Die von Stephen Knight in seinem 1976 veröffentlichten Buch Jack the Ripper: The Final Solution entwickelte Theorie, die Whitechapel-Morde von 1888 seien das Werk einer Regierungsverschwörung mit dem Ziel gewesen, alle Mitwisserinnen einer Affäre zwischen Königin Victorias Enkel Prinz Albert Victor und der aus einfachen Verhältnissen stammenden Annie Elizabeth Crook zu beseitigen, ist von Historikerseite zwar nie wirklich ernst genommen worden, hat sich in künstlerischer Hinsicht jedoch als erstaunlich fruchtbar erwiesen. Das zu Recht wohl bekannteste Beispiel dafür dürfte Alan Moores & Eddie Campbells Comic From Hell sein. Doch bereits drei Jahre nach Erscheinen von Knights Buch hatte die Idee als Grundlage für Bob Clarks Film Murder by Decree gedient
Nicht zum ersten Mal begegneten sich hier Sherlock Holmes und Jack the Ripper auf der Leinwand. Schon vierzehn Jahre zuvor war es in James Hills A Study in Terror* zu einem derartigen Aufeinandertreffen gekommen. Doch ausgehend von Knights Verschwörungstheorie und dem bereits etwas älteren Buch The Ripper File von Elwyn Jones & John Lloyd verwendeten Bob Clark und Drehbuchautor John Hopkins anders als Hill die Konfrontation zwischen Meisterdetektiv und Serienkiller als Aufhänger für eine Geschichte mit deutlich politischer und sozialkritischer Stoßrichtung. Für einen Holmes-Film Ende der 70er Jahre sicher eine ziemlich originelle Idee. Ihre Umsetzung scheint mir jedoch leider nicht sonderlich geglückt.
Der wichtigste Grund zuerst: Christopher Plummers Sherlock Holmes und James Masons Dr. Watson wirken auf mich wenig überzeugend. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, wenig ansprechend. Die beiden sind ohne Zweifel talentierte Schauspieler, aber für diese Rollen scheinen sie mir nicht recht zu passen. Sie umgibt einfach nicht das richtige Flair. Das Drehbuch ist in dieser Hinsicht allerdings auch nicht eben hilfreich. Watson wirkt wie eine unglückliche Mischung aus dem trotteligen Sidekick à la Nigel Bruce und dem kompetenten und respektablen Gentleman und Mediziner aus der Granada-Serie.** Die Dialoge der beiden sollen vermutlich witzig wirken, doch in den meisten Fälle haben sie bei mir eher den Eindruck einer Beziehung hinterlassen, die ich kaum als wirklich freundschaftlich bezeichnen würde.
Ganz gleich, was die Geschichte sonst noch zu bieten hat, ein Holmes-Film ohne überzeugenden Holmes hat ein echtes Problem. Der Meister des deduktiven Denkens ist eine ikonische Figur. Sein Charakter, seine Manierismen, seine physische Erscheinung, sie alle bilden einen wichtigen Bestandteil dessen, was den Reiz einer Holmes-Story ausmacht. Weshalb ich mir z.B. selbst die schlechteren der Flicks mit Basil Rathbone immer mal wieder ganz gerne anschaue, war er doch eine wirklich gelungene {wenn auch nicht die beste} filmische Inkarnation des großen Detektivs.
Die übrige Besetzung von Murder by Decree lässt allerdings kaum etwas zu wünschen übrig: Susan Clark als Mary Kelly, Geneviève Bujold als Annie Crook, Donald Sutherland als Mystiker Robert Lees, Frank Finlay als Inspektor Lestrade, Anthony Quayle als Sir Charles Warren. Sie alle wirken überzeugend in ihren Rollen.
