"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Sonntag, 28. Januar 2018

Days of Hope

Ich habe mir kürzlich Days of Hope (1975) angeschaut ein vierteiliges TV-Epos, in dem Jim Allen und Ken Loach die Kämpfe der britischen Arbeiterklasse vom 1. Weltkrieg bis zum Generalstreik von 1926 wiederauferstehen lassen. Ein außergewöhnliches und faszinierendes Werk.

Zwar ließe sich vor allem am vierten Teil berechtigte Kritik anbringen. In ihrem Bemühen, ein historisch korrektes Bild davon zu zeichnen, wie die Führung des TUC (Trades Union Congress) den Generalstreik verriet, der Großbritannien in eine vorrevolutionäre Situation gebracht hatte, verzetteln sich Allen und Loach in gar zu vielen Szenen von "Backroom Meetings" zwischen den rechten Gewerkschaftsbürokraten und Vertretern der Tory-Regierung. Inhaltlich ist das zweifellos sehr interessant, nimmt dem zweistündigen Film aber doch viel an Dramatik und Dynamik. Wie Barbara Slaughter in ihrem Nachruf auf Jim Allen geschrieben hat: "His own verdict on the final film [...] is that he 'stayed too close to the documentary evidence' because he 'was afraid of being picked up on accuracy'." Dazu gehört auch eine kurze Szene, in der die {völlig berechtigte} Kritik an der zögerlichen Politik der bereits weitgehend stalinisierten Kommunistischen Partei auf etwas schulmeisterliche Weise vorgetragen wird.
Die stärksten Sequenzen konzentrieren sich auf eines der von den Streikenden geschaffenen "Comitees of Action", die in mancherlei Hinsicht embryonale Arbeiterräte waren, und auf die sich verschärfenden Konflikte zwischen dem Labour-Reformisten Philip Hargreaves, seiner durch den Streik radikalisierten Frau Sarah und ihrem kommunistischen Bruder Ben den drei Personen, die von Beginn am im Zentrum der Miniserie gestanden hatten, im letzten Teil jedoch beinah zu Randfiguren zu werden drohen.
Auch muss gesagt werden, dass das unbedingtes Festhalten an einem quasi-dokumentarischen Naturalismus bei der filmischen Darstellung eines solch gewaltigen historischen Ereignisses, wie es der Generalstreik war, zu einem ästhetischen Hemmschuh werden kann.
Nichtsdestoweniger bleibt Days of Hope ein äußerst sehenswertes Werk. Schwer vorstellbar, dass etwas vergleichbares in der heutigen TV-Landschaft produziert werden könnte.

Drehbuch- und Stückeschreiber Jim Allen (1926-1999) war ein außergewöhnlicher Künstler.
In eine irischstämmige, katholische Arbeiterfamilie aus Manchester hineingeboren, lernte er die Grausamkeiten des Kapitalismus schon sehr früh am eigenen Leibe kennen. Mit Dreizehn beschloss er, die Schule abzubrechen und in der Fabrik zu arbeiten. Nach einer Reihe von Jobs wurde er 1944 in die Armee einberufen. Er gelangte als Mitglied der Besatzungstruppen nach Deutschland, wo er nach einer Kneipenschlägerei für einige Zeit im Militärgefägnis landete. Ein Zellengenosse weckte erstmals sein Interesse für Politik. Er las das Kommunistische Manifest und begann sich für Autoren wie John Steinbeck, Upton Sinclair und Jack London zu begeistern. Nach seinem Abschied von der Armee 1947 verdiente er sich sein Geld für einige Jahre als Bauarbeiter, Heizer in der Handelsmarine und auf den Docks. Schließlich begann er, in der Bradford-Grube in Manchester zu arbeiten.
Anders als die meisten radikalen Arbeiter der Zeit liebäugelte Allen nie mit der Kommunistischen Partei. Er war von Anfang an ein erklärter Antistalinist:
[I was] always completely anti-Stalinist, long before it became popular ... long before the Khrushchev speech.... I've been chased by Stalinists, who sincerely believed I was an agent of capitalism. Once they threw me off a miners' bus travelling at high speed. 
Stattdessen schloss er sich der von Gerry Healy angeführten trotzkistischen Socialist Labour League (SLL) an, die bis zu ihrem Ausschluss 1962 im Rahmen der Labour Party agierte. Zusammen mit einigen weiteren Trotzkisten begann er die Zeitung The Miner herauszugeben, die für eine Rebellion der einfachen Gewerkschaftsmitglieder gegen die bürokratische Führung eintrat. Auf diese Weise zog sich Allen sowohl den Hass der Stalinisten als auch den der rechten Gewerkschaftsbosse zu, was schließlich dazu führte, dass es ihm immer schwerer fiel, Arbeit in den Minen oder auf den Baustellen zu finden. Daran änderte sich auch nichts, als er 1962 aus nicht ganz geklärten Gründen die SLL verließ, zumal er ihr als Sympathisant noch für viele Jahre verbunden bleiben sollte.

