Teil 1: "Erdzauber" im Kontext seiner Zeit
Im Dezember 2019 taten sich Alessandra von FragmentAnsichten und ich erstmals zu einem gemeinsamen Klassiker-Reread zusammen. Unsere Wahl fiel dabei auf Joy Chants Kurzroman Wenn Voiha erwacht, und am Ende stand ein zweiteiliges Gespräch, das wir auf unseren beiden Blogs veröffentlichten. Wir hatten viel Spaß damit, und so war es wohl bloß eine Frage der Zeit, bis wir erneut ein derartiges Projekt angehen würden. Diesmal entschieden wir uns für Patricia A. McKillips Erdzauber - Trilogie, mit der wir beide ziemlich positive Erinnerungen verbanden. Schon bald zeigte sich, dass wir mehr über diese Bücher zu sagen hatten, als man vernünftigerweise im Rahmen eines Gesprächs abhandeln konnte. Und so wuchs sich das Ganze schließlich zu einer Art "Miniserie" aus, deren sechs Bestandteile im Verlauf der nächsten zwei Wochen auf unseren Blogs erscheinen werden. Das eigentliche Gespräch wird dabei den Abschluss bilden.
1965 erschien der Lord of the Rings erstmals im Taschenbuchformat in den Vereinigten Staaten – zuerst in einer unlizensierten Ausgabe bei Ace, dann in der autorisierten Fassung bei Ballantine Books. Schon bald rollte eine Welle der Tolkienbegeisterung über das Land, die vor allem große Teile der unruhig und rebellisch gewordenen Jugend und Studentenschaft der Hippie- und Counter Culture - Ära erfasste. Hunderttausende von Exemplaren der Bücher wurden verkauft. Alsbald entstanden erste Fanorganisationen wie die Tolkien Society of America (1965), die Tolkien and Fantasy Society (1966) und die Mythopoetic Society (1967). Im September 1970 wurde die erste Mythcon in Claremont (Kalifornien) abgehalten.
Angesichts dessen verwundert es ein wenig, dass nicht in kürzester Zeit Fantasyromane erschienen, die sich am Vorbild des Lord of the Rings orientierten. Vielmehr erlebte die Sword & Sorcery, die schon seit einigen Jahren vor allem auf den Seiten von Cele Goldsmiths Magazin Fantastic (und 1966 in Jack Vance' zweiter Dying Earth - Anthologie) eine Art Renaissance feiern konnte, im Anschluss an die Neuauflage von Robert E. Howards Conan - Stories bei Lancer Books ab 1967/68 noch einmal einen gewaltigen Aufschwung. Für mindestens weitere zehn Jahre würde dieses Subgenre den amerikanischenm Fantasymarkt dominieren.
Bei Ballantine Books war man selbstverständlich brennend daran interessiert, den Erfolg des Lord of the Rings mit einem anderen Buch zu wiederholen. Was letztlich zur Entstehung der Ballantine Adult Fantasy - Reihe (1969-74) führte. Deren Bedeutung für die Entwicklung des Genres ist natürlich unbestreitbar. Sie schuf nicht nur eine Art literarischen Kanon, sondern trug auch viel dazu bei, die Genrebezeichnung "Fantasy" im Mainstream zu verankern. Aber sie bestand beinahe ausschließlich aus Neuauflagen älterer Werke. Und erwies sich alles in allem für den Verlag als ein Verlustgeschäft. Die Serie verkörperte nicht die "angesagte" Phantastik des Tages. Von den wenigen originären Beiträgen lässt Joy Chants Red Moon and Black Mountain (1971) zwar in der Tat sehr deutlich den Einfluss von Tolkien (und C. S. Lewis) erkennen, aber das Buch war ganz sicher kein Trendsetter. Andere Fantasyromane der späten 60er und frühen 70er, die abseits der Sword & Sorcery standen, wie etwa Peter S. Beagles The Last Unicorn (1968) oder Ursula K. Le Guins Earthsea - Trilogie (1968-72) verraten jedenfalls kaum tolkienschen Einfluss.
Not having known that there was such an award, and never having heard of H. P. Lovecraft, when she received Lovecraft’s head in the mail her reaction was, “What the #@*!!$ is this?”
