Der folgende Abriss der Klassenkämpfe in Großbritannien zwischen 1910 und 1926 ist als eine Art Anhang zu meinem jüngsten Beitrag über Tolkien und den Faschismus, sowie als historische Einleitung für mögliche kommende Essays über die Weltsicht des "Professors" gedacht.
Dass Tolkiens Weltanschauung und sein literarisches Werk stark von der fürchterlichen Erfahrung des 1. Weltkriegs geprägt wurden, ist heute wohl allgemein anerkannt. Sehr viel weniger Beachtung scheint mir jedoch dem Umstand geschenkt zu werden, dass das Großbritannien, in das Tolkien zurückkehrte, nachdem er die Hölle der Schützengräben überlebt hatte, eine von heftigen sozialen und politischen Konflikten zerrissene Nation war. Dabei scheint mir gerade dies von zentraler Bedeutung zu sein, wenn man verstehen will, warum der Schriftsteller und Gelehrte unter dem über die Jahre immer stärker werdenden Gefühl litt, in einer von den Mächten des Bösen beherrschten Welt zu leben. Warum er sich isoliert und verloren vorkam, nirgends mehr Halt fand als in jenem "kleinen Kreis von
Vertrauten, wo der Ton zugleich bohemienhaft, literarisch und
christlich war" (1) – wie C.S. Lewis die Gemeinschaft der Inklings in seinem vorsoglich verfassten Nachruf auf den Freund beschrieben hat. Warum er sich so sehr nach einer geordneten und stabilen Welt sehnte, die er sich als poetischen Zufluchtsort vor der Wirklichkeit schließlich in Gestalt Ardas in seiner Fantasie erschuf.
Die Geschichte der äußerst heftigen Klassenkämpfe, die in weiten Teilen Europas (und nicht nur dort) dem Ersten Weltkrieg folgten, scheint vielen heute nicht mehr vertraut zu sein. Es finden sich sogar schon wieder akademische Historiker & Historikerinnen, die die turbulenten Ereignisse jener Jahre allen Ernstes als Folge einer von Moskau gelenkten "bolschewistischen Verschwörung" abzutun versuchen. Ein Grund mehr, einen kurzen Blick in die revolutionären Annalen jener Zeit zu werfen.
Das viktorianisch-edwardianische Zeitalter imperialer Größe, wirtschaftlicher Expansion und "sozialen Friedens" war bereits vor dem 1. Weltkrieg unwiderruflich zu Ende gegangen. Von 1910 bis 1914 erschütterte eine ununterbrochene Abfolge großer Streiks das Land. Die alten Gewerkschaften, die den Klassenkampf jahrzehntelang in friedliche Bahnen hatten lenken können und zum Nährboden für eine konservative, selbstzufriedene Bürokratie geworden waren, erwiesen sich als unfähig, die Militanz der Bergleute, Eisenbahner, Docker zu ersticken. Der Schriftsteller George Dangerfield schrieb über die "Labour Unrests": „Fires long smouldering in the English spirit suddenly flared, so that by the end of 1913, Liberal England was reduced to ashes.“ Der Schwefelgeruch der Revolution hing in der Luft und im Juli 1914 musste selbst Seine Königliche Majestät George V. beunruhigt konstatieren: „The cry of civil war is on the lips of the most responsible and sober-minded of my people.“ (1)* * *
Der Ausbruch des Weltkriegs beendete fürs Erste die Unruhen. Wie in beinah allen kriegsführenden Ländern schloss die reformistische Führung der Gewerkschaften und der Labour-Party auch in Großbritannien einen Burgfrieden mit der Regierung und unterdrückte alle Streiks. Doch spätenstens ab 1916 flammte der Widerstand der Arbeiter gegen sinkende Löhne und rasant steigende Lebenshaltungskosten erneut auf und fand seinen organisatorischen Ausdruck in der basisdemokratischen Shop-Steward-Bewegung und den mit ihr verbundenen Arbeiterkomitees. Das Vorbild der Russischen Revolution wirkte inspirierend auf die militanten Vertreter der Arbeiterbewegung, und in der herrschenden Elite begann man, dem Ende des Krieges mit wachsender Besorgnis entgegenzublicken. Premierminister Lloyd George hatte den Soldaten ein „land fit for heroes to live in“ versprochen. Welche Folgen würde eine Demobilisierung der Armee unter diesen Umständen haben?
