"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Freitag, 28. Februar 2014

Strandgut der Woche

Join Team Squid !

Die Welt des klassischen Cthulhu-Mythos ist im Großen und Ganzen eine ausgesprochene Männerwelt. Das lässt sich schwerlich leugnen. In Lovecrafts eigenem Oeuvre gibt es eigentlich nur zwei Frauen, die eine etwas größere Rolle spielen: Marceline in der monströs rassistischen Story Medusa's Coil und Asenath Waite in The Thing on the Doorstep. Und letztere ist nicht einmal eine "richtige" Frau, beherbergt ihr Körper doch den Geist ihres Vaters Ephraim. Mit etwas gutem Willen ließe sich dieses Duo mit Lavinia Whateley aus The Dunwich Horror vielleicht noch zu einem Trio erweitern, doch danach schauts wirklich duster aus. 
Ob Lovecrafts Erzählungen ein misogynistisches Element enthalten oder nicht, soll jetzt nicht das Thema sein. Vielleicht werde ich bei Gelegenheit einmal etwas über diese Frage schreiben. Tatsache ist jedenfalls, dass es nicht wenige weibliche Cthulhu-Fans gibt. Und unter ihnen finden sich nicht nur massenhaft begeisterte Leserinnen, sondern auch Schriftstellerinnen. Die bekanntesten modernen Mythosautoren mögen zwar Männer wie Ramsey Campbell oder Thomas Ligotti sein, aber das bedeutet noch lange nicht, dass es keine Frauen geben würde, die sich auf kreative Weise mit dem Erbe des alten Gentlemans auseinandersetzen.
Eine von ihnen ist Silvia Moreno-Garcia, Freunden & Freundinnen cthulhuider Literatur vielleicht am ehesten als Herausgeberin der Anthologien Historical Lovecraft & Future Lovecraft sowie Mitbegründerin des Verlags Innsmouth Free Press bekannt. 
Als vor einigen Wochen während einer Facebook-Diskussion die Frage aufgeworfen wurde, ob der Cthulhu-Mythos "a Guy Thing" sei, und viele der darauf gegebenen Antworten offenbar sehr depremierend ausfielen, entschied sich Moreno-Garcia dazu, eine Anthologie mit cthulhuiden Geschichten auf die Beine zu stellen, die ausschließlich die Werke von Autorinnen enthalten soll. Der Titel des geplanten Buches – She Walks in Shadows:

 

Finanziert werden soll das Projekt über Indiegogo. Und ich kann bloß hoffen, dass das gelingt. Ich zumindest möchte dieses Buch unbedingt nächstes Jahr in Händen halten können.

Donnerstag, 27. Februar 2014

Viermal Monty (II)


#3 The Treasure of Abbot Thomas (1974)
(Literarische Vorlage - Vgl.: Episode 8 von A Podcast to the Curious)