In cinematographischer Hinsicht enthält Murder by Decree manch sehenswertes. Bereits die Eröffnungsszene mit der Skyline des viktorianischen London vor einem wolkenverhangenen, am Horizont noch leicht rötlich verfärbten Abendhimmel wirkt sehr eindrucksvoll, schafft sie doch augenblicklich eine bedrückende, unheilsschwangere Atmosphäre, welche durch die schrille Pfeife eines Polizisten und den melancholischen Glockenschlag von Big Ben noch verstärkt wird.
Im nächsten Moment finden wir uns bereits in die düsteren Gassen des nächtlichen Whitechapel versetzt, wo ein Großteil des Filmes spielen wird. Und auch wenn die dort angesiedelten Szenen mitunter noch ein wenig an das Klischeebild des "nebelverhangenen London" aus dem Brit-Horror der 60er Jahre erinnern, besitzen sie im ganzen doch eine sehr viel "naturalistischere" Düsternis. Von dem "gotischen" Charme der Kulissen alter Hammer-Filme ist wenig übriggeblieben.
Gleichfalls recht beeindruckend sind die meisten der Morde des Rippers in Szene gesetzt. Bob Clark war von Haus aus ein Horror-B-Movie-Regisseur. {Auch wenn er seine größten Erfolge später mit solch peinlichem Müll wie den Porky's - Filmen feiern konnte.} Bevor er mit Murder by Decree versuchte, von Kanada aus in die respektableren Regionen der Filmindustrie vorzustoßen, hatte er sich unter Genrefans einen Namen mit Children Shouldn't Play With Dead Things (1973), Deathdream aka Dead of Night (1974) und Black Christmas (1974) gemacht. Ich habe noch keinen dieser Filme gesehen, könnte mir jedoch vorstellen, dass er bei der Arbeit an ihnen gelernt hatte, wie man als Regisseur eine Mordszene so gestaltet, dass sie beim Publikum ein Höchstmaß an Grauen hervorruft. Womit ich nicht gesagt haben will, dass die entsprechenden Sequenzen in Muder by Decree geeignet wären, Alpträume hervorzurufen. Aber sie sind auf jedenfall geschickt komponiert und effektiv.
Die mit Abstand beeindruckendste Szene ist für mich allerdings die Begegnung zwischen Holmes und der in einem "Asyl" für Geisteskranke eingesperrten Annie Crook. Das Schicksal der jungen Frau – von ihrem aristokratischen Liebhaber fallengelassen und von den ehrenwerten Männern der Establishments dazu verdammt, den Rest ihres Lebens in der Hölle einer viktorianischen "Irrenanstalt" zu verbringen – illustriert auf eindringlichere Weise als selbst die Ripper-Morde die Grausamkeit einer herrschenden Elite, die ohne zu zögern das Leben von Menschen zerstört, die nicht zu ihren erlauchten Kreisen gehören, wenn es darum geht, die eigene Macht zu verteidigen. Zugleich ist dies die stärkste Holmes-Szene. Wir sind es gewohnt, den Meisterdetektiv als ruhig, überlegen, fast ein bisschen arrogant zu erleben. Um so heftiger ist der Eindruck, der entsteht, wenn sich Holmes plötzlich wutentbrannt auf den Direktor des "Asyls" stürzt und ihn zu würgen beginnt. Er, der es gewohnt ist, dank seines überlegenen Intellektes jede Situation beherrschen zu können, sieht sich auf einmal mit Mächten konfrontiert, gegen die er hilflos ist. Er kann Annie nicht retten, denn die, die ihr das angetan haben, sind die Herren der Gesellschaft. Ihm bleibt nichts anderes als Wut und Verzweifelung.
Damit kommen wir zum eigentlichen Inhalt von Murder by Decree, und damit zum zweiten großen Problem, das ich mit dem Film habe. In seiner Kritik an der herrschenden Elite des viktorianischen Englands scheint er ziemlich kompromisslos zu sein. Die royalistischen Loyalitätsbekundungen Dr. Watsons müssen erbärmlich wirken vor dem Hintergrund der Bluttaten, die im Namen und zur Verteidigung der Monarchie begangen werden. Und die Ripper-Verschwörung ist da nur das offensichtlichste Beispiel. Wenn zum ersten Mal der Name Charles Warren fällt, wird ganz nebenbei erwähnt, dass der Commissioner of Police ein Jahr zuvor für die Ereignisse vom Blutsonntag*** verantwortlich war. Das Abschlachten der Prostituierten in Whitechapel steht damit stellvertretend für all die Brutalitäten der Klassengesellschaft.
Soweit ist das alles ganz wunderbar, doch leider führen Hopkins und Clark daneben auch noch eine Gruppe von Radikalen ein, die sich als ebenso rücksichtslos herausstellen, wie die Vertreter des Establishments. Sie gedenken, die Whitechapel-Morde auszunutzen, um die Monarchie zu stürzen. Und um dieses Ziel zu erreichen, sind sie bereit, den Tod weiterer Frauen in Kauf zu nehmen, da die Wahrheit über die Verbrechen der Herrschenden auf diese Weise noch erschreckender wirken werde, wenn sie ans Licht kommt.
Was mich daran stört, ist in erster Linie nicht die Diffamierung englischer Revolutionäre des späten 19. Jahrhunderts. Das ist ärgerlich genug. Viel schlimmer jedoch erscheint mir, dass der Film durch die Einführung dieses Elementes einen Großteil seiner kritischen Stoßkraft einbüßt. Die ganze Geschichte läuft damit letztlich auf die demoralisierte Aussage hinaus, dass Politik in jedem Fall ein schmutziges Geschäft sei. Ob Royalisten oder Republikaner, Reaktionäre oder Revolutionäre, alle sind sie bloß skrupellose Macchiavellisten, die nur an die Förderung ihrer eigenen Ziele denken. Die Konsequenz, die wir aus dieser Erkenntnis zu ziehen haben, wird uns in Gestalt von Holmes exemplarisch vor Augen geführt. Angewidert wendet sich der Detektiv von beiden Fraktionen ab und zieht sich auf einen scheinbar "überlegenen", "unabhängigen" Standpunkt zurück, von dem aus er alle beteiligten Parteien moralisch verdammen kann. Diese letztlich zynische Haltung scheint mir auch der Grund für die äußerst enttäuschend wirkende Schlussszene des Filmes zu sein. Nachdem er Jack the Ripper zur Strecke gebracht hat, wird Sherlock Holmes zum Premierminister (Lord Salisbury) bestellt. Was als eine Art Verhör des Detektivs geplant war, endet mit einer Anklagerede desselbigen gegen die mächtigsten Männer des Empire. Doch es ist eine moralische, keine politische Rede. Angeklagt wird nicht das System, sondern eine Handvoll skrupelloser Schurken, die sich hinter Titeln, Positionen und einer perversen Moral verstecken.
Natürlich wäre es völlig absurd gewesen, hätten Hopkins und Clark Holmes am Ende in einen Revolutionär verwandelt. Eine solche Position würde einfach nicht zu ihm passen. Doch einen wieviel stärkeren Eindruck hätte das Finale von Murder by Decree hinterlassen, wenn der Film auf jener wütenden und verzweifelten Note ausgeklungen wäre, die er auf so effektvolle Weise in der Szene in der "Irrenanstalt" angeschlagen hatte! Holmes als integre und humane Persönlichkeit, die an der Ungerechtigkeit der herrschenden Verhältnisse verzweifelt, wäre sehr viel beeindruckender gewesen, als Holmes als moralischer Richter über eine Clique von Politikern.
* Kein Film, den man unbedingt gesehen haben müsste, aber er hat seine Momente. Und Robert Morleys kurzer Auftritt als furchtbar eitler Mycroft Holmes ist irgendwie putzig.
** Vgl.: 4. Advent: "The Blue Carbuncle"
*** Am 13. November 1887 sprengten ca. 5000 Polizisten & Soldaten mit brutaler Gewalt eine Massendemonstration auf dem Trafalgar Square. Die in großer Mehrheit aus dem armen East End von London gekommenen Menschen hatten sich unter der Führung von Sozialisten und Radikalen wie John Burns, William Morris und Annie Beasant versammelt, um u.a. gegen die grassierende Arbeitslosigkeit und die fortdauernde Unterdrückung Irlands zu protestieren. Das gewaltsame Eingreifen der Staatsmacht führte zu mehreren Toten und zahlreichen schwer Verletzten.
Nicht zum ersten Mal begegneten sich hier Sherlock Holmes und Jack the Ripper auf der Leinwand. Schon vierzehn Jahre zuvor war es in James Hills A Study in Terror* zu einem derartigen Aufeinandertreffen gekommen. Doch ausgehend von Knights Verschwörungstheorie und dem bereits etwas älteren Buch The Ripper File von Elwyn Jones & John Lloyd verwendeten Bob Clark und Drehbuchautor John Hopkins anders als Hill die Konfrontation zwischen Meisterdetektiv und Serienkiller als Aufhänger für eine Geschichte mit deutlich politischer und sozialkritischer Stoßrichtung. Für einen Holmes-Film Ende der 70er Jahre sicher eine ziemlich originelle Idee. Ihre Umsetzung scheint mir jedoch leider nicht sonderlich geglückt.
Der wichtigste Grund zuerst: Christopher Plummers Sherlock Holmes und James Masons Dr. Watson wirken auf mich wenig überzeugend. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, wenig ansprechend. Die beiden sind ohne Zweifel talentierte Schauspieler, aber für diese Rollen scheinen sie mir nicht recht zu passen. Sie umgibt einfach nicht das richtige Flair. Das Drehbuch ist in dieser Hinsicht allerdings auch nicht eben hilfreich. Watson wirkt wie eine unglückliche Mischung aus dem trotteligen Sidekick à la Nigel Bruce und dem kompetenten und respektablen Gentleman und Mediziner aus der Granada-Serie.** Die Dialoge der beiden sollen vermutlich witzig wirken, doch in den meisten Fälle haben sie bei mir eher den Eindruck einer Beziehung hinterlassen, die ich kaum als wirklich freundschaftlich bezeichnen würde.
Ganz gleich, was die Geschichte sonst noch zu bieten hat, ein Holmes-Film ohne überzeugenden Holmes hat ein echtes Problem. Der Meister des deduktiven Denkens ist eine ikonische Figur. Sein Charakter, seine Manierismen, seine physische Erscheinung, sie alle bilden einen wichtigen Bestandteil dessen, was den Reiz einer Holmes-Story ausmacht. Weshalb ich mir z.B. selbst die schlechteren der Flicks mit Basil Rathbone immer mal wieder ganz gerne anschaue, war er doch eine wirklich gelungene {wenn auch nicht die beste} filmische Inkarnation des großen Detektivs.
Die übrige Besetzung von Murder by Decree lässt allerdings kaum etwas zu wünschen übrig: Susan Clark als Mary Kelly, Geneviève Bujold als Annie Crook, Donald Sutherland als Mystiker Robert Lees, Frank Finlay als Inspektor Lestrade, Anthony Quayle als Sir Charles Warren. Sie alle wirken überzeugend in ihren Rollen.
In cinematographischer Hinsicht enthält Murder by Decree manch sehenswertes. Bereits die Eröffnungsszene mit der Skyline des viktorianischen London vor einem wolkenverhangenen, am Horizont noch leicht rötlich verfärbten Abendhimmel wirkt sehr eindrucksvoll, schafft sie doch augenblicklich eine bedrückende, unheilsschwangere Atmosphäre, welche durch die schrille Pfeife eines Polizisten und den melancholischen Glockenschlag von Big Ben noch verstärkt wird.
Im nächsten Moment finden wir uns bereits in die düsteren Gassen des nächtlichen Whitechapel versetzt, wo ein Großteil des Filmes spielen wird. Und auch wenn die dort angesiedelten Szenen mitunter noch ein wenig an das Klischeebild des "nebelverhangenen London" aus dem Brit-Horror der 60er Jahre erinnern, besitzen sie im ganzen doch eine sehr viel "naturalistischere" Düsternis. Von dem "gotischen" Charme der Kulissen alter Hammer-Filme ist wenig übriggeblieben.
Gleichfalls recht beeindruckend sind die meisten der Morde des Rippers in Szene gesetzt. Bob Clark war von Haus aus ein Horror-B-Movie-Regisseur. {Auch wenn er seine größten Erfolge später mit solch peinlichem Müll wie den Porky's - Filmen feiern konnte.} Bevor er mit Murder by Decree versuchte, von Kanada aus in die respektableren Regionen der Filmindustrie vorzustoßen, hatte er sich unter Genrefans einen Namen mit Children Shouldn't Play With Dead Things (1973), Deathdream aka Dead of Night (1974) und Black Christmas (1974) gemacht. Ich habe noch keinen dieser Filme gesehen, könnte mir jedoch vorstellen, dass er bei der Arbeit an ihnen gelernt hatte, wie man als Regisseur eine Mordszene so gestaltet, dass sie beim Publikum ein Höchstmaß an Grauen hervorruft. Womit ich nicht gesagt haben will, dass die entsprechenden Sequenzen in Muder by Decree geeignet wären, Alpträume hervorzurufen. Aber sie sind auf jedenfall geschickt komponiert und effektiv.
Die mit Abstand beeindruckendste Szene ist für mich allerdings die Begegnung zwischen Holmes und der in einem "Asyl" für Geisteskranke eingesperrten Annie Crook. Das Schicksal der jungen Frau – von ihrem aristokratischen Liebhaber fallengelassen und von den ehrenwerten Männern der Establishments dazu verdammt, den Rest ihres Lebens in der Hölle einer viktorianischen "Irrenanstalt" zu verbringen – illustriert auf eindringlichere Weise als selbst die Ripper-Morde die Grausamkeit einer herrschenden Elite, die ohne zu zögern das Leben von Menschen zerstört, die nicht zu ihren erlauchten Kreisen gehören, wenn es darum geht, die eigene Macht zu verteidigen. Zugleich ist dies die stärkste Holmes-Szene. Wir sind es gewohnt, den Meisterdetektiv als ruhig, überlegen, fast ein bisschen arrogant zu erleben. Um so heftiger ist der Eindruck, der entsteht, wenn sich Holmes plötzlich wutentbrannt auf den Direktor des "Asyls" stürzt und ihn zu würgen beginnt. Er, der es gewohnt ist, dank seines überlegenen Intellektes jede Situation beherrschen zu können, sieht sich auf einmal mit Mächten konfrontiert, gegen die er hilflos ist. Er kann Annie nicht retten, denn die, die ihr das angetan haben, sind die Herren der Gesellschaft. Ihm bleibt nichts anderes als Wut und Verzweifelung.
Damit kommen wir zum eigentlichen Inhalt von Murder by Decree, und damit zum zweiten großen Problem, das ich mit dem Film habe. In seiner Kritik an der herrschenden Elite des viktorianischen Englands scheint er ziemlich kompromisslos zu sein. Die royalistischen Loyalitätsbekundungen Dr. Watsons müssen erbärmlich wirken vor dem Hintergrund der Bluttaten, die im Namen und zur Verteidigung der Monarchie begangen werden. Und die Ripper-Verschwörung ist da nur das offensichtlichste Beispiel. Wenn zum ersten Mal der Name Charles Warren fällt, wird ganz nebenbei erwähnt, dass der Commissioner of Police ein Jahr zuvor für die Ereignisse vom Blutsonntag*** verantwortlich war. Das Abschlachten der Prostituierten in Whitechapel steht damit stellvertretend für all die Brutalitäten der Klassengesellschaft.
Soweit ist das alles ganz wunderbar, doch leider führen Hopkins und Clark daneben auch noch eine Gruppe von Radikalen ein, die sich als ebenso rücksichtslos herausstellen, wie die Vertreter des Establishments. Sie gedenken, die Whitechapel-Morde auszunutzen, um die Monarchie zu stürzen. Und um dieses Ziel zu erreichen, sind sie bereit, den Tod weiterer Frauen in Kauf zu nehmen, da die Wahrheit über die Verbrechen der Herrschenden auf diese Weise noch erschreckender wirken werde, wenn sie ans Licht kommt.
Was mich daran stört, ist in erster Linie nicht die Diffamierung englischer Revolutionäre des späten 19. Jahrhunderts. Das ist ärgerlich genug. Viel schlimmer jedoch erscheint mir, dass der Film durch die Einführung dieses Elementes einen Großteil seiner kritischen Stoßkraft einbüßt. Die ganze Geschichte läuft damit letztlich auf die demoralisierte Aussage hinaus, dass Politik in jedem Fall ein schmutziges Geschäft sei. Ob Royalisten oder Republikaner, Reaktionäre oder Revolutionäre, alle sind sie bloß skrupellose Macchiavellisten, die nur an die Förderung ihrer eigenen Ziele denken. Die Konsequenz, die wir aus dieser Erkenntnis zu ziehen haben, wird uns in Gestalt von Holmes exemplarisch vor Augen geführt. Angewidert wendet sich der Detektiv von beiden Fraktionen ab und zieht sich auf einen scheinbar "überlegenen", "unabhängigen" Standpunkt zurück, von dem aus er alle beteiligten Parteien moralisch verdammen kann. Diese letztlich zynische Haltung scheint mir auch der Grund für die äußerst enttäuschend wirkende Schlussszene des Filmes zu sein. Nachdem er Jack the Ripper zur Strecke gebracht hat, wird Sherlock Holmes zum Premierminister (Lord Salisbury) bestellt. Was als eine Art Verhör des Detektivs geplant war, endet mit einer Anklagerede desselbigen gegen die mächtigsten Männer des Empire. Doch es ist eine moralische, keine politische Rede. Angeklagt wird nicht das System, sondern eine Handvoll skrupelloser Schurken, die sich hinter Titeln, Positionen und einer perversen Moral verstecken.
Natürlich wäre es völlig absurd gewesen, hätten Hopkins und Clark Holmes am Ende in einen Revolutionär verwandelt. Eine solche Position würde einfach nicht zu ihm passen. Doch einen wieviel stärkeren Eindruck hätte das Finale von Murder by Decree hinterlassen, wenn der Film auf jener wütenden und verzweifelten Note ausgeklungen wäre, die er auf so effektvolle Weise in der Szene in der "Irrenanstalt" angeschlagen hatte! Holmes als integre und humane Persönlichkeit, die an der Ungerechtigkeit der herrschenden Verhältnisse verzweifelt, wäre sehr viel beeindruckender gewesen, als Holmes als moralischer Richter über eine Clique von Politikern.
* Kein Film, den man unbedingt gesehen haben müsste, aber er hat seine Momente. Und Robert Morleys kurzer Auftritt als furchtbar eitler Mycroft Holmes ist irgendwie putzig.
** Vgl.: 4. Advent: "The Blue Carbuncle"
*** Am 13. November 1887 sprengten ca. 5000 Polizisten & Soldaten mit brutaler Gewalt eine Massendemonstration auf dem Trafalgar Square. Die in großer Mehrheit aus dem armen East End von London gekommenen Menschen hatten sich unter der Führung von Sozialisten und Radikalen wie John Burns, William Morris und Annie Beasant versammelt, um u.a. gegen die grassierende Arbeitslosigkeit und die fortdauernde Unterdrückung Irlands zu protestieren. Das gewaltsame Eingreifen der Staatsmacht führte zu mehreren Toten und zahlreichen schwer Verletzten.
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