Als im November 1918 der Waffenstillstand geschlossen wurde, befand sich Großbritannien zwar auf der Siegerseite, doch seine herrschende Klasse hatte wenig Grund, sich über diesen Triumph zu freuen. Nie zuvor war die britische Arbeiterbewegung so mächtig gewesen. Zwischen 1913 und 1920 stieg die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter um das Doppelte von 4.189.000 auf 8.493.000. Die Jahre 1919/20 wirkten wie eine verschärfte Neuauflage der "Labour Unrests". In einer Reihe von radikalen Streikaktionen rang die Arbeiterklasse den Unternehmern bedeutende Zugeständnisse ab. In vielen Branchen wurde die 48-Stunden-Woche eingeführt, das allgemeine Lohnniveau stieg über den Stand der Vorkriegszeit, die Regierung sah sich gezwungen, die Schaffung einer umfassenden Sozialgesetzgebung in Aussicht zu stellen, während die militanten Bergleute lautstark die Verstaatlichung der Kohlegruben forderten.
Derweil ging in ganz
Europa das Gespenst des Kommunismus um. Drei der mächtigsten
Dynastien des Kontinents – Hohenzollern, Habsburger und Romanows –
waren gestürzt worden. In Russland hatten die Bolschewiki im
November 1917 die Macht erobert. Im Frühjahr 1918 hisste die
linkssozialistische Volksrepublik Finnland die rote Fahne über
Helsinki, bevor sie von den Truppen General Mannerheims unter
kaiserlicher Mithilfe in Blut ertränkt wurde. In Deutschland sollten
die revolutionären Unruhen mit Unterbrechungen vom Kieler
Matrosenaufstand im November 1918 bis zum tragisch gescheiterten "deutschen Oktober" des Jahres 1923 anhalten. Sogar in der
angeblich so konservativen Schweiz sah sich die Regierung im Herbst
1918 gezwungen, den quasi-insurrektionären "Landesstreik" vom
Militär unterdrücken zu lassen. In Ungarn und München entstanden
1919 kurzlebige Räterepubliken, und in Wien war es letztlich nur die
Sozialdemokratie, die – ihre ganze Autorität zugunsten der
bürgerlichen Ordnung in die Waagschale werfend – im selben Jahr
die drohende Errichtung der Rätemacht verhinderte. Spanien erlebte
seine drei "bolschewistischen Jahre" 1919-21, und selbst die
Siegermacht Italien schien im biennio rosso – den "zwei
roten Jahren" 1919/20 – an der Schwelle zu einer sozialistischen
Umwälzung zu stehen. Während der Pariser Friedenskonferenz schrieb
Lloyd George in einem Brief an den französischen Ministerpräsidenten
Clemenceau: „The whole of Europe is filled with the spirit of
revolution. There is a deep sense not only of discontent but of anger
and revolution amongst the workmen against prewar conditions. The
whole existing order in its political, social and economic aspects is
questioned by the masses of the population from one end of Europe to
the other.“ (2)
Als Ende Januar 1919 in
Schottland 60-100.000 Arbeiter in den Ausstand traten, um die
40-Stunden-Woche zu erkämpfen (3), schickte die Regierung
10.000 mit Maschinengewehren und einer Haubitze ausgerüstete
Truppen, unterstützt von Flugzeugen und Panzern, nach Glasgow.
Englands Elite glaubte sich am Vorabend einer Revolution. Robert
Munro, der Staatssekretär für Schottland, erklärte in einer
Kabinettssitzung: „[I]t was a misnomer to call the situation in
Glasgow a strike – it was a Bolshevist rising.“ (4) Selbst eine so
unbestreitbare Autorität in Sachen Revolution wie Lenin glaubte
Großbritannien in diesem Jahr einem sozialistischen Umsturz näher
als etwa Frankreich. (5) Zumal es im Winter
1918/19 zu zahlreichen Meutereien in Armee und Marine gekommen war.