Wenn die Unterschiede zwischen literarischer Vorlage und filmischer Adaption bei Lost Hearts den Kern der Geschichte kaum berührten, kann selbiges nicht über die ein Jahr später ausgestrahlte Version von The Treasure of Abbot Thomas gesagt werden, für die John Bowen das Drehbuch geschrieben hatte. {Eine  Aufgabe, die er auch bei The Ice House [1978], der allerletzten klassischen Ghost Story for Christmas, übernehmen sollte.} Nicht nur sind die Abweichungen hier sehr viel umfangreicher, sie sind substanzieller Natur. Im Grunde erzählen Bowen und Regisseur Lawrence Gordon Clark eine völlig neue Geschichte, für die die Story von M.R. James lediglich das Gerüst geliefert hatte. Diese Feststellung darf jedoch nicht als Urteil missverstanden werden. Adaptionen literarischer Werke dürfen sich meiner Ansicht nach beliebig weit von ihren Vorlagen entfernen, solange sie selbst eine interessante Geschichte auf gelungene Weise erzählen. Und das trifft auf The Treasure of Abbot Thomas ohne Frage zu.
Von Montys Story übriggeblieben ist nicht viel mehr, als dass es auch in dem Film um die Suche nach einem Schatz geht, den Abt Thomas im 16. Jahrhundert auf dem Grund seines Klosters versteckt hat, nicht ohne verschlüsselte Hinweise auf den Aufbewahrungsort in einer Gruppe von Glasmalereien zu hinterlassen.
Doch bereits der Inhalt dieser kodierten Botschaft ist im Film ein anderer als bei James. Stellen besagte Malereien bei ihm Hiob, den Evangelisten Johannes und den Propheten Sacharja dar, so besteht die Gruppe hier aus Bartholomäus, Judas, Simon und Matthäus, und auch die ihnen zugeordneten Schriftzüge sind zum Teil andere. Grund für diese Veränderungen war wohl, dass der Aufbewahrungsort des Schatzes im Film kein Brunnen sein konnte, da man über keinen entsprechenden Drehort verfügte. Doch so nebensächlich diese Abweichung auch erscheinen mag, sie ist die einzige, die mich wirklich gewurmt hat. Bei James sind den Figuren abgewandelte Zitate aus den entsprechenden biblischen Büchern zugeordnet. Ein Detail, das angesichts des veränderten Ensembles natürlich nicht beibehalten werden konnte. Doch solche antiquarischen, oft mediävistischen Elemente, die sich in vielen der Stories von M.R. James finden, tragen für mich sehr stark zu deren Reiz bei. Sie verleihen den Erzählungen so etwas wie historische Tiefe und Authentizität. Ein Eindruck, der durch die willkürliche Zuordnung von Sprüchen und Figuren zerstört wird. Ein zugegeben kleinerer, aber ich denke nicht ganz unwichtiger Kritikpunkt.
Nachdem das aus dem Weg wäre: Um was genau geht es in The Treasure of Abbot Thomas? – Versuchen wir es möglichst knapp zusammenzufassen: Unser Protagonist ist Reverend Justin Somerton (Michael Bryant). Trotz seines geistlichen Standes ist der Oxford-Don ein überzeugter Rationalist. So bereitet es ihm offenbar großes Vergnügen, ein Spiritisten-Ehepaar, das sich bei der Mutter seines aristokratischen Schülers Peter (Paul Lavers) eingenistet hat und deren Trauer um ihren verstorbenen Gatten ausbeutet, als Scharlatane zu entlarven. Als er in einem alten Codex einen Hinweis auf den Schatz des Abtes Thomas und bald darauf in einer benachbarten Kapelle auch die dazugehörigen Glasmalereien entdeckt, macht er sich zusammen mit Peter daran, das jahrhundertealte Rätsel zu lösen. Welche Motive ihn dabei antreiben, scheint ihm selbst nicht ganz klar zu sein. Peter, der im Laufe der Unternehmung eine zunehmend ironische, mitunter beinah spöttische Haltung gegenüber seinem Mentor einnimmt, spielt mehr als einmal auf den ungeheuren Reichtum an, den der Schatz darstellen muss. Somerton weist die Vorstellung, er könnte ein profaner "Schatzjäger" sein, zwar empört von sich, doch je näher die beiden der Lösung kommen, desto stärker wird offensichtlich auch seine Gier. Schließlich schleicht er sich nachts und allein in den unterirdischen Tunnel, in dem Thomas seine Reichtümer versteckt hat. Er hätte die Warnung des Abtes vor einem Wächter, den dieser über das Gold eingesetzt habe, wohl besser ernst nehmen sollen ...
Das Motiv des Skeptikers, der mit dem Übernatürlichen konfrontiert wird, ist nicht eben neu, und man mag sich fragen, warum Bowen und Clark es in ihre Adaption von The Treasure of Abbot Thomas  eingebaut haben. Fügt es der Geschichte irgendetwas Essenzielles hinzu? Ich denke ja. {Auch wenn man sich fragen kann, ob die Séance-Szenen nicht etwas zu viel Platz in dem gerade einmal 36 Minuten langen Film einnehmen.} Zum einen wird dadurch noch verständlicher, warum Somerton durch seine Begegnung mit dem "Wächter" offensichtlich an den Rand des Wahnsinns getrieben wird, zertrümmert sie doch sein ganzes bisheriges Weltbild. Zum anderen wird uns auf diese Weise demonstriert, dass eine skeptisch-"aufklärerische" Einstellung nicht automatisch auch eine höhere Moral bedeutet. Wenn Somerton die "Medien" entlarvt, wirkt dies – trotz der selbstverliebten Arroganz des Skeptikers – erst einmal sympathisch, schließlich haben die beiden auf skrupellose Weise den Schmerz einer Witwe ausgenutzt. Doch im weiteren Verlauf des Filmes zeigt sich sehr schnell, dass der rationalistische Reverend in seinem eigenen Verhalten alles andere als frei von niederen Beweggründen ist.
Michael Bryant muss ein großartiger Schauspieler gewesen sein. Auf der Bühne gab er u.a. den Teddy in der Premiere von Harold Pinters The Homecoming (1965). Seine berühmteste Filmrolle dürfte Matthieu in der BBC-Adaption von Sartres Les chemins de la liberté (The Roads to Freedom [1970]) gewesen sein. Fans des Phantastischen mögen ihn am ehesten aus Nigel Kneales The Stone Tape (1972) kennen. In The Treasure of Abbot Thomas brilliert er in der Rolle eines Mannes, der sich selbst für einen überlegenen Intellektellen hält, in Wahrheit jedoch von dem banalen Verlangen nach Reichtum zu immer manischerem und unüberlegterem Verhalten getrieben wird, nur um am Ende einen völligen psychischen Zusammenbruch zu erleiden.
Aber auch wenn The Treasure of Abbot Thomas in meinen Augen vor allem ein Film über intellektuellen Hochmut und profane Gier ist, handelt es sich in erster Linie natürlich nicht um eine Charakterstudie, sondern um eine Geistergeschichte – und zwar um eine ziemlich effektvolle.
Eine gelungene Geistergeschichte zeichnet sich nach M.R. James u.a. durch folgende Charakteristika aus:
[T]wo ingredients most valuable in the concocting of a ghost story are, to me, the atmosphere and the nicely managed crescendo. I assume, of course, that the writer will have got his central idea before he undertakes the story at all. Let us, then, be introduced to the actors in a placid way; let us see them going about their ordinary business, undisturbed by forebodings, pleased with their surroundings; and into this calm environment let the ominous thing put out its head, unobtrusively at first, and then more insistently, until it holds the stage.
Der Film hält sich ziemlich genau an diese beiden Regeln. Beim Heraufbeschwören der richtigen Atmosphäre beweisen Clark und Kameramann MacGlashan einmal mehr ihr Talent, Landschaft und Architektur in Szene zu setzen. Das gilt vor allem für die gotische Kathedrale von Wells mit ihren filigranen Wucherungen und grotesken Skulpturen. Mit ebenso großem Geschick ist das schrittweise Eindringen einer übernatürlichen Gefahr in die zu Beginn so geordnet und friedlich wirkende Welt der Gelehrten und Aristokraten ausgeführt. Die düster-mysteriösen Mönche in der Bibliothek, ein sich bewegender Schatten hinter einem Kirchenfenster, Somertons Anfall von Höhenangst auf dem Dach der Kathedrale, eine den Reverend attackierende Krähe – keines dieser Ereignisse kann mit letzter Gewissheit als "übernatürlich" beschrieben werden, doch zusammen erwecken sie den Eindruck einer sich allmählich steigernden Bedrohung. Und dann kommt der dramatische Höhepunkt – der Auftritt des "Wächters".
Clark scheint aus seinem Fehler in The Stalls of Barchester Cathedral gelernt zu haben. Keine Gummiklaue zerstört diesmal die Atmosphäre. Vielmehr vermittelt uns die äußerst kurze Szene nicht mehr als den vagen Eindruck von etwas Schwarzem, Schleimigen, das dem gierigen Reverend aus einem Loch in der Wand entgegenquillt und ihm über das Gesicht fährt. Doch genau das macht den "Wächter" so ungeheuer effektvoll. Abgesehen von den hübsch verstörenden Spinnenmonstern aus The Ash Tree halte ich ihn für das eindrucksvollste Ungeheuer der klassischen Ghost Stories for Christmas.
Und dann wäre da natürlich noch die grandiose Schlussszene des Filmes. "Very spooky", wie der gute Mark Gatiss einmal gesagt hat. Mehr will ich darüber jedoch nicht verraten. Schaut ihn euch selbst an! The Treasure of Abbot Thomas ist ein echtes Juwel des phantastischen Fernsehens!
 
PS: Einmal mehr trägt die großartige Musik, diesmal von Geoffrey Burgon komponiert, sehr viel zur Atmosphäre des Filmes bei.

PPS: Die Verfilmung verzichtet auf alle Bezüge zu der ehemaligen Prämonstratenserabtei Steinfeld in der Eifel und deren berühmten Glasmalereien, die sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in England befinden und M.R. James zu seiner Geschichte inspirierten. Dennoch möchte ich an dieser Stelle auf eine Reihe sehr lesenswerter Artikel hinweisen, die die Schriftstellerin und Monty-Verehrerin Helen Grant über dieses Thema geschrieben hat: (1) The Treasure of Steinfeld Abbey (in: Ghosts & Scholars Nr. 5); (2) A haunting masterpiece: the Steinfeld glass; (3) Lingering memories of the treasure.


#4 Number 13 (2006)
(Literarische Vorlage - Vgl.: Episode 5 von A Podcast to the Curious)

