Schon seit längerer Zeit spielte ich immer mal wieder mit dem Gedanken, ein paar Bekannte aus der phantastischen Gemeinde um Interviews anzugehen.
Als im Oktober Alessandra Reß' neuer Roman Die Türme von Eden erschien, dünkte mich dies ein ausgezeichneter Anlass, dieses Projekt endlich einmal ernsthaft anzupacken. Und Alessandra erklärte sich freundlicherweise auch sofort bereit, mein erstes Opfer zu werden.
Wann genau unsere (Online) - Bekanntschaft angefangen hat, weiß ich gar nicht mehr. 2016? Vor ziemlich genau einem Jahr haben wir uns dann erstmals für einen seit langem geplanten (und immer wieder verschobenen) Reread von Joy Chants Wenn Voiha erwacht und ein anschließendes Gespräch über den Roman zusammengetan (Teil 1 / Teil 2). Und wenn alles klappt, werden wir das in näherer Zukunft mit Patricia A. McKillips High Fantasy - Klassiker Erdzauber wiederholen.
Alessandras Debütroman Vor meiner Ewigkeit erschien 2013 bei Art Skript Phantastik. Es folgten u.a. Spielende Götter (2015), Liminale Personae (2017) und Sommerlande (2019). Daneben unternahm sie mit Melodie der Toten (2015) sowie Die Netze von Nomoto (2018) & Eine Ahnung von Freiheit (2018) Abstecher in die Serienwelten von Larry Brent und D9E. Sie schreibt nicht nur für ihren eigenen Blog FragmentAnsichten, sondern auch regelmäßig für TOR Online, wo sie sich in der Vergangenheit vor allem mit den zahllosen Genres und Subgenres der phantastischen Literatur auseinandergesetzt hat. Inzwischen stellt sie dort vor allem allerlei phantastische Kreaturen vor, von Einhörnern über Zombies bis zu diversen Meeres- und Wasserbewohnern.
Doch bevor wir mit dem Interview beginnen, noch ein kurzer Blick auf den Inhalt von Die Türme von Eden, denn zumindest die erste Hälfte unseres Gespräches drehte sich hauptsächlich um Alessandras neuen Roman:
Im Sternsystem Aditi breitet sich seit einiger Zeit eine
neue Religion aus. Der Orden der Liminalen predigt die Lehre, dass
Menschen, die im Vollzug einer selbstlosen Tat den Tod finden, auf
dem Planeten Eden als "Engel" wiedergeboren werden. Seine
Vertreter verabreichen den auserwählten Sterbenden ein mysteriöses
Serum und bringen sie anschließend fort. Angeblich zum verheißenen
Ort ihrer Transformation. Doch die Organisation der Suchenden, die
sich ganz dem Prinzip der Wahrheit verschrieben hat, hegt starke
Zweifel an den Behauptungen der Liminalen. Schon allein die Existenz
Edens, einer dem Rest des Systems verborgenen Welt, scheint kaum
vorstellbar. Von den "Engeln" ganz zu schweigen. Sie
schleusen einen der ihren, Dante, als Novizen in den Orden ein, um
die wahren Ziele und Beweggründe der "Engelsgläubigen" zu
ergründen. Aber was sich ihm dabei zu enthüllen beginnt, ist nicht ganz das, was er erwartet hatte. Und die Bande der Freundschaft, die sich zwischen ihm und einigen der anderen Novizinnen & Novizen bilden, machen seine Mission auch nicht unbedingt einfacher.

PS: Liebe Alessandra, zuerst einmal eine Frage zur Beziehung
zwischen Die Türme von Eden und der Kurzgeschichte Neophyt auf Eden, die man u.a. auf TOR Online lesen kann.
Gehe ich recht in der Annahme, dass der Roman bereits in irgendeiner
Form existierte, als du die Story geschrieben hast? War das also
quasi ein erster kleiner Ausflug in eine in eine im Hintergrund
bereits bestehende größere Welt? Ich frage das auch deshalb, weil
sich die beiden in einigen Details zu widersprechen scheinen. Als ich
angefangen habe, Die Türme zu lesen, dachte ich zuerst, dass mir die
Bekanntschaft mit der Kurzgeschichte einige der zentralen Rätsel des
Romans vorzeitig enthüllt hätte. Am Ende erwies sich dieser
Eindruck allerdings als nicht ganz korrekt. War das so beabsichtigt,
Neophyt also in gewisser Hinsicht eine Art Irreführung? Oder
spiegelt die Story einfach eine frühere Entwicklungsstufe der Welt
wider?
