"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Samstag, 20. Oktober 2012

Die revolutionäre Vergangenheit des Grafen

Heute vor einhundertunddreißig Jahren, am 20. Oktober 1882, wurde in Lugos (Lugoj im heutigen Rumänien) der Mann geboren, der wie kein zweiter das Kinobild des Vampirs geprägt hat. Als Kind des ungarischen Geschäftsmanns István Blaskó und seiner Frau  Paula de Vojnitsch wurde er auf den Namen  Béla Ferenc Dezső getauft. In die Filmgeschichte eingegangen ist er als Bela Lugosi.

In krassem Gegensatz zu dem monströsen Grafen Orlok aus Murnaus Nosferatu (1922) spielte Lugosi den transylvanischen Untoten in Tod Brownings klassischer Dracula-Verfilmung von 1931 als distinguierten Aristokraten mit düsterem Charme. In Gestus, Sprache und Aussehen (das schwarze Cape!) oft kopiert und karrikiert, ist es seine Interpretation des adeligen Blutsaugers, die den Leinwandvampir zu einer romantischen Gestalt machte – sexy, verführerisch, tragisch.
Mancher findet den Expressionismus von Brownings Film und Lugosis Spiel heute vielleicht überzogen und etwas lächerlich. Allen, die so empfinden, möchte ich raten, sich Dracula noch einmal anzuschauen und dabei auf eine Szene besonders zu achten. Unmittelbar bevor der Graf eines seiner weiblichen Opfer beißt, sehen wir für einen kurzen Augenblick eine Naheinstellung seines Gesichtes, auf dem sich auf faszinierende Weise Gier und Ekel paaren. In ihrer Subtilität ist diese Szene für mich nicht nur der schlagendste Beweis für die Qualität von Brownings Film (1), sondern macht zugleich verständlich, warum Bela Lugosi das Mienenspiel für die Essenz der Schauspielkunst hielt {weshalb er auch die Rolle von Frankensteins Monster ablehnte und damit ungewollt Boris Karloff den Weg zum Ruhm ebnete}.

Leider habe ich momentan nicht die Möglichkeit, meine Bekanntschaft mit den wichtigsten Lugosi-Filmen aus der goldenen Ära des Universal-Horrors (Dracula, The Mark of the Vampire, The Raven) aufzufrischen, weshalb ich auch gar nicht erst versuchen werde, den Beitrag des großen Bela zum Genre ausführlicher zu würdigen. In diesem Zusammenhang möchte ich lediglich auf zwei vielleicht etwas weniger bekannte Werke verweisen:
Da wäre zum einen Victor Halperins White Zombie aus dem Jahre 1932. Auch wenn die meisten Mitwirkenden – mit Ausnahme Lugosis natürlich – schauspielerisch miserable Leistungen abliefern, verdient der Film als Urvater der Zombie-Flicks alter Schule {Südsee, Voodoo, Trommelklänge} auf jedenfall Beachtung. Auch wollen manche aufgrund seiner leicht surrealen Atmosphäre in ihm einen Vorläufer des Val Lewton - Horrors der 40er Jahre sehen.
Zum anderen möchte ich allen Freundinnen und Freunden des klassischen Grauens Edgar G. Ulmers The Black Cat von 1934 empfehlen. Mit Edgar Allan Poes berühmter Kurzgeschichte hat der Streifen freilich so gut wie nichts zu tun. Auch hinterlässt er einen eigentümlich inkonsistenten Eindruck {so als habe man einige Szenen herausgeschnitten}. Dennoch bleibt diese erste Zusammenarbeit von Bela Lugosi und Boris Karloff eine der faszinierendsten Produkte der für Horrorfans so reichen 30er Jahre. (2) Dass das Gemetzel des 1. Weltkriegs den eigentlichen Hintergrund für die Geschichte abgibt, verdient besondere Beachtung, da Lugosi in diesem Punkt auf sehr eindrückliche persönliche Erfahrungen zurückgreifen konnte.

Damit nähern wir uns einem Abschnitt aus Belas Leben, der oft entweder als nebensächlich abgetan oder in verzerrter Weise dargestellt wird.
In dem an sich ganz netten biographischen Eintrag in der Vampyrbibliothek lesen wir darüber:
Zu der Zeit, als die österreichisch-ungarische Monarchie zusammenbrach und es für kurze Zeit zu einem blutigen kommunistischen Regime kam, war er einer der führenden Schauspieler Budapests. Lugosi hatte bei der Gründung einer Schauspielergewerkschaft mitgewirkt und führte ihre Protestmärsche bis 1919 an, als er sich aus Angst um sein Leben schließlich gezwungen sah, nach Deutschland zu flüchten.
Es widerstrebt mir, irgendjemandem ohne stichfeste Belege bewusste Geschichtsfälschung zu unterstellen, und so will ich diesen Abschnitt lieber als eine Mischung aus ungeschickter Formulierung und historischer Ignoranz betrachten. Der uninformierte Leser muss auf jedenfall den Eindruck gewinnen, als sei Lugosi vor den Schrecken des "blutigen kommunistischen Regimes" geflohen, gegen das er zuvor Protestmärsche angeführt habe. Und damit hätte man die tatsächlichen Ereignisse von 1919 auf den Kopf gestellt.

Bela Lugosi gehörte zu den Zehntausenden ungarischer Soldaten, die in der Armee des K.u.K. - Reiches in den Karpathen und in Russland hatten kämpfen und leiden müssen. Wie so viele seiner Kameraden, die 1918/19 nach Ungarn zurückkehrten und eine von wirtschaftlichem Kollaps, Hunger und der Spanischen Grippe verwüstete Heimat vorfanden, richtete auch er seinen Hass gegen diejenigen, die die Völker Europas in das Schlachthaus des Weltkriegs gehetzt hatten. Offenbar gehörte er zu den politisch Aufgeklärteren, die verstanden, dass es nicht ausreichte, ein paar Könige und Fürsten zum Teufel zu jagen, sondern dass es notwendig war, den Kapitalismus mit Stumpf und Stiel auszurotten und durch eine sozialistische Ordnung zu ersetzen. Die deutsche Wikipedia behauptet, er habe sich der Kommunistischen Partei angeschlossen. Da der Artikel keinerlei Belegstellen dafür anführt, wäre ich mir da nicht so sicher. Im Grunde ist das aber auch gar nicht so wichtig.
Das Ungarn, in das Lugosi und seine Kameraden von der Front zurückkehrten, war bereits in revolutionären Umwälzungen  begriffen. Die Massenstreiks vom Januar 1918 hatten die Regierung dazu gezwungen, das allgemeine Wahlrecht einzuführen. Und auch wenn die Führer der sozialdemokratischen MSzDP und der Gewerkschaften alles versuchten, um eine weitere Radikalisierung der Massen einzudämmen, war die Bewegung nicht mehr aufzuhalten. Den Sommer über konnten einzelne Soldatenrevolten und Arbeiterdemonstrationen zwar noch mit brutaler Gewalt niedergeschlagen werden, doch nachdem eine Massendomstration am 28. Oktober mit einem weiteren Polizeimassaker beantwortet worden war, kam es zum revolutionären Aufstand der Arbeiter und Soldaten in Budapest. Ungarn wurde zur Republik ausgerufen und der aus linksbürgerlichen Politikern und rechten Sozialdemokraten bestehende Nationalrat unter Führung von Graf Károlyi übernahm die Staatsgewalt. Parallel zu dieser neuen Regierung bildeten sich allerortens Arbeiter- und Soldatenräte. Károlyi und seine Minister bebabsichtigten selbstverständlich keine soziale Umwälzung. Vielmehr bemühten sie sich, Truppen aufzustellen, um die revolutionäre Bewegung niederzuwerfen, derweil sie mit leeren Versprechungen über eine geplante Agrarreform, die bäuerliche Bevölkerung auf ihre Seite zu bringen versuchten. Die Gewerkschaftsführer und Sozialdemokraten ihrerseits beschworen die Arbeiter, im Namen der nationalen Einheit auf den Klassenkampf zu verzichten, wie sie es bereits den ganzen Krieg über getan hatten. Wen wundert es, dass die Massen sich in Scharen von ihnen abwandten? Im November wurde durch den Zusammenschluss militanter Budapester Arbeiter und einer von Bela Kun angeführten Gruppe aus Sowjetrussland zurückgekehrter Kriegsgefangener die Kommunistische Partei gegründet, die sehr schnell Zehntausende von Anhängern zu gewinnen vermochte. Dies war die Zeit, als Lugosi an der Spitze von Protestzügen durch die Straßen von Budapest marschierte. Die Regierung wusste sich nicht anders zu helfen als mit nackter Gewalt. Hunderte revoltierender Bauern, Arbeiter und Soldaten wurden ermordet. Als man schließlich die Führer der KP am 20. Februar 1919 verhaftete und kurz darauf Nachrichten über ihre Folterung durch die Polizei an die Öffentlichkeit drangen, führte dies nur zu einer weiteren Radikalisierung der Massen. Der Streik der Drucker von Budapest, der am 20. März begann und sich beinahe augenblicklich in einen Generalstreik verwandelte, leitete das Ende der bürgerlichen Regierung ein. Károlyi trat zurück, die Sozialdemokraten begannen Verhandlungen mit den inhaftierten Kommunisten, MSzDP und KP vereinigten sich und die Räterepublik wurde proklamiert.

Es ist hier kaum der richtige Ort, um die Geschichte der 133 Tage Räteungarns und die Gründe für seinen Sturz zu beschreiben. Es sei jedoch festgehalten, dass es sich keineswegs um das "blutige Regime" aus den Schauermärchen antikommunistischer Propagandisten handelte. Dem "roten Terror" fielen insgesamt 129 Menschen zum Opfer. Eine überraschend geringe Zahl, verglichen sowohl mit den Opfern der Károlij-Regierung als vor allem mit denen des  "weißen Terrors", der dem Fall der Rätemacht und dem Einmarsch rumänischer Truppen im August folgte. Zwischen dem 15. und 31. August wurden rund 5000 Menschen von den Söldnern der Konterrevolution ermordet. Dieses Wüten der Verteidiger von Ordnung, Eigentum und Religion war es, vor dem Bela Lugosi gemeinsam mit seiner Familie nach Wien flüchtete. Es ist anzunehmen, dass sein Name auf den Todeslisten der Weißen stand.

Die Räteregierung bemühte sich in der kurzen Zeit ihres Bestehens auch auf dem Gebiet von Kunst und Kultur um eine grundlegende Revolutionierung und Demokratisierung:
Die beiden Bildungskommissare Kunfi und [Georg] Lukács schufen Bedingungen für einen bis dahin einmaligen Aufschwung von Kultur. 80 Prozent der Grund- und Mittelschulen, die der Kirche unterstanden, wurden nationalisiert. Obligatorischer Schulbesuch bis zum 14. Lebensjahr, Hochschulstudium, Museums- und Parkbesuche waren kostenlos. Lukács bestand darauf, daß sich alle künstlerischen Richtungen entfalten können, daß der Staat nicht in die Angelegenheiten von Kultur und Wissenschaften hineinreden dürfe. Zwar habe die Rätemacht alle institutionellen Mittel in Besitz genommen, die zur Verbreitung der Kultur notwendig seien. Daß Kunstschätze, Theater, Schulen, Museen im Staatsbesitz seien, »schaffe aber nur die Möglichkeit der neuen Kultur, der tatsächlichen Besitzergreifung, jener Epoche, in der alle Werte der Kultur zum inneren Besitz aller Arbeiter werden«. Denn das »Bild, das Buch, die Schule gehören nicht denen, derer tatsächlicher oder rechtmäßiger Besitz sie sind, sondern denen, die aus ihr Freude und Erbauung schöpfen können« [G. Lukács: Die tatsächliche Inbesitznahme der Kultur]. (3)
Eine ganze Reihe bedeutender Künstler und Intellektueller wie Béla Bartók, Sándor (Alexander) Korda und Béla Balász arbeiteten begeistert für das Volkskommissariat für Bildung. Lugosi befand sich hier wirklich in bester Gesellschaft. Einem seiner revolutionären Genossen würde er später in Hollywood wiederbegegnen: Dem Filmemacher Mihály Kertesz, besser bekannt unter seinem amerikanischen Namen Michael Curtiz – Regisseur so großartiger Filme wie Casablanca, Captain Blood, Kid Galahad, Angels with Dirty Faces, The Private Life of Elizabeth and Essex, The Sea Hawk, Mildred Pierce und Flamingo Road. (4)

Ich will keineswegs behaupten, dass Bela Lugosis revolutionäre Vergangenheit für sich genommen einen entscheidenden Einfluss auf sein späteres schauspielerisches Werk gehabt hätte. Nichts spricht dafür, und in den USA vermied er aus verständlichen Gründen peinlichst, auf diese Zeit zu sprechen zu kommen. Auch wüsste ich nicht, dass er in den 30er oder 40er Jahren zu den damals einflussreichen linken Kreisen Hollywoods gehört hätte. Dennoch halte ich all dies nicht für eine belanglose Anekdote. Wie so viele Größen der Goldenen Zeit von Hollywood war auch Bela Lugosi das Produkt eines ausgesprochen kultivierten Milieus, in dem die Revolte gegen die bürgerliche Ordnung in mehr oder weniger bewusster Form eine zentrale Rolle spielte. Verglichen mit den meisten, die heute in der Filmwelt Rang und Namen haben, verfügte er über einen unvergleichlich weiteren kulturellen wie politischen Horizont, war geprägt durch eine Ära der Massenkämpfe und revolutionären Umwälzungen. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass dies auch auf seine künstlerische Arbeit Einfluss haben musste, wenn auch nicht in direkter und offensichtlicher Form. Es ist die Intensität seines Spiels, in der wir etwas von der Intensität seines Lebens und seiner Epoche wiederfinden. Und ist sie es nicht letztlich, die ihn zu einer Ikone des Horrorfilms gemacht hat? So gesehen führt vielleicht doch ein verborgener Weg von der Räterepublik zu Graf Dracula.   



(1) Es wird behauptet, dass Kameramann Karl Freund (Der Golem, Der letzte Mann, Metropolis; später: The Seventh Cross, Key Largo) bei Dracula oft die Rolle des Regisseurs übernommen habe. Dass er dazu fähig war, zeigt sein im darauffolgenden Jahr entstandener Boris Karloff - Streifen The Mummy. Möglich also, dass Freund und nicht Browning für diese Szene verantwortlich war.
(2) Für weitere Informationen verweise ich auf The Black Cats of Poe I, die einundvierzigste Episode von Jim Moons Hypnobobs.
(3) Karl-Heinz Gräfe: Von der Asternrevolution zur Räterepublik. Ungarn 1918/19. S. 896f.
(4) Vgl. David Walsh: Film, history and socialism. Part two.

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