Unter diesen Umständen beschloss Jim Allen, es als professioneller Drehbuchautor zu versuchen.
Seine erste Anstellung erhielt er kurioserweise bei Granada Television, für die er von Januar 1965 an Scripts für ihre Soap Opera Coronation Street schrieb. Glücklicherweise schloss er wenig später Bekanntschaft mit dem BBC-Produzenten Tony Garnett. Der gleichfalls aus der Arbeiterklasse stammende Garnett gehörte zu den Schöpfern der Wednesday Plays eines Formats, in dem sich junge und radikale Talente ausprobieren und soziale Fragen sehr viel direkter als bisher üblich anpacken konnten. Er drängte Allen dazu, seinen Coronation Street - Job aufzugeben, wenn er es mit seinem Schriftstellertum wirklich ernst meine. Allen folgte diesem Ratschag, obwohl dies einen Vertragsbruch bedeutete. Sein Einstieg in die Wednesday Plays war das Drehbuch für Jack Golds The Lump (1967), das auf seinen Erfahrungen als Bauarbeiter basierte. Als er bald darauf über Garnett den Regisseur Ken Loach kennenlernte, war dies der Beginn einer langen und fruchtbaren künstlerischen Partnerschaft.
Ihr erstes gemeinsames Projekt war The Big Flame (1969) über streikende Hafenarbeiter, die sich gegen die Autorität der Gewerkschaftsführung auflehnen und unter Führung eines selbsterklärten "Trotzkisten" die Docks von Liverpool besetzen, bis ihre Rebellion von Polizei und Armee niedergeschlagen wird.

Während der gemeinsamen Arbeit am Drehbuch für The Big Flame hatte Allen Tony Garnett mit Gerry Healy bekannt gemacht. Wie der Produzent 2013 in einem Interview erzählt hat:
Through Jim I met dockers in Liverpool and working class people involved in big strikes. I was researching The Big Flame, and I wanted to get it right. That’s when I met Gerry Healy. I didn’t know him personally or much about Trotskyism, but he had the background information I needed and he seemed to be the only person who made sense of anything. I was very impressed by the information Healy gave me and his analysis.
Tony Garnett lud Healy zu den Treffen ein, die der Produzent schon seit einiger Zeit veranstaltete und auf denen über Fragen sozialistischer Politik diskutiert wurde.
Die Kommunistische Partei hatte seit Nikita Chruschtschows "Geheimrede" auf dem XX.Parteitag der KPdSU 1956, in der der Generalsekretär einige der übelsten Verbrechen Stalins eingestanden hatte, und der blutigen Niederschlagung der Ungarischen Revolution im selben Jahr bei vielen britischen Linken stark an Anziehungskraft eingebüßt. Zugleich hatte die Realität der seit 1964 amtierenden Labour-Regierung von Harold Wilson viele der über den sozialdemokratischen Reformismus herrschenden Illusionen zerstört. Ein wichtiger Wendepunkt war der landesweite Streik der Seeleute vom Mai 1966 gewesen, der von Wilson als eine Art "kommunistische Verschwörung" denunziert und mit der Ausrufung des Ausnahmezustands beantwortet worden war. Unter dem Eindruck der sich Ende der 60er Jahre nicht nur in Großbritannien, sondern weltweit verschärfenden Klassenkonflikte suchten viele radikale Arbeiter und Intellektuelle nach neuen politischen Perspektiven.
Gerry Healy muss einen gewaltigen Eindruck auf die bei Garnett versammelten gemacht haben. Der Stücke- und Drehbuchschreiber Trevor Griffiths {am Bekanntesten vielleicht für Reds [1981], Warren Beattys Film über John Reed und Louise Bryant} verewigte dies später in seinem Bühnenstück The Party, das 1973 mit Laurence Olivier in der "healy'esken" Hauptrolle uraufgeführt wurde.* Eine ganze Reihe von ihnen wurden zu Sympathisanten oder sogar zu Mitgliedern der SLL. Zu ihnen gehörten neben Griffiths David Mercer, Roy Battersby und Roger Smith.
     