When my editor called me and told me what the financial offer was for the paperback of Forgotten Beasts, I told her I nearly fell off my chair, and she said, "So did I." It wasn't that big by modern standards, but by those earlier standards it certainly was.Damit war McKillip der Durchbruch auf den Fantasymarkt gelungen. Als nächstes erschien zwar noch einmal ein YA-Roman von ihr (The Nightgift), doch konnte sie sich nun vor allem der endgültigen Realisierung eines Projektes widmen, mit dem sie sich schon seit gut zehn Jahren beschäftigt hatte: Einer epischen Fantasyerzählung, deren erster Band 1976 bei Atheneum unter dem Titel The Riddle-Master of Hed erschien – Beginn jener Trilogie, die hierzulande erstmals 1981 in der klassisch-schwarzen Goldmann Fantasy - Reihe als Erdzauber veröffentlicht wurde.
I grew up partly overseas, so I had to read what was in the library there, because my dad was in the Air Force, and I would read whatever was on the air bases, which is where I ran into Fritz Leiber. I loved his stories of Fafhrd and the Gray Mouser, and Andre Norton was also very interesting to me, but that was about all there was [...]Und es sieht nicht so aus, als wäre ihr persönlicher Zugang zur Phantastik besonders stark von diesen ersten Begegnungen geprägt worden. Als sie mit 14 ihre erste "richtige" Geschichte zu Papier brachte, wählte sie bezeichnenderweise die Form des Märchens:
In a fit of boredom one day when she was fourteen, she sat down in front of a window overlooking a stately medieval church and its graveyard and produced a thirty-page fairy tale.
When I was seventeen I stayed up until three in the morning reading Tolkien and was so astonished by it, I think, because I am a post-Baby Boom child and was brought up very rigidly Catholic. So, as a Catholic your mythological world has a wall around it, and Tolkien just tipped that wall right over. He demolished it. He made you feel like the imagination was something you could keep on going through and go through and never find an end to.Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet das Werk des tief frommen Katholiken Tolkien eine solch befreiende Wirkung auf die junge Patricia McKillip hatte. Auf jedenfall fühlte sie sich umgehend dazu getrieben, selbst ein vergleichbar episches Werk zu schreiben. Bis zu seiner Vollendung sollten zwar noch zwölf Jahre vergehen, doch der Grundstein für Erdzauber war gelegt.
Vorerst freilich begann McKillip erst einmal ein Literaturstudium, zuerst am katholischen College Notre Dame in Belmont (Kalifornien), dann an der Universität von San Jose. 1971 erwarb sie ihren B.A., 1973 ihren M.A. Die ganze Zeit über hörte sie nicht auf, selbst zu schreiben. Allerdings war phantastische Literatur im akademischen Milieu jener Zeit immer noch ziemlich verpönt. Entsprechend wenig konnten ihre Lehrer und Dozenten mit dem anfangen, was sie zu Papier brachte, wenn sie es zu sehen bekamen. Und auch die paar "Writing Courses", die sie belegte, waren nach ihrer eigenen Einschätzung kaum hilfreich. Der Gewinn, den sie als angehende Schriftstellerin aus dem Studium bezog, bestand wohl hauptsächlich darin, mit einer großen Bandbreite an englischsprachiger Literatur bekannt gemacht zu werden. Und gerade für Genreautor*innen ist es ja äußerst hilfreich, immer mal wieder über die Mauern des eigenen kleinen Ghettos hinauszuschauen.
Während Patricia McKillip noch an ihrem M.A. arbeitete, erschien bereits ihr erster Roman The House on Parchment Street, der offenbar stark von den Jahren, die die Familie in England gelebt hatte, inspiriert war:
It's about the four hundred year old house that I lived in as a kid over in England, and the priest-hole in the basement, and I imagined ghosts down there. So it had a lot of history and not really a lot of fantasy. But I published that when I was in college, getting my master's degree. I was really, really embarrassed. I'd been reading Henry James and Faulkner and God knows who all, and here I came out with this little YA novel, and was published, and all the teachers were going, "Whoa!" I was going, "Oh, sorry!" [Laughs.]Für uns interessanter ist allerdings die Novelle The Throme of the Erril of Sherill, die als nächstes herauskam. Denn in ihr zeigte McKillip offenbar erstmals die Neigung, die "Regeln" eines bestimmten Storymodells zu unterlaufen und mit der Erwartungshaltung ihrer Leserschaft zu spielen.
I was trying to turn the expected on its head. The knight who never needs to fight is not what the reader might expect. Keeping the reader surprised by the unexpected seems more fun to me
Wie wir gesehen haben, existierte das High Fantasy - Modell zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch gar nicht richtig. Als Vorlage zu Erdzauber diente McKillip ausschließlich Tolkiens Lord of the Rings – und möglicherweise Joseph Campbells "Monomythos", den sie während des Studiums kennengelernt haben dürfte. Und doch spielt sie in ihrer Trilogie stellenweise bereits auf ganz ähnliche Weise mit den Erwartungen der Lesenden. Selbstverständlich ist diese keine "kritische Dekonstruktion" der High Fantasy. Aber sie enthält doch eine Reihe von Wendungen, Figuren, Storyelementen, die ziemlich überraschend wirken, wenn man davon ausgeht, es mit einer klassischen "Heldenreise" zu tun zu haben, was der erste Band erst einmal nahelegt.
Um so trauriger muss es erscheinen, dass nicht Erdzauber zum Anstoß und Vorbild der High Fantasy - Welle der 80er Jahre werden sollte. Denn ein halbes Jahr nach The Riddle-Master of Hed erschien 1977 bei Ballantine Terry Brooks' The Sword of Shannara. Die Del Reys hatten ihren Plan perfekt durchgezogen. Bis hin zu den Illustrationen der Brüder Hildebrandt war alles genauestens darauf abgestimmt, dem Publikum zu suggerieren, einen zweiten Lord of the Rings angeboten zu bekommen. Und die Rechnung ging auf. Der Schmöker fand reißende Abnahme und landete als erstes Fantasybuch überhaupt auf der Bestsellerliste der New York Times.
To me it is a very profound thing. It is literally the quest to find the correlative stories that will make you look at them and say, "Oh yes, I need to do this," or "I need this particular symbol." You respond to these things. That's the heroic quest. I don't know. I keep thinking of some kind of video game where images light up if you hit the right button. I think it's very true as I was growing up that what I needed I found in literature. Those symbols - my response to them - made me realize that this is what fantasy was about, the quest for unification and peace within yourself. This was the way you went about it. You fought your way through these various tales that you needed, that you responded to.Ich denke, hierin liegt einer der Hauptgründe, warum Erdzauber für mich in einer ganz anderen Liga spielt als viele der epigonalen High Fantasy - Epen, die in den 80ern und später erschienen sind. Auch bei McKillip ist der Einfluss Tolkiens zwar klar auszumachen, doch noch sehr viel deutlicher spürbar ist, dass sie die bei ihm aufgegriffenen Elemente nicht einfach übernommen, sondern zu etwas sehr eigenem und persönlichem umgeschmolzen hat. Ich halte es darum auch für keinen Zufall, dass Erdzauber anders als viele spätere High Fantasy - Geschichten nie zu einem Endlos-Epos ausgewalzt wurde. McKillip hat dazu einmal gesagt: "After I finished the Riddle Master trilogy, I swore I would never write another fantasy. That's how difficult the twelve-year process of writing it was". Ihre Trilogie scheint mir ein sehr gutes Beispiel dafür zu sein, was es bedeutet, von einem anderen Werk wirklich inspiriert – und nicht einfach nur zur Nachahmung angespornt – worden zu sein. Der Lord of the Rings war für McKillip weniger ein Modell, das sie zu kopieren versucht hätte, als vielmehr der Anstoß für eine eigene Reise in die Welten von Mythos und Imagination, die am Ende zur Entstehung von Erdzauber führte:
He [Tolkien] made you feel like the imagination was something you could keep on going through and go through and never find an end to. So I started doing research. I literally tried to find his worlds. I didn't know what they were, whether they were real or not. I looked in history and then I got the idea of looking in mythology, poetry, and legends and got into really finding his sources. Things grew from there, and I had to write the trilogy.Am Samstag wird euch Alessandra dann auf ihrem Blog berichten, welchen Einfluss vor allem Patricia McKillips Beschäftigung mit keltischer Mythologie auf Erdzauber hatte. Stay tuned!
* Im englischen Original besitzt das Werk keinen vergleichbar handlichen Titel. Meist wird es The Riddle-Master Trilogy genannt, im Anschluss an den Namen des ersten Bandes The Riddle-Master of Hed. In der Vergangenheit ist es aber auch als Riddle of the Stars und The Quest of the Riddlemaster veröffentlicht worden.
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