Die einfachen Soldaten hatten genug von Kasernenmief, miserabler
Versorgung und arroganten Offizieren. In erster Linie wollten sie
nach Hause, und was sie auf gar keinen Fall wünschten war, gegen die
Russische Revolution ins Feld geschickt zu werden. Kriegsminister
Winston Churchills Traum von einer eine Millionen Mann starken
Khaki-Truppe, die die Bolschewiken wie lästiges Ungeziefer ausmerzen
sollte, ging nicht in Erfüllung. Angesichts dieser Revolten, an
denen sich Zehntausende beteiligten, erschien es fraglich, ob sich
die Regierung im Falle eines wirklichen Massenaufstands noch auf die
Armee hätte verlassen können. Lloyd George bekannte gegenüber
einer Gruppe führender Gewerkschaftsfunktionäre: „The Army is
disaffected and cannot be relied upon. Trouble has already occurred
in a number of camps. If you ... strike, then you will defeat us.“ (6)
Doch die radikale Linke
war in England seit jeher in eine Unzahl kleiner sektenartiger
Grüppchen zersplittert und daher unfähig, sich an die Spitze der
Bewegung zu stellen. Erst 1920/21 wurde die Kommunistische Partei
gegründet. Die altgedienten Labour- und Gewerkschaftsbürokraten
aber, die in diesen Jahren nicht mit radikaler Rhetorik sparten,
fürchteten nichts so sehr wie eine echte Revolution und führten
ihre Anhänger mehr oder weniger bewusst in die Niederlage.
Als am "Schwarzen Freitag" 1921 die Gewerkschaften den streikenden
Bergleuten ihre Unterstützung versagten und der Dreibund aus
Bergleuten, Transportarbeitern (Fuhrleuten) und Eisenbahnern zerbrach, der
bislang die Speerspitze der Bewegung gebildet hatte, schien auch der
Kampfeswille der Arbeiterklasse gebrochen, und die Welle der Streiks
begann allmählich abzuebben.
Doch damit war die Krise nicht überwunden, denn sie wurzelte letztenendes im unaufhaltsamen ökonomischen und weltpolitischen Niedergang Großbritanniens. Im 19. Jahrhundert war England als "workshop of the world" der unangefochtene Herrscher über den Weltmarkt gewesen, während seine Flotten die Meere kontrolliert und seine Armeen und Diplomaten das Empire geschaffen hatten. Doch diese Zeiten waren nun endgültig vorüber. Großbritannien ging geschwächt aus dem Weltkrieg hervor, während die USA sich anschickten, zum neuen Hegemon aufzusteigen. Der Konkurrenz der amerikanischen Industrie, die über die modernsten und effizientesten Produktionstechniken und Managementformen verfügte, waren die englischen Unternehmen mit ihren veralteten Fabriken nicht gewachsen. Die Exportzahlen sanken, die Arbeitslosigkeit stieg sprunghaft an. Ohne die geschützten Märkte des Empires wären die Folgen noch viel dramatischer gewesen. Zugleich geriet die britische Wirtschaft in immer größere finanzielle Abhängigkeit von den Banken der Wall Street.