Allen und Loach setzten ihre Zusammenarbeit 1970/71 mit The Rank and File fort, über den der Autor später allerdings urteilte, der Film sei wohl "zu didaktisch" geraten – "a lantern lecture". 
Als sie sich anschließend daran machten, mit Days of Hope ihr wohl bedeutendstes gemeinsames Fernsehwerk zu schaffen, befand sich Großbritannien in einer Lage, die sich ohne große Übertreibung als vorrevolutionär bezeichnen lässt. Eine unablässige Welle militanter Massenstreiks überrollte das Land, die ihren Höhepunkt im Bergarbeiterstreik von 1974 erreichte, der die Tory-Regierung von Edward Heath zu Fall brachte. Ohne diesen historischen Hintergrund ist die Entstehung von Days of Hope nicht korrekt einzuschätzen. Wie Ken Loach später erklärt hat:
We were really trying to reawaken the memory of that time and to rescue that history. That's something Jim and I have been particularly concerned with in the work we've done together. When people experience political upheaval in the present it always seems as if it comes out of nowhere, but there's always a long struggle that's gone before it, and if we know what happened in the past, we can better understand what's going on now.  
Doch der Sturz der Heath-Regierung erwies sich nicht als die erste Etappe der von so vielen herbeigesehnten Revolution. Vielmehr übernahm einmal mehr die Labour Party das Staatsruder, nur um sich durch ihre arbeiterfeindliche Politik schon bald den Hass breiter Schichten zuzuziehen. Die Folge davon war der Wahlsieg Margaret Thatchers 1979, der eine der reaktionärsten Epochen der jüngeren britischen Geschichte einleitete. Die krasse politische Kehrtwende fand ihren Ausdruck natürlich auch im Bereich der Kultur. Die Film- und Fernsehwelt war einem Künstler wie Jim Allen nicht länger wohlgesonnen. Um noch einmal Ken Loach zu zitieren:  
They were hard times. A script about Ireland was rejected by Channel 4 [television] as being too like a Peckinpah movie. Even the British Film Institute turned him down because "people don't talk like this any more". This from a bunch of arty bureaucrats who would need a translator if they travelled north of Euston.
Jim Allens letzte Arbeiten für die BBC United Kingdom (1981) und Willie's Last Stand (1982) – wurden im Rahmen der Plays for Today, des Nachfolgers der Wednesday Plays, auisgestrahlt. Für den Rest der 80er Jahre musste er sich auf die Theaterbühne zurückziehen. Erst in den 90ern konnte er wieder sein Talent als Drehbuchschreiber unter Beweis stellen, erneut in Zusammenarbeit mit Ken Loach. Nun allerdings nicht fürs Fernsehen, sondern fürs Kino: Gemeinsam schufen die beiden Hidden Agenda (1990), Raining Stones (1993) und Land and Freedom (1995) – eine großartige Abrechnung mit dem Verrat der Stalinisten an der Spanischen Revolution, so etwas wie das filmische Pendant zu George Orwells Homage to Catalonia

Die 60er und 70er Jahre lassen sich in vielerlei Hinsicht als das Goldene Zeitalter des britischen Fernsehens bezeichnen. Die Geschichte der Partnerschaft zwischen Jim Allen und Ken Loach scheint mir Licht auf einen der Gründe hierfür zu werfen.
Nicht dass alle TV-Schaffenden der Zeit revolutionäre Sozialisten gewesen wären. So erstaunlich die Anzahl der Künstler & Künstlerinnen auch ist, die sich in jenen Jahren der SLL annäherten**, bildeten sie natürlich trotzdem eine Minderheit. Auch war die BBC unter der Leitung von General Director Hugh Greene {dem Bruder von Graham Greene} seit 1962 zwar sehr viel offener für die Ambitionen junger und häufig radikalerer Autoren und Regisseure geworden, dennoch hatte sich die Fernsehanstalt selbstverständlich nicht in ein "halbkommunistisches Propagandavehikel" verwandelt, wie konservative Wirrköpfe à la Mary Whitehouse behaupteten. Leute wie Allen und Loach mussten auch in der relativ offenen Atmosphäre, die in der BBC selbst nach Greenes Rücktritt im Oktober 1968 immer noch herrschte, mitunter gegen heftige Widerstände ankämpfen.
Worum es mir geht, ist vielmehr folgendes:
Die 60er und 70er Jahre waren eine Zeit großer kultureller, sozialer und politischer Umbrüche. Doch das allein reicht als Erklärung nicht aus. Schließlich leben auch wir in einer Umbruchszeit, die in mancherlei Hinsicht sogar von sehr viel fundamentalerem Charakter ist. Entscheidend ist vielmehr, wie auf diese Umbrüche reagiert wurde. Viele begannen, einen kritischeren Blick auf die gesellschaftliche Realität zu werfen, zugleich jedoch herrschte eine allgemeine Grundstimmung, derzufolge ein Wandel zum Besseren möglich sei. Die herrschenden Verhältnisse wurden nicht als ewig und unveränderlich angesehen. Dieses Gefühl musste keine konkreten politischen Formen annehmen, es konnte sehr diffus bleiben, aber es war nichts desto weniger vorhanden und beeinflusste das künstlerische Schaffen.
Warum dies so war? Meiner Ansicht spielten zwei Faktoren eine entscheidende Rolle: Zum einen die Existenz einer nach wie vor sehr lebendigen sozialistischen Tradition, die auch jene nicht unbeeinflusst ließ, die sich nicht mit ihr identifizierten. Zum anderen die heftigen und offen ausgetragenen Klassenkämpfe der Zeit, die zugleich den Glauben an die Möglichkeit einer positiven Veränderung stärkten und den grundlegenden Charakter der bürgerlichen Gesellschaft als einer auf Ausbeutung basierenden Klassengesellschaft bloßlegten.

Jim Allen und Ken Loach reagierten darauf mit Filmen, die bewusst politisch und formal naturalistisch waren. Doch es gab auch andere Möglichkeiten, wie ich in meinem nächsten Blogpost zu zeigen versuchen werde. Dann nämlich werden wir uns mit einigen Werken des Drehbuchautors John Bowen beschäftigen, die man mehr oder weniger der Phantastik zuordnen kann. Das prominteste von ihnen wird das Fernsehspiel Robin Redbreast von 1970 sein eines der Gründungswerke des klassischen Folk Horror.





* Healy ist eine äußerst umstrittene Figur in der Geschichte der britischen Arbeiterbewegung, und ich finde es sehr schwierig, mir ein einigermaßen faires Bild von ihm zu machen. Seine zahlreichen politischen Gegner charakterisierten ihn als einen zynischen und brutalen Parteidiktator. Und ohne Zweifel gibt es genug abstoßendes über ihn zu berichten. So nahm das interne Parteiregime der SLL, die sich seit 1973 Workers Revolutionary Party (WRP) nannte, im Verlaufe der 70er Jahre immer autoritärere Züge an, wobei Healy mehr und mehr zum "unfehlbaren Führer" avancierte, der seine zunehmend opportunistische Politik in den verquasten, pseudo-hegelianischen Jargon einer von ihm "entdeckten" Philosophie kleidete. Auch ist der Wahrheitsgehalt der zahlreichen Vorwürfe sexuellen Missbrauchs, die im Verlauf des Zusammenbruchs der WRP 1985 gegen ihn erhoben wurden, nicht wirklich anzuzweifeln. Andererseits war er in den 50er und 60er Jahren einer der politisch prinzipientreuesten Führer innerhalb der Vierten Internationale gewesen.

** David Walsh & David North schreiben in ihrem Nachruf auf Corin Redgrave: "It is worth recalling some of those who gravitated to the SLL: film and television directors Ken Loach and Roy Battersby; writers Jim Allen, Trevor Griffiths, John Arden, Margaretta D’Arcy, David Mercer, John McGrath, Colin Welland, Neville Smith, Tom Kempinski and Troy Kennedy Martin; producers/editors Tony Garnett, Kenith Trodd and Roger Smith; innumerable actors, including the Redgraves, Tony Selby, Jack Shepherd, Frances de la Tour, Malcolm Tierney, David Calder, David Hargreaves, etc.; journalist Francis Wyndham; artist and photographic archivist David King; and countless others. Those who at least participated in theatrical performances or Young Socialist fairs, or lent their names to fund-raising activities, included actors Judy Geeson, Eleanor Bron, Judi Dench, Glenda Jackson, Marty Feldman, Dudley Moore, Suzi Kendall, Helen Mirren, Roy Kinnear and Anthony Booth; poets Adrian Mitchell and Christopher Logue; comic Spike Milligan; singers Annie Ross and Paul Jones (former lead singer of Manfred Mann); rock bands Slade and UB40, among others; harmonica legend Larry Adler; talk show host Michael Parkinson; and so forth."

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