Nach zweieinhalb Monaten setze ich nun endlich meinen hier begonnenen Aufsatz über die burjatische Nationalbewegung fort, der uns am Ende zu einer kurzen Betrachtung der faszinierenden Theaterarbeit führen soll, die der Dichter und Dramatiker Pjotr Dambinow in den 20er Jahren in Sowjetburjatien organisierte. Ich hoffe, bis zur Veröffentlichung des nächsten Teiles wird es nicht noch einmal so lange dauern. Schließlich warten noch eine ganze Reihe anderer Beiträge für meine Reihe "Back in the U.S.S.R." darauf, geschrieben und gepostet zu werden.
Anfang 1904 brach der Krieg zwischen Russland und Japan aus. Der dumpfe Hurrapatriotismus der ersten Kriegsmonate hielt nicht lange vor. Eine Reihe von demütigenden Niederlagen der russischen Armee in der Mandschurai versetzten dem Prestige des Zarismus einen schweren Schlag und in der zweiten Jahreshälfte begannen die bürgerlichen Liberalen halblegale Konferenzen und politische Bankette zu organisieren, auf denen sie die Einführung der bürgerlichen Freiheiten und die Einberufung einer Volksvertretung forderten, die an der Gesetzgebung mitwirken solle. Die breite Masse der Bevölkerung in den Kampf hineinzuziehen, kam den Professoren, Journalisten und Notaren, fortschrittlichen Fabrikanten und Gutsbesitzern selbstverständlich nicht in den Sinn. Sie hofften auf ein Entgegenkommen der geschwächten Regierung. Doch die Autokratie zeigte sich keineswegs verhandlungswillig und die Bankettkampagne drohte im Sande zu verlaufen, als im Dezember ein Generalstreik in Baku ausbrach. Im selben Monat musste Russland die als uneinnehmbar geltende Festung Port Arthur an die Japaner übergeben. Von nun an überschlugen sich die Ereignisse. Am 3. (16.) Januar traten die 12.000 Arbeiter der Petersburger Putilow-Werke in den Ausstand. Der unmittelbare Anlass war eher unbedeutend, doch bereits wenige Tage später streikten in der Hauptstadt 140.000 Arbeiter. Am 9. (22.) Januar 1905 marschierte eine gewaltiger Demonstrationszug unter der Führung des Popen Gapon, Kirchenlieder singend und Ikonen mit sich führend, zum Winterpalais, um dem Zaren die Forderungen der Petersburger Arbeiterschaft zu übergeben: Einführung der demokratischen Freiheiten, des Achtstundentages und eines Minimallohns, Trennung von Kirche und Staat, Befreiung der politischen Gefangenen, Wahl einer gesetzgebenden Volksversammlung nach allgemeinem und gleichem Stimmrecht. Das Manifest endete mit den pathetischen Sätzen:
Anfang 1904 brach der Krieg zwischen Russland und Japan aus. Der dumpfe Hurrapatriotismus der ersten Kriegsmonate hielt nicht lange vor. Eine Reihe von demütigenden Niederlagen der russischen Armee in der Mandschurai versetzten dem Prestige des Zarismus einen schweren Schlag und in der zweiten Jahreshälfte begannen die bürgerlichen Liberalen halblegale Konferenzen und politische Bankette zu organisieren, auf denen sie die Einführung der bürgerlichen Freiheiten und die Einberufung einer Volksvertretung forderten, die an der Gesetzgebung mitwirken solle. Die breite Masse der Bevölkerung in den Kampf hineinzuziehen, kam den Professoren, Journalisten und Notaren, fortschrittlichen Fabrikanten und Gutsbesitzern selbstverständlich nicht in den Sinn. Sie hofften auf ein Entgegenkommen der geschwächten Regierung. Doch die Autokratie zeigte sich keineswegs verhandlungswillig