Das britische Kolonialreich schien den Krieg zwar unbeschadet überstanden zu haben, und im Nahen Osten konnte London seine Macht im Zuge der Zerstückelung des Osmanischen Reiches sogar noch beträchtlich ausbauen, aber in Wahrheit zeigte das Empire in den Nachkriegsjahren immer deutlichere Zeichen des beginnenden Verfalls. Der Kampf des indischen Volkes gegen die Kolonialherren nahm seit 1919 mehr und mehr den Charakter einer revolutionären Massenbewegung an. Bauernaufstände und Arbeiterstreiks erschütterten das Raj. Auf dieser Grundlage startete die Congress-Partei Nehrus und Gandhis 1920/21 ihre berühmte "No-Cooperation" - Kampagne. Im Irak brauchte es monatelange Kämpfe, den Einsatz tausender Soldaten, Giftgas und die Bombardierung zahlloser Dörfer durch die RAF, bis man die rebellierende Bevölkerung 1920 endlich unterworfen und Marionettenkönig Faisal auf den Thron gehievt hatte. In Ägypten brach im März 1919 ein gewaltiger Volksaufstand gegen das britische Protektoratsregime aus. Ähnlich wie in Indien waren es die Arbeiter und Bauern, die der Bewegung ihre Schlagkraft verliehen, auch wenn die "offizielle" Führung – die Wafd-Partei – bürgerlich-nationalistisch war. Im Januar desselben Jahres wurde Londons Macht auch vor der eigenen Haustür herausgefordert, als das irische Parlament die Unabhängigkeit der Grünen Insel proklamierte, und die IRA ihren Guerillakrieg gegen die Besatzer aufnahm, der 1921/22 zum Verlust der ältesten Kolonie Englands führen sollte. Dabei zeigten Episoden wie die zwei Wochen des sogenannten "Sowjets von Limerick" im April 1919 (7), dass neben der nationalistischen Sinn Fein auch die Arbeiterklasse eine wichtige und potentiell revolutionäre Rolle in den irischen Kämpfen spielte.
Und auch an der "Heimatfront" erwies sich der "Schwarze Freitag" schon bald als eine Art Pyrrhussieg. Nach den Wahlen von 1923 zog Ramsay MacDonald als erster Labour-Premier in Downingstreet Nr. 10 ein, was freilich zu keinen weltbewegenden Veränderungen in der Regierungspolitik führte. Auch musste er sein Amt nach wenig mehr als einem Jahr bereits wieder an einen Tory abgeben. Dafür erlebte die gewerkschaftliche Militanz ab 1924 erneut einen mächtigen Aufschwung. Auf dem linken Flügel der Gewerkschaften bildete sich die sog. "Minority-Movement", die eng mit der Kommunistischen Partei und der Profintern (Rote Gewerkschaftsinternationale) zusammenarbeitete und ein rasches Wachstum zu verzeichnen hatte. (8) Auch einige Führer des Trades Union Congress (TUC) (9) rückten unter dem Eindruck der zunehmenden Radikalisierung der Basis deutlich nach links.
Erneut waren es die
Bergleute, die im Zentrum der Kämpfe standen. Die Grubenbesitzer
versuchten, die Kosten der Krise in der britischen Kohleindustrie auf
den Rücken der Arbeiter abzuwälzen und forderten deutliche
Lohnkürzungen und eine Verlängerung der Arbeitszeit. Da zeigte die
Arbeiterbewegung am "Roten Freitag" – dem 31. Juli 1925 –,
dass sie sich endgültig von der Niederlage von 1921 erholt hatte.
Der Generalrat des TUC drohte damit, die Förderung und den Transport
von Kohle in ganz England lahmzulegen, und die rasche Mobilisierung
der Arbeiter zeigte, dass dies keine leeren Worte waren. Die
Unternehmer zogen ihre Forderungen erst einmal zurück.
Doch noch war
der Kampf nicht entschieden. In den folgenden Monaten spitzte sich
die Lage immer weiter zu, und in den Kohlerevieren begann man mit
massenhaften Aussperrungen. Ihren dramatischen Höhepunkt erreichte
die Auseinandersetzung mit dem Generalstreik vom 3.-12. Mai 1926. So
etwas hatte es seit dem "Plug Plot" der Chartisten im Jahre 1842
nicht mehr gegeben. Der Generalrat hatte diese Kraftprobe weder
gewünscht noch sich ernsthaft auf sie vorbereitet. Dafür übertraf
der Enthusiasmus und Kampfeswille der Massen alle Erwartungen (oder
Befürchtungen). Rund vier Millionen Männer und Frauen legten die
Arbeit nieder, und in bürgerlichen Kreisen war das Gefühl weit
verbreitet, man stehe am Rande eines Bürgerkriegs.