AR: Kriegst mich gleich mit der ersten
Frage dran ;) Nein, tatsächlich habe ich die Kurzgeschichte
geschrieben, bevor ich auch nur geplant hatte, in dem Setting einen
Roman anzusiedeln. Als ich dann am Roman gearbeitet habe, habe ich
die Kurzgeschichte auch erst einmal ausgeblendet und ihn unabhängig
davon entwickelt. Alles rund um die Liminalen ist neu hinzugekommen,
was Veränderungen in den Beziehungen der verschiedenen Bewohner
Edens zueinander bewirkt hat. Wenn man mag, kann man die
Kurzgeschichte als Lore lesen oder als Interpretation eines
Uneingeweihten, wie die Sache rund um Aria – die ja einige Jahre
vor dem Roman stattfand und quasi als moderner Mythos gilt –
abgelaufen sein könnte. Grundsätzlich sollten Kurzgeschichte und
Roman meiner Theorie nach aber auch so kompatibel sein.
PS: In deinen [Random 7] Rund um „DieTürme von Eden“ erzählst du, dass du vor dem Veröffentlichen
eigener Bücher "überzeugte Weltenbauerin" gewesen seist.
Und eine Deiner Einstiegsdrogen ins Genre war ja wohl
Drachenlanze, eine Buchreihe also, die in ihren Anfängen auf einer
Rollenspielkampagne basierte. War dein frühes Weltenbauerinnentum
demnach von RPG-Settings wie Krynn inspiriert?
AR: Jein. Ich war als Kind sehr
kartenverliebt, habe gerne in Atlanten geblättert und Länderkarten
abgezeichnet. Als ich meine ersten Fantasyromane gelesen habe, fand
ich dann auch die Karten darin toll und habe angefangen, eigene zu
zeichnen. Aus diesen Karten heraus haben sich dann die Welten
ergeben, ihre Gesellschaften, Länder, Geschichte usw. Insofern war
mein Weltenbau vor allem durch Karten inspiriert – und hier durch
Karten aus Romanen, denn Pen&Paper habe ich erst später
kennengelernt. Krynn war für mich in erster Linie entsprechend eine
Roman-, keine Rollenspielwelt.
PS: Wenn ich mich recht erinnere, sollte
die Welt von "Holus" aus Spielende Götter ursprünglich
das Setting für eine klassische High Fantasy - Erzählung werden,
oder? Ich finde es interessant, dass daraus am Ende ein virtuelles
Spieluniversum wurde. Das rollenspielbeeinflusste Worldbuilding
zeichnet sich für mich häufig durch eine übergroße Neigung zum
Systematisieren aus. Doch im Falle von "Holus" macht das
vollkommen Sinn, denn es handelt sich ja tatsächlich um das Setting
eines Spiels.
Die Welt von Vor meiner Ewigkeit
wiederum zeichnet sich durch eine faszinierende Ambiguität aus,
lässt sich nicht eindeutig in Raum und Zeit verorten.
Wie ist deine persönliche Haltung zum
Worldbuilding?
AR: Heute schaue ich mir immer noch gerne
Karten an, ob nun reale oder phantastische. Allein hier in meiner
Wohnküche hängen vier an der Wand, merke ich gerade … Aber für
meine eigenen Romane sind sie nicht mehr so wichtig. Für Holus habe
ich zwar welche gezeichnet – noch aus der Zeit, als ich das als
High-Fantasy-Roman geplant hatte – und auch zu Vor meiner Ewigkeit
liegen sicher noch Skizzen in irgendeiner Schublade. Aber mir geht es
inzwischen weniger darum, mir zu überlegen, wo nun eine Wüste, wo
ein Gebirge und diese oder jene Stadt liegen, mich interessiert mehr
die soziale Idee der jeweiligen Welt bzw. des Auszugs, den ich
betrachte. Nach welchen Prinzipien funktionieren die Gesellschaften,
welche Werte vertreten sie, welche Rituale haben sie, was bedeutet
das für die Geschichte? Klar spielen da auch (z. B.) geographische
Überlegungen mit rein, da diese Gesellschaften wiederum
mitbestimmen. Aber ich lege den Fokus nicht mehr darauf, ein
umfassendes Bild (im wörtlichen Sinne) der ganzen Welt zu haben.
