"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Montag, 20. Februar 2023

Klassiker-Reread: "Die Legenden der Drachenlanze" von Tracy Hickman & Margaret Weis (2/7)

Mormonisches in Krynn
 
Nach unserer Beschäftigung mit der Entstehung der ursprünglichen  Dragonlance - Saga, nun also der zweite "Begleitartikel" zum diesjährigen Klassiker-Reread von Alessandra Reß und mir. (Bei dem wir diesmal Christina F. Srebalus als Guest Star dabei hatten). Nummer Drei wird übermorgen auf  FragmentAnsichten erscheinen. 
 
Ob dieser Eindruck einer strengen statistischen Überprüfung standhalten würde, sei dahingestellt, aber wenn man einen Blick auf die amerikanische SFF wirft, wird man das Gefühl nicht los, dass Autor*innen mormonischen Glaubens überdurchschnittlich stark in ihr vertreten sind. Die bekanntesten Namen dürften Orson Scott Card, Stephenie Meyer und Brandon Sanderson sein. Doch gibt es noch eine Menge anderer wie z.B. Shannon Hale, James Dashner, Anne Perry und Jessica Day George. Ob sie dem Glauben ihrer Kirche alle ähnlich stark verbunden sind wie Tracy Hickman, weiß ich natürlich nicht. (1) 
 
Erklärungsansätze für dieses Phänomen scheint es eine ganze Menge zu geben. Der Spötter und Zyniker in mir würde ja sagen, dass das Book of Mormon mit seiner bizarren "Urgeschichte Amerikas" als eines einst von Israeliten besiedelten "Gelobten Landes" selbst schon ein Stück Fantasyliteratur ist, die Affinität also bis zu Joseph Smith und den Anfängen der Kirche der Heiligen der Letzten Tage zurückreicht. Tatsächlich erklärte YA-Autorin Julie Berry einmal in einem Interview mit dem Boston Globe:
I think Mormons believe a lot of things that are pretty fantastic – we believe in miracles and angels and ancient prophets and rediscovered Scripture – so maybe it is almost natural for us to dive into these other stories. 
SF-Autor Scott Parkin hingegen zieht zur Erklärung ein relativ unverkrampftes und offenes Verhältnis zu Rationalismus und Wissenschaft heran, das den Mormonismus gegenüber anderen strenggläubigen Strömungen auszeichne:
At its base, Mormons believe there is pretty much a rational basis for everything, including our relationship to God. That things can be understood. So the idea that there are rational explanations and that it’s okay to explore those explanations is one of the reasons why the rigors of science fiction appeals to so many Mormons.
Darüberhinaus erwähnt er ein Gefühl des Außenseitertums, des "Andersseins", das von vielen Mormon*innen geteilt werde und möglicherweise dazu beitrage, warum sie sich zur Phantastik im allgemeinen, nicht nur zur Science Fiction, hingezogen fühlten:
Mormons have always had this sense of alienation, of being on the margins of society, they have a sense of what it means to be isolated, to not be understood by the broader culture, and this gives us a bit of an alien mindset. 
In ihrem Artikel “Is It Something in the Water?” Why Mormons Write Science Fiction and Fantasy erwähnen Katherine Morris & Kathleen Dalton Woodbury die kurze Erzählung The Angel of the Praries als "perhaps the first example of Mormon speculative fiction". Ihr Verfasser Parley P. Pratt war einer der ursprünglichen Zwölf Apostel der Kirche und die Story fand den Beifall des Propheten persönlich. Allerdings ließe sich fragen, ob diese utopische Vision einer theokratischen Regierung, die nach dem Untergang der Vereinigten Staaten über ein blühendes Amerika (und den Rest der Welt) herrscht, diese Bezeichnung tatsächlich verdient, unterscheidet sie sich doch kaum von all den offiziellen "göttlichen Offenbarungen" aus der Frühzeit der Bewegung. 
Ein geeigneterer Kandidat scheint mir da Nephi Andersons 1898 erschienener Roman Added Upon zu sein. Der schildert den Entwicklungsgang mehrerer Seelen von Luzifers Rebellion und dem Krieg im Himmel über die irdische Existenz bis hin zur gottgleichen Freiheit nach der Auferstehung. In seiner Thematik wirkt er wie die Bestätigung einer These, die Literatur- und Religionswissenschaftler Terryl Givens in seinem Buch People of Paradox aufgestellt hat und derzufolge sich die Affinität zur phantastischen Literatur aus dem Charakter der mormonischen Theologie erklären  lasse:
Science fiction (or the more-encompassing ‘speculative fiction’), though still struggling for respect as serious art, is the literary form best suited to the exposition and exploration of ideas at the margins of conventional thinking, whether in technology, ethics, politics, or religion. And indeed, some Mormon doctrine is so unsettling in its transgression of established ways of conceiving reality that it may be more at home in the imagined universes of Card than in journals of theology.