Die Regierung war
bemüht, diesen Eindruck möglichst noch zu verstärken, denn Tories
wie Winston Churchill sahen im Generalstreik die ideale Gelegenheit, um die
Gewerkschaften ein für alle Mal zu zerschlagen. Nach dem "Roten
Freitag" hatte die Regierung vorsorglich zwölf Führer der
Kommunistischen Partei ins Gefängnis geworfen und alle nur
erdenklichen Vorbereitungen für den großen Showdown mit der
Arbeiterklasse getroffen. Diese Pläne wurden nun in die Tat
umgesetzt. Der Ausnahmezustand wurde verhängt, Heer und Marine in
Alarmbereitschaft versetzt, Sondereinsatztruppen der Polizei und
staatliche Streikbrechertrupps – die von faschistischen Elementen
dominierte OMS ("Organisation for the Maintenance of Supplies") –
mobilisiert.
Die Furcht des Bürgertums, einer revolutionären
Bedrohung gegenüberzustehen, war nicht unbegründet. Überall im
Land kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern
auf der einen, Polizisten, Soldaten und OMS-Streikbrechern auf der
anderen Seite. Mancherorts übernahmen die Aktionskomitees der
Streikenden die Funktion embryonaler Arbeiterräte (Sowjets) und in
East Fife bildete sich eine siebenhundert Mann starke Arbeitermiliz,
die sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferte – erste
zaghafte Anzeichen einer "Doppelherrschaft" (10),
wie wir sie aus jeder revolutionären Situation kennen.
Der
Generalrat des TUC indessen tat alles, was in seiner Macht stand, um
eine weitere Radikalisierung des Massen zu unterbinden. Seine
Mitglieder, zu denen auch Vertreter des sogenannten linken Flügels
gehörten, beteuerten öffentlich ihre Treue zur Verfassung und
sprachen dem Streik jeden politischen Inhalt ab. J. R. Cleynes von der
"General and Municipal Workers Union" offenbarte die wahren Gefühle
der Gewerkschaftsbürokraten, als er erklärte: „I am not in
fear of the capitalist class. The only class I fear is our own." (11) Aber die Regierung blieb bei ihrem Konfrontationskurs, und
schließlich beendeten die Gewerkschaftsführer hastig die
Arbeitsniederlegung ohne irgendwelche ernstzunehmenden Zugeständnisse
erhalten zu haben. Die von Trotzki scharf kritisierte Politik der
britischen Kommunisten, die auf Order aus Moskau den linken Flügel
des TUC kritiklos unterstützten, spielte für diesen Ausgang des
Kampfes eine entscheidende Rolle. Staat und Unternehmertum
triumphierten.
Der britischen Arbeiterbewegung war eine der
schwersten Niederlagen ihrer Geschichte beigebracht worden. Eine
Reihe von Antigewerkschaftsgesetzen, die im darauffolgenden Jahr
erlassen wurden, erklärten u.a. Solidaritätsstreiks wie den von
1926 für illegal.
* * *
Was all dies mit Tolkien
zu tun hat? Oberflächlich betrachtet sicher nur sehr wenig.
Von 1920
bis 1925 unterrichtete er erst als Lektor, dann als Professor für
englische Sprache an der Universität Leeds. In dieser
nordenglischen Industriestadt wird es ihm kaum möglich gewesen
sein, die großen sozialen Konflikte dieser Jahre zu ignorieren, doch
mehr lässt sich darüber nicht sagen. Wäre er zur Zeit des
Generalstreiks noch dort gewesen, so hätte er Zeuge von gewaltsamen
Tumulten im Stadtzentrum werden können, als aufgebrachte
Arbeiter gegen Streikbrecher im öffentlichen Nahverkehr vorgingen.
Doch er war bereits Anfang 1926 mit seiner Familie nach Oxford
übergesiedelt, wo er die Rawlinson- und Bosworth-Professur für
Angelsächsisch antrat. Damit war er zwar sicher noch stärker vom
englischen Alltagsleben abgeschnitten als bisher, doch selbst Oxford
bildete keine hermetisch abgeschlossene Insel der Gelehrten. Während
des Generalstreiks existierte ein Streikkomitee an der Universität,
über dessen Arbeit eines seiner Mitglieder – Margaret Cole –
berichtet: „Some members of the Labour Club formed a University
Strike Committee, which set itself three main jobs; to act as liaison
between Oxford and Eccleston Square, then the headquarters of the TUC
and the Labour Party, to get out strike bulletins and propaganda
leaflets for the local committees, and to spread them and knowledge
of the issues through the University and the nearby villages.“ Die Feministin und Sozialistin Cole war sicher nicht der Typ Mensch,
mit dem Tolkien Umgang pflegte, aber wir dürfen davon ausgehen, dass
der Generalstreik auch an ihm nicht unbemerkt vorübergegangen sein
wird.
Doch wichtiger als etwaige
direkte Konfrontationen mit den großen sozialen Kämpfen seiner
Zeit, scheint mir der Einfluss, den die allgemeine gesellschaftliche
Krise meiner Ansicht nach auf das Weltbild Tolkiens ausgeübt haben muss. Eine Frage, mit der ich mich hoffentlich in einigen künftigen Essays beschäftigen werde.
* Aus dem Refrain von William Morris' The March of the Workers.
(1) Zit. nach: Humphrey Carpenter: J.R.R. Tolkien. Eine Biographie. S.
268.
(2) Zit. nach: Arno Mayer: Politics and Diplomacy of Peacemaking. S. 8. Vgl.: Nick Beams: The 1920s – The road to depression and fascism. In: Marxism, the October Revolution and the Historical Foundations of the Fourth International. S. 69.
(2) Zit. nach: Arno Mayer: Politics and Diplomacy of Peacemaking. S. 8. Vgl.: Nick Beams: The 1920s – The road to depression and fascism. In: Marxism, the October Revolution and the Historical Foundations of the Fourth International. S. 69.
(3) Zit. nach: E. H. Carr: The Bolshevik
Revolution, 1917-1923. Bd. III. S. 136f. Vgl.: Nick Beams: a.a.O.
S. 70.
(4) Wer Hal Duncans phantastischen
Roman Vellum gelesen hat, erinnert sich vielleicht noch an die
Passagen über den schottischen Revolutionär John Maclean und den
Blutigen Freitag (31. Januar 1919), als auf dem George Square in
Glasgow die Polizei mit ungebremster Brutalität über die friedlich
demonstrierenden Arbeiter herfiel.
(5) Zit. nach: 1915-1920: Red Clydeside and the shop stewards' movement.
(6) Lenin äußerte sich dahingehend
in einem Gespräch mit dem englischen Schriftsteller Arthur Ransome.
Vgl. A. Ransome: Lenin in 1919. In: Albert Rhys Williams:
Lenin – The Man and His Work. S. 168.
(7) Zit. nach: Aneurin Bevan: In
Place of Fear. S. 20. Vgl.: Dave Lamb: Mutinies.
(8) Vgl.: D.R. O'Connor Lysaght: The story of the Limerick soviet, 1919.
(9) Vgl.: Brian Pearce (Joseph Redman): The Early Years of the CPGB & Some Past Rank-and-File Movements.
(10) Der marxistische Begriff der "Doppelherrschaft" meint die Entstehung neuer Machtorgane neben dem existierenden Staatsapparat, die sich direkt auf die aufständischen Volksmassen stützen und die Keimzelle des neuen revolutionären Regimes bilden. Das Phänomen lässt sich in allen großen Revolutionen beobachten. Die bedeutendste Ausnahme bildet in gewisser Hinsicht der Amerikanische Bürgerkrieg, was auf dessen besonderen Charakter als Fortsetzung und Vollendung der bürgerlichen Revolution von 1776 zurückzuführen ist.
(11) Der Dachverband der britischen Gewerkschaften.
(13) Zit. nach: Spartacus Educational: Margaret Cole.
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