Auf dem diesjährigen Tolkien Seminar der Deutschen Tolkien Gesellschaft (DTG) wurde im April Frank Weinreich der ‘Ehrendoktortitel der Dwarvish University of the Blue Mountains’ (DUBM) verliehen. Maria Noëlle-Biemer, 2. Vorsitzende der DTG, schreibt dazu: "Der freie Autor, Kommunikations-wissenschaftler, Lektor und Philosoph aus Bochum beschäftigt sich schon seit Jahren mit phantastischer Literatur mit besonderem Augenmerk auf die Werke von J.R.R. Tolkien und philosophische und ethische Themen."
Weinreich ist unter anderem als Verfasser von Fantasy – Einführung und Mitherausgeber des wissenschaftlichen Jahrbuchs der DTG Hither Shore eine in deutschen Fantasykreisen wohlbekannte Persönlichkeit. Tolkienfans werden ihn zudem vielleicht von der einen oder anderen Veranstaltung kennen. Eine Zeit lang war er außerdem der wohl rührigste Tolkienist in der deutschsprachigen Netzgemeinde. Auf seiner Website findet sich eine umfangreiche Auswahl aus seinen Aufsätze über den ‘Professor’ und die Fantasy im Allgemeinen.
Es ist stets schön, Leuten zu begegnen, die sich auf ernsthafte Weise mit dem Werk Tolkiens auseinandersetzen, abseits des Fanboytums, das in der Folge von Peter Jacksons Filmen kurz aufblühte, um ebenso schnell wieder zu verwelken (so zumindest mein Eindruck, aber jetzt kommt ja bald der Hobbit, und dann sieht das alles vielleicht schon wieder ganz anders aus). Noch schöner ist es, wenn die Betreffenden ihre Gedanken via Netz mit uns teilen. Und so will ich Frank erst einmal nachträglich zu seiner zwergischen Ehrendoktorwürde gratulieren und zugleich meinem Bedauern darüber Ausdruck verleihen, dass seine Netzaktivität seit knapp einem Jahr etwas eingeschlafen zu sein scheint. (1)
Damit will ich nicht gesagt haben, dass ich in allen Punkten mit ihm übereinstimmen würde. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Aber schließlich befeuert nichts das eigene Denken so sehr, wie die Auseinandersetzung mit den Überlegungen eines anderen. Und so bin ich ihm dankbar dafür, Material geliefert zu haben, an dem ich meine eigene Analyse Tolkiens schärfen konnte.
Damit will ich nicht gesagt haben, dass ich in allen Punkten mit ihm übereinstimmen würde. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Aber schließlich befeuert nichts das eigene Denken so sehr, wie die Auseinandersetzung mit den Überlegungen eines anderen. Und so bin ich ihm dankbar dafür, Material geliefert zu haben, an dem ich meine eigene Analyse Tolkiens schärfen konnte.
Wenn ich im Folgenden einige meiner Gedanken über die dem Herr der Ringe inhärenten politischen Ideen darzulegen versuche, wird mir die Kritik an Weinreichs Aufsätzen dabei als Ausgangspunkt dienen.
Die heutzutage wahrscheinlich am häufigsten gegen Tolkiens Werk vorgebrachten Anklagen des Rassismus und Sexismus werde ich dabei absichtlich außenvorlassen, möchte aber doch anmerken, dass es sich der gute Frank etwas leicht macht, wenn er glaubt, sie widerlegt zu haben, indem er aufzeigt, dass der Geschichte kein explizit rassistisches oder frauenfeindliches Weltbild zu Grunde liegt. (2) Nun gut, der Herr der Ringe ist weder das Drehbuch zu Veit Harlans Jud Süß noch einer von John Normans Gor-Schinken grusligen Angedenkens. Aber ist das wirklich der Punkt? Ändert das etwas an der Beschreibung von Sarumans Orks als "schwärzlich, schlitzäugig, mit dicken Beinen und großen Händen" oder an der berüchtigten Passage über die Südländer in der Schlacht auf den Pelennor-Feldern: "Schwarze Menschen wie halbe Trolle mit weißen Augen und roten Zungen"? (3) Wer auch nur über ein Bisschen Sensibilität in diesen Fragen verfügt, wird doch nicht leugnen können, dass wir es hier mit beleidigenden, rassistischen Zerrbildern zu tun haben! Als jemand, der Tolkiens Werk gegen ungerechtfertigte Universalattacken à la Stephen Shapiro verteidigen will, sollte Weinreich diese Problematik ernstnehmen, statt sie in altbekannter Fanboymanier zu bagatellisieren.
Doch wie gesagt, um diese bereits oft diskutierten Fragen soll es mir jetzt nicht gehen. Mein Ziel ist es nicht, politische Argumente zu finden, um den Herr der Ringe zu verwerfen. Ich möchte vielmehr versuchen, einen kleinen Beitrag zum besseren Verständnis eines Werkes zu leisten, das ich sehr schätze. Ob mir das gelingen wird? Schaun wir mal ...
I
Frank Weinreich bezeichnet sich selbst als Liberaler, wenn auch eher im Sinne von John Rawls als von Philipp Rösler. (4) Das entspricht zwar nicht meinen eigenen politischen Überzeugungen, stellt für sich genommen aber selbstverständlich kein Problem dar. Bloß beschleicht mich bei der Lektüre seiner Aufsätze das Gefühl, dass er für sich selbst ein Bild von Tolkien entworfen hat, das seinen eigenen politischen Idealen entspricht. Und ein solches ist für das Verständnis des 'Professors' und seines Werkes wirklich völlig unangemessen.
In Zur Verteidigung Mittelerdes zitiert Weinreich zustimmend Joseph Pearces Tolkien: Man and Myth, in dem die politischen Ansichten des 'Professors' offenbar tatsächlich als 'liberal' bezeichnet werden. Dazu hätte ich zweierlei anzumerken. Zuerst einmal ist Pearce ein denkbar schlechter Zeuge in Fragen freiheitlicher Gesinnung. Der ehemalige Faschist, der 1989 zum katholischen Glauben konvertierte, ist als Autor, Redner und Herausgeber ein Vorkämpfer des politischen Katholizismus in den USA, nicht unbedingt eine 'liberale' Bewegung. Zum anderen gibt es da eine Aussage von Tolkien selbst, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt: "Ich bin kein ‘Demokrat’, schon deshalb nicht, weil ‘Bescheidenheit’ und Gleichheit als geistige Prinzipien durch den Versuch, sie zu mechanisieren und zu formalisieren, korrumpiert werden, mit dem Ergebnis, daß wir nicht allgemeine Kleinheit und Bescheidenheit bekommen, sondern allgemeine Großartigkeit und Hochmut, bis irgendein Ork einen Ring der Macht an sich bringt – und dann bekommen und dann haben wir die Sklaverei." (5) Kann man 'liberal' sein und gleichzeitig die Demokratie ablehnen? Dass Tolkiens antidemokratische Überzeugung auf einem tiefen Pessimismus und nicht auf irgendwelchen aristokratischen Spinnereien basierte – die Menschen sind halt so schwach und sündhaft, dass man ihnen unmöglich zutrauen kann, ihr Leben selbst zu regeln –, sollte in dieser Frage erst einmal keine Rolle spielen.