Ein Beispiel dafür sei die mormonische Lehre der "Apotheosis", derzufolge alle Menschen das Potential besitzen, sich nach einer langen, unterschiedliche Existenzformen durchlaufenden Evolution bis auf das Niveau des göttlichen Daseins hinaufzuentwickeln – also quasi selbst Götter zu werden! Eben das wird in dem langen Gedicht beschrieben, das den letzten Teil von Added Upon bildet. Wobei dieser kuriose Evolutionsprozess sogar mit pseudo-darwinistischen Elementen angereichert wird:

In this celestial world, the fittest have
Survived. To them alone the pow'r is given
To propagate their kind. 'Twas wisely planned.
The race of Gods must not deteriorate.
Thus everlasting increase is denied
To those who have not reached perfection's plane.
Herein is justice, wisdom all-divine,
That every child born into spirit world
Has perfect parentage, thus equal chance
Is given all to reach the highest goal,
And win the race which runs up through the worlds.

Das lässt aufhorchen, denn ähnelt das nicht in gewisser Weise Raistlins ehrgeizigem Verlangen in den Legends - Büchern? Und wie hat man sein Ziel, ein leibhaftiger Gott werden zu wollen, vor diesem Hintergrund zu beurteilen? – Eine spannende Frage, der ich hier aber nicht weiter nachgehen will. Stattdessen werde ich mich im folgenden hauptsächlich mit Motiven aus der ersten Dragonlance - Trilogie befassen, die meines Erachtens ziemlich deutliche mormonische Anklänge aufweisen.   

Das zentrale Thema zumindest des ersten Bandes der Chronicles ist die Rückkehr des Wissens um die Wahren Götter nach Jahrhunderten (nicht nur) spiritueller Finsternis, in die Krynn nach dem Cataclysm (2) versunken war. Dies geschieht in Form der "Disks of Mishakal", die die Gefährten in der ersten Hälfte von Dragons of Autumn Twilight aus der versunkenen Stadt Xak Tsaroth bergen. In die einhundertsechzig aus Platin geformten Scheiben ist die Wahre Lehre eingraviert und sie werden später zu so etwas wie der Bibel der neu aufgerichteten Kirche der Guten Götter.
 
Wenn man sich des mormonischen Hintergrunds von Tracy Hickman bewusst ist, wird man gar nicht anders können als hierin eine deutliche Parallele zu den "Goldplatten" zu sehen, von denen Joseph Smith behauptete, dass er sie 1827 unter Anleitung des Engels Moroni im Hügel "Cumorah" im Westen des Staates New York gefunden habe. Auf diesen Platten sollen die "alten Überlieferungen" aufgezeichnet gewesen sein, die den Inhalt des Book of Mormon bilden.
 