Als Leserin muss ich eine Welt auch
nicht in allen Details dargelegt bekommen. Mir ist wichtig, dass die
schreibende Person ein Gefühl von Tiefe bzw. eines „Dahinters“
vermitteln kann, ohne dass die Welt – ob nun eine geographische /
soziale / … – zwangsläufig komplett ausformuliert werden müsste.
Natürlich hängt das auch immer ein Stück weit von Genre und
Setting ab, aber manche Welten verlieren sogar durch zu viele
Details. Ein prominentes Beispiel ist da sicher Harry Potter. Oder,
anderes Beispiel: Ich habe mir vor ein paar Tagen John Wick
angeschaut und mag es, wie da mit völliger Selbstverständlichkeit
durch die Bildsprache und ein paar Handlungselemente eine
Assassinengesellschaft eingeführt werden, auch wenn das Publikum
nicht genau erfährt, wie diese funktioniert. Manchmal machen gerade
solche Lücken den Reiz aus.
PS: Beim Weltenbau von Türme von
Eden liegt der Hauptakzent auf den unterschiedlichen
Gesellschaftsmodellen, die auf den verschiedenen Planeten
existieren.
Eines davon ist die "Technokratie"
von Cyberia. Ein nettes Detail für mich war, dass es sich dabei um
einen kolonisierten Mond handelt. Cyberia ist also nicht nur eine
Gesellschaft, die von technischem Fortschritt (und von Hedonismus?)
dominiert wird, sondern im wahrsten Sinne des Wortes "künstlich",
kreiert in einer eigentlich völlig lebensfeindlichen Umwelt. War das
Absicht?
AR: Ja, und es freut mich, dass es jemandem
auffällt :D Die Idee war, dass dahinter eine Machtdemonstration der
Gründer*innen von Cyberia steht.
PS: Oberflächlich betrachtet wirkt Cyberia
sehr tolerant und inklusiv. Eine der Hauptfiguren des Romans, Dante,
ist eine Art Kriegsflüchtling und hat dort eine neue Heimat und
Familie gefunden. Doch eine andere Figur entwirft ein sehr viel
negativeres Bild der dortigen Ordnung. Als vollwertiges
Gesellschaftsmitglied gelte nämlich nur, wer besondere Talente
besitzt. Alle übrigen würden an den Rand gedrängt (oder gar nicht
erst aufgenommen). Ist das auch als ein kritischer Kommentar auf
gewisse "Tech-Utopien" gedacht, die sich zwar sehr offen
und demokratisch geben, sich bei genauerer Betrachtung aber
eigentlich bloß als die idealisierte Version des Lebens einer
technisch versierten Elite entpuppen?
AR: Während ich am Roman gearbeitet habe,
ging gerade die Meldung herum, dass international verschiedene
Universitäten mehr oder weniger explizit gedrängt wurden, ihr
geisteswissenschaftliches Angebot zu reduzieren bzw. sogar
abzuschaffen. Das führte zu einigen Diskussionen und auch in
Deutschland längst nicht nur zu Kritik. Ich empfand das als ziemlich
gruselig. Wo geht eine Gesellschaft hin, die sich nur mehr Gedanken
um den ökonomisch-technischen Fortschritt macht, dabei aber
soziokulturelle Forschung ausklammert? Ich will das jetzt nicht
konservativ verstanden haben – ich verzweifle selbst oft genug am
digitalen Stand in Deutschland bzw. an dem, was hier unter
Digitalisierung verstanden wird (und an Elfenbeinturmmechanismen,
aber das ist ein anderes Thema). Aber auf der anderen Seite zeigt
sich gerade momentan sehr gut, dass es sinnvoll ist, soziale
Auswirkungen facettenreich mitzubedenken, wenn neue Technologien
eingesetzt werden. Und die Schwierigkeit ist eben immer,
technologischen Fortschritt und demokratische Werte in Einklang zu
bringen, ohne in Starre zu verfallen – Stichwort Datenschutz
beispielsweise.
Cyberia spiegelt dieses Dilemma ein
Stück weit. Die Gründer*innen haben sich ihrerzeit von der
Demokratie Legbas losgesagt, um ihre Technokratie erschaffen zu
können. Die ist, wie du sagst, auf den ersten Blick tolerant und
inklusiv. Aber es darf eben nur einwandern und im gut entwickelten
Kern leben, wer mit seinen Fähigkeiten auch etwas zum Fortschritt
beitragen kann – und wer bereit ist, sich den Regeln von Cyberia zu
unterwerfen.
PS: Im Zusammenhang mit Cyberia taucht auch
die Idee der Cybermystik auf. Wie stark war der Einfluss dieser oder
anderer Theorien, mit denen du dich im Verlauf deines Studiums bzw.
deiner Masterarbeit über Cyberanthropology beschäftigt hast, auf
den Roman?
AR: Rückblickend kann ich das gar nicht
mehr ganz so genau sagen. Aber er ist glaube ich nicht so stark, wie
ich es ursprünglich angedacht hatte – auch, weil ich den Roman
nicht zu verkopft werden lassen wollte. Letztlich haben sie eher
Einfluss auf die grundsätzliche Figurenmotivation und auf
(Weltenbau-)Details genommen, etwa die Entwicklung der einzelnen
Planeten bzw. deren Gesellschaften, Religionen und Philosophien.
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PS: Im Buch selbst werden die Glaubenssätze
der Cybermystiker so umschrieben: "Sie gehen davon aus, dass wir
alle nur Entitäten eines großen Computers sind und eines fernen
Tags wieder Teil dessen werden." Das erinnert mich einerseits an
klassische mystische Vorstellungen von der Auflösung des Individuums
im "Absoluten", "Göttlichen". Und so wird es ja
auch von einer der Figuren interpretiert: "Ich möchte die
Vielheit überwinden." Andererseits hat das natürlich etwas von
virtueller Realität. Ein Thema, mit dem du dich sehr viel stärker
in Spielende Götter beschäftigt hast. Was mich an eine Frage
erinnert, die ich dir schon länger mal stellen wollte: Dort gibt es
eine Figur (Ophelia), die irgendwann die Behauptung aufstellt, die
Primärwelt von Spielende Götter sei selbst bloß eine Simulation,
geschaffen, um die Funktionstüchtigkeit eines bestimmten
Gesellschaftsmodells zu testen. Wir erfahren in dem Roman nicht, ob
es sich tatsächlich so verhält. Doch die Szene hat mich sofort an
Fassbinders Welt am Draht erinnert. Gibt es da tatsächlich eine
Verbindung? Welche Darstellungen von virtueller Realität -- sei es
in Büchern oder Filmen -- haben dich am stärksten beeindruckt?
AR: Welt am Draht kenne ich leider nicht,
die Nähe dazu ist also vermutlich Zufall.
Geht es gezielt um
virtuelle Realität, war vermutlich Band 1 der Otherland-Tetralogie
für mich am prägendsten. Ich hatte einige Probleme mit dem Buch,
fand aber die Darstellung der Simulationen darin faszinierend.
Interessant auch die Simulation aus Karl Olsbergs Boy in a white
room, die etwas mehr an unserer heutigen Gaming- und
Streaming-Realität dran ist als die „großen“ Simulationen aus
Otherland, Ready Player One und Co.
Aber allgemein finde ich es immer sehr
spannend, wenn eine Realität mehrere Ebenen hat, ob sie nun virtuell
oder anders gelagert ist. Wenn ich früher mit meinen
Playmobil-Figuren gespielt habe, hatte ich immer Skrupel, ihnen allzu
dramatische Abenteuer zuzumuten, weil ich befürchtet hab, sie
könnten irgendwie echt oder ich könnte selbst eine Playmobil-Figur
sein … Das zieht sich also durch meine Handlungsentwicklung. (Wobei
ich bei meinen Buchfiguren weniger ethische Skrupel habe als bei den
Spielfiguren – aber vielleicht neige ich deshalb dazu, Metaebenen
einzubringen; das schafft Distanz zu den Figuren.)
PS: Eine der Sachen, die mir an Die Türme
von Eden besonders gefallen hat, ist, dass wir keineswegs auf alle
Fragen auch eindeutige Antworten bekommen. So wissen wir am Ende des
Romans zwar sehr viel mehr über die anfangs so mysteriösen Engel,
ihre Herkunft und ihre Natur, dennoch bleibt das Ganze in mancherlei
Hinsicht immer noch recht ambivalent.
Für mich stand das in Beziehung zu
einem längeren Gespräch zweier Figuren über die Relativität der
Wahrheit. Dass Wahrheit letztlich eine Frage der Perspektive sei, der
subjektiven wie der gesellschaftlichen. Liege ich damit falsch oder
war das für dich tatsächlich eines der zentralen Motive des Romans?
AR: Nein, das stimmt schon. Die Vorstellung
einer relativen Wahrheit hat derzeit ein großes Imageproblem. Aber
Realität ist in der Regel so komplex, dass sie Raum für viele
Interpretationen liefert, wodurch die Einteilung in Wahr und Falsch
in vielen Fällen eben alles andere als eindeutig ist (wenn auch
normalerweise eindeutiger als im Buch). Ein weiteres zentrales Motiv
ist aber das der Ethik und es ist mir wichtig, diese bei dem Thema
mitzubedenken. Kulturrelativismus beispielsweise ist in der Theorie
einleuchtend, aber ethisch auch problematisch. Ich mag die Strömung
des Kosmopolitismus, wie er beispielsweise von Kwame Anthony Appiah
vertreten wird, und der einerseits Relativismus nicht verneint, ihn
aber durch bestimmte übergeordnete Werte – Menschenrechte! – in
Schranken weist. Etwas relativ zu betrachten, bietet das
Potenzial, aufeinander zuzugehen, aber eben auch die Gefahr, sich bei
kritischen Themen aus der Verantwortung zu ziehen.
Herrje, das klingt nun doch, als hätten
diese ganzen Theorien viel Einfluss auf das Buch genommen, oder?
Vielleicht war es doch mehr, als ich dachte. Aber es war sicher nicht
meine Intention, damit jemanden zum/zur überzeugten Relativist*in,
Kosmopolit*in oder sonstwas zu machen. Ich nutze meine Bücher bloß
gerne, um Auseinandersetzungen, die ich mit mir selbst führe, in
Worte zu fassen. Und die Diskussion um Relativität bzw. Relativismus einerseits und
deren Gefahren andererseits ist eben eine dieser
Auseinandersetzungen.
PS: Eine der Hauptfiguren, Keri, leidet
unter Panikattacken. Ich kenne die ja aus eigener Erfahrung, und fand
vor allem die Schilderung des damit einhergehenden unangenehmen
Gefühls, sich sehr bewusst auf jeden einzelnen Atemzug konzentrieren
zu müssen, sehr gelungen. Darüber hinaus hat mich aber auch ganz
allgemein angesprochen, einmal eine Protagonistin zu haben, die mit
solchen Problem zu ringen hat. Folgen wir in Fantasy und Science
Fiction immer noch zu oft dem alten Ideal vom "kompetenten Mann"
/ der "kompetenten Frau" als Held/Heldin?
AR: Inzwischen werden Figuren ja schon
häufiger Abweichungen von der physisch wie psychisch
ultrakompetenten Held*innennorm zugestanden. Gerade psychische
Probleme sind z. B. in der YA-Fantasy nicht mehr so selten, oft aber
mit der Aufgabe an die betroffene Figur verbunden, diese zu
überwinden. Wenn der Weg dahin überzeugend dargestellt ist, halte
ich das auch nicht für grundsätzlich problematisch. Aber Eskapismus
hin oder her, ich finde es schräg bis enttäuschend, wenn diese
Überwindung nur eine Sache weniger Tage oder gar einer plötzlichen
OMG-es-war-nur-fehlender-Wille-Epiphanie ist. Insofern würde ich mir
noch mehr Titel wünschen, in denen die Betroffenen oder deren Umfeld
lernen, mit „Schwächen“, Einschränkungen oder „Eigenheiten“
zu leben, sie zu akzeptieren oder sie sich zunutze zu machen. Keri z.
B. hilft es später, dass sie den Kampf gegen sich selbst bereits
gewohnt ist. Zudem ist sie vermutlich die empathischste Figur in dem
Haufen …
PS: Du beschäftigst dich ja gerne mit der
schier unüberschaubar gewordenen Menge an "Genres", in die
die Phantastik inzwischen eingeteilt wird. Für Die Türme von Eden
hast du das Label "Space Fantasy" gewählt. Wohl auch um der
Kritik durch einige besonders engstirnige SF-Puristen vorzubeugen?
Mein Eindruck war bislang eigentlich
immer, dass die Grenzen zwischen den Genres inzwischen wieder etwas
durchlässiger geworden wären. Irre ich mich da? Ist die Fraktion
der Verfechter einer "harten" Science Fiction, für die
alles, was nicht "naturwissenschaftlich plausibel" ist,
keine "echte" SF darstellt, tatsächlich immer noch so
stark?
AR: Hängt glaube ich sehr von der
Szenebubble ab. Einige sind da offen, andere nehmen es genauer. Wenn
ich mir die üblichen Genrepreise anschaue, habe ich den Eindruck,
dass vor allem die Ästhetik entscheidend ist – und die Ecke, aus
der ein Titel kommt. Eine Dystopie eines bekannten Autors bei Heyne
wird es wohl noch eine Zeitlang leichter haben, als „echte“ SF zu
gelten als die einer Drachenmond-Autorin, selbst wenn beide ähnliche
Kriterien an die naturwissenschaftliche Plausibilität stellen.
Persönlich nehme ich es inzwischen
genauer, als es mir eigentlich lieb ist – Berufsrisiko, schätze
ich. Bei Die Türme von Eden wollte ich auch nicht in erster Linie
Kritik vorbeugen, sondern die Sache einfach als das bezeichnen, was
sie ist. Mit den D9E-Bänden Die Netze von Nomoto und Eine Ahnung von
Freiheit habe ich zwei Romane veröffentlicht, die zwar nicht mehr
Technikbabbel beinhalten als Eden, aber von der ganzen Stimmung,
Struktur und Thematik her dennoch klar Science Fiction sind (wenn
auch eben nicht Hard Science Fiction). Eden ist da durchlässiger,
aber auch z. B. von der Struktur her eher der Fantasy zugewandt.
(Dass der Begriff „Space Fantasy“ auch im Untertitel auftaucht,
war btw. eine Verlagsentscheidung. Ich hatte ihn lediglich im Exposé
als Genrebezeichnung verwendet.)

PS: Du hast verschiedentlich die Romantasy
gegen ihre vielen Verächter verteidigt. Nicht nur, weil sie eine
ebenso große Existenzberechtigung hat wie jedes andere Genre,
sondern auch, weil sie vor allem Autorinnen eine Möglichkeit
eröffnete, auf dem Markt Fuß zu fassen. In diesem Zusammenhang hast
du auch einmal erklärt, dass du bezweifelst, ob es dir gelungen
wäre, dein Debüt Vor meiner Ewigkeit zu veröffentlichen, "wenn
das Buch nicht noch ein Stück auf dem Vampirhype mitgeschwommen
wäre, den 'Twilight' ausgelöst hatte."
Doch in den Büchern,
die ich von dir gelesen habe, spielen romantische Beziehungen gar
keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle. In Vor meiner Ewigkeit
gibt es zwar scheinbar einen "romantischen" Subplot, doch
entpuppt sich der bei näherer Betrachtung als wenig romantisch.
Vielmehr gleicht "Held" Simon in Denken und Handeln einem
creepy Stalker.
Hast du die Erfahrung gemacht, dass von
dir als Autorin erwartet wird, dem einen größeren Platz in deinen
Geschichten einzuräumen? Gibt es einen gewissen Druck in dieser
Richtung?
AR: Auf jeden Fall. Bei Kleinverlagen kam
es selten zur Sprache, aber wenn meine Manuskripte Publikumsverlagen
vorlagen, wurde es oft zum Thema, vor allem bei Jugendbüchern. Ein
Stück weit kann ich es verstehen, weil halt die Leser*innen bei
manchen Arten von Romanen einen romantischen Subplot erwarten, erst
recht, wenn ein weiblicher Name auf dem Cover steht. Am stärksten
ist mir das bei Vor meiner Ewigkeit aufgefallen: Da haben mir dann
Leute gesagt, sie wollten das Buch nicht lesen, weil sie genug hätten
von „Vampir-Schmonzetten“. Umgekehrt gab es Leser*innen, die sich
über zu wenig Romantik beschwert haben. Ja nun, das Buch sollte nie
Romantasy sein, aber irgendwie wird oder wurde das bei der Verbindung
Vampirthematik + Autorin offenbar erwartet. Das war die unpraktische
Seite dessen, auf der Twilight-Vampir-Welle geritten zu sein.
PS: Mit deinem TOR-Beitrag zu "Hopepunk"
im Oktober 2011 warst du vermutlich eine der Ersten, die diesen
Begriff hierzulande aufgegriffen hat. Eine Zeit lang wurde darüber
recht kontrovers diskutiert. Einige taten Hopepunk spöttisch als
bloßes Marketinglabel ab, andere schrieben es sich begeistert aufs
Banner. Wie siehst du die Situation ein Jahr später? Hat sich
tatsächlich eine Strömung oder Bewegung herausgebildet, die man
sinnvollerweise mit diesem Namen verknüpfen kann? Oder war das Ganze
letztlich doch nicht viel mehr als ein Schlagwort, das inzwischen
schon wieder von neuen Schlagwörtern verdrängt wird?
AR: Eine Bewegung ist daraus auf jeden Fall
geworden. Zwischendurch dachte ich mal, die Diskussion sei abgeebbt,
aber sie hat sich eher ausgefächert. Inzwischen gibt es sozusagen
verschiedene Arten von Hopepunk – ein sicheres Zeichen dafür, dass
es sich tatsächlich etabliert hat ;) Außerdem heißt es ja,
Hopepunk habe mit der Doomer Lit eine Gegenbewegung erfahren und
damned, was spricht mehr dafür, dass etwas im Kanon angekommen ist,
als dass es eine Gegenbewegung erhalten hat?!
Ich finde es
sehr spannend, die Entwicklung zu verfolgen. Früher habe ich mich
intensiv mit Jugendszenen beschäftigt, und in Movements wie
Hopepunk, Solarpunk usw. erkenne ich viele Strukturen wieder. Ich
gebe den Kritiker*innen dahingehend recht, dass sie keine
Literaturgenres im klassischen Sinne darstellen. Eher sind sie Medien
produzierende Szenen mit eigener Ästhetik und eigenen Werten. Aber
zumindest für mich macht sie das nur umso interessanter.

PS: Du hast dich mit der Kurzgeschichte
Kastanienreise (in Geschichten aus den Herbstlanden) und dem Roman Sommerlande an dem Shared World -
Projekt der Herbstlande beteiligt. Ich fand solche Shared Worlds
immer recht spannend, vor allem wegen ihres kollaborativen
Charakters. Habe aber das Gefühl, dass sie irgendwie ziemlich aus
der Mode gekommen zu sein scheinen. Wenn man zum Vergleich etwa die
80er Jahre mit Sachen wie Thieves' World, Bordertown oder Liavek
heranzieht. Wie siehst du das? Und wie war deine Erfahrung mit einem
solchen Projekt? Ist das kollaborative Element da wirklich stärker
als etwa bei Serien, mit denen du ja auch schon zu tun hattest (Larry
Brent und D9E - Der Loganische Krieg)? Oder hab' ich da eine etwas
romantisierte Vorstellungen?
AR: Ich habe eigentlich den Eindruck, dass
sie ein kleines Revival erleben. In Science-Fiction-Szeneverlagen und
rund um Rollenspielsysteme gibt es ja noch eine ganze Reihe von
Shared-Universe-Serien, und gerade das MCU, aber auch die Rückkehr
der Novellen bzw. Kurzromane haben das Thema aus der Mottenkiste
geholt. Allerdings verstehen wir vielleicht etwas unterschiedliche
Sachen unter „Shared Universe“, denn ich würde jetzt gar keine
große Unterscheidung machen zwischen Herbstlande/Sommerlande und
Larry Brent. In beiden Fällen hatte ich gewisse Vorgaben, konnte
aber weitgehend eigenständige Geschichten erzählen.
Anders bei Der Loganische Krieg, wo das
kollaborative Element sicher am stärksten war: Hier haben wir –
insgesamt waren wir fünf Autor*innen – keine unabhängigen
Episoden erzählt, sondern jeweils auf den Vorgängerbänden
aufgebaut. Zwar konnte jede*r ein paar eigene Figuren einbringen und
wir haben zumindest in den ersten Bänden auch die Bereiche etwas
untereinander aufgeteilt, aber in Weltenbau und Handlungsfaden sollte
das alles logischerweise stimmig sein. Deshalb haben wir uns in der
Planungs- und Schreibphase quasi täglich via Trello ausgetauscht.
Bei Larry Brent und Herbstlande habe
ich vorab Journals mit den wichtigsten Infos durchgearbeitet. Zu
Sommerlande und Kastanienreise habe ich mich auch vorab viel mit
Fabienne Siegmund besprochen, einer der vier Erfinder*innen des
Universums. Das aber eher, weil wir zu dem Zeitpunkt in
Nachbarstädten gewohnt haben und ohnehin oft gemeinsame
Schreibtreffen hatten; an für sich wäre so viel Absprache nicht mal
unbedingt nötig gewesen. Während des Schreibprozesses habe ich dann
nur noch hier und da wegen Details nachgefragt, ebenso bei Larry
Brent. Zu anderen Autor*innen hatte ich hier aber z. B. fast gar
keinen Kontakt.
Grundsätzlich schreibe ich sehr gerne
an solchen Projekten mit. Klar ist es toll, ganz eigene Ideen zu
entwickeln, aber es hat auch seinen Reiz, mit Vorgaben zu arbeiten
und eigene Elemente in ein bestehendes Universum einzuweben bzw. zu
sehen, wie sich Ideen im Austausch mit anderen Autor*innen
entwickeln.
PS: Mit Holly mit Katze (auf Smart Storys)
und Der Betrieb war noch nicht bereit dafür (in Wenn die Welt klein
wird und bedrohlich) sind im Oktober zwei nicht-phantastische
Kurzgeschichten von dir erschienen. Würdest du dich gerne häufiger
außerhalb der Phantastik tummeln?
AR: Eigentlich schon, aber für längere
Texte fehlt mir da das Durchhaltevermögen. Ich glaube, eine Rolle
spielt dabei, dass ich mir bei einem Phantastik-Roman inzwischen
relativ sicher sein kann, einen Verlag und Leser*innen zu finden. Bei
Nicht-Phantastik müsste ich aber quasi ganz von vorne anfangen und
da meine Zeitressourcen nicht so viele Projekte auf einmal zulassen,
wähle ich am Ende dann doch wieder die sichere Nummer mit
Phantastikelementen. Zuletzt hatte ich 2019 einen realistischen
Jugendroman angeboten, eine Art Almost Famous mit Roadtrip durch den
Osten Frankreichs. Das fand aber leider nicht so viel Anklang und es
war dann erst mal wieder mein letzter Versuch in dieser Richtung
(Kurzgeschichten ausgenommen).
PS: Nehmen wir einmal an, du bräuchtest
keinerlei Rücksichten auf Verkäuflichkeit zu nehmen: Gibt es eine
Art Traumprojekt, das du gerne einmal schreiben würdest?
AR: Ich hätte
richtig Lust auf eine Urban-Fantasy-Soap-Opera mit Einzelbänden in
Heftromanlänge, wiederkehrendem Figuren und Motiven, aber jeweils
abgeschlossenen Episoden. Meine Ideen dazu sind noch etwas konkreter,
aber ich will nicht, dass mir jemand meinen Trash-Traum klaut, weil
er Elfenverschwörungen auf Instagram genauso unterhaltsam findet wie
ich. Wenn ich irgendwann den Sprung ins Selfpublishing wage, dann
sicher damit.
PS: Also, ich würd's lesen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Autorinnenfoto: Copyright by Alessandra Reß