Als einen weiteren Beleg für Tolkiens freiheitliche Gesinnung führt Weinreich in dem selben Aufsatz ein kurzes Zitat aus einem Brief des 'Professors' an: "My political opinions lean more and more to Anarchy (philosophically understood, meaning abolition of control not whiskered men with bombs) - or to 'unconstitutional' monarchy". Wie wir gleich sehen werden, ist dieser 1943 an Tolkiens Sohn Christopher geschriebene Brief tatsächlich hochinteressant. Allerdings ist sein Inhalt kaum geeignet, das Bild vom 'Liberalen' zu untermauern. Eigentlich hätte Weinreich bereits bei der von ihm zitierten Passage stutzen müssen. 'Unkonstitutionelle Monarchie'? Das bedeutet doch absolute Königsherrschaft! Wie ist das mit 'Anarchie' im Sinne der Freiheit von staatlicher Gewalt in Einklang zu bringen? Schauen wir uns einmal an, was auf den einführenden Satz folgt:
"Ich würde jeden festnehmen, der das Wort ‘Staat’ gebraucht (es sei denn für den unbelebten Bereich Englands und seiner Bewohner, eine Sache, die weder Macht noch Rechte oder Geist besitzt) und ihn hinrichten, wenn er sich hartnäckig weigert, zu widerrufen. Wenn wir nur wieder zum Gebrauch von Personennamen zurückfänden, wäre schon viel gewonnen. Regierung ist ein abstraktes Substantiv, das die Kunst und Tätigkeit, zu regieren, bezeichnet; es dürfte nur noch als Verb gebraucht werden, und jede Großschreibung oder jede Verwendung, bei der Personen gemeint sind, wären unter Strafe zu stellen. Wenn die Leute erst einmal gewöhnt wären, von ‘König Georges Räten’ oder ‘Winston und seiner Bande’ zu sprechen, wären wir einer Klärung des Denkens ein gutes Stück näher gekommen, und der furchtbare Erdrutsch in eine anonyme They-ocracy wäre etwas aufgehalten. Jedenfalls ist der dem Menschen gemäße Gegenstand seines Forschens alles andere als der Mensch; und die am wenigsten gemäße Aufgabe für alle Menschen, sogar für die Heiligen (die ohnehin am wenigsten bereit waren, sie zu übernehmen), ist es, andere Menschen herumzukommandieren. Nicht einer von einer Million taugt dazu, am wenigsten aber all jene, welche die Gelegenheit beim Schopf packen. Und zumindest wird es nur einer kleinen Gruppe von Menschen angetan, die wissen, wer ihr Herr ist. Im Mittelalter hatte man allzu sehr recht, wenn man das nolo episcopari [ich will nicht zum Bischof gemacht werden] eines Mannes für den besten Grund ansah, warum andere ihn zum Bischof machen sollten. Gib mir einen König, dessen größtes Interesse im Leben den Briefmarken, Eisenbahnen oder Pferderennen gilt, und der die Macht hat, seinen Wesir (oder wie immer Du den nennen willst) zu feuern, wenn ihm der Schnitt seiner Hose mißfällt! Und so weiter im ganzen Volk! Aber die fatale Schwäche von all dem – letztlich nur die fatale Schwäche aller guten, natürlichen Dinge in einer schlechten, verderbten, unnatürlichen Welt – liegt darin, daß es so nur geht und gegangen ist, wenn die ganze Welt auf dieselbe gute alte schlampig-menschliche Weise dahinwurstelt. Die zänkischen, eingebildeten Griechen sind mit Xerxes fertiggeworden; aber nun haben diese widerlichen Chemiker und Ingenieure dem Xerxes und allen anderen Ameisenstaaten eine solche Macht in die Hand gegeben, daß anständige Leute wohl keine Chance mehr haben. Alle versuchen wir, wie Alexander den gordischen Knoten zu lösen – und die Geschichte lehrt, daß Alexander mitsamt seinen Generälen dabei orientalisiert wurde. Der arme Trottel bildete sich ein (oder wollte es anderen einreden), er wäre der Sohn des Dionysos und starb im Suff." (6)
Man verzeihe mir das überlange Zitat, aber ich denke, in diesem Text steckt sehr viel, was nicht nur zum Verständnis von Tolkiens Denken, sondern auch zum Verständnis seines literarischen Werkes beitragen kann.
Was erfahren wir hier über Tolkiens Einstellung zu Fragen der politischen Macht, wenn wir einmal das Philologenvorurteil über die Bedeutung von Benennungen beiseitelassen? Es werden zwei negative Beispiele angeführt. Zum einen die 'anonyme They-ocracy', zum anderen der 'Ameisen-staat'. Dass mit letzterem wohl totalitäre Regime wie diejenigen Hitlers oder Stalins gemeint sind, dürfte ziemlich klar sein. Die 'They-ocracie' aber ist für Tolkien offenbar auch im heimatlichen England auf dem Vormarsch. Sie ist keine Diktatur, sondern ganz einfach der moderne bürgerliche Staat mit seinem bürokratischen Apparat. Die Alternative zu diesen beiden Übeln sieht Tolkien in einer Ordnung, in der nur ein Minimum an organisierter staatlicher Gewalt, dafür jedoch ein Maximum an persönlicher Autorität existiert.
Das politische Ideal, das sich hinter diesem Brief verbirgt, ist kein Liberalismus, sondern ein romantisch verklärter Feudalismus. Darum betont Tolkien auch so stark die Rolle der Person gegenüber dem anonymen Staatsapparat, denn im europäischen Mittelalter drückten sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse bekanntlich in einem komplizierten Geflecht persönlicher Bindungen aus. Man war nicht Bürger eines Staates, sondern ‘Mann’ eines ‘Herrnn’. Einen Staat im modernen Sinne mit Bürokratie, Polizei, allgemeingültigen Gesetzen und Steuern etc. gab es praktisch nicht. Hier ist meiner Meinung nach das Vorbild für Tolkiens 'Anarchismus' zu suchen. Der Schöpfer Mittelerdes steht damit in einer Tradition, die über John Ruskin und Thomas Carlyle zurückreicht zur Englischen Romantik. Ich sehe in ihm den letzten großen Vertreter des klassischen konservativen Antikapitalismus.
II
Inwieweit finden sich diese Gedanken auch im Herr der Ringe?
Mordor ist offensichtlich ein ‘Ameisenstaat’ mit Heerscharen von Sklaven, die einer militaristischen Ordnung unterworfen sind. Der Vergleich mit dem Insektenvolk findet sich wörtlich in der Beschreibung des Schwarzen Tores: "Unter den Bergen waren Hunderte von Höhlen und Madenlöchern in den Fels gebohrt; dort lauerte ein Heer von Orks, um auf ein Zeichen hin hinauszustürzen wie schwarze Ameisen, die in den Krieg ziehen." Entsprechend heisst es bei Saurons Sturz: "Wie Ameisen, wenn der Tod das geschwollene, brütende Wesen ereilt, das ihren wimmelnden Hügel bewohnt und sie alle beherrscht, kopflos und zwecklos umherwandern und dann kraftlos zugrunde gehen, so rannten Saurons Geschöpfe, Ork oder Troll oder Tier, durch Zauber geknechtet, sinnlos hierhin und dorthin; und manche erschlugen sich gegenseitig oder stürzten sich in Gräben oder flohen jammernd, um sich in Löchern und an dunklen, lichtlosen Orten fern jeder Hoffnung zu verstecken." (7)
Das Schwarze Land ist eine einzige gigantische Kaserne: "In einer Mischung von Abscheu und Staunen blickten Frodo und Sam auf dieses hassenswerte Land. Zwischen ihnen und dem rauchenden Berg und nördlich und südlich davon schien alles verheert und tot zu sein, eine verbrannte und erstickte Wüste. Sie fragten sich, wie der Herr dieses Reichs wohl seine Heere unterhielt und seine Hörigen ernährte. Denn Heere hatte er. Soweit das Auge reichte, an den Säumen des Morgai und weiter im Süden waren Lager, einige aus Zelten, einige wohlgeordnet wie kleine Städte. Eines der größten befand sich unmittelbar unter ihnen. Kaum eine Meile weit in der Ebene lag es da wie ein riesiges Insektennest mit geraden öden Straßen, an denen Hütten und lange, niedrige, schmutzigbraune Gebäude standen." Im Gegensatz zu der von Rollenspielen wie D&D kultivierten, und von Peter Jackson in seine Filme übernommenen Darstellung, sind Tolkiens Orks weniger 'primitve' Stammeskrieger als vielmehr Soldaten einer modernen Armee. Das Zeichen des Lidlosen Auges, das sie tragen, erinnert an Uniformen oder Hakenkreuzbinden. In ihren Gesprächen verwenden sie anachronistisch anmutende Formulierungen wie "Ich werde deinen Namen und deine Nummer den Nazgûl angeben" oder "Sie haben Nummer Eins umgebracht" (8). Solche stilistischen Brüche setzt Tolkien sehr bewusst ein.
Der Hass des 'Professors' auf die moderne Gesellschaft konzentrierte sich auf das, was er mit dem Begriff 'Maschine' beschrieb. Damit war mehr gemeint als bloß die Industrialisierung, deren in seinen Augen ausschließlich zerstörerische Folgen er mit der Beschreibung von Sarumans Isengart in einem sehr eindringlichen Bild verdichtete. Für Tolkien war die 'Maschine' in erster Linie kein Mittel der Produktion – "die arbeitsersparende Maschinerie erzeugt nur eine endlose und noch schlimmere Arbeit" (9) –, sondern ein Instrument der Herrschaft. Zuerst der Herrschaft über die Natur, sodann der Herrschaft über andere Menschen. Sie ist das Produkt eines Willens, der darauf ausgerichtet ist, die Welt nach eigenem Gutdünken zu organisieren und umzugestalten, was unausweichlich erst zu Hochmut und schließlich zu Tyrannei führen müsse. Potenziert die ‘Maschine’ auf der einen Seite die Macht ihres Besitzers, so macht sie seine Herrschaft zugleich auch besonders verletztlich. Denn die Macht hat ihren Ursprung nicht länger in der eigenen Persönlichkeit, sondern wird veräußert und ‘delegiert’. Insofern wäre auch der Staatsapparat eine Art ‘Maschine’. Autorität schlägt um in politische Herrschaft und schließlich in nackte Unterdrückung. Wer auf diese Weise Macht ausüben will, macht sich abhängig von den Instrumenten seiner Herrschaft. Verliert er sie, so verliert er auch einen Großteil seiner ursprünglichen Macht, die er an sie ‘delegiert’ hat. Besonders deutlich ausgesprochen findet sich dieses Motiv im Zusammenhang mit Saruman, über den Merry nach der Zerstörung Isengarts sagt: "[J]edenfalls glaube ich, daß er nicht viel Schneid hat, nicht viel echten Mut allein in einer mißlichen Lage ohne einen Haufen von Hörigen und Maschinen und Dingen, wenn ihr wißt , was ich meine. Sehr anders als der alte Gandalf." (10) In diesem Sinne ist auch der Eine Ring eine Art ‘Maschine’, und Saurons Herrschaft endet darum automatisch mit seiner Zerstörung. Womit ich nicht sagen will, der Ring sei ausschließlich oder auch nur in erster Linie eine Metapher auf staatliche Macht. Dies ist nur eine seiner zahlreichen Bedeutungsfacetten.
Die 'Maschinenmacht' steht in radikalem Gegensatz zu einer auf persönlicher Autorität basierenden Herrschaft, und in der Konfrontation zwischen Saurons Mund und Aragorn treffen zugleich diese beiden Konzeptionen von Macht aufeinander. Peter Jackson hat aus dem Emissär bekanntlich ein groteskes Monstrum gemacht, dabei beweist Tolkien gerade besonders großes Geschick, indem er als Repräsentanten Barad-dûrs einen Menschen auftreten lässt. Dadurch nämlich erscheint Mordor für den Moment nicht mehr nur als jene dämonische Region, ‘wo die Schatten drohn’, sondern als eine politische Entität, als ein mächtiges Imperium, dessen Herrscher durch den Mund seines Unterhändlers politische Forderungen stellt: "Dieses sind die Bedingungen [...] Der Pöbelhaufen von Gondor und seine irregeführten Verbündeten sollen sich sofort hinter den Anduin zurückziehen und zuvor den Eid ablegen, daß sie Sauron den Großen nie wieder mit Waffen angreifen werden, sei es offen oder geheim. Alle Lande östlich des Anduin sollen Saurons sein auf immerdar, ausschließlich. Westlich des Anduin bis zum Nebelgebirge und der Pforte von Rohan sollen sie Mordor tributpflichtig sein, und die Männer dort sollen keine Waffen tragen, doch Erlaubnis haben, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Doch werden sie helfen, Isengart wiederaufzubauen, das sie mutwillig zerstört haben, und das soll Saurons sein, und dort wird sein Statthalter wohnen." Auch wenn die Reden von Saurons Mund im Original durch die vielen ‘thees’ und ‘thous’ einen archaischen Anstrich erhalten, wirken sie im Kontext der Erzählung doch merkwürdig modern. Man hätte kaum erwartet, dass das Lidlose Auge von Lugburz derart konkret ausformulierte Bedingungen stellen würde, inklusive Grenzziehungen und der aus der Geschichte des Kolonialismus sattsam bekannten Farce der ‘Selbstverwaltung’ für die unterworfenen Völker. Aragorns Stärke hingegen beruht nicht darin, dass er über ein Reich oder eine Armee gebietet, sondern in seiner Persönlichkeit. Wenn Saurons Mund ihn mit den Worten verhöhnt: "Es braucht mehr, um einen König zu machen als ein Stück Elbenglas oder einen Pöbelhaufen wie diesen", reagiert er darauf wie folgt: "Aragorn sagte nichts als Antwort, aber er sah dem anderen in die Augen und hielt seinen Blick fest, und einen Augenblick lang rangen sie so miteinander; doch bald, obwohl Aragorn sich nicht rührte und auch nicht die Hand nach der Waffe ausstreckte, zitterte der andere und fuhr zurück, als ob er mit einem Schlag bedroht worden sei." (11) Es sind Aragorns überlegene Willenskraft und seine persönliche Würde, die den Abgesandten Mordors in die Knie zwingen. Wie wir im weiteren Verlauf dieser Ausführungen zu sehen bekommen werden, steckt in dieser Szene auch eine Aussage über den Charakter von 'guter Herrschaft'.
Vorerst will ich nur festhalten, dass Mordor als eine totalitäre, militaristische und damit staatliche Despotie erscheint, auch wenn wir so gut wie nichts über die tatsächlichen Machtstrukturen im Schwarzen Land erfahren, außer, dass dessen Ökonomie offenbar auf Sklavenarbeit beruht. (12) Warum Frank Weinreich der Ansicht ist, Saurons Imperium stelle kein "politisches Gebilde" dar, kann ich darum beim besten Willen nicht verstehen.
III
Weinreich hat einen Aufsatz geschrieben, der sich ganz explizit mit den politischen Ideen im Herr der Ringe beschäftigt.
Von Verfassungen mit und ohne Schwert. Impressionen idealer Herrschaftsformen in Mittelerde als Ausdruck des politischen Verständnisses von J.R.R. Tolkien wurde 2006 im zweiten Band von Hither Shore veröffentlicht. Der Autor stellt sich darin ausdrücklich die Aufgabe, die "Aktualität von Tolkiens fiktionalen Werken" und deren "besonderen gesellschaftspolitischen Wert" nachzuweisen. Er tut dies, indem er zu belegen versucht, dass ihnen eine "Wertschätzung politischer Freiheit und des Pluralismus" zugrundeliege. Bei diesem Versuch, aus dem 'Professor' einen liberalen Demokraten zu machen, gelangt er meiner Ansicht nach zu einer Reihe z.T. grotesker Fehleinschätzungen.