The Treasure of Abbot Thomas zeigt, dass es nichts schlechtes sein muss, wenn sich eine filmische Adaption sehr weit von ihrer literarischen Vorlage entfernt, vorausgesetzt sie selbst erzählt auf kompetente Weise eine interessante Geschichte. Number 13 – der zweite und letzte Teil eines kurzlebigen Versuchs der BBC, das Format der Ghost Stories for Christmas wiederzubeleben – ist ein anschauliches Beispiel dafür, was passiert, wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt wird. Genau genommen entfernt sich der Film gar nicht so weit von Montys Geschichte und ist für sich genommen auch nicht grottenschlecht. Er ist bloß reichlich konventionell und uninspiriert. Doch das reicht bereits aus. Denn da er selbst nicht recht zu fesseln vermag, zwingt er einen förmlich dazu, ihn mit seiner Vorlage zu vergleichen. Und der Eindruck, der dabei entsteht, macht in gewisser Weise aus einem mittelmäßigen einen schlechten Film.
James' Geschichte spielt im dänischen Viborg und nutzt als historischen Hintergrund für die unheimlichen Ereignisse die Ära des letzten katholischen Bischofs Jørgen Friis und seines Konfliktes mit den Lutheranern. Der Film verlegt die Handlung nach England und ersetzt die Reformationszeit durch die Cromwell-Ära. Auch wenn die Gründe für diese Veränderung nachvollziehbar sind – man denke bloß an die sprachlichen Probleme – geht für mich allein dadurch bereits viel vom Flair der ursprünglichen Story verloren. Aber das ist nicht das größte Problem. Was ich einfach nicht verstehen kann, ist, warum Drehbuchautor Justin Hopper und Regisseur Pier Wilkie genau das aus ihrer Adaption gestrichen haben, was meiner Meinung nach den besonderen Reiz der Geschichte ausmacht:
Montys Protagonist Mr. Anderson ist in erster Linie Beobachter. Das Auftauchen und Verschwinden des eigentlich nicht existenten Zimmers Nr. 13 im Hotel Zum Goldenen Löwen wird weder von ihm ausgelöst, noch hat es unmittelbar etwas mit ihm zu tun. Im Grunde ist er einfach bloß der erste, dem es auffällt. In der großartigsten Szene der ganzen Geschichte schaut er nachts aus dem Fenster seines Zimmers und sieht an der gegenüberliegenden Hauswand seinen eigenen Schatten und den Schatten des "Bewohners" von Nr. 13. Aus gutem Grund erwähnen Will Ross und Mike Taylor von A Podcast to the Curious an dieser Stelle Alfred Hitchcocks Rear Window (1954). In der Tat hat die Szene etwas leicht voyeuristisches. Vor allem aber kreiert das "Schattenspiel" eine ganz eigene, wirklich gespenstische Atmosphäre. So etwa, wenn die geheimnisvolle Person in Nr. 13 plötzlich zu tanzen beginnt:
The shadow from the next room evidently showed that he was. Again and again his thin form crossed the window, his arms waved, and a gaunt leg was kicked up with surprising agility. He seemed to be barefooted, and the floor must be well laid, for no sound betrayed his movements.
Es dauert nicht lange, und dem gesellt sich ein unmenschlicher Gesang hinzu:
It was a high, thin voice that they heard, and it seemed dry, as if from long disuse. Of words or tune there was no question. It went sailing up to a surprising height, and was carried down with a despairing moan as of a winter wind in a hollow chimney, or an organ whose wind fails suddenly.
Was genau sich in Nr. 13 abspielt, erfahren wir in der Geschichte nicht. Alles bleibt auf das "Schattenspiel" reduziert, das dadurch nur noch suggestiver und unheimlicher wirkt.
Leider jedoch waren Hopper und Wilkie offenbar der Meinung, dass ein modernes Publikum dramatischeres von einer Geistergeschichte erwartet. Also fügen sie zuerst einmal eine Szene ein, die auf recht platte Weise andeutet, dass Anderson den ganzen Spuk selbst auslöst, indem er das Siegel eines alten Dokuments in der bischöflichen Bibliothek erbricht. Damit ließe sich leben, aber warum in Drei-Teufels-Namen haben sie außerdem das "Schattenspiel" – dieses Herzstück der Geschichte – gestrichen?! Das heißt, Schatten bekommen wir schon zu sehen, doch nicht auf der gegenüberliegenden Hauswand, sondern an der Wand zwischen Andersons Zimmer und Nr. 13.
Im Kontext der Geschichte, die sie erzählen, macht das in gewisser Weise Sinn, denn ihr Protagonist ist kein bloßer Beobachter, er wird von dem "Bewohner" des Phantomzimmers aktiv bedroht. Wenn wir den Schatten auf der Zimmerwand sehen, symbolisiert das also den Versuch der dämonischen Mächte, in Andersons Realität einzudringen. Schön und gut, bloß ist das bei weitem nicht so gruselig und stimmungsvoll wie die entsprechenden Szenen in Montys Geschichte.
Und auch der Versuch, eine direkte Beziehung zwischen Anderson und den Ereignissen in Nr. 13 herzustellen, wirkt wenig geglückt. James erzählt uns nicht mehr über Magister Nicolas Francken – den "Bewohner" von Nr. 13 –, als dass die Lutheraner im 16. Jahrhundert von ihm behaupteten, er praktiziere "secret and wicked arts, and had sold his soul to the enemy." Bei Hopper und Wilkie wird er zum Oberhaupt eines Hexenzirkels, und bei dem, was sich in dem Phantomzimmer abspielt, sollen wir ganz offensichtlich an sexuelle Orgien denken. Mr. Anderson seinerseits wird uns als versnobter und verklemmter Puritaner vorgeführt, und in den dämonischen Mächten, die ihn bedrohen, sollen wir offensichtlich eine symbolische Verkörperung seiner unterdrückten Sexualität sehen. Verdeutlicht wird dies u.a. durch ein Bild an der Wand seines Zimmers, das einen Ausschnitt aus Hiernoymus Boschs berühmtem Gemälde Der Garten der Lüste darstellt.
Jonathan Miller hatte 1968 mit seiner Adaption von Oh, Whistle, And I'll Come To You, My Lad sehr eindrucksvoll demonstriert, dass eine derartige psychologische Interpretation einer James-Geschichte sehr wohl funktionieren kann. Auch hatten 1974  Lawrence Gordon Clark und David Rudkin mit The Ash Tree bewiesen, dass die Hexe als Symbol für "heidnische" Sinnlichkeit kein langweiliges Klischee sein muss. Leider aber wirken beide Elemente im Falle von Hoppers und Wilkies Number 13 aufgesetzt und darum wenig überzeugend und letztlich uninteressant, wenn nicht gar nervig.
Wer eine wirklich gelungene filmische Bearbeitung dieser Geschichte sucht, sollte sich lieber nach der zweiten Episode der sechs Jahre zuvor gleichfalls von der BBC produzierten Miniserie umschauen, in der der große Christopher Lee in die Rolle von M.R. James geschlüpft war und einige von Montys Geschichten voregetragen hatte. Eine wirklich exzellente Mischung aus Vortrag und Adaption!*

      
Die klassischen Ghost Stories for Christmas waren Produkt einer Ära, die man zurecht als das Goldene Zeitalter des britischen Fernsehens bezeichnen kann. Wie Lawrence Gordon Clark 2012 erklärte: "The BBC at that time gave you the space to fail, and generously so too. They backed you up with marvellous technicians, art departments, film departments and so forth." Die heutigen Zeiten sehen anders aus. Und das nicht nur, weil kein Fernsehsender mehr seinen Angestellten einen echten Misserfolg verzeihen würde. Ist damit von vornherein die Möglichkeit verbaut, an die großen Traditionen der Vergangenheit anzuknüpfen? Ich bin mir da nicht hundertprozentig sicher.
Wie gesagt versuchte die BBC im Jahr 2005 das Format der Ghost Stories for Christmas wiederzuleben. Und auch wenn Luke Watsons A View from a Hill nicht die Qualität der besten seiner Vorgänger erreicht, handelt es sich doch um ein recht ansehnliches Filmchen, das ich bei Gelegenheit vielleicht einmal etwas genauer besprechen werde. Number 13 stellte meiner Ansicht nach zwar einen Misserfolg dar, aber das sagt nichts darüber aus, ob die Serie nicht doch noch zu etwas sehr interessantem hätte werden können. Leider wurde dem Sender das Budget gekürzt, was zum vorzeitigen Ende des Projektes führte. Dennoch durften wir im Jahr 2008 mit Mark Gatiss' Episodenhorror Crooked House einen weiteren, meiner Meinung nach allerdings nicht ganz gelungenen, Versuch erleben, an die alten Traditionen anzuknüpfen. Dem folgte 2010 eine Neuverfilmung von Whistle, And I'll Come To You mit John Hurt, der ich bisher wohlweislich aus dem Wege gegangen bin. {Vgl. NUTS4R2s Besprechung}. Und letzte Weihnachten schließlich startete Mark Gatiss mit The Tractate Middoth einen weiteren Versuch, die Gespenstergeschichte via Telly erneut zu einem festen Bestandteil der Julfeierlichkeiten seiner Landsleute zu machen. {Vgl.: Episode 33 von A Podcast to the Curious}.
Alles in allem mag es zwar unwahrscheinlich erscheinen, dass wir in absehbarer Zukunft etwas von der Qualität der klassischen Serie vorgesetzt bekommen werden. Doch zumindest versuchen eine ganze Reihe von Filmemachern, inspiriert von dem Werk ihrer Vorgänger, etwas vergleichbares zu schaffen. Und das ist doch schon einmal etwas ...

.  
*  Nebenbei bemerkt war Lee M.R. James 1935 noch "im Fleische" begegnet, als er sich im Alter von dreizehn Jahren um ein Stipendium für Eton {dem James als Provost vorstand} bemüht hatte. Er schreibt darüber in seiner Autobiographie: "James was at that time nick-named 'Black Mouse', derived in part from his faintly sinister black cape and mortar board, and part from his habit of mewing unexpectedly at recalcitrant pupils. I cannot in all honesty say that at the time I was wholly displeased in failing to secure a scholarship; in many ways it was a relief. But I do know this: few men have created such a profound impression upon me, and I partially attribute my lifelong interest in the occult to my subsequent discovery of the horror stories penned by that most intriguing and intimidating of men."

Mittwoch, 26. Februar 2014

Endlich hat's jemand kapiert

Ich bin kein großer Freund des scheinbar nicht enden wollenden Superhelden-Booms in den Kinos. Man muss ja nicht gleich so weit gehen wie Alan Moore, der letztes Jahr in einem Interview mit dem Guardian erklärte: "I think it's a rather alarming sign if we've got audiences of adults going to see the Avengers movie and delighting in concepts and characters meant to entertain the 12-year-old boys of the 1950s." Aber auch ich denke, es ist ein Zeichen der anhaltenden intellektuellen und künstlerischen Krise in Hollywood, wenn uns die großen Studios Sommer für Sommer mit einem gefühlten halben Dutzend Marvel- und DC-Adaptionen bombardieren. Und ein Ende ist nicht abzusehen. Neben Warner Bros. bisher wenig überzeugend wirkenden Versuchen, mit Superman, Batman und der Justice League ein Konkurrenzteam zu Marvels Avengers aufzubauen, plant Sony, seinen Amazing Spiderman mit drei Sequels und Filmen über Venom und die Sinister Six offenbar gleichfalls zu einem Monster-Franchise aufzublähen.
Superhelden-Filme passen perfekt zu einer Ära, in der permanent die Oberfläche über den Inhalt triumphiert. Hollywood wehrt sich nach wie vor mit Händen und Füßen dagegen, die Augen zu öffnen und sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Verständlich, dass sich Studiobosse und Filmemacher in den Comicuniversen von DC und Marvel offenbar so wohl fühlen.
Man verstehe mich bitte nicht falsch, Superhelden-Flicks können äußerst unterhaltsam sein, aber sie sind von Natur aus nicht das richtige Format, um sich auf differenzierte Weise mit ernstzunehmenden Themen auseinanderzusetzen. Und solche Filme hätten wir wirklich bitter nötig! Schlimmer noch als die allmählich bloß noch ermüdend wirkende Menge der Marvel- und DC-Adaptionen ist für mich deshalb auch der offenbar recht weit verbreitete Irrglaube, sie könnten oder sollten mehr sein als farbenfroher Unsinn. Ich hasse solch prätentiöse Streifen wie Christopher Nolans Dark Knight - Trilogie oder Zack Snyders Man of Steel! Um so glücklicher macht es mich, dass wir mit James Gunns Guardians of the Galaxy in diesem August endlich einen Marvel-Flick zu sehen bekommen könnten, der so verrückt und absurd ist, wie Filme dieser Art meiner Meinung nach sein sollten. Vorausgesetzt das Endprodukt hält was der wunderbar pulpmäßige Trailer verspricht:


Ich will jetzt schon ein Poster von Rocket Racoon mit Maschinengewehr!

Montag, 24. Februar 2014

R.I.P. Harold Ramis

Heute verstarb im Alter von neunundsechzig Jahren in einem Vorort von Chicago der Komiker, Schauspieler, Drehbuchschreiber und Regisseur Harold Ramis. 
Ich war elf Jahre alt als Ghostbusters 1984 in die Kinos kam. Und für mich war der Film, dessen Drehbuch Ramis zusammen mit Dan Aykroyd geschrieben hatte und in dem er selbst Dr. Egon Spengler spielte, die coolste Sache auf der Welt. Mag sein, dass sein wahres Meisterwerk Groundhog Day (Und täglich grüßt das Murmeltier) von 1993 gewesen ist, doch kindlicher Enthusiasmus hinterlässt nun einmal oft die intensivsten Erinnerungen. 
Möge der Geisterjäger in Frieden ruhen!

   

Samstag, 22. Februar 2014

Strandgut der Woche

Sonntag, 16. Februar 2014

Viermal Monty (I)

The peculiar genius of M.R. James, and his greatest power, lies in the convincing evocation of weird, malignant and preternatural phenomena [...]. It is safe to say that few writers, dead or living, have equaled him in this formidable necromancy and perhaps no one has excelled him.
Clark Ashton Smith: The Weird Works of M.R. James

Ein kurzer Blick in die deutsche Wikipedia hinterlässt den erschreckenden Eindruck, dass dem breiteren Publikum hierzulande offenbar schon seit längerem keine auch nur ansatzweise vollständige Sammlung der Gespenstergeschichten des großen Montague Rhodes James mehr zugänglich gemacht worden ist. Welche Schande! Muss ich daran erinnern, dass H.P. Lovecraft ihn neben Arthur Machen, Algernon Blackwood und Lord Dunsany zu den vier Großmeistern des modernen Grauens zählte? Ich zitiere den Beginn des entsprechenden Abschnitts aus der deutschen Ausgabe seines berühmten Essays Supernatural Horror in Literature:
Eine Lord Dunsanys Genius diametral entgegengesetzte Position nimmt der gelehrte Montague Rhodes James ein, Rektor des Eton College, Altertumsforscher von hohen Graden und anerkannte Autorität auf dem Gebiet mittelalterlicher Handschriften und der Geschichte der Kathedralen, der die fast diabolische Gabe besitzt, das Grauen Schritt für Schritt mitten im prosaischen Alltagsleben entstehen zu lassen. Dr. James, der es seit langem liebt, in der Weihnachtszeit Gespenstergeschichten zu erzählen, ist nach und nach zu einem literarischen Phantasten allerersten Ranges geworden und hat einen charakteristischen Stil und eine unverwechselbare Methode entwickelt, die wahrscheinlich einer langen Reihe von Schülern als Vorbild dienen werden.*
So wie ich es verstehe, hat es bis heute keine einzige Gesamtausgabe von M.R. James' Werk in deutscher Übersetzung gegeben, selbst wenn man darunter nur die zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Stories verstehen will. Dabei ist sein Oeuvre nun wirklich nicht unüberschaubar. Freunde & Freundinnen des klassischen literarischen Horrors, die der englischen Sprache nicht in ausreichendem Maße mächtig sind, haben es hierzulande in der Tat nicht leicht ...