Doch damit endet die Sache noch nicht. Wirklich interessant wird es erst mit Goldmoon und Riverwind, die in erster Linie für das Auffinden der "Disks" verantwortlich sind. Dass letzterem auf seiner Queste "a woman dressed in blue light" (die Göttin Mishakal) erschienen ist, könnte man mit Smiths wiederholten Engelsvisionen vergleichen. Aber sehr viel wichtiger ist, dass sich in den beiden Figuren etwas vom mormonischen Blick auf die amerikanischen Ureinwohner widerzuspiegeln scheint. Sie sind "barbarians from the Plains" und gehören zum Stamm der Que-Shu. In dem von Mary Kirchoff herausgegebenen Band The Art of the Dragonlance Saga bekommt man zu lesen:
Goldmoon's character was really unclear until the novels gave her depth. All the artists knew about her at the beginning was that she had silvery golden hair, in contrast to the rest of the tribe, which was viewed as being similar to American indians. (3)
Um die (mögliche) Bedeutung dessen zu verstehen, ist es nötig einen etwas längeren Exkurs in die bizarre Geschichtsmythologie des Mormonismus zu unternehmen.
 
Das Book of Mormon erzählt von vier hebräischen Volksstämmen, die vor Urzeiten Amerika besiedelt hätten. Von diesen interessieren uns hier allerdings nur die Nephiten und die Lamaniten. Die beiden sollen gemeinsam um 600 v.u.Z. die Gestade des neuen "Gelobten Landes" erreicht haben. Bald schon kam es zu Zwistigkeiten zwischen den gottesfürchtigen Nephiten und den abtrünnigen Lamaniten, woraufhin Gott letztere mit einem Fluch belegte, dessen Folgen so beschrieben werden:
And he had caused the cursing to come upon them, yea, even a sore cursing, because of their iniquity. For behold, they had hardened their hearts against him, that they had become like unto a flint; wherefore, as they were white, and exceedingly fair and delightsome, that they might not be enticing unto my people the Lord God did cause a skin of blackness to come upon them. [...]
And because of their cursing which was upon them they did become an idle people, full of mischief and subtlety, and did seek in the wilderness for beasts of prey. (4)
Dieser Fluch wurde Jahrhunderte später noch einmal verstärkt, nachdem die Lamaniten die Nephiten in einem blutigen Krieg vollständig ausgerottet hatten:
for this people shall be scattered, and shall become a dark, a filthy, and a loathsome people, beyond the description of that which ever hath been amongst us, yea, even that which hath been among the Lamanites, and this because of their unbelief and idolatry. (5)
Dass die Lamaniten mit den amerikanischen Ureinwohnern gleichzusetzen sind, wird besonders deutlich, wenn der Prophet Nephi in einer Vision die künftige europäische Kolonisierung Amerikas schaut. Wobei die damit verbundenen Verbrechen und Gewalttaten göttlichen Segen erhalten.
And it came to pass that I beheld many multitudes of the Gentiles upon the land of promise; and I beheld the wrath of God, that it was upon the seed of my brethren [den Lamaniten]; and they were scattered before the Gentiles and were smitten.
And I beheld the Spirit of the Lord, that it was upon the Gentiles, and they did prosper and obtain the land for their inheritance; and I beheld that they were white, and exceedingly fair and beautiful, like unto my people [den Nephiten] before they were slain. (6)
Eine dunkle Hautfarbe als äußeres Zeichen der Verworfenheit eines Volkes zu betrachten, war eine geläufige rassistische Vorstellung der Zeit. Insbesondere im Zusammenhang mit dem sog. "Fluch von Ham", der als religiöse Rechtfertigung für die Sklaverei in den Südstaaten verwendet wurde – auch von mormonischen Autoritäten (7). Im Fall der Lamaniten kommen aber noch einige spezifischere Elemente hinzu. 
Es ist sicher kein Zufall, dass sie als "an idle people" bezeichnet werden, während es von den Nephiten ausdrücklich heißt: "I, Nephi, did cause my people to be industrious, and to labor with their hands." (2 Nephi 5, 17) Die indigenen Völker als "faul" oder "träge" zu bezeichnen, war unter den europäischen Kolonisatoren ziemlich weit verbreitet. Verantwortlich dafür war nicht einfach bloß irgendeine Idee von "weißer Überlegenheit", sondern das Aufeinanderprallen zweier grundverschiedener Gesellschaftssysteme und der auf ihrer Basis erwachsenen Lebensweisen und Wertvorstellungen. Der auf dem Privateigentum basierende Siedler-Kapitalismus auf der einen, die auf unterschiedlichen Formen des Stammeseigentums basierenden indigenen Gesellschaften andererseits. Das äußerte sich auch in der jeweiligen "Arbeitsmoral". Die vom Protestantismus mit religiösen Weihen versehene bürgerliche Grundtugend des "Fleißes", d.h. des "geregelten", disziplinierten "Arbeitstages", musste vor allem den Jäger- und Sammlervölkern fremd sein, einfach weil sie in ihrer Welt keinen Sinn machte. (8)
 
