Im Herbst 2003 betritt Safinez Bousbia die Werkstatt des Spiegelmachers Ferkioui in Algier. Dort entdeckt sie zufällig ein Foto, auf dem eine Gruppe von Musikern im Konservatorium der 1940er Jahre zu sehen ist. Wie sie erfährt, war Herr Ferkioui Mitglied eines der in den 50er Jahren berühmtesten Chaabi-Orchesters des Landes. Fasziniert von dieser Geschichte macht sie sich auf die Suche nach den übrigen ehemaligen Mitgliedern. Ihre Suche führt zu einer Wiedervereinigung alter Freunde, zu einer Reihe von Konzerten und schließlich zu einem gegen zahlreiche Widerstände produzierten Film: El Gusto (2011).
Ich habe den Film nicht gesehen und weiß auch nicht, ob er hierzulande überhaupt schon irgendwo gespielt wurde. Aber ganz wie die Regisseurin hat die Geschichte mich auf Anhieb fasziniert.
Die Chaabi (wörtlich 'Volks'-) - Musik entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Kasbah-Viertel von Algier. Als eine Mischung aus alten andalusischen Traditionen, religiösen Gesängen und Berbermusik erwuchs sie aus einem städtischen Milieu, in dem Muslime, Juden und Christen friedlich zusammenlebten, und ihre kulturellen Traditionen sich gegenseitig befruchteten. Gabriela Zabala schreibt auf der World Socialist Web Site: "As El Gusto reveals, local Muslims used to attend the Casbah synagogue every Saturday just to listen to Hebrew music. One of the musicians interviewed also explains that prior to the 1946-1958 French military occupation there was harmony between all faiths and nationalities in the Casbah: 'Spaniards, Jews, Christians, Arabs and Muslims all lived together.'" Zu Chaabi-Orchestern wie dem des Herrn Ferkioui gehörten ganz selbstverständlich muslimische und jüdische Musiker. Safinez Bousbia erzählt in einem Interview mit Indiewire: "El Gusto is a story that remains untold to the present day: The story of independent thinkers witnessing the Franco Algerian history, told not by soldiers or victims but by simple musicians. These men managed to prove the universality of music can transcend all differences and prejudice. In a modern day world where conflicts tear communities apart, highlighting their differences rather than their similarities, this exceptional reunion of Jewish and Muslim musicians is the occasion to remind the younger generation that cultural and religious coexistence was possible not long ago. Taking the stage again their belief in this cultural harmony with common origins is affirmed."
Lange Zeit als eine hauptsächlich in anrüchigen Kneipen gespielte Musik der städtischen Unterschicht verachtet, gelangte der Chaabi in den 1930er Jahren durch das Wirken von El Hadj M'Hamed El Anka zu offizieller Anerkennung.
Ihm vor allem ist es zu verdanken, dass er auf dem Konservatorium gelehrt wurde und für einige Jahrzehnte zu einem festen Bestandteil des Alltags des algerischen Volkes wurde.
Letztenendes waren es die politischen Entwicklungen, die dieser Musikform den Garaus machten. Der französische Kolonialismus hatte das algerische Volk nach religiösen und ethnischen Kriterien aufgespalten, indem er eine Art Apartheidsregime geschaffen hatte, in dem die Muslime, welche die große Mehrheit der Bevölkerung bildeten, Menschen zweiter Klasse waren. Dies hatte die tolerante Welt der Kasbah offenbar nicht zu zerstören vermocht, aber es hatte den Samen gelegt, aus dem ihre Vernichtung hervorgehen würde. Als 1954 der algerische Befreiungskrieg ausbrach, der nach acht Jahren blutigen Ringens schließlich zur Vertreibung der Kolonialherren führen sollte, knüpften die Führer der Nationalen Befreiungsfront (FLN) an diese künstlichen Trennungen an und identifizierten die 'Nation' in hohem Maße mit dem Islam. Bei aller sozialistischen Rhetorik waren Ahmed Ben Bella und seine Genossen eben doch bürgerliche Nationalisten. Nicht der revolutionäre Kampf per se, sondern die bornierte politische Perspektive seiner Führung führte schließlich zum Untergang der multiethnischen und multireligiösen Kultur, deren Ausdruck der Chaabi gewesen war. Nach Erringen der Unabhängigkeit zwang das neue Regime nicht nur die Französisch-Algerier, sondern auch einen Großteil der jüdischen Bevölkerung zur Emigration. Der Beruf des Musikers wurde nicht offiziell anerkannt, die Kurse im Konservatorium eingestellt. Auf Druck der religiösen Autoritäten wurden die Kneipen der Kasbah, die alte Heimat des Chaabi, geschlossen. Der allmähliche Zerfall des Viertels verurteilte die Musik dann endgültig zu einem langsamen Tod.
Bis sie dank der alten Herren von El Gusto und mit der Unterstützung Safinez Bousbias eine Wiederauferstehung erleben durfte. Als Erinnerung an ein untergegangenes Gestern und als Ansporn für ein besseres Morgen.
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