In seiner britischen Heimat freilich genießt der gute Monty auch knapp acht Jahrzehnte nach seinem Tod immer noch eine für einen phantastischen Autor beachtliche Bekanntheit und ein ebenso großes Ansehen, wofür u.a. die zahlreichen Radio- und Fernsehadaptionen seiner Werke verantwortlich sein dürften. 
Wie ich vor einem halben Jahr hier schon einmal kurz geschildert habe, war es der große Erfolg von Jonathan Millers faszinierender Adaption von James' Oh, Whistle, And I'll Come To You, My Lad aus dem Jahre 1968, der die BBC dazu bewog, ihrem Publikum in den 70er Jahren eine ganze Reihe klassischer Horrorstories in televisionärer Fassung zu präsentieren, wobei man an die alte englische Tradition anknüpfte, sich zur Julzeit mit dem Erzählen unheimlicher Geschichten zu unterhalten. Ein Brauch, dem – wie uns Mr. Lovecraft bereits mitgeteilt hat – auch Monty im Kreis seiner Kollegen und Freunde gehuldigt hatte. Fünf der acht Ghost Stories for Christmas, mit denen man zwischen 1971 und 1978 alle Freunde & Freundinnen des gepflegten Grusels zur Weihnachtszeit beglückte, basierten auf Kurzgeschichten von M.R. James.
Im letzten August waren mir leider nur zwei von ihnen – A Warning to the Curious (1972) und The Ash Tree (1975) – zugänglich, doch ist es mir inzwischen gelungen, dieses Manko zu beseitigen, so dass ich nunmehr in der Lage bin, meiner geneigten Leserschaft auch die restlichen drei kurz vorzustellen. {Achtung: Spoiler!}


I wrote these stories at long intervals, and most of them were read to patient friends, usually at the season of Christmas.
M.R. James: Vorwort zu Ghost Stories of an Antiquary

#1 The Stalls of Barchester Cathedral (1971)
(Literarische Vorlage – Vgl.: Episode 13 von A Podcast to the Curious

Die Eröffnung des spukigen Reigens war zugleich der erste Spielfilm des bis dahin nur als Dokumentarfilmer tätigen Lawrence Gordon Clark, der bis auf die letzte Episode bei allen klassischen Ghost Stories for Christmas die Regie übernehmen würde. In Zusammenarbeit mit Kameramann John McGlashan, der gleichfalls ein fester Bestandteil des Teams werden sollte, bewies er schon in diesem seinem Debüt ein ungewöhnliches Talent für das Kreieren einer gespenstischen Atmosphäre, ohne dabei auf ausgefeilte Tricktechnik oder platte Schockeffekte zurückgreifen zu müssen. Das Budget war mager (£8000), die Drehzeit äußerst beschränkt (10 Tage), aber dafür konnten Clark und McGlashan "vor Ort" drehen, was für eine britische TV-Produktion dieser Zeit ungewöhnlich war. Anders als etwa in A Warning to the Curious (1972) und The Signalman (1976) war es hier allerdings nicht die Landschaft, die dem Heraufbeschwören der erwünschten unheimlichen Stimmung dienstbar gemacht wurde, sondern vielmehr die gotische Kathedrale von Norwich. Daneben eröffnete sich für McGlashan die Möglichkeit, echte Nachtaufnahmen zu machen, was dem Spiel mit Schatten und düsteren Winkeln eine Intensität verleiht, die bei einer reinen Studioproduktion unerreichbar gewesen wäre. Dass Clark wie bei allen Ghost Stories for Christmas ein vorzügliches Schauspielerensemble zur Verfügung stand, soll gleichfalls nicht unerwähnt bleiben.
Von allen mir bekannten M.R. James - Adaptionen hält sich The Stalls of Barchester Cathedral am engsten an ihre literarische Vorlage. Abgesehen von einigen eher nebensächlichen Details, folgt der Film ziemlich genau Montys Geschichte des ehrgeizigen Archidiakons Haynes, der für das Ableben seines Vorgängers sorgt {welcher offenbar ein methusalemsches Alter zu erreichen gedachte}, um drei Jahre später auf übernatürliche Weise für seine Bluttat bestraft zu werden, wobei die grotesken Schnitzereien im Chorgestühl ("Stalls") zu den ausführenden Organen der (göttlichen? satanischen?) Gerechtigkeit werden. Wie die Story konzentriert sich auch der Film auf die Darstellung des allmählichen psychischen Verfalls des Archidiakons, der sich von körperlosen Stimmen, einer gespenstischen Katze und einem klauenbewehrten Ungeheuer verfolgt glaubt, und vergeblich versucht, seiner zunehmenden Depressivität und Paranoia mit Hilfe seiner beträchtlichen Willensstärke Herr zu werden, nur um schließlich einen ebenso grausigen wie mysteriösen Tod zu erleiden. Robert Hardy (u.a. Siegfried Farnon in All Creatures Great and Small & Cornelius Fudge in den Harry Potter - Filmen) gibt in der Rolle des Archidiakons eine beeindruckende Leistung ab.
Der einzige echte Schwachpunkt des Filmes ist Haynes' Todesszene. Wenn aus einem gänzlich absurden Winkel plötzlich eine gar zu offensichtlich aus Gummi bestehende Klauenhand auftaucht, dem Archidiakon über das Gesicht fährt und ihn mit einem spitzen Aufkreischen die Treppe herunterstürzen lässt, so ist dies leider eher geeignet, hysterisches Gekicher als eisige Schauer hervorzurufen. Warum Clark offenbar der Meinung war, den Höhepunkt der Erzählung auf so drastische Weise darstellen zu müssen, ist mir schleierhaft. Hätte er nicht wissen müssen, dass es {vor allem angesichts der sehr beschränkten tricktechnischen Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen} sehr viel klüger gewesen wäre, das brutale Ende des Archidiakons genauso zurückhaltend zu inszenieren wie den Rest der Geschichte? Ein wirklich ärgerlicher Missgriff, denn was könnte fataler für eine Spukgeschichte sein, als ein lächerliches Finale?
Nichtsdestoweniger bleibt The Stalls of Barchester Cathedral ausgesprochen sehenswert und lässt bereits sehr deutlich erkennen, warum die Ghost Stories for Christmas zu echten Klassikern des phantastischen Fernsehens werden sollten.
  

#2 Lost Hearts (1973)
(Literarische Vorlage – Vgl.: Episode 2 von A Podcast to the Curious & Hypnobobs 138: Ghost Stories for Christmas Eve)

Für mich persönlich ist Lost Hearts eine der verstörendsten und unheimlichsten Geschichten von M.R. James. Andere mögen mich aufgrund ihrer intensiven Atmosphäre, ihrer antiquarischen Komponente oder ihres geschickten Spannungsaufbaus stärker faszinieren, doch kaum eine kommt in ihrer alptraumhaften Qualität der Erzählung von den unheimlichen Erlebnissen des elfjährigen Waisen Stephen Elliott auf dem Landsitz seines ältlichen Cousins Mr. Abney gleich.
Anders als bei den ersten beiden Ghost Stories for Christmas schrieb Lawrence Gordon Clark für die dritte Episode nicht selbst das Drehbuch. Diese Aufgabe fiel dem nicht ganz unbekannten Schriftsteller Robin Chapman zu, und er entfernte sich dabei deutlicher von seiner Vorlage als Clark dies bei The Stalls of Barchester Cathedral getan hatte. Allerdings nicht so weit, dass er der Geschichte einen gänzlich anderen Inhalt oder Charakter verliehen hätte.
Drei Unterschiede zwischen Story und Film stechen für mich besonders deutlich hervor:
Der möglicherweise nach dem realen Vorbild des Neoplatonisten Thomas Taylor (1758-1835) gezeichnete Abney wird von James als "tall", "thin" und "austere" bezeichnet, und auch wenn er bei Stephens Ankunft "sich vergnügt die Hände reibend" aus seinem Studierzimmer geeilt kommt, bekommt man eher den Eindruck, es mit einem normalerweise ziemlich ernsthaften und verschlossenen Mann zu tun zu haben. Ganz anders in der Verfilmung. Hier ist Abney (Joseph O'Conor) ein beständig vor sich hin summender und kichernder, etwas kindisch wirkender Exzentriker, dessen Begeisterung für gnostische Geheimlehren und Magie wie ein nicht ganz ernstzunehmender Spleen wirkt. Im ersten Moment hat mich diese Darstellung ziemlich irritiert, doch bald schon  wurde mir bewusst, um wieviel verstörender es wirkt, wenn ein "nett-verrückter Onkel" Kinder kaltblütig ermordet, ihnen die Herzen herausschneidet und diese in eingeäscherter Form zu sich nimmt, um auf diese Weise Unsterblichkeit zu erlangen. {Ein Bisschen enttäuschend fand ich allerdings, dass Abney anders als in der Erzählung keine antike Darstellung von Mithras und dem Stier in der Eingangshalle seines Herrenhauses stehen hat, führt M.R. James so doch auf subtile Weise gleich zu Beginn seiner Geschichte das Opfermotiv ein.}
Leider enthält uns der Film die mumifizierte Leiche vor, die Stephen während eines Traumes in einem seit langem ungenutzten Badezimmer erblickt, und die James wie folgt beschreibt:
His description of what he saw reminds me of what I once beheld myself in the famous vaults of St Michan's Church in Dublin, which possesses the horrid property of preserving corpses from decay for centuries. A figure inexpressibly thin and pathetic, of a dusty leaden colour, enveloped in a shroud-like garment, the thin lips crooked into a faint and dreadful smile, the hands pressed tightly over the region of the heart. As he looked upon it, a distant, almost inaudible moan seemed to issue from its lips, and the arms began to stir.
Ein kurzer Blick auf die Mumien von St. Michan lässt einen erahnen, welch gruselige Szene dies hätte sein können. Allerdings muss man fairerweise bedenken, dass das zur Verfügung stehende Budget für eine wirklich überzeugende Darstellung vermutlich nicht ausgereicht hätte. Auch ist es bereits erstaunlich, dass wir stattdessen die aufgeschlitzten Brustkörbe der toten Kinder mit ihren fehlenden Herzen zu sehen bekommen. Für das britische Fernsehen der Zeit eine äußerst drastische Szene.
Der dritte markante Unterschied besteht in dem Verhältnis der kindlichen Geister zu Stephen (Simon Gipps-Kent). Bei James bleibt dieses äußerst ambivalent. Wollen sie ihn vor der drohenden Gefahr warnen oder giert es auch sie nach seinem Herzen, als Ersatz für ihre eigenen? Der Film wirkt hier auf den ersten Blick sehr viel eindeutiger. In keiner der Szenen scheinen die Geister Stephen unmittelbar zu bedrohen. Vielmehr sind sie ihm offenbar freundlich gesonnen. Und doch ist dieser spontane Eindruck nicht ganz zutreffend. Mehr als einmal z.B. wird ihr Auftauchen vom fröhlich anmutenden Gelächter des Mädchens begleitet. Und eben dies macht die beiden wieder auf beunruhigende Weise undurchschaubar. Sie haben keinen Grund, fröhlich zu sein. Warum lachen sie? In Vorfreude auf ihre kommende Rache an Abney? Das scheint als Erklärung nicht völlig befriedigend.
Es sind vor allem diese beiden Geisterkinder – das Zigeunermädchen Phoebe (Michelle Foster) und der Italienerjunge Giovanni (Christopher Davis) –, die Lost Hearts zu einem großartigen Filmerlebnis machen. Nicht nur sind ihre Auftritte ausnahmslos sehr effektvoll in Szene gesetzt. Sei es, dass wir sie als Silhouetten im abendlichen Park erblicken. Sei es, dass sie durch eines der Fenster hereinschauen und mit ihren langen, krallenartigen Fingernägeln auf die Scheibe trommeln. Sei es, dass wir ihre wispernden, körperlosen Stimmen im Herbstwind hören. Sei es, dass sie sich in halb schlafwandlerisch, halb tänzerisch anmutender Art durch die Gänge und Räume des nächtlichen Herrenhauses bewegen. Vor allem der Junge strahlt außerdem eine unheimliche Mischung aus Schmerz, Trauer und sadistischem Vergnügen aus. Gespenstische Kinder sind ein fester Bestandteil der Traditionen des Horrorfilms {man denke z.B. an Flora & Miles aus The Innocents [1961], Jack Claytons großartiger Adaption von Henry James' The Turn of the Screw}, doch diesen beiden gebührt ohne Zweifel ein sehr ehrenwerter Platz in der Gallerie ihrer Genossinnen und Genossen.
Nicht unerwähnt bleiben soll die Musik, die einen wichtigen Beitrag zur Atmosphäre des Films leistet. An wenigstens einer Stelle wird dabei Ralph Vaughan Williams' English Folk Song Suite anzitiert, doch leider ist es mir unmöglich gewesen, herauszufinden, wer für den Rest des Soundtracks – insbesondere die äußerst effektvolle Leierkastenlmelodie – verantwortlich war.
In meinen Augen gehört Lost Hearts zu den allerbesten der klassischen Ghost Stories for Christmas.


Fortsetzung folgt ...


* H.P. Lovecraft: Die Literatur der Angst. Zur Geschichte der Phantastik. S. 129.

Samstag, 15. Februar 2014

Strandgut der Woche

Mittwoch, 12. Februar 2014

Wuff wuff fhtagn !


Cats are the runes of beauty, invincibility, wonder, 
pride, freedom, coldness, self-sufficiency, 
and dainty individuality.

H.P. Lovecraft: Cats and Dogs


Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es ein Weiser aus der Stadt Ulthar jenseits des Flusses Skai gewesen ist, der die Menschheit als erster in Hunde- und Katzenmenschen einteilte. Doch wie auch immer es sich damit verhalten haben mag, mir scheint diese Einteilung sehr viel vernünftiger zu sein als all jene Kategorisierungen nach Geschlecht, Hautfarbe, Nation, Religion oder sexueller Orientierung, denen Konservative wie "Progressive" heutzutage eine so große Bedeutung beizumessen scheinen. Ich gebe zu, Leute, die nichts für Katzen übrig haben, sind mir irgendwie suspekt. Andererseits fühle ich mich all jenen, die gleich mir am liebsten Weihrauch am Altar der göttlichen Bastet opfern würden, erst einmal spontan nahe. Ja, auch das ist ein irrationales Vorurteil, und die Rechnung geht beileibe nicht immer auf {Akif Pirinçci *Schauder*}, aber ich gehöre nun einmal zu den frommen Verehrern des felinen Geschlechts.

Wie ich hier schon etliche Male ausgeführt habe, hege ich starke künstlerische wie ideologische Vorbehalte gegenüber H.P. Lovecraft. Zugleich jedoch fühle ich mich dem Gentleman von Providence auf innigere Weise verbunden, als mir eigentlich lieb sein kann. Die Tatsache, dass er ein ganz ausgesprochener Katzenliebhaber war, ist dafür wohl nicht der wichtigste Grund, aber ganz unwichtig ist sie auch nicht.*
Bei all seinem elitären Nietzscheanertum wird z.B. sein 1926 verfasster Essay Cats and Dogs für jeden Verehrer der aristokratischen Felidae eine ausgesprochen anregende Lektüre bleiben. Zumal Lovecraft hier wieder einmal beweist, dass er nicht der humorlose Knochen war, als der er manchmal dargestellt wird.
Oder man schaue sich folgenden Abschnitt aus einem Brief des alten Gentleman an Fritz Leiber an:
I learn with great interest of Messrs. Nemo & Murphet Leiber, & wish my own household were able to harbour their counterparts. [...] I am forced to content myself with playing occasional host to varied felidae of the neighbourhood [...] For this purpose I always have a supply of catnip on hand, & many an afternoon as I sit writing I have some black or tiger or grey or black-&-white caller racing around the floor after spools or chewing the papers on my desk or alternately purring & dozing in a neighbourung easy-chair, according to his age and temperament.
Lovecarft erklärte die Katzen von Fritz und Jonquil Leiber allsogleich zu Mitgliedern der weltumspannenden Gesellschaft Kappa Alpha Tau,
an institution whose initials may be interpreted as the words Κομπσον Αιλυρον Ταξις (band of elegant or well-dress'd cats), though low punsters persist in reading a shorter & more phonetic meaning into our corporate initials K.A.T. Of this band, notwithstanding the inapplicability of the adjective to me, I consider myself an honorary member by virtue of my lifelong regard for the feline species. I am sure that Nemo & Murphet are high officials of the Southern California Chapter just as Mother Simaetha, the incredibly aged coal-black witch-cat of Clark Ashton Smith, heads the Ladies' Auxiliary of the Central California Chapter.**
Lovecraft schickte den Leibers {genauer gesagt ihren Katzen} als kleinen Willkommensgruß der K.A.T.s von Providence die Kopie einer seiner Geschichten. ("I trust that its new furry owners will permit you to glance through it at least once or twice").  Dabei handelte es sich wohl um seine Dreamland-Story The Cats of Ulthar, die man sich hier von Sarah Jennings vortragen lassen kann:



Nebenbei bemerkt teilte Fritz Leiber Lovecrafts Liebe zu den "cool, lithe, cynical, and unconquered lord(s) of the housetops". Katzen und katzenartige Kreaturen spielen eine wichtige Rolle in einer ganzen Reihe seiner Werke, wie z.B. The Green Millenium, The Wanderer, The Swords of Lankhmar und natürlich den Stories um den Kater Gummitch (vgl.: Space-Time for Springers & Kreativity for Kats).

Angesichts der tiefen Verehrung, die der alte Gentleman dem felinen Geschlecht entgegenbrachte, ist es wenig erstaunlich, dass nicht er es war, der das hündische Element in die Welt des Cthulhu-Mythos einführte, sondern sein Freund Frank Belknap Long. Die beiden hatten sich 1920 über die Amateur-Schriftsteller-Bewegung kennengelernt, in der Lovecraft seit 1914 aktiv war. Zu Longs frühen Werken, die Lovecraft in seiner selbst verlegten Zeitschrift The Conservative veröffentlichte, gehörte auch Felis: A Prose Poem, welches der Katze seines Freundes gewidmet war. Offenbar gehörte auch Long zu den Katzenmenschen. Während Lovecrafts New Yorker Jahren 1925/26 war Frank Belknap Long der wohl engste Freund des alten Gentleman, doch gelang es auch ihm nicht, diesem das Leben in der kosmopolitischen Metropole am Hudson auf Dauer erträglich zu machen. Longs 1930 in Weird Tales erschienene Story The Hounds of Tindalos gilt als die erste, nicht von Lovecraft selbst verfasste Cthulhu-Mythos-Erzählung, obwohl keine der offensichtlichsten Versatzstücke des Mythos (die Großen Alten, das Necronomicon etc.) in ihr vorkommt. Dafür jedoch besagtes hündische Element, das in späteren Jahrzehnten so unterschiedliche Autoren wie Elizabeth Bear, William S. Burroughs, Ramsey Campbell, Michael Cisco, Brian Lumley, Sarah Monette und Roger Zelazny wieder aufnehmen sollten.
Freilich sind die "Hounds of Tindalos", die dem Mystiker Chalmers bei seiner mit Hilfe einer exotischen Droge initiierten Reise durch die Zeit begegnen, um sich sogleich auf seine "Fährte" zu setzen und schließlich für sein verfrühtes und reichlich unappetitliches Ableben zu sorgen, genaugenommen keine richtigen "Hunde". Chalmers' unzusammenhängendem Bericht ist nur wenig genaues über diese grausigen Kreaturen aus einer Region jenseits von Raum und Zeit zu entnehmen:
I stood on the pale grey shores beyond time and space. In an awful light that was not light, in a silence that shrieked, I saw them.
All the evil in the universe was concentrated in their lean, hungry bodies. Or had they bodies? I saw them only for a moment; I cannot be certain. But I heard them breathe. Indescribably for a moment I felt their breath upon my face. They turned toward me and I fled screaming. In a single moment I fled screaming through time. I fled down quintillions of years.
But they scented me. Men awake in them cosmic hungers.
Dieser kurze Abschnitt lässt bereits erahnen, warum die Story wohl zurecht dem Cthulhu-Mythos zugerechnet wird. Grund hierfür sind nicht die in ihr beschriebenen Ereignisse oder Kreaturen, sondern ihr kosmischer Charakter. Wie Lovecrafts Erzählungen eröffnet auch Longs Geschichte den Blick auf ein unüberschaubares und dem Menschen gänzlich fremdes, wenn nicht gar feindlich gesonnenes Universum. Die "Hounds of Tindalos" aber sind die Inkarnationen all der unmenschlichen, zerstörerischen Kräfte, die es in sich birgt. Wird der Mensch mit ihnen unmittelbar konfrontiert, so kann das Ergebnis nur fürchterlich sein.

Wer The Hounds of Tindalos einmal selbst lesen will, kann sich die Geschichte als PDF bei SFFaudio herunterladen. Und zum Abschluss jetzt rasch noch Childe Rolands von Longs Story inspirierter Song:




* Im Gegenzug ist mir der alte Tolkien schon ein Bisschen verdächtig, wenn er z.B. schreibt, Siamkatzen gehörten für ihn "zur Fauna von Mordor"! (Brief an Allen & Unwin vom 14.10.1959. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 219. S. 393.) Sollte der "Professor" ein Verächter der edlen Felidae gewesen sein? Immerhin wird in der ersten Fassung der Geschichte von Beren und Lúthien der später Sauron zukommende Part von einer riesigen Katze, Tevildo, gespielt ... 
** H.P. Lovecraft an Fritz Leiber (19. Dezember 1936). In: Ben J.S. Szumskyj & S.T. Joshi (Hg.): Fritz Leiber and H.P. Lovecraft: Writers of the Dark. S. 54.

Montag, 10. Februar 2014

The Book of the Lost - Folk Horror, der nie gedreht wurde

Ich bin ein bekennender Fan des klassischen Brit-Horrors. Aber so sehr ich die Produktionen von Hammer und Amicus auch liebe, seinen unvergleichlichen Höhepunkt erreichte das Genre in meinen Augen in jener Handvoll Filme vom Ende der 60er und Beginn der 70er Jahre, die man unter dem Begriff "Folk Horror" zusammenfasst, und als deren bekannteste und bedeutendste Vertreter Michael Reeves' Witchfinder General (1968), Piers Haggards Blood on Satan's Claw (1971) und Robin Hardys The Wicker Man (1973) gelten dürfen. In ihrer atmosphärischen Dichte bilden diese Filme, in denen ein spezifisch ländlich-englisches Setting mit historischen und folkloristischen Elementen verschmolzen wurde, so etwas wie den goldenen Herbst des Brit-Horror. Es ist ein Jammer, dass es ihnen nicht gelang, den Niedergang des Genres wenigstens um einige Jahre hinauszuzögern, beweisen sie doch, dass es das Potential für einen "neuen" britischen Horror jenseits von Hammer-Gothic und Amicus-Portmanteaus gegeben hätte.
Für alle, die ihn nicht kennen, als kleiner Appetitanreger der Anfang von Blood on Satan's Claw mit der großartigen Musik von Marc Wilkinson:



Phantastisch, oder?!

Meine große Liebe zum "Folk Horror" dürfte erklären, warum mich eine Mischung aus Begeisterung und Melancholie überkam, als ich kürzlich auf das Projekt The Book of the Lost stieß.
Die Website erweckt den Eindruck, vier verschollene Klassiker dieses Genres – The Marsh Thing, The Villagers, A Necklace of Shells und Middlewitch Lake – vorzustellen, inklusive Inhaltsangaben, Besetzungslisten und Infos über Produktion und (mangelnden) Erfolg. Eine kleine Bildgallerie präsentiert uns außerdem eine Reihe von Szenenfotos aus anderen Episoden der gleichnamigen Fernsehserie, in deren Rahmen die vier Streifen angeblich gezeigt wurden. Tatsächlich jedoch hat es keinen dieser Filme je gegeben. Und das ist wirklich sehr sehr traurig. Wie gerne würde ich Lord Edwards fatalen Versuch, seine verstorbene Verlobte ins Leben zurückzurufen; den dörflichen Lynchmob aus der Zeit des Englischen Bürgerkriegs; das grausige Schicksal des zynischen Hippie-Gurus Galahad Ruby; und Leahs Rache an dem sadistischen Sohn des Squire auf der Leinwand oder am Bildschirm miterleben dürfen!  
The Book of the Lost ist eine wunderschöne und fantasievolle Liebeserklärung an den "Folk Horror" und bildet zugleich den Hintergrund für ein Alt-Folk-Album von The Rowan Amber Mill (Stephen Stannard) und Emily Jones, von dem man sich drei Songs hier anhören kann. Käuflich zu erwerben ist die Scheibe hier.


Samstag, 8. Februar 2014

Der Tramp

Leider war es mir nicht möglich, diesen Blogeintrag in der vorgesehenen Zeit fertigzustellen. Man möge sich darum bitte denken, er sei bereits gestern erschienen. 

Vor einhundert Jahren, am 7. Februar 1914, hatte Charlie Chaplins Tramp seinen ersten Kinoauftritt, und die Menschheit war von einem Moment zum anderen ein Stück reicher.



Genaugenommen war Henry Lehmans Kid Auto Races at Venice überhaupt nicht die Geburtsstunde der ikonischen Figur. Chaplin hatte mit ihrer Entwicklung bereits in dem zuvor gefilmten Streifen Mabel's Strange Predicament begonnen. Doch gelangte dieser erst am 9. Februar zur Vorführung, und so war dies das Szenario, welches das Publikum zum allerersten Mal mit dem Tramp bekannt machte.
In einem Interview aus dem Jahre 1933 erzählt Chaplin, wie es zur Geburt der Figur gekommen sei:
I was hurriedly told to put on a funny make-up. This time I went to the wardrobe and got a pair of baggy pants, a tight coat, a small derby hat and a large pair of shoes. I wanted the clothes to be a mass of contradictions, knowing pictorially the figure would be vividly outlined on the screen. To add a comic touch, I wore a small mustache which would not hide my expression. My appearance got an enthusiastic response from everyone, including Mr. Sennett {dem Chef der Keystone Studios}. The clothes seemed to imbue me with the spirit of the character. He actually became a man with a soul—a point of view. I defined to Mr. Sennett the type of person he was. He wears an air of romantic hunger, forever seeking romance, but his feet won't let him.
Die Behauptung, der Charakter der Figur sei quasi spontan mit dem Anlegen der Kleidung enstanden, ist freilich eine Übertreibung. Eine jener romantischen Legenden, von denen die Geschichte des Kinos so viele kennt. Tatsächlich dauerte es einige Zeit, bis Chaplin der äußeren Erscheinung die ihr entsprechende Seele eingehaucht hatte. Eine bedeutende Rolle spielte dabei, dass er ab Caught in the Rain (4. Mai 1914) bei so gut wie jedem Film, in dem er auftrat, die Regie übernahm. Wie kaum einem anderen Filmkünstler der Zeit, gelang es ihm, nach und nach die völlige Kontrolle über seine Produktionen zu erlangen, bis er schließlich 1919 gemeinsam mit Douglas Fairbanks, Mary Pickford und D.W. Griffith United Artists gründete und sich damit endgültig der Kontrolle und Bevormundung durch die Produzenten entzog.
Von 1914 bis 1919 spielte Chaplin den Tramp in rund sechzig Filmen, von denen keiner länger als eine Stunde war. Dem folgten seine großen Meisterwerke The Kid (1921), The Gold Rush (1925), The Circus (1928), City Lights (1931) und Modern Times (1936).
Es fällt nicht leicht, genau zu definieren, worin der unwiderstehliche Zauber von Chaplins Tramp eigentlich besteht. Der ungarische Schriftsteller und Filmkritiker Béla Balázs schrieb in den 20er Jahren dazu:
Er wackelt auf seinen verträumten Plattfüßen wie ein Schwan auf dem Trockenen. Er ist nicht von dieser Welt und wirkt vielleicht nur in dieser lächerlich. Die Wehmut eines verlorenen Paradieses dämmert hinter der Komik seines Jammers. Er ist wie ein ausgestoßenes Waisenkind unter fremden und unverwandten Dingen und kennt sich nicht aus. Er hat ein rührendes, verwirrtes Lächeln, das um Entschuldigung bittet, dass er lebt. Doch wenn seine unbeholfene Schwäche unser Herz schon ganz für sich gewonnen hat, dann stellt es sich heraus, dass diese Plattfüße einem verteufelt geschickten Akrobaten gehören, sein verlorenes Lächeln zugleich verschmitzt und seine Naivität mit genialer Schlauheit begabt ist. Er ist der Schwache, der nicht unterliegt. Er ist der dritte, der jüngste Sohn des Volksmärchens, den alle verachtet haben und der zuletzt doch König wird. Das ist das Rätsel der tiefen Freude und Genugtuung, die seine Kunst den Völkern aller Länder gibt. Er spielt die siegreiche Revolution der "Erniedrigten und Beleidigten".
Chaplins Kunst ist Volkskunst im besten Sinne alter Volksmärchen. [...] Das Rührend-Menschliche seiner ganzen verträumten Einfältigkeit besteht darin, dass er ein kindlich-ursprüngliches Menschentum inmitten einer "verdinglichten", maschinentoten Zivilisation darstellt [...]
Bedeutender als Chaplin der Filmschauspieler ist Chaplin der Filmdichter. Seine Kindlichkeit gibt ihm hier jene Perspektive der Welt, durch die sie filmmäßig poetisch wird. Das ist die Poesie des kleinen Lebens, das ist das stumme Leben der kleinen Dinge, bei dem nur Kinder und ziellose Strolche verweilen. Und gerade dieses Verweilen ergibt die reichste Filmpoesie.*    
Das mag nun nicht der universale, alles erklärende Schlüssel zum Geheimnis Chaplin sein, aber ohne Zweifel besteht ein Gutteil seiner Anziehungskraft in der {im besten Sinne} romantischen Poesie und befreienden, zutiefst menschlichen Kraft seiner Filme.
Es erscheint mir deshalb in gewisser Weise nur folgerichtig, dass der Tramp seinen letzten Auftritt in The Great Dictator (1940) hatte, und dass im Grunde er es ist, der am Ende dieser vernichtenden Parodie auf Hitler und den Faschismus jene leidenschaftliche Rede für Freiheit und Humanität hält:




* Béla Balász: Chaplin, der amerikanische Schildbürger. In: Dorothee Kimmich (Hg.): Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne. S. 73ff.

Zum 186. Geburtstag von Jules Verne


Denke immer daran, dass es nur ein einziges menschenwürdiges Ziel gibt: die Gerechtigkeit; einen einzigen Hass: die Sklaverei; eine einzige Liebe: die Freiheit!

Aus dem Abschiedsbrief des Kaw-djer
In: Die Schiffbrüchigen der "Jonathan" (Les Neufragés du Jonathan)

Strandgut der Woche