In seinen Ausführungen konzentriert sich Weinreich ganz auf das Auenland und Gondor, in denen er völlig zurecht die beiden "idealtypischen" Vertreter politischer Ordnung im Herr der Ringe erblickt. Zugleich jedoch fasst er diese als gegensätzliche Staatsmodelle auf: "Das Königreich und das Auenland weisen zwei völlig verschiedene politische Strukturen auf. Aus dem Blickwinkel der politischen Theorie lassen diese sich bis auf die antagonistischen staatsphilosophischen Ansichten Platons und Aristoteles´ zurückverfolgen. Die eine dieser beiden Theorien, und zwar die platonische, führt unter einer radikalen Umdeutung in der beginnenden Neuzeit zu Thomas Hobbes." (13) In dieser Gegenüberstellung, auf der seine ganze Argumentation beruht, liegt meiner Meinung nach Weinreichs entscheidender Fehler. Mein Ziel soll es im Folgenden sein, nachzuweisen, dass die Auenlandordnung und das Königreich bei all ihren Unterschieden letztenendes Ausdruck ein und desselben romantisch-feudalen Gesellschaftsideals sind.
Beginnen wir mit dem Auenland. Die Heimat der Hobbits verkörpert wohl in reinster Form Tolkiens Ideal einer von staatlichen Kontrollen freien Gesellschaft.
"Zu jener Zeit konnte man im Auenland kaum von einer ‘Regierung’ sprechen. Die meisten Familien regelten ihre Angelegenheiten selbst. Nahrung anzubauen und sie aufzuessen nahm den größten Teil ihrer Zeit in Anspruch. In anderen Dingen waren sie gewöhnlich großzügig und nicht gewinnsüchtig, sondern zufrieden und bescheiden, so daß Güter, Höfe, Werkstätten und kleine Gewerbebetriebe generationenlang unverändert blieben." Staatliche Institutionen sind so gut wie nicht vorhanden: "Der einzige wirkliche Beamte im Auenland war der Bürgermeister von Michelbinge (oder vom Auenland), der alle sieben Jahre auf dem Freimarkt auf den Weißen Höhen an Lithe, das heißt am Mittsommertag, gewählt wurde. Seine einzige Pflicht als Bürgermeister bestand darin, als Gastgeber bei Festmählern mitzuwirken, die an den nicht eben seltenen Feiertagen im Auenland verantstaltet wurden." Die ‘Exekutive’ besteht aus gerade einmal zwölf Landbütteln, die "praktisch eher Feldhüter denn Polizisten" sind, "da sie sich mehr um streunende Tiere als um Leute kümmerten." Hinzu kommen die Grenzer, die dafür zu sorgen haben, "daß sich Ausländer aller Arten, ob groß oder klein, nicht unliebsam aufführten." (14) In Krisensituationen tritt die Volksversammlung unter dem Vorsitz des Thains (ein erblicher Titel) zusammen, die im Bedarfsfall auch eine Miliz unter dessen Befehl aufstellen kann.
Frank Weinreich nun glaubt, in dieser Ordnung Ähnlichkeiten mit dem sog. Ward-System der frühen USA erkennen zu können: "Dieses zu Recht als Rätesystem bezeichnete Frühstadium der USA, das der Theoretiker der amerikanischen Revolution Thomas Jefferson auch als elementare Republiken bezeichnete, zeichnet sich durch Selbstverwaltung, unmittelbare Demokratie, Mitbestimmung und konfliktfreies Nebeneinander der Wards aus. Auch die Größe oder vielmehr Kleinheit der amerikanischen Wards ähnelt der geringen Größe und Bevölkerungszahl in den vier Vierteln." Ein solcher Vergleich vermittelt meiner Meinung nach einen völlig falschen Eindruck, indem er das tolkiensche Denken in die Nähe der demokratischen Ideale der Amerikanischen Revolution rückt. Thomas Jefferson, Sam Adams und Tom Paine dürften kaum eine Inspiration für den Autor des Herr der Ringe gewesen sein, was auch Weinreich eingestehen muss: "Er hat die Gemeinschaft der Hobbits sicher nicht bewusst mit Blick auf das alte amerikanische Ward-System entworfen. Unbewusst jedoch hat er für sein Idyll zu einem Gesellschaftssystem gegriffen, das mit seiner egalitären (und sozialen!) Grundstruktur die größtmögliche Sicherheit für den Einzelnen gewährt."
Tolkien selbst hat das Auenland einmal als "halbaristokratische Halbrepublik" (15) bezeichnet. Es ist weder eine egalitäre Gesellschaft, noch weist es nennenswerte Formen von Demokratie, Mitbestimmung oder Selbstverwaltung auf. Es existieren vielmehr sehr deutlich hervorgehobene Standesunterschiede zwischen den Hobbits – man denke bloß an Frodo und Sam –, und auch wenn es keinen Erbadel im eigentlichen Sinne gibt, liegt die Autorität doch ganz eindeutig bei den Oberhäuptern der großen Sippenverbände. Der Herr von Bockland etwa regiert wie ein kleiner König vom Brandyschloss aus über seine riesige Sippschaft und über "die vielen, die von ihnen abhängig waren", und die "Oberhoheit des ‘Schloßherrn’ (wie das Haupt der Familie Brandybock genannt wurde) wurde von den Bauern zwischen Stock und Rohrholm immer anerkannt." (16) Eine solche Gesellschaftsordnung ließe sich vielleicht als 'patriarchalisch', aber ganz sicher nicht als 'demokratisch' bezeichnen. Von irgendwelchen Organen der Selbstverwaltung (Stadträten oder gewählten Dorfvorstehern etwa) ist nirgends die Rede, und unter der Volksversammlung – im Original archaisierend ‘Shire-moot’ genannt – dürfen wir uns selbstverständlich kein Parlament im modernen Sinne vorstellen, sondern sollten dabei eher an eine Versammlung mittelalterlicher Eidgenossen denken. Nicht der Kongress in Philadelphia, sondern die Kantone der Urschweiz kämen hier wohl am ehesten als Vorbild in Betracht. Und wie heisst es so hübsch im berühmten Bundesbrief der Gemeinden Uri, Schwyz und Unterwalden von 1291? "[E]in jeder Mann [ist] nach seinem Rang und Stand gehalten [...], seinem Herrn in angemessener Weise untertan und dienstbar zu sein." (17) Etwas anderes ist von einer mittelalterlichen Confederatio auch gar nicht zu erwarten, und ebenso sollten wir uns die soziale Ordnung des Auenlandes vorstellen.
Weinreich gibt all dies auch zu und spricht ausdrücklich von "patriarchalen", "undemokratischen" Strukturen. Er erwähnt sogar die Schweiz als mögliches Vergleichsmodell, entwertet diese ganz richtige Bemerkung jedoch sofort durch seine völlig ahistorische Betrachtungsweise des Alpenlandes: "Man kann sich das Auenland vielleicht wie die Schweiz in der Zeit von 1291 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vorstellen: eine Art Eidgenossenschaft von vier gleichberechtigten Kantonen, die nach innen von hohem Konservativismus und patriarchalen Strukturen gekennzeichnet ist." Einige oberflächliche Ähnlichkeiten reichen offenbar aus, um sechs Jahrhunderte Schweizer Geschichte über einen Kamm zu scheren! Ist das für sich genommen schon lächerlich genug, bedeutet es im gegebenen Zusammenhang vor allem, dass man die Gemeinschaft der Hobbits nach Belieben sowohl mit der feudalen Confederatio von 1291 als auch mit der bürgerlichen Republik von 1848 vergleichen könne. Dabei hatten die beiden ‘Eidgenossenschaften’ ungefähr soviel miteinander gemein wie das Kaiserreich Friedrich Barbarossas und das Wilhelms II.
Damit ist das Schweizer Modell sozusagen entschärft, und am Ende bleibt das Ward-System als wichtigste Parallele, die Weinreich dann auch noch mit einigen Zitaten aus Alexis de Tocquevilles De la démocratie en Amérique zu untermauern sucht. Ziel des Ganzen ist es ganz offensichtlich, Tolkiens Beschreibung des Auenlandes den Idealen einer liberalen Demokratie anzugleichen. Alles, was dabei nicht ins Bild passt, wird bei Seite geschoben.
Ich finde eine solche Herangehensweise an einen Schriftsteller und sein Werk ehrlich gesagt unstatthaft. Es besteht kein Zweifel, dass Tolkien selbst ein bekennender Antidemokrat war, für den – in den Worten seines Biographen Humphrey Carpenter – in einer wohlgeordneten Gesellschaft "jeder Mensch zu einem bestimmten ‘Stand’ gehörte oder gehören sollte, ob hoch oder niedrig" (18). Nun müssen die bewussten Intentionen eines Künstlers oder einer Künstlerin ganz sicher nicht das letzte Wort über sein oder ihr Kunstwerk sein. Doch statt eine 'unterbewusste' Verbindung zwischen der Auenlandordnung und den Idealen der Amerikanischen Revolution anzunehmen, halte ich es für sinnvoller, das Augenmerk auf Gesellschaftstheorien zu lenken, die Tolkien geistig sehr viel näher standen und zudem auch noch sehr viel besser zu den Schilderungen im Herr der Ringe passen. Ein Blick in Hilaire Bellocs 1912 erschienenes Buch The Servile State wäre in diesem Zusammenhang recht hilfreich.
Der Freund und Mitstreiter G.K. Chestertons vertritt darin die These, der Kapitalismus sei dabei, in eine neue Sklavenhaltergesellschaft überzugehen. Er entwirft das Alptraumszenario eines Englands, in dem die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung auf den Status rechtlich unfreier Zwangsarbeiter herabgesunken ist und eine allmächtige Staatsbürokratie im Interesse der Unternehmer das Leben dieser neuen Sklaven bis ins Kleinste reglementiert, während sie sie zugleich mit ‘sozialstaatlichen’ Maßnahmen wie Krankenversicherung und Altersvorsorge ruhig stellt. Diese Ordnung hält Belloc für die logische Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung. Die Wurzel allen Übels macht er dabei nicht wie die Marxisten im Privateigentum an den Produktionsmitteln, sondern in der Monopolisierung dieses Eigentums in den Händen einiger weniger aus. Die sozialistische Lösung einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel hält er weder für gangbar noch für wünschenswert. Stattdessen plädiert er für die Einführung einer Ordnung, in der das Eigentum auf möglichst viele unabhängige Gewerbetreibende, Handwerker und Bauern verteilt sein sollte. Dieser Idealzustand – von ihm ‘distributiver Staat’ genannt – habe im Mittelalter geherrscht, als die katholische Kirche die Führerin der europäischen Gesellschaft war: "The State, as the minds of men envisaged it at the close of this process [der Entstehung der mittelalterlichen Ordnung], was an agglomeration of families of varying wealth, but by far the greater number owners of the means of production. It was an agglomeration in which the stability of this distributive system (as I have called it) was guaranteed by the existence of co-operative bodies, binding men of the same craft or of the same village together; guaranteeing the small proprietor against loss of his economic independence, while at the same time it guaranteed society against the growth of a proletariat. If liberty of purchase and of sale, of mortgage and of inheritance was restricted, it was restricted with the social object of preventing the growth of an economic oligarchy which could exploit the rest of the community. The restraints upon liberty were restraints designed for the preservation of liberty; and every action of Mediaeval Society, from the flower of the Middle Ages to the approach of their catastrophe, was directed towards the establishment of a State in which men should be economically free through the possession of capital and of land." (19) Den Untergang dieses Idylls und die Geburtsstunde des Kapitalismus macht Belloc in der Reformation des 16. Jahrhunderts aus. Damals hätten die reichsten Grundbesitzer und Kaufleute damit begonnen, das gesamte Eigentum in ihren Händen zu konzentrieren und den Rest der Bevölkerung zu Proletariern zu degradieren.
Suchen wir nach einem Vorbild für das Auenland, so sind wir beim ‘distributiven Staat’ und nicht bei Thomas Jeffersons 'elementarer Republik' an der richtigen Adresse. Wie Belloc zeichnet auch Tolkien das Bild eines kleinbürgerlichen Utopias der unabhängigen Bauern und biederen Handwerker. Interessant ist zudem, worin er die größte Gefahr für dieses Idyll ausmacht. Weinreich behauptet, das Auenland sei "für machtmissbräuchliche Deviationen nicht anfällig. Selbst wenn es – offensichtlich nur ganz selten – machthungrige Hobbits wie Lotho Sackheim-Beutlin gibt, so sind diese doch keine Gefährdung für das Auenland, solange sie keine externe Unterstützung bekommen." Es stimmt zwar, dass Frodos versnobter Verwandter seine persönliche Diktatur erst mit Hilfe menschlicher Handlanger errichten kann, dennoch übersieht Weinreich hier ein sehr wichtiges Detail. Bauer Hüttinger beschreibt Lothos Aufstieg so: "Offenbar wollte er alles selbst besitzen und die Leute nach seiner Pfeife tanzen lassen. Bald zeigte sich, daß er schon erheblich mehr besaß, als gut für ihn war; und er grapschte immer noch mehr, obwohl es ein Rätsel war, wo er das Geld herhatte: Mühlen und Mälzereien, und Wirtshäuser und Bauernhöfe und Tabakpflanzungen. Offenbar hatte er Sandigmanns Mühle schon gekauft, ehe er nach Beutelsend kam. Natürlich fing er mit einer Menge Besitz im Südviertel an, den er schon von seinem Vater hatte; und es scheint, daß er eine Menge Tabak verkauft und seit ein oder zwei Jahren in aller Stille verschickt hatte." Was ist dies anderes als die belloc’sche Genese des Kapitalismus durch die Konzentration des Eigentums in den Händen besonders raffgieriger und skrupelloser Individuen? Auch lässt einen Lothos Abneigung gegen Alkohol und Tabak – "der Oberst hielt nichts von Bier [...] und schloß alle Wirtshäuser" – an die Sinnenfeindlichkeit der protestantischen britischen Mittelklasse denken. (20)
Das bedeutet natürlich nicht, dass Tolkien The Servile State oder vergleichbare Schriften tatsächlich gelesen haben muss. Sein Denken wurzelte jedoch in denselben sozialen Verhältnissen wie das der Chesterbelloc (so nannte Bernard Shaw scherzhaft den Kreis um Belloc und Chesterton). Dass sich die Mittelschichten angesichts einer gesellschaftlichen Krise in die ‘gute, alte Zeit’ zurücksehnen, ist ein häufig zu beobachtendes Phänomen. In ihrer sozialen Stellung sowohl von den ‘Plutokraten’ als auch von den Proletariern bedroht, wünschen sie, den Kapitalismus nicht abzuschaffen, sondern auf das Niveau einer Gesellschaft kleiner Warenproduzenten zurückführen zu können. Wie Chesterton es ausdrückte: "Too much capitalism does not mean too many capitalists, but too few capitalists." Nicht selten entdecken die Ideologen des Kleinbürgertums das ersehnte Goldene Zeitalter im zünftlerischen Handwerk des Mittelalters, während sie den mit der Scholle verbundenen Bauern als Idealtyp den entwurzelten und bedrohlichen städtischen Massen gegenüberstellen. Hierin berühren sich der 'Distributismus' und Tolkiens literaterische Vision. Auf die beunruhigende Verwandtschaft dieses Ideals zum Faschismus möchte ich in diesem Aufsatz nicht eingehen. Die Pandorabüchse des moorcockschen 'Tolkien the Crypto-Fascist' soll vorerst geschlossen bleiben.
Fortsetzung folgt ...
(1) Okay, er twittert sporadisch, aber besonders erhellend ist das nicht.
(2) Er tut dies u.a. in Zur Verteidigung von Mittelerde, Tolkien in der Kritik und Das Gute bei Tolkien.
(3) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. II. S. 16 & Bd. III. S. 133.
(4) Auf sein eigentümliches Geschichtsverständnis, demgemäß es stets die Liberalen gewesen seien, die den Kampf um die Freiheit angeführt und die demokratischen Rechte erstritten hätten, möchte ich nicht näher eingehen.
(5) Brief an Joanna de Bortadano (Entwürfe) [April 1956]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 186. S. 324f.
(6) Brief an Christopher Tolkien [29. November 1943]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 52. S. 87f.
(7) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. II. S. 279 & Bd. III. S. 255f. Die Ameisenmetapher für den ‘Totalitarismus’ findet sich übrigens auch im ersten Band von The Once and Future King, aber T. H. White verwendet sie aus gutem Grund nie zur direkten Charakterisierung von Menschen. Selbst die nazihaften Anhänger Mordreds sind für ihn keine Insekten. Spätestens nach der Lektüre von Norman Spinrads The Iron Dream sollte einem aufgehen, dass Tolkiens Schilderung der ameisenartigen Orks nicht nur extrem inhuman, sondern selbst (ich finde kein besseres Wort) faschistoid ist. Doch das Orkproblem würde eine ausführlichere Behandlung verlangen, für die hier nicht der richtige Ort ist.
(8) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. III. S. 225; 227f.
(9) Brief an Christopher Tolkien [7. Juli 1944]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 75. S. 118.
(10) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 314. & Bd. II. S. 195f.
(11) Ebd. Bd. III. S. 185ff.
(12) "Weder er [Sam] noch Frodo wußten etwas von den großen Feldern weit im Süden dieses ausgedehnten Reiches, die von Hörigen [slaves] bestellt wurden". (Ebd. Bd. III. S. 225). Carroux’ Übersetzung scheint mir hier etwas irreführend zu sein, da wir bei ‘Hörigen’ eher an feudale Leibeigene – engl. ‘serfs’ – zu denken geneigt sind, Mordor aber keine Feudalgesellschaft ist.
(13) Ich bin kein Doktor der Philosophie wie der gute Frank, aber ich verstehe nicht ganz, wie man den Leviathan als einen späten Spross der Politeia interpretieren kann. In beiden Büchern wird eine despotische Regierungsform befürwortet, aber abgesehen davon sehe ich kaum Ähnlichkeiten. Der Materialist Hobbes gelangt auf einem völlig anderen Weg zu seinen Schlussfolgerungen als der Idealist Platon. Für Weinreichs Argumentation spielt glücklicherweise keiner dieser Philosophen eine ernsthafte Rolle.
(14) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 24f.
(15) Anmerkung zu W.H. Audens Besprechung des Return of the King. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 183. S. 317.
(16) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 127f.
(17) Zit. nach: Arno Borst: Lebensformen im Mittelalter. S. 379.
(18) Humphrey Carpenter: J.R.R. Tolkien. Eine Biographie. S. 150.
(19) Hilaire Belloc: The Servile State. S. 50f.
(20) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. III. S. 329.
Von Verfassungen mit und ohne Schwert. Impressionen idealer Herrschaftsformen in Mittelerde als Ausdruck des politischen Verständnisses von J.R.R. Tolkien wurde 2006 im zweiten Band von Hither Shore veröffentlicht. Der Autor stellt sich darin ausdrücklich die Aufgabe, die "Aktualität von Tolkiens fiktionalen Werken" und deren "besonderen gesellschaftspolitischen Wert" nachzuweisen. Er tut dies, indem er zu belegen versucht, dass ihnen eine "Wertschätzung politischer Freiheit und des Pluralismus" zugrundeliege. Bei diesem Versuch, aus dem 'Professor' einen liberalen Demokraten zu machen, gelangt er meiner Ansicht nach zu einer Reihe z.T. grotesker Fehleinschätzungen.
In seinen Ausführungen konzentriert sich Weinreich ganz auf das Auenland und Gondor, in denen er völlig zurecht die beiden "idealtypischen" Vertreter politischer Ordnung im Herr der Ringe erblickt. Zugleich jedoch fasst er diese als gegensätzliche Staatsmodelle auf: "Das Königreich und das Auenland weisen zwei völlig verschiedene politische Strukturen auf. Aus dem Blickwinkel der politischen Theorie lassen diese sich bis auf die antagonistischen staatsphilosophischen Ansichten Platons und Aristoteles´ zurückverfolgen. Die eine dieser beiden Theorien, und zwar die platonische, führt unter einer radikalen Umdeutung in der beginnenden Neuzeit zu Thomas Hobbes." (13) In dieser Gegenüberstellung, auf der seine ganze Argumentation beruht, liegt meiner Meinung nach Weinreichs entscheidender Fehler. Mein Ziel soll es im Folgenden sein, nachzuweisen, dass die Auenlandordnung und das Königreich bei all ihren Unterschieden letztenendes Ausdruck ein und desselben romantisch-feudalen Gesellschaftsideals sind.
Beginnen wir mit dem Auenland. Die Heimat der Hobbits verkörpert wohl in reinster Form Tolkiens Ideal einer von staatlichen Kontrollen freien Gesellschaft.
"Zu jener Zeit konnte man im Auenland kaum von einer ‘Regierung’ sprechen. Die meisten Familien regelten ihre Angelegenheiten selbst. Nahrung anzubauen und sie aufzuessen nahm den größten Teil ihrer Zeit in Anspruch. In anderen Dingen waren sie gewöhnlich großzügig und nicht gewinnsüchtig, sondern zufrieden und bescheiden, so daß Güter, Höfe, Werkstätten und kleine Gewerbebetriebe generationenlang unverändert blieben." Staatliche Institutionen sind so gut wie nicht vorhanden: "Der einzige wirkliche Beamte im Auenland war der Bürgermeister von Michelbinge (oder vom Auenland), der alle sieben Jahre auf dem Freimarkt auf den Weißen Höhen an Lithe, das heißt am Mittsommertag, gewählt wurde. Seine einzige Pflicht als Bürgermeister bestand darin, als Gastgeber bei Festmählern mitzuwirken, die an den nicht eben seltenen Feiertagen im Auenland verantstaltet wurden." Die ‘Exekutive’ besteht aus gerade einmal zwölf Landbütteln, die "praktisch eher Feldhüter denn Polizisten" sind, "da sie sich mehr um streunende Tiere als um Leute kümmerten." Hinzu kommen die Grenzer, die dafür zu sorgen haben, "daß sich Ausländer aller Arten, ob groß oder klein, nicht unliebsam aufführten." (14) In Krisensituationen tritt die Volksversammlung unter dem Vorsitz des Thains (ein erblicher Titel) zusammen, die im Bedarfsfall auch eine Miliz unter dessen Befehl aufstellen kann.
Frank Weinreich nun glaubt, in dieser Ordnung Ähnlichkeiten mit dem sog. Ward-System der frühen USA erkennen zu können: "Dieses zu Recht als Rätesystem bezeichnete Frühstadium der USA, das der Theoretiker der amerikanischen Revolution Thomas Jefferson auch als elementare Republiken bezeichnete, zeichnet sich durch Selbstverwaltung, unmittelbare Demokratie, Mitbestimmung und konfliktfreies Nebeneinander der Wards aus. Auch die Größe oder vielmehr Kleinheit der amerikanischen Wards ähnelt der geringen Größe und Bevölkerungszahl in den vier Vierteln." Ein solcher Vergleich vermittelt meiner Meinung nach einen völlig falschen Eindruck, indem er das tolkiensche Denken in die Nähe der demokratischen Ideale der Amerikanischen Revolution rückt. Thomas Jefferson, Sam Adams und Tom Paine dürften kaum eine Inspiration für den Autor des Herr der Ringe gewesen sein, was auch Weinreich eingestehen muss: "Er hat die Gemeinschaft der Hobbits sicher nicht bewusst mit Blick auf das alte amerikanische Ward-System entworfen. Unbewusst jedoch hat er für sein Idyll zu einem Gesellschaftssystem gegriffen, das mit seiner egalitären (und sozialen!) Grundstruktur die größtmögliche Sicherheit für den Einzelnen gewährt."
Tolkien selbst hat das Auenland einmal als "halbaristokratische Halbrepublik" (15) bezeichnet. Es ist weder eine egalitäre Gesellschaft, noch weist es nennenswerte Formen von Demokratie, Mitbestimmung oder Selbstverwaltung auf. Es existieren vielmehr sehr deutlich hervorgehobene Standesunterschiede zwischen den Hobbits – man denke bloß an Frodo und Sam –, und auch wenn es keinen Erbadel im eigentlichen Sinne gibt, liegt die Autorität doch ganz eindeutig bei den Oberhäuptern der großen Sippenverbände. Der Herr von Bockland etwa regiert wie ein kleiner König vom Brandyschloss aus über seine riesige Sippschaft und über "die vielen, die von ihnen abhängig waren", und die "Oberhoheit des ‘Schloßherrn’ (wie das Haupt der Familie Brandybock genannt wurde) wurde von den Bauern zwischen Stock und Rohrholm immer anerkannt." (16) Eine solche Gesellschaftsordnung ließe sich vielleicht als 'patriarchalisch', aber ganz sicher nicht als 'demokratisch' bezeichnen. Von irgendwelchen Organen der Selbstverwaltung (Stadträten oder gewählten Dorfvorstehern etwa) ist nirgends die Rede, und unter der Volksversammlung – im Original archaisierend ‘Shire-moot’ genannt – dürfen wir uns selbstverständlich kein Parlament im modernen Sinne vorstellen, sondern sollten dabei eher an eine Versammlung mittelalterlicher Eidgenossen denken. Nicht der Kongress in Philadelphia, sondern die Kantone der Urschweiz kämen hier wohl am ehesten als Vorbild in Betracht. Und wie heisst es so hübsch im berühmten Bundesbrief der Gemeinden Uri, Schwyz und Unterwalden von 1291? "[E]in jeder Mann [ist] nach seinem Rang und Stand gehalten [...], seinem Herrn in angemessener Weise untertan und dienstbar zu sein." (17) Etwas anderes ist von einer mittelalterlichen Confederatio auch gar nicht zu erwarten, und ebenso sollten wir uns die soziale Ordnung des Auenlandes vorstellen.
Weinreich gibt all dies auch zu und spricht ausdrücklich von "patriarchalen", "undemokratischen" Strukturen. Er erwähnt sogar die Schweiz als mögliches Vergleichsmodell, entwertet diese ganz richtige Bemerkung jedoch sofort durch seine völlig ahistorische Betrachtungsweise des Alpenlandes: "Man kann sich das Auenland vielleicht wie die Schweiz in der Zeit von 1291 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vorstellen: eine Art Eidgenossenschaft von vier gleichberechtigten Kantonen, die nach innen von hohem Konservativismus und patriarchalen Strukturen gekennzeichnet ist." Einige oberflächliche Ähnlichkeiten reichen offenbar aus, um sechs Jahrhunderte Schweizer Geschichte über einen Kamm zu scheren! Ist das für sich genommen schon lächerlich genug, bedeutet es im gegebenen Zusammenhang vor allem, dass man die Gemeinschaft der Hobbits nach Belieben sowohl mit der feudalen Confederatio von 1291 als auch mit der bürgerlichen Republik von 1848 vergleichen könne. Dabei hatten die beiden ‘Eidgenossenschaften’ ungefähr soviel miteinander gemein wie das Kaiserreich Friedrich Barbarossas und das Wilhelms II.
Damit ist das Schweizer Modell sozusagen entschärft, und am Ende bleibt das Ward-System als wichtigste Parallele, die Weinreich dann auch noch mit einigen Zitaten aus Alexis de Tocquevilles De la démocratie en Amérique zu untermauern sucht. Ziel des Ganzen ist es ganz offensichtlich, Tolkiens Beschreibung des Auenlandes den Idealen einer liberalen Demokratie anzugleichen. Alles, was dabei nicht ins Bild passt, wird bei Seite geschoben.
Ich finde eine solche Herangehensweise an einen Schriftsteller und sein Werk ehrlich gesagt unstatthaft. Es besteht kein Zweifel, dass Tolkien selbst ein bekennender Antidemokrat war, für den – in den Worten seines Biographen Humphrey Carpenter – in einer wohlgeordneten Gesellschaft "jeder Mensch zu einem bestimmten ‘Stand’ gehörte oder gehören sollte, ob hoch oder niedrig" (18). Nun müssen die bewussten Intentionen eines Künstlers oder einer Künstlerin ganz sicher nicht das letzte Wort über sein oder ihr Kunstwerk sein. Doch statt eine 'unterbewusste' Verbindung zwischen der Auenlandordnung und den Idealen der Amerikanischen Revolution anzunehmen, halte ich es für sinnvoller, das Augenmerk auf Gesellschaftstheorien zu lenken, die Tolkien geistig sehr viel näher standen und zudem auch noch sehr viel besser zu den Schilderungen im Herr der Ringe passen. Ein Blick in Hilaire Bellocs 1912 erschienenes Buch The Servile State wäre in diesem Zusammenhang recht hilfreich.
Der Freund und Mitstreiter G.K. Chestertons vertritt darin die These, der Kapitalismus sei dabei, in eine neue Sklavenhaltergesellschaft überzugehen. Er entwirft das Alptraumszenario eines Englands, in dem die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung auf den Status rechtlich unfreier Zwangsarbeiter herabgesunken ist und eine allmächtige Staatsbürokratie im Interesse der Unternehmer das Leben dieser neuen Sklaven bis ins Kleinste reglementiert, während sie sie zugleich mit ‘sozialstaatlichen’ Maßnahmen wie Krankenversicherung und Altersvorsorge ruhig stellt. Diese Ordnung hält Belloc für die logische Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung. Die Wurzel allen Übels macht er dabei nicht wie die Marxisten im Privateigentum an den Produktionsmitteln, sondern in der Monopolisierung dieses Eigentums in den Händen einiger weniger aus. Die sozialistische Lösung einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel hält er weder für gangbar noch für wünschenswert. Stattdessen plädiert er für die Einführung einer Ordnung, in der das Eigentum auf möglichst viele unabhängige Gewerbetreibende, Handwerker und Bauern verteilt sein sollte. Dieser Idealzustand – von ihm ‘distributiver Staat’ genannt – habe im Mittelalter geherrscht, als die katholische Kirche die Führerin der europäischen Gesellschaft war: "The State, as the minds of men envisaged it at the close of this process [der Entstehung der mittelalterlichen Ordnung], was an agglomeration of families of varying wealth, but by far the greater number owners of the means of production. It was an agglomeration in which the stability of this distributive system (as I have called it) was guaranteed by the existence of co-operative bodies, binding men of the same craft or of the same village together; guaranteeing the small proprietor against loss of his economic independence, while at the same time it guaranteed society against the growth of a proletariat. If liberty of purchase and of sale, of mortgage and of inheritance was restricted, it was restricted with the social object of preventing the growth of an economic oligarchy which could exploit the rest of the community. The restraints upon liberty were restraints designed for the preservation of liberty; and every action of Mediaeval Society, from the flower of the Middle Ages to the approach of their catastrophe, was directed towards the establishment of a State in which men should be economically free through the possession of capital and of land." (19) Den Untergang dieses Idylls und die Geburtsstunde des Kapitalismus macht Belloc in der Reformation des 16. Jahrhunderts aus. Damals hätten die reichsten Grundbesitzer und Kaufleute damit begonnen, das gesamte Eigentum in ihren Händen zu konzentrieren und den Rest der Bevölkerung zu Proletariern zu degradieren.
Suchen wir nach einem Vorbild für das Auenland, so sind wir beim ‘distributiven Staat’ und nicht bei Thomas Jeffersons 'elementarer Republik' an der richtigen Adresse. Wie Belloc zeichnet auch Tolkien das Bild eines kleinbürgerlichen Utopias der unabhängigen Bauern und biederen Handwerker. Interessant ist zudem, worin er die größte Gefahr für dieses Idyll ausmacht. Weinreich behauptet, das Auenland sei "für machtmissbräuchliche Deviationen nicht anfällig. Selbst wenn es – offensichtlich nur ganz selten – machthungrige Hobbits wie Lotho Sackheim-Beutlin gibt, so sind diese doch keine Gefährdung für das Auenland, solange sie keine externe Unterstützung bekommen." Es stimmt zwar, dass Frodos versnobter Verwandter seine persönliche Diktatur erst mit Hilfe menschlicher Handlanger errichten kann, dennoch übersieht Weinreich hier ein sehr wichtiges Detail. Bauer Hüttinger beschreibt Lothos Aufstieg so: "Offenbar wollte er alles selbst besitzen und die Leute nach seiner Pfeife tanzen lassen. Bald zeigte sich, daß er schon erheblich mehr besaß, als gut für ihn war; und er grapschte immer noch mehr, obwohl es ein Rätsel war, wo er das Geld herhatte: Mühlen und Mälzereien, und Wirtshäuser und Bauernhöfe und Tabakpflanzungen. Offenbar hatte er Sandigmanns Mühle schon gekauft, ehe er nach Beutelsend kam. Natürlich fing er mit einer Menge Besitz im Südviertel an, den er schon von seinem Vater hatte; und es scheint, daß er eine Menge Tabak verkauft und seit ein oder zwei Jahren in aller Stille verschickt hatte." Was ist dies anderes als die belloc’sche Genese des Kapitalismus durch die Konzentration des Eigentums in den Händen besonders raffgieriger und skrupelloser Individuen? Auch lässt einen Lothos Abneigung gegen Alkohol und Tabak – "der Oberst hielt nichts von Bier [...] und schloß alle Wirtshäuser" – an die Sinnenfeindlichkeit der protestantischen britischen Mittelklasse denken. (20)
Das bedeutet natürlich nicht, dass Tolkien The Servile State oder vergleichbare Schriften tatsächlich gelesen haben muss. Sein Denken wurzelte jedoch in denselben sozialen Verhältnissen wie das der Chesterbelloc (so nannte Bernard Shaw scherzhaft den Kreis um Belloc und Chesterton). Dass sich die Mittelschichten angesichts einer gesellschaftlichen Krise in die ‘gute, alte Zeit’ zurücksehnen, ist ein häufig zu beobachtendes Phänomen. In ihrer sozialen Stellung sowohl von den ‘Plutokraten’ als auch von den Proletariern bedroht, wünschen sie, den Kapitalismus nicht abzuschaffen, sondern auf das Niveau einer Gesellschaft kleiner Warenproduzenten zurückführen zu können. Wie Chesterton es ausdrückte: "Too much capitalism does not mean too many capitalists, but too few capitalists." Nicht selten entdecken die Ideologen des Kleinbürgertums das ersehnte Goldene Zeitalter im zünftlerischen Handwerk des Mittelalters, während sie den mit der Scholle verbundenen Bauern als Idealtyp den entwurzelten und bedrohlichen städtischen Massen gegenüberstellen. Hierin berühren sich der 'Distributismus' und Tolkiens literaterische Vision. Auf die beunruhigende Verwandtschaft dieses Ideals zum Faschismus möchte ich in diesem Aufsatz nicht eingehen. Die Pandorabüchse des moorcockschen 'Tolkien the Crypto-Fascist' soll vorerst geschlossen bleiben.
Fortsetzung folgt ...
(1) Okay, er twittert sporadisch, aber besonders erhellend ist das nicht.
(2) Er tut dies u.a. in Zur Verteidigung von Mittelerde, Tolkien in der Kritik und Das Gute bei Tolkien.
(3) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. II. S. 16 & Bd. III. S. 133.
(4) Auf sein eigentümliches Geschichtsverständnis, demgemäß es stets die Liberalen gewesen seien, die den Kampf um die Freiheit angeführt und die demokratischen Rechte erstritten hätten, möchte ich nicht näher eingehen.
(5) Brief an Joanna de Bortadano (Entwürfe) [April 1956]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 186. S. 324f.
(6) Brief an Christopher Tolkien [29. November 1943]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 52. S. 87f.
(7) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. II. S. 279 & Bd. III. S. 255f. Die Ameisenmetapher für den ‘Totalitarismus’ findet sich übrigens auch im ersten Band von The Once and Future King, aber T. H. White verwendet sie aus gutem Grund nie zur direkten Charakterisierung von Menschen. Selbst die nazihaften Anhänger Mordreds sind für ihn keine Insekten. Spätestens nach der Lektüre von Norman Spinrads The Iron Dream sollte einem aufgehen, dass Tolkiens Schilderung der ameisenartigen Orks nicht nur extrem inhuman, sondern selbst (ich finde kein besseres Wort) faschistoid ist. Doch das Orkproblem würde eine ausführlichere Behandlung verlangen, für die hier nicht der richtige Ort ist.
(8) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. III. S. 225; 227f.
(9) Brief an Christopher Tolkien [7. Juli 1944]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 75. S. 118.
(10) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 314. & Bd. II. S. 195f.
(11) Ebd. Bd. III. S. 185ff.
(12) "Weder er [Sam] noch Frodo wußten etwas von den großen Feldern weit im Süden dieses ausgedehnten Reiches, die von Hörigen [slaves] bestellt wurden". (Ebd. Bd. III. S. 225). Carroux’ Übersetzung scheint mir hier etwas irreführend zu sein, da wir bei ‘Hörigen’ eher an feudale Leibeigene – engl. ‘serfs’ – zu denken geneigt sind, Mordor aber keine Feudalgesellschaft ist.
(13) Ich bin kein Doktor der Philosophie wie der gute Frank, aber ich verstehe nicht ganz, wie man den Leviathan als einen späten Spross der Politeia interpretieren kann. In beiden Büchern wird eine despotische Regierungsform befürwortet, aber abgesehen davon sehe ich kaum Ähnlichkeiten. Der Materialist Hobbes gelangt auf einem völlig anderen Weg zu seinen Schlussfolgerungen als der Idealist Platon. Für Weinreichs Argumentation spielt glücklicherweise keiner dieser Philosophen eine ernsthafte Rolle.
(14) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 24f.
(15) Anmerkung zu W.H. Audens Besprechung des Return of the King. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 183. S. 317.
(16) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 127f.
(17) Zit. nach: Arno Borst: Lebensformen im Mittelalter. S. 379.
(18) Humphrey Carpenter: J.R.R. Tolkien. Eine Biographie. S. 150.
(19) Hilaire Belloc: The Servile State. S. 50f.
(20) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. III. S. 329.
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