Dass der weiße Siedlerrassismus der Gesellschaft, in der Joseph Smith aufgewachsen war, Eingang in seine "Heilige Schrift" fand, ist vielleicht nicht so verwunderlich. Aber der mormonische Blick auf die Ureinwohner ist durchaus ambivalenter. 
Auf den Lamaniten ruht zwar ein Fluch, aber sie sind zugleich Nachkommen des Auserwählten Volkes. Ihre Wiederaufnahme in die Gnade Gottes wird als eines der zentralen Ereignisse der (nahe bevorstehenden) Endzeit erwartet. Was u.a. die starken Missionsbemühungen und die relativ "tolerante", wenn auch paternalistische Einstellung der frühen Kirche gegenüber den Ureinwohnern erklärt. (9) Als die Mormonen ab 1847 begannen, in Utah einzuwandern, zeigte sich dann allerdings sehr schnell, dass die materielle Dynamik der Kolonisierung stärker war als alle möglichen religiös-ideologischen Vorbehalte. Wie überall an der amerikanischen "Frontier" endete der Zusammenprall der beiden Gesellschaftsformen auch hier mit dem Untergang der indigenen, mit Landraub, Vertreibung, Mord, Hunger, Seuchen und Elend für die eingeborenen Stämme. (10) 
 
Joseph Smiths Nachfolger Brigham Young kodifizierte in seiner Lehre von den "cursed lineages" eine rassistische Hierarchie der "verworfenen Völker". Dabei standen die Lamaniten allerdings immer noch an der Spitze, vor den Juden und den Schwarzen (den Nachfahren Kains). (11) Und ihre künftige Bekehrung blieb auch weiterhin wichtiger Bestandteil der mormonischen Heilsgeschichte. Freilich ist auch diese Vorstellung alles andere als frei vom Rassismus des 19. Jahrhunderts. So wird im Zweiten Buch Nephi prophezeit:
And then shall they rejoice; for they shall know that it is a blessing unto them from the hand of God; and their scales of darkness shall begin to fall from their eyes; and many generations shall not pass away among them, save they shall be a white and a delightsome people. (12)
Wenn eine dunkle Hautfarbe äußeres Anzeichen eines göttlichen Fluches ist, macht es nur Sinn, dass dessen Aufhebung mit der Verwandlung in ein "weißes" Erscheinungsbild einhergeht. Und lange Zeit wurde das in der mormonischen Kirche sehr wörtlich genommen. Wie es 1855 ein Missionar, der unter den Shoshonen am Salmon River in Idaho tätig war, besungen hat:
For we are going to the land of Laman
To plant the Gospel standard there,
To bring them out from degredation
To a people, white and fair. (13)

Vor allem in Reaktion auf die Bürgerrechtsbewegung der 50er & 60er Jahre ist diese wörtliche Interpretation inzwischen zwar aus der Mode gekommen, aber sie stellt doch einen wichtigen Bestandteil mormonischer Tradition dar.

Vor diesem Hintergrund gewinnt Goldmoons " silvery golden hair" doch eine spezielle Bedeutung.
Dass die "Plains People" nach dem Vorbild der amerikanischen Ureinwohner gezeichnet sind, steht außer Frage. Und der Umstand, dass die Stämme ständig im Kampf miteinander liegen, verweist gleichfalls auf die Lamaniten: "And behold also, the Lamanites are at war one with another; and the whole face of this land is one continual round of murder and bloodshed; and no one knoweth the end of the war" (Mormon 8, 8). Doch gleichzeitig kommt von ihnen das Heil. Die Figur des stolzen, verschlossenen und wenig gesprächigen Riverwind lässt unschwer gewisse Züge des "edlen Wilden" erkennen. Ein Klischee, das auch in der Frühzeit des Mormonismus seine Rolle bei der Herausbildung des ambivalenten Lamaniten-Bildes gespielt hatte. Aber zugleich ist er ein Pariah unter seinem eigenen Volk. Denn wie Goldmoon erzählt:
Riverwind's familiy was cast out of our tribe years ago for refusing to worship our ancestors- His grandfather believed in ancient gods who existed before the Cataclysm, though he could find little evidence of them left on Krynn. (14) 
Man könnte seine Familie durchaus mit Lamaniten vergleichen, die dem allgemein in Vergessenheit geratenenen "wahren Glauben" ihrer Vorväter auch in der Zeit der Gottferne die Treue gehalten haben. Und er selbst wird sogar beinah zum Märtyrer, als der Stamm ihn steinigen will, und nur göttliche Intervention ihm das Leben rettet.
Dennoch ist es nicht er, sondern Goldmoon, die am Ende zur ersten "wahren Klerikerin" seit dem Cataclysm wird, nachdem sie sich selbst geopfert hat und von den Göttern ins Leben zurückgeschickt wurde. Durch sie kehrt der "wahre Glaube" in die Welt zurück. Ist es da so abwegig, ihr auffällig "weißes" Erscheinungsbild mit den mormonischen Vorstellungen von der Wiederaufnahme der Lamaniten in die Gnade Gottes zu verknüpfen?
 
Allerdings behält Goldmoon ihre religiöse Führungsrolle nicht lange bei. Sobald die Gefährten die versklavte Bevölkerung von Abanasinia aus der Festung Pax Tharkas befreit haben, tritt Graubart Elistan an die Spitze. Er wird der eigentliche Neubegründer der "Kirche" und bleibt bis in die Legends - Bücher hinein ihr Oberhaupt. Um noch einmal The Art of the Dragonlance Saga zu zitieren:
He was seen as Krynn's answer to Moses, leading the people from their bondage under the evil Verminaard to freedom and the discovery of the true gods. Therefore, it was not unusual that the design team pictured him looking like Charlton Heston! (13)  
Den eigentlichen Exodus, die "Wanderung durch die Wüste", bekommen wir in den Romanen nicht zu sehen. Dragons of Autumn Twilight endet mit der Flucht aus Pax Tharkas und Dragons of Winter Night setzt erst im Zwergenreich von Thorbardin wieder ein. Die dazwischen liegenden Ereignisse werden nur in der RPG-Kampagne (dem Modul Dragons of Hope) genauer abgehandelt. Aber das Motiv des "Auszugs aus der Gefangenschaft" findet sich schon in Larry Elmores frühester Concept Art, war also sicher zentral für den ursprünglichen Storyentwurf.
Meines Erachtens sollte man dabei aber nicht nur an den biblischen Exodus denken, sondern auch an dessen historisch-mythisches Reenactment durch die frühen Mormonen. Der 1846 einsetzende Auszug der Gemeinde aus Nauvoo (Illinois) nach Westen und die anschließende Kolonisierung von Utah nahm in der kollektiven Erinnerung der Gläubigen nämlich die Gestalt einer zweiten "Wüstenwanderung" an, wobei Brigham Young als "Prophet" der Kirche die Rolle des Moses spielte. 
 
Weniger bedeutungsschwer und sehr viel kurioser ist schließlich noch der Fall der "Glasses of Arcanist", einer magischen Brille, die der Kender Tasslehoff Burrfoot in Thorbardin mitgehen lässt und mit der man fremde Sprachen und Schriftzeichen lesen kann. Klingt wie ein typisches RPG-Fantasy-Gimmick, aber der gute Joseph Smith besaß ein ganz ähnliches Artfakt – nach alltestamentarischem Vorbild "Urim & Thummim" genannt –, mit dessen Hilfe er die in "reformiertem Ägyptisch" verfassten Inschriften auf den "Goldenen Platten" gelesen und in das Book of Mormon übersetzt haben soll. Smith war tief verwurzelt in den volksmagischen Traditionen seines Heimatmilieus, und die haben vor allem in der Frühzeit der mormonischen Bewegung deutliche Spuren hinterlassen. "Urim & Thummim" etwa waren die religiös aufgepeppten Nachfolger der "Seer Stones", mit deren Hilfe der künftige Prophet zuvor (ganz professionell!) nach verborgenen Schätzen wie einer verlorenen spanischen Goldmine gesucht hatte ...
 
Nach all dem stellt sich natürlich die Frage, ob Dragonlance nicht nur solche motivischen Anklänge enthält, sondern auch in seinem Gehalt entsprechende Ideen und Wertvorstellungen widerspiegelt.
 
Ich muss gestehen, dass ich die Chronicles in diesem Leben vermutlich nicht noch einmal ganz lesen werde. Weshalb ich auch keine wirklich fundierte Antwort auf diese Frage geben kann. Allerdings habe ich mir vor einiger Zeit mal wieder die (ziemlich dröge) Animationsverfilmung von Dragons of Autumn Twilight aus dem Jahr 2008 angeschaut. (16) Dabei ist mir (erneut) aufgefallen, was für eine zentrale Rolle vor allem gegen Ende das "Vertrauen in die göttlichen Mächte" spielt. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass das in den Büchern ähnlich aufdringlich gewesen wäre. 
Der einzige Punkt, bei dem ich das deutliche Gefühl habe, einen religiös-konservativen Vibe herauszuspüren, ist die Art, in der die Bücher mit Sex und Sexualität umgehen. Besonders deutlich wird das für mich in der Figur Kitiaras. Aber da wir dieses Thema auch in unserer gemeinsamen Gesprächsrunde anschneiden werden, will ich mich hier auf ein anderes, leicht bizarres Beispiel aus Dragons of Autumn Twilight beschränken. Es gibt da nämlich diese kurze Szene, in der Goldmoon plötzlich eine kleine "Kein Sex for der Ehe" - Predigt hält.
Tika und Caramon, die dabei sind ein Paar zu werden, haben sich von Leidenschaft überwältigt beinah gemeinsam in die Büsche geschlagen. Als Goldmoon das mitbekommt, hält sie es für ihre Pflicht, den Krieger beiseite zu nehmen und ein ernstes Wörtchen mit ihm zu reden. Sie klärt ihn darüber auf, dass das ehemalige Schankmädchen in Wahrheit noch sehr unerfahren und unsicher sei und er sie deshalb auf gar keinen Fall drängen dürfe:    
She's frightened, Caramon. She's heard a lot of stories. Don't rush her. She desperately wants approval from you. and she might do anything to win it. But don't let her use that as reason to do something she'll regret later. If you truly love her, time will prove it and enhance the moment's sweetness.
Für sich genommen vielleicht gar kein so schlechter Ratschlag. Aber das Gespräch erhält eine deutlich moralistische Wendung, wenn Goldmoon erklärt, dass auch sie und Riverwind, trotz ihrer bereits sehr viel längeren Beziehung, noch keinen Sex gehabt hätten, und das auch gut und richtig so sei.
We have waited long, and sometimes the pain is unbearable. But the law of my people are strict. [...] When our vows are spoken, we will lie together as man and wife. Not until then. (17) 
Ich kann mich nicht erinnern, dass diese kurze Unterhaltung für den weiteren Handlungsverlauf oder die Entwicklung der Figuren irgendwie von Relevanz gewesen wäre. Was den Eindruck verstärkt, dass wir es dabei in Wirklichkeit mit einer moralischen Message an die jugendliche Leserschaft der Bücher zu tun haben. 
 
Zum Abschluss wollen wir dann doch noch einen kurzen Blick in die Legends werfen. Denn wenigstens ein Motiv gibt es auch dort, das mir zumindest mormonisch angehaucht erscheint – der Kingpriest of Istar.
Eine ebenso mächtige wie korrumpierte Kirche, die quasi nach politischer Weltherrschaft strebt, in deren Reihen Frömmigkeit durch den Glauben an die "falschen Götter" "money, power, ambition" ersetzt wurde, und an deren Spitze jemand steht, der sich selbst für Paladines "true representative on Krynn" hält. (18) – woran könnte einen das erinnern? 
Wie bereits erwähnt beschreibt das Erste Buch Nephi in Form einer Vision die mormonische Interpretation der Geschichte Amerikas. Eine wichtige Rolle spielt dabei die "great and abominable church": "She had dominion over all the earth, among all nations, kindreds, tongues, and people." (1 Nephi 14, 11) Prunk und materieller Reichtum sind ihr äußeres Erkennungszeichen: "And I also saw gold, and silver, and silks, and scarlets, and fine-twined linen, and all manner of precious clothing; and I saw many harlots." (1 Nephi 13, 7) Vor ihrer unterdrückerischen Herrschaft fliehen die Frommen unter den "Heiden" an die Gestade des neuen Gelobten Landes. 
Dass Joseph Smith hier an die antikatholische Polemik der Reformationszeit und die Traditionen der "Pilgerväter" und anderer früher Kolonisatoren anknüpfte, ist unschwer zu erkennen. Dazu gehört auch der Rückgriff auf die Bilderwelt der Johannesapokalypse, wenn die "böse Kirche" mit der Hure Babylon identifiziert wird: "that great church, which is the mother of abominations; and she is the whore of all the earth." (1 Nephi 14, 10).
Ist es zu weit hergeholt, wenn man in der Gestalt des Kingpriest Anklänge an dieses reformatorisch-mormonische Bild von Papsttum und Katholischer Kirche erkennt?
Einen entscheidenden Unterschied gibt es freilich: Die "great and abominable church" ist die Kirche Satans, die sich hauptsächlich damit beschäftigt, die "Heiligen" zu verfolgen und zu ermorden. Auch das natürlich gute alte Tradition, war es in der Reformationszeit doch üblich gewesen, den Papst mit dem Antichrist zu identifizieren. Der Kingpriest hingegen ist trotz seiner Verblendung ein Vertreter des "Guten", kein heimlicher Anhänger der Queen of Darkness. Die Hybris und der Fall Istars sollen ja gerade vor Augen führen, was passiert, wenn das kosmische Pendel zu stark in die "gute" Richtung ausschlägt.
 
Womit wir erneut beim Gut-Böse-Dualismus der ursprünglichen Dragonlance - Saga angekommen wären. Was vielleicht gar kein so schlechter Übergang zu Alessandras "Kanonenfutter"-Beitrag ist, den ihr dann am Mittwoch werdet lesen können.


(1) Mit Wilum H. Pugmire habe ich mich hier vor Zeiten schon einmal mt einem phantastischen Schriftsteller beschäftigt, dessen Beziehung zum Mormonismus sehr konfliktreich war, auch wenn er am Ende seines Lebens in den Schoß der Kirche zurückkehrte.

(2) In der deutschen Übersetzung wird das quasi-apokalyptische Ereignis, bei dem ein riesiger Flammenberg auf die Metropole von Istar herabgestürzt ist, offenbar "Umwälzung" genannt, was für meinen Geschmack denn doch etwas zu harmlos klingt.

(3) Mary Kirchoff: The Art of the Dragonlance Saga. S. 42.

(4) 2 Nephi 5, 21 & 24

(5) Mormon 5, 15

(6) 1 Nephi 13, 14/15

(7) Joseph Smith verwendete dieses Argument erstmals 1836, als er in einem Artikel klar Stellung gegen den Abolitionismus bezog, für den er früher gewisse Sympathien gehegt hatte. Wohl eine politisch motivierte Kehrtwende. Dieselbe Rechtfertigung wurde später auch von Brigham Young verwendet, unter dessen Führung Utah zu einem Sklavenhalterstaat wurde.  

(8) Die grundlegende Bedeutung der unterschiedlichen Eigentumsformen wurde von US-Beamten der Zeit immer wieder ganz offen ausgesprochen. So erklärte z.B. Indian Commissioner T.J. Morgan, das „Gemeineigentum an einem allzu großen Teil des Landes“ sei eine der „schädlichsten und verderblichsten Ursachen, die es den Indianern unmöglich machen, die Wohltaten der Zivilisation zu begreifen“, da sich daraus für sie die „Möglichkeit [ergebe] das von ihnen so geliebte Vagabundenleben zu führen, und die Unmöglichkeit, sich mit dem Privateigentum vertraut zu machen.“ (Zit. nach: Eric Hobsbawm: Europäische Revolutionen. S. 295). Und Commissioner John H. Oberly verurteilte lautstark den "degrading communism" des Stammeseigentums. Nur dessen Zerschlagung und die Parzellierung des Landes werde den Ureinwohnern die Möglichkeit eröffnen, den "exalting egotism of American civilization" nachzuahmen, "so that he will say ‘I’ instead of ‘We,’ and 'This is mine,’ instead of 'This is ours.’“ (Zit. nach: Theodore W. Allen: The Invention of the White Race. Volume 1: Racial Oppression and Social Control. S. 38).

(9) Vgl: Kaleb C. Miner: "O Stop and Tell Me, Red Man": Indian Removal and the Lamanite Mission of 1830-31.

(10) Vgl.: Howard A. Christy: Open Hand and Mailed Fist: Mormon-Indian Relations in Utah 1847-1852. In: Utah Historical Quarterly. Vol. 46, Nr. 3. S. 216-35.

(11) Vgl.: Arnold H. Green: Gathering and Election: Israelite Descent and Universalism in Mormon Discourse. In: Journal of Mormon History. Vol. 25, No, 1 (1999). S. 204-07. Ab den 1880er Jahren wurde die Idee der "cursed lineages" von einigen mormonischen Denkern zusätzlich mit zeitgenössischen rassistischen Theorien wie dem sog. "Anglo-Israelism" verknüpft, der die Überlegenheit der "angelsächsischen Rasse" aus ihrer vermeintlichen Abstammung vom Volk Israel ableitete. Solche Ideen blieben bis weit ins 20. Jahrhundert in den Reihen der Kirche virulent.

(12) 2 Nephi 30, 6. Seit 1981 ist in allen offiziellen Ausgaben des Buches Mormon "white" durch "pure" ersetzt worden, im Einklang mit einer überarbeiteten Fassung, die Joseph Smith selbst 1840 herausgegeben hatte.

(13) Zit, nach: Stanley J. Thayne: The Blood of Father Lehi: Indigenous Americans and the Book of Mormon.  S. 204.

(14) Margaret Weis & Tracy Hickman: Dragons of Autumn Twilight. S. 76.

(15) Mary Kirchoff: The Art of the Dragonlance Saga. S. 102.

(16) Hatte ganz vergessen, dass Goldmoon von Lucy Lawless gesprochen wird. Macht den Film aber leider auch nicht besser ...

(17) Margaret Weis & Tracy Hickman: Dragons of Autumn Twilight. S. 356/57.

(18) Margaret Weis & Tracy Hickman: Time of the Twins. S. 368; 371.

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