und die Bankettkampagne drohte im Sande zu verlaufen, als im Dezember ein Generalstreik in Baku ausbrach. Im selben Monat musste Russland die als uneinnehmbar geltende Festung Port Arthur an die Japaner übergeben. Von nun an überschlugen sich die Ereignisse. Am 3. (16.) Januar traten die 12.000 Arbeiter der Petersburger Putilow-Werke in den Ausstand. Der unmittelbare Anlass war eher unbedeutend, doch bereits wenige Tage später streikten in der Hauptstadt 140.000 Arbeiter. Am 9. (22.) Januar 1905 marschierte eine gewaltiger Demonstrationszug unter der Führung des Popen Gapon, Kirchenlieder singend und Ikonen mit sich führend, zum Winterpalais, um dem Zaren die Forderungen der Petersburger Arbeiterschaft zu übergeben: Einführung der demokratischen Freiheiten, des Achtstundentages und eines Minimallohns, Trennung von Kirche und Staat, Befreiung der politischen Gefangenen, Wahl einer gesetzgebenden Volksversammlung nach allgemeinem und gleichem Stimmrecht. Das Manifest endete mit den pathetischen Sätzen:
Dies, o Herr, sind unsere hauptsächlichsten Wünsche. Befiehl und schwöre, dass Du sie erfüllst, und Du wirst Russland glücklich und glorreich machen, wirst Deinen Namen unseren Herzen und den Herzen der Nachkommen einprägen für ewige Zeiten. Lässt Du es nicht zu, kehrst Du Dich nicht um unser Flehen, so werden wir sterben auf diesem Platz, vor Deinem Palast. (1)Die rhetorische Wendung sollte zur blutigen Wirklichkeit werden. Nikolaus II. hatte die Stadt verlassen und den Oberbefehl seinem Onkel Großfürst Wladimir Romanow übergeben. Dieser ließ das Feuer auf die unbewaffnete Menge eröffnen. Hunderte Frauen und Männer starben im Kugelhagel und unter den Säbelhieben der Kosaken. Erste Berichte sprachen sogar von zweitausend Opfern. Der "Blutsonntag" zerstörte für immer die Legende vom gütigen "Väterchen Zar" und war zugleich der Beginn der ersten Russischen Revolution.
Im März erste
Truppenmeutereien in Tiflis; im April Demonstrationen in Petersburg
und Bauernunruhen in den Ostseeprovinzen; im Mai Kämpfe mit dem
Militär in Warschau und Kalisch; im Juni Generalstreik und
Straßenkämpfe in Warschau, Aufstand auf dem Panzerkreuzer Potemkin
im Schwarzen Meer, Truppenmeutereien in Riga und Libau; im Juli
Bauernunruhen im Baltikum, Meuterei in Cherson, Eisenbahnerstreik; im
Oktober schließlich die Gründung des Petersburger Sowjets der
Arbeiterdeputierten und der landesweite Generalstreik, der in Moskau
begann, dann jedoch Abermillionen erfasste, das wirtschaftliche Leben
und den Staatsapparat wochenlang lahmlegte und zur Proklamation des
Zarenmanifestes vom 17. (30.) Oktober führte, in dem Nikolaus II.
dem Land die bürgerlichen Freiheiten und die Einberufung einer Duma – eines Parlamentes – versprach; im November der revolutionäre Kampf
der Petersburger Arbeiter und Arbeiterinnen um den Achtstundentag; im
Dezember schließlich der erfolglose bewaffnete Aufstand in Moskau.
Die Chronik der zentralen
Ereignisse des "tollen Jahres" erweckt den Eindruck, als habe die
revolutionäre Sturmflut den Ural nie überschritten, und naturgemäß
konzentrierten sich die Hauptkämpfe tatsächlich auf die
wirtschaftlich fortgeschrittensten Teile des Landes. Doch Sibirien
war keineswegs das ruhige Hinterland der Revolution. Im Herbst fanden
auch in Irkutsk Massenstreiks statt und am 30. November (13.
Dezember) marschierte ein gewaltiger Zug bewaffneter Demonstranten –
Arbeiter und Soldaten der örtlichen Garnison – durch die Straßen
der Gouvernementshauptstadt. Die Region um den Baikalsee war außerdem
Schauplatz einer zwar wenig bekannten, aber nichtsdestoweniger
außergewöhnlich interessanten Episode der ersten Revolution, als
Tschita zur Hauptstadt einer kurzlebigen unabhängigen Republik
Transbaikalien wurde, an deren Spitze ein Sowjet der Arbeiter-,
Soldaten- und Kosakendeputierten unter dem Vorsitz des aus Tiflis in
die Verbannung geschickten Ingenieurs Kurnatowski stand. Ähnliche
regionale Sowjetrepubliken entstanden in Lettland und in
Novorossiisk. Zwölf Jahre vor der Oktoberrevolution zeigte sich hier
erstmals das gewaltige Potential der spontan entstandenen
Organisationsform der Arbeiterräte.
In Tschita versammelten
sich 1905 aber auch die Vertreter der burjatischen Nationalbewegung
zu einer Konferenz, auf der sie die Selbstverwaltung für ihre Heimat
forderten. Allerdings wurde die Versammlung allem Anschein nach von den
Vertretern des konservativen Flügels um Tsyben Jamtsarano dominiert.
Dabei führte die Revolution logischerweise auch unter den Burjaten zu
einer Radikalisierung. Jamtsarano selbst berichtet in seinen Putevye
dnevniki (Reisetagebüchern) von einem Gespräch, das er
in diesem Jahr mit einem Bekannten in Irkutsk führte. Dieser erzählte
ihm, er habe soeben seinen alten Beruf aufgegeben und wolle
Gefängniswärter werden. Doch nicht etwa, um dem zaristischen Regime
zu dienen: „You see, brother, I’ve gone red. I’ve realized that this is no time
to live simply for one’s own pleasure. We have to fight for freedom
and take an active part in the battle for self-government!“
Voller Zorn und Begeisterung legte ihm der Mann seine Pläne dar: „I
want to help the political prisoners, those martyrs for our freedom,
for the freedom and benefit of all! ... I’ll get them newspapers
to read, I’ll send their letters, who knows what could happen? I
will always come in handy!“
Solche Reden werden dem konservativen Jamtsarano kaum behagt haben.
Wie bereits erwähnt, führte er 1905 einen wütenden Kampf gegen die "antionationalen" Sozialisten.
Kaum saß die zaristische Regierung 1906 wieder einigermaßen fest im Sattel, da ließ Kriegsminister Alexei N. Kuropatkin, ein altgedienter Veteran des russischen Kolonialismus in Turkestan, die Burjaten in deutlichen Worten wissen, was man in St. Petersburg von ihrem Verlangen nach Selbstverwaltung hielt: Sie hätten nichts zu fordern. Ihr einziges Recht bestehe darin, die Gunst des Zaren zu erbitten. Sollten sie es jedoch wagen, die Befehle des Herrschers zu missachten, so werde man sie erbarmungslos ausradieren.
Für die weitere Entwicklung der burjatischen Nationalbewegung waren das Revolutionsjahr 1905 und seine Folgen vor allem aus zwei Gründen von Bedeutung.
Angesichts des drohenden Untergangs ihrer Herrschaft mobilisierten die Vertreter der alten Ordnung die rückständigsten Teile der Bevölkerung unter dem Banner von Monarchie und Vaterland, um sie als Stoßbrigaden der revolutionären Flutwelle entgegenzuwerfen. Dies nahm die Form der protofaschistischen Bewegung der "Schwarzhunderter" an, die mit mehr oder minder offener Unterstützung des Staates und der Orthodoxen Kirche reihenweise blutige Pogrome veranstalteten. Wir werden uns in einem späteren Artikel etwas genauer mit diesen widerwärtigen Verteidigern von Gott, Zar und Vaterland beschäftigen, in denen man zurecht die direkten Vorläufer von Mussolinis Schwarzhemden und Hitlers SA sehen kann. Für den Moment soll es genügen, darauf hinzuweisen, dass ihre bevorzugten Opfer zwar in gut russischer Tradition die Juden waren, doch dass auch andere nationale Minderheiten des Reiches unter dem Anheizen von Rassenhass und nationalen Konflikten zu leiden hatten, mit dem die.zaristischen Machthaber auf die revolutionäre Bedrohung reagierten. So kam es z.B. in der
Ölmetropole Baku zu einem Massaker an der armenischen Bevölkerung,
für das man allgemein Gouverneur Nakadschidze verantwortlich machte.
Zezilija Bobrowskaja, die zu dieser Zeit als bolschewistische
Parteiarbeiterin in Baku tätig war und das blutige Gemetzel
miterlebte, schreibt in ihren Memoiren:
To disperse the clouds of revolution that hung threateningly in the air, [the governor] resorted to the favourite method used so widely by the authorities in tsarist Russia – the stirring up of race hatred. As an instrument for this murderous task, Nakashidze chose representatives of the most backward nationality in the Caucasus – the Tartars. Gangs of these men were provided by the police with guns and knives, and a special day was fixed for a massacre of the Armenians. I shall never forget those horrible days. All day long I tried every way to get to the districts. But all roads were completely cut off. We could not reach the districts in which the forces with which we could fight the hideous pogrom incited by the governor were concentrated. Our disarmed workers seethed with indignation, but they were powerless. No one had the least doubt, not even the inhabitants of the city, that the pogrom had been organized by the governor (Nakashidze was later assassinated by a bomb thrown at him by an Armenian revolutionary). I personally saw Nakashidze riding about giving orders to the police. [...] For three days Nakashidze's Tartar gangs pillaged and plundered the city. On the fourth day, having had his fill of blood and fearing the growing indignation of the workers in the districts, Nakashidze gave the signal for the pogrom to cease. To crown it all he arranged a peace farce – a procession of the united Tartar and Armenian clergy. After this the Tartar gangs were disbanded and order was once again restored. (2)
Für das letzte Dezennium seiner Existenz versuchte der Zarismus seine zerbröckelnde Herrlichkeit vor allem mit dem Kitt des großrussischen Nationalismus zusammenzuhalten. Dies galt verstärkt seit dem Staatsstreich vom 3. (15.) Juni 1907, als die Zweite Duma durch ein kaiserliches Ukas aufgelöst wurde, und die Regierung die vierundfünfzig
sozialdemokratischen Abgeordneten mit dem georgischen Menschewiken
Irakles Tseretelli an der Spitze verhaften ließ und in die
Verbannung schickte.
Das Wahlrecht wurde massiv zugunsten der besitzenden Klassen verändert und die Zahl der Vertreter der sog. "Fremdstämmigen" (inorodtsy) drastisch verringert. Ganze Bevölkerungsteile, wie die muslimischen Einwohner Turkestans, verloren ihr Stimmrecht. Die Diskriminierung der Nichtrussen bei den Parlamentswahlen begründete die Regierung so:
Das Wahlrecht wurde massiv zugunsten der besitzenden Klassen verändert und die Zahl der Vertreter der sog. "Fremdstämmigen" (inorodtsy) drastisch verringert. Ganze Bevölkerungsteile, wie die muslimischen Einwohner Turkestans, verloren ihr Stimmrecht. Die Diskriminierung der Nichtrussen bei den Parlamentswahlen begründete die Regierung so:
[T]he Duma must be Russian in spirit, since it was created to safeguard the Russian Empire. Those foreign peoples who have come into our dominions must have representatives in the Duma for their needs, but they should never appear in such numbers which permit them to decide purely Russian questions. In those border regions where the population has not attained a sufficient level of civil education, the Duma elections must be suspended for the time being. (3)
Die auf dieser Grundlage
gebildete Dritte Duma war nur noch demokratisches Beiwerk für das
autoritäre Regime des Ministerpräsidenten Pjotr Stolypin, der
bereits zuvor die gewaltsame Niederwerfung der revolutionären
Bewegung durch militärische Strafexpeditionen und Sondergerichte
geleitet hatte und damit für den Tod Tausender auf dem Schafott, im
Gefängnis und in der sibirischen Verbannung verantwortlich war.
Hatte die Regierung den
nichtrussischen Völkern unmittelbar nach der Revolution zumindest in kulturellen
Belangen einige Zugeständnisse machen müssen, so initiierte man
nach dem Staatsstreich von 1907 erneut eine aggressive
Russifizierungspolitik, vor allem in besonders "gefährdeten"
Regionen wie Polen und der Ukraine. Die große Rolle, die dabei der orthodoxen Kirche zukam, spiegelte die allgemeine Rückständigkeit der russischen Gesellschaft wider. Wie der Historiker Heinz-Dietrich Löwe schreibt:
A great irony lay behind the fact that national differences in many regions were still so weak and underdeveloped that for all practical purposes a Russian could still not be defined by the language spoken or by the nationality of parents. The defining criterion for being Russian in most legislation was the membership of the Russian Orthodox Church. (4)
Nicht nationale
Bourgeoisie und kleinbürgerliche Intelligenzija, sondern
Staatsbürokratie und Klerus waren die wichtigsten Träger des sich
nur langsam entwickelnden russischen Nationalbewusstseins. Dabei ist
es wichtig, sich über die Position der orthodoxen Kirche im Gefüge
des zaristischen Gesellschaftssystems im Klaren zu sein. Anders als
die katholische Kirche, die im Mittelalter jahrhundertelang mit dem
Kaiser um die Vormachtstellung in Europa gerungen und offen ihren
Anspruch auf Weltherrschaft proklamiert hatte, war die orthodoxe
Hierarchie nie ein ernstzunehmender Rivale für die weltlichen
Machthaber gewesen. Nicht dass es an Ambitionen gefehlt hätte, der
feindlichen Schwester in Rom nachzueifern. So hatte der letzte
Moskauer Patriarch Adrian noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts
verkündet: „Das Zarenreich hat die Macht allein auf Erden,
unter den Menschen ..., die Geistlichkeit jedoch hat die Macht auf Erden wie im
Himmel.“ (5) Doch Peter der Große
hatte allen Gelüsten des Klerus auf eine unabhängige Machtstellung
1721 ein Ende gesetzt, als er das Patriarchenamt abschaffte und die
Leitung der Kirche dem Heiligen Synod übertrug, an dessen Spitze ein
laikaler Oberprokuror stand. Seitdem war die Orthodoxie nur noch der
religiöse Arm der Staatsbürokratie und das willige Werkzeug des
Selbstherrschertums. Der Pope war das Sprachrohr des Zaren in der
bäuerlichen Dorfgemeinde und die Regierung machte kein Hehl aus
seiner politischen Funktion. Immer wieder erteilte sie den Priestern
die offizielle Ordre, für eine loyale und nationale Gesinnung unter
ihren Schäfchen zu sorgen.
The church was supposed to embrace all aspects of life for all Russians, expressly not only as a spiritual but also as a national institution. The local parish was seen as the organisational centre around which everything else should be grouped, from the school to the care for the poor and to economic mutual assistance. The role of the church was seen as absolutely fundamental: only Orthodoxy made a Russian ... . Whether to mobilise the population, for demonstrations and celebrations or for elections, the priest was called in as the longest arm of state administration, or rather as a substitute for it. At least since his pilgrimage on the occasion of the canonization of Seraphim of Sarov as a new saint of the church [1903], the Tsar sought in the religious union between the ruler and the ruled a new means to anchor the monarchy more deeply in the consciousness of the people. (6)
In seiner Gesamtheit
näherte sich der Heilige Synod nach 1905 mehr und mehr der radikalen
Rechten an und ließ die düsteren Tage des allmächtigen
Oberprokurors Pobjedonoszew wiederaufleben, der als böser Geist des
reaktionären Regimes von Alexander III. in den 80er und 90er Jahren
die Rolle eines russischen Torquemada gespielt hatte, wenn auch ohne
Scheiterhaufen. Bei all dem vermischte sich die mittelalterliche
Mentalität des orthodoxen Christentums mit der sprichwörtlichen
Kulturlosigkeit der Popen (7) und der traditionellen Kriecherei des Klerus vor der Macht des
Zaren. Wie Russlands großer Aufklärer Wissarion Belinski schon
1847 in seinem berühmten Brief an Nikolai Gogol über die Kirche
geschrieben hatte: „Sie war immer eine Stütze der Knute und
eine Dienerin des Despotismus.“ (8)
Die zentrale Bedeutung,
die dem orthodoxen Christentum in der nationalen Ideologie Russlands
zukam, schlug sich logischerweise auch in der Beziehung zu den
nichtorthodoxen Bevölkerungsteilen des Imperiums nieder. Nach 1905 wurden
vielerortens orthodoxe Bruderschaften als Kerntruppen eines
aggressiven russischen Nationalismus gegründet, vor allem in
Regionen, wo es eine andersgläubige Bevölkerungsmehrheit gab, wie
im katholischen Polen oder unter den muslimischen Tataren. Zwar hatte der Zar am 17.
April 1905 angesichts der revolutionären Bedrohung ein Religiöses
Toleranzedikt erlassen, das erstmals den Übertritt eines orthodoxen
Christen zu einer anderen Glaubensgemeinschaft gestattete. Doch
spätestens seit dem coup d’etat vom Juni 1907 gehörte die erneute
Festigung der privilegierten Stellung der Staatskirche zum
offiziellen Regierungsprogramm. Die Forderung nach Religionsfreiheit
wurde als unmittelbare Bedrohung für die Einheit und Autorität des
russischen Staates empfunden. Dies galt für die Versuche der
Altgläubigen (raskolniki), sich von jahrhundertelanger
Diskriminierung zu befreien, ebenso wie für das Verlangen der
Georgischen Kirche nach Autokephalie (Unabhängigkeit). Der
konservative katholische Bischof von Vilnius (Wilna) Eduard von Ropp
wurde sogar seines Amtes enthoben, da die Regierung in der von ihm
gegründeten Katholisch-Konstitutionellen Partei ein Werkzeug
polnischer Seperatisten zu erblicken glaubte. Als sich aufgrund des
Toleranzediktes viele getaufte Tataren wieder ihrer traditionellen
Religion zuwandten, malten orthodoxe Würdenträger das
Schreckgespenst einer drohenden "Islamisierung" an die Wand und
der Kasaner Erzbischof Nikanor beklagte sich, die Erlaubnis zum Bau
neuer Moscheen gebe den Tataren das unerwünschte Gefühl, der Staat "schütze die Muslime" (9). Ministerpräsident Stolypin teilte die Ängste der geistlichen Herren
und förderte nach Kräften die Gründung neuer orthodoxer Pfarreien
in den mehrheitlich muslimischen Gebieten.
Den Buddhisten Burjatiens
erging es etwas besser als den Jüngern Mohammeds, obwohl auch sie
sich mit christlichen Missionaren herumschlagen mussten, vor allem in
den Regionen westlich des Baikalsees. Doch die Lehre des Erhabenen
genoss in den Kreisen des Hofadels eine gewisse Sympathie und
außerdem erschien sie politisch weniger gefährlich als der Islam.
Dennoch startete die Kirche eine großangelegte antibuddhistische
Kampagne, als in Petersburg ein buddhistischer Tempel (datsan)
errichtet werden sollte, und organisierte in vielen Städten – u.a.
auch in Irkutsk – "Protestgottesdienste" gegen die "Götzendiener", die es wagten, in der Hauptstadt des "Heiligen Russland" eine heidnische Kultstätte zu erbauen. (10)
Dabei darf man nicht vergessen, dass die institutionellen Rahmenbedingungen, unter denen sich dieses Erstarken der Nationalbewegungen vollzog, durch die Revolution in vielerlei Hinsicht stark verändert worden waren. Das Zarenreich war nach
1905 nicht mehr dasselbe wie vor dem "tollen Jahr". Nikolaus II.
hatte sich gezwungen gesehen, eine Reihe von Reformen durchzuführen,
die Russland einen halbkonstitutionalistischen Charakter verliehen.
Die Tage des ungezügelten Despotismus waren endgültig vorbei. Es
existierte die Duma, die der Zar zwar mehrfach
auflöste, da ihm ihre Zusammensetzung nicht behagte, die aber
dennoch ein für russische Verhältnisse ganz neues Feld der
politischen Betätigung eröffnete. Es entstanden legale politische
Parteien, zahlreiche Bildungs- und Kulturvereine, Volkstheater,
Genossenschaften usw. Die Presse war zwar nicht frei, doch der
kaiserliche Zensor sah sich gezwungen, den Knebel zumindest ein wenig
zu lockern. Der Coup d'Etat von 1907 zerstörte nicht auf einen Schlag alle diese Errungenschaften, auch wenn er das Parlament zu einem machtlosen Schattendasein verdammte.
In diesem veränderten
politischen Umfeld boten sich den bürgerlich-intellektuellen
Führern der Nationalbewegungen völlig neue
Entfaltungsmöglichkeiten. Eine ganze Reihe von ihnen saßen in der
Ersten und Zweiten Duma. So auch Andrei Michailow, ein enger
Vertrauter Tsyben Jamtsaranos, der 1905 den Vorsitz des Ersten
Burjatischen Kongresses im Gouvernement Irkutsk inneghabt hatte. Am
13. März 1906 wurde ihm als Mitglied einer westburjatischen
Delegation sogar die "Ehre" einer Audienz bei Nikolaus II. in
Tsarskoje Selo zuteil. Jamtsarano selbst begab sich 1911 zusammen mit
dem russischen Gesandten Korostowjets in die Äußere Mongolei, die
zu dieser Zeit eine Art russisches Protektorat wurde, und arbeitete
dort als Herausgeber der ersten mongolischen Zeitung und als Direktor
einer von den russischen Behörden gegründeten Schule.
Sowohl Michailows Arbeit
in der Duma als auch Jamtsaranos faktische Kollaboration mit dem
russischen Kolonialismus in der Mongolei sind deutliche Zeichen
dafür, dass die Stärkung der Nationalbewegung nach 1905 keineswegs
notwendigerweise eine Verschärfung ihrer Opposition zum Zarenregime nach sich zog.
Der Scheinkonstitutionalismus führte vielmehr zur verstärkten
Integration ihrer bürgerlichen Führung in die politische Struktur
des Reiches. In seinem Buch über die Dschaddiden in Turkestan fasst
Abeed Khalid die Ziele der muslimischen Reformer so zusammen: „Jadid political strategies
aimed at the creation of a Muslim voice in Turkestan and of Muslim
participation in the imperial mainstream.“ (11) Ähnliches ließe sich über die meisten Nationalbewegungen im
Russischen Reich sagen. Entgegen der unter zaristischen Bürokraten
weit verbreiteten Furcht vor Seperatismus ging es den meist aus der
Mittelklasse stammenden Nationalisten nicht um die Lostrennung von
Russland oder den Sturz des Zarismus. Sie wollten sich lediglich eine
soziale und politische Nische im bestehenden Staatsgebäude eroben.
In der Duma standen die nationalen Gruppierungen in ihrