirche" und bleibt bis in die Legends - Bücher hinein ihr Oberhaupt. Um noch einmal The Art of the Dragonlance Saga zu zitieren:
He was seen as Krynn's answer to Moses, leading the people from their bondage under the evil Verminaard to freedom and the discovery of the true gods. Therefore, it was not unusual that the design team pictured him looking like Charlton Heston! (13)  
Den eigentlichen Exodus, die "Wanderung durch die Wüste", bekommen wir in den Romanen nicht zu sehen. Dragons of Autumn Twilight endet mit der Flucht aus Pax Tharkas und Dragons of Winter Night setzt erst im Zwergenreich von Thorbardin wieder ein. Die dazwischen liegenden Ereignisse werden nur in der RPG-Kampagne (dem Modul Dragons of Hope) genauer abgehandelt. Aber das Motiv des "Auszugs aus der Gefangenschaft" findet sich schon in Larry Elmores frühester Concept Art, war also sicher zentral für den ursprünglichen Storyentwurf.
Meines Erachtens sollte man dabei aber nicht nur an den biblischen Exodus denken, sondern auch an dessen historisch-mythisches Reenactment durch die frühen Mormonen. Der 1846 einsetzende Auszug der Gemeinde aus Nauvoo (Illinois) nach Westen und die anschließende Kolonisierung von Utah nahm in der kollektiven Erinnerung der Gläubigen nämlich die Gestalt einer zweiten "Wüstenwanderung" an, wobei Brigham Young als "Prophet" der Kirche die Rolle des Moses spielte. 
 
Weniger bedeutungsschwer und sehr viel kurioser ist schließlich noch der Fall der "Glasses of Arcanist", einer magischen Brille, die der Kender Tasslehoff Burrfoot in Thorbardin mitgehen lässt und mit der man fremde Sprachen und Schriftzeichen lesen kann. Klingt wie ein typisches RPG-Fantasy-Gimmick, aber der gute Joseph Smith besaß ein ganz ähnliches Artfakt – nach alltestamentarischem Vorbild "Urim & Thummim" genannt –, mit dessen Hilfe er die in "reformiertem Ägyptisch" verfassten Inschriften auf den "Goldenen Platten" gelesen und in das Book of Mormon übersetzt haben soll. Smith war tief verwurzelt in den volksmagischen Traditionen seines Heimatmilieus, und die haben vor allem in der Frühzeit der mormonischen Bewegung deutliche Spuren hinterlassen. "Urim & Thummim" etwa waren die religiös aufgepeppten Nachfolger der "Seer Stones", mit deren Hilfe der künftige Prophet zuvor (ganz professionell!) nach verborgenen Schätzen wie einer verlorenen spanischen Goldmine gesucht hatte ...
 
Nach all dem stellt sich natürlich die Frage, ob Dragonlance nicht nur solche motivischen Anklänge enthält, sondern auch in seinem Gehalt entsprechende Ideen und Wertvorstellungen widerspiegelt.
 
Ich muss gestehen, dass ich die Chronicles in diesem Leben vermutlich nicht noch einmal ganz lesen werde. Weshalb ich auch keine wirklich fundierte Antwort auf diese Frage geben kann. Allerdings habe ich mir vor einiger Zeit mal wieder die (ziemlich dröge) Animationsverfilmung von Dragons of Autumn Twilight aus dem Jahr 2008 angeschaut. (16) Dabei ist mir (erneut) aufgefallen, was für eine zentrale Rolle vor allem gegen Ende das "Vertrauen in die göttlichen Mächte" spielt. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass das in den Büchern ähnlich aufdringlich gewesen wäre. 
Der einzige Punkt, bei dem ich das deutliche Gefühl habe, einen religiös-konservativen Vibe herauszuspüren, ist die Art, in der die Bücher mit Sex und Sexualität umgehen. Besonders deutlich wird das für mich in der Figur Kitiaras. Aber da wir dieses Thema auch in unserer gemeinsamen Gesprächsrunde anschneiden werden, will ich mich hier auf ein anderes, leicht bizarres Beispiel aus Dragons of Autumn Twilight beschränken. Es gibt da nämlich diese kurze Szene, in der Goldmoon plötzlich eine kleine "Kein Sex for der Ehe" - Predigt hält.
Tika und Caramon, die dabei sind ein Paar zu werden, haben sich von Leidenschaft überwältigt beinah gemeinsam in die Büsche geschlagen. Als Goldmoon das mitbekommt, hält sie es für ihre Pflicht, den Krieger beiseite zu nehmen und ein ernstes Wörtchen mit ihm zu reden. Sie klärt ihn darüber auf, dass das ehemalige Schankmädchen in Wahrheit noch sehr unerfahren und unsicher sei und er sie deshalb auf gar keinen Fall drängen dürfe:    
She's frightened, Caramon. She's heard a lot of stories. Don't rush her. She desperately wants approval from you. and she might do anything to win it. But don't let her use that as reason to do something she'll regret later. If you truly love her, time will prove it and enhance the moment's sweetness.
Für sich genommen vielleicht gar kein so schlechter Ratschlag. Aber das Gespräch erhält eine deutlich moralistische Wendung, wenn Goldmoon erklärt, dass auch sie und Riverwind, trotz ihrer bereits sehr viel längeren Beziehung, noch keinen Sex gehabt hätten, und das auch gut und richtig so sei.
We have waited long, and sometimes the pain is unbearable. But the law of my people are strict. [...] When our vows are spoken, we will lie together as man and wife. Not until then. (17) 
Ich kann mich nicht erinnern, dass diese kurze Unterhaltung für den weiteren Handlungsverlauf oder die Entwicklung der Figuren irgendwie von Relevanz gewesen wäre. Was den Eindruck verstärkt, dass wir es dabei in Wirklichkeit mit einer moralischen Message an die jugendliche Leserschaft der Bücher zu tun haben. 
 
Zum Abschluss wollen wir dann doch noch einen kurzen Blick in die Legends werfen. Denn wenigstens ein Motiv gibt es auch dort, das mir zumindest mormonisch angehaucht erscheint – der Kingpriest of Istar.
Eine ebenso mächtige wie korrumpierte Kirche, die quasi nach politischer Weltherrschaft strebt, in deren Reihen Frömmigkeit durch den Glauben an die "falschen Götter" "money, power, ambition" ersetzt wurde, und an deren Spitze jemand steht, der sich selbst für Paladines "true representative on Krynn" hält. (18) – woran könnte einen das erinnern? 
Wie bereits erwähnt beschreibt das Erste Buch Nephi in Form einer Vision die mormonische Interpretation der Geschichte Amerikas. Eine wichtige Rolle spielt dabei die "great and abominable church": "She had dominion over all the earth, among all nations, kindreds, tongues, and people." (1 Nephi 14, 11) Prunk und materieller Reichtum sind ihr äußeres Erkennungszeichen: "And I also saw gold, and silver, and silks, and scarlets, and fine-twined linen, and all manner of precious clothing; and I saw many harlots." (1 Nephi 13, 7) Vor ihrer unterdrückerischen Herrschaft fliehen die Frommen unter den "Heiden" an die Gestade des neuen Gelobten Landes. 
Dass Joseph Smith hier an die antikatholische Polemik der Reformationszeit und die Traditionen der "Pilgerväter" und anderer früher Kolonisatoren anknüpfte, ist unschwer zu erkennen. Dazu gehört auch der Rückgriff auf die Bilderwelt der Johannesapokalypse, wenn die "böse Kirche" mit der Hure Babylon identifiziert wird: "that great church, which is the mother of abominations; and she is the whore of all the earth." (1 Nephi 14, 10).
Ist es zu weit hergeholt, wenn man in der Gestalt des Kingpriest Anklänge an dieses reformatorisch-mormonische Bild von Papsttum und Katholischer Kirche erkennt?
Einen entscheidenden Unterschied gibt es freilich: Die "great and abominable church" ist die Kirche Satans, die sich hauptsächlich damit beschäftigt, die "Heiligen" zu verfolgen und zu ermorden. Auch das natürlich gute alte Tradition, war es in der Reformationszeit doch üblich gewesen, den Papst mit dem Antichrist zu identifizieren. Der Kingpriest hingegen ist trotz seiner Verblendung ein Vertreter des "Guten", kein heimlicher Anhänger der Queen of Darkness. Die Hybris und der Fall Istars sollen ja gerade vor Augen führen, was passiert, wenn das kosmische Pendel zu stark in die "gute" Richtung ausschlägt.
 
Womit wir erneut beim Gut-Böse-Dualismus der ursprünglichen Dragonlance - Saga angekommen wären. Was vielleicht gar kein so schlechter Übergang zu Alessandras "Kanonenfutter"-Beitrag ist, den ihr dann am Mittwoch werdet lesen können.


(1) Mit Wilum H. Pugmire habe ich mich hier vor Zeiten schon einmal mt einem phantastischen Schriftsteller beschäftigt, dessen Beziehung zum Mormonismus sehr konfliktreich war, auch wenn er am Ende seines Lebens in den Schoß der Kirche zurückkehrte.

(2) In der deutschen Übersetzung wird das quasi-apokalyptische Ereignis, bei dem ein riesiger Flammenberg auf die Metropole von Istar herabgestürzt ist, offenbar "Umwälzung" genannt, was für meinen Geschmack denn doch etwas zu harmlos klingt.

(3) Mary Kirchoff: The Art of the Dragonlance Saga. S. 42.

(4) 2 Nephi 5, 21 & 24

(5) Mormon 5, 15

(6) 1 Nephi 13, 14/15

(7) Joseph Smith verwendete dieses Argument erstmals 1836, als er in einem Artikel klar Stellung gegen den Abolitionismus bezog, für den er früher gewisse Sympathien gehegt hatte. Wohl eine politisch motivierte Kehrtwende. Dieselbe Rechtfertigung wurde später auch von Brigham Young verwendet, unter dessen Führung Utah zu einem Sklavenhalterstaat wurde.  

(8) Die grundlegende Bedeutung der unterschiedlichen Eigentumsformen wurde von US-Beamten der Zeit immer wieder ganz offen ausgesprochen. So erklärte z.B. Indian Commissioner T.J. Morgan, das „Gemeineigentum an einem allzu großen Teil des Landes“ sei eine der „schädlichsten und verderblichsten Ursachen, die es den Indianern unmöglich machen, die Wohltaten der Zivilisation zu begreifen“, da sich daraus für sie die „Möglichkeit [ergebe] das von ihnen so geliebte Vagabundenleben zu führen, und die Unmöglichkeit, sich mit dem Privateigentum vertraut zu machen.“ (Zit. nach: Eric Hobsbawm: Europäische Revolutionen. S. 295). Und Commissioner John H. Oberly verurteilte lautstark den "degrading communism" des Stammeseigentums. Nur dessen Zerschlagung und die Parzellierung des Landes werde den Ureinwohnern die Möglichkeit eröffnen, den "exalting egotism of American civilization" nachzuahmen, "so that he will say ‘I’ instead of ‘We,’ and 'This is mine,’ instead of 'This is ours.’“ (Zit. nach: Theodore W. Allen: The Invention of the White Race. Volume 1: Racial Oppression and Social Control. S. 38).

(9) Vgl: Kaleb C. Miner: "O Stop and Tell Me, Red Man": Indian Removal and the Lamanite Mission of 1830-31.

(10) Vgl.: Howard A. Christy: Open Hand and Mailed Fist: Mormon-Indian Relations in Utah 1847-1852. In: Utah Historical Quarterly. Vol. 46, Nr. 3. S. 216-35.

(11) Vgl.: Arnold H. Green: Gathering and Election: Israelite Descent and Universalism in Mormon Discourse. In: Journal of Mormon History. Vol. 25, No, 1 (1999). S. 204-07. Ab den 1880er Jahren wurde die Idee der "cursed lineages" von einigen mormonischen Denkern zusätzlich mit zeitgenössischen rassistischen Theorien wie dem sog. "Anglo-Israelism" verknüpft, der die Überlegenheit der "angelsächsischen Rasse" aus ihrer vermeintlichen Abstammung vom Volk Israel ableitete. Solche Ideen blieben bis weit ins 20. Jahrhundert in den Reihen der Kirche virulent.

(12) 2 Nephi 30, 6. Seit 1981 ist in allen offiziellen Ausgaben des Buches Mormon "white" durch "pure" ersetzt worden, im Einklang mit einer überarbeiteten Fassung, die Joseph Smith selbst 1840 herausgegeben hatte.

(13) Zit, nach: Stanley J. Thayne: The Blood of Father Lehi: Indigenous Americans and the Book of Mormon.  S. 204.

(14) Margaret Weis & Tracy Hickman: Dragons of Autumn Twilight. S. 76.

(15) Mary Kirchoff: The Art of the Dragonlance Saga. S. 102.

(16) Hatte ganz vergessen, dass Goldmoon von Lucy Lawless gesprochen wird. Macht den Film aber leider auch nicht besser ...

(17) Margaret Weis & Tracy Hickman: Dragons of Autumn Twilight. S. 356/57.

(18) Margaret Weis & Tracy Hickman: Time of the Twins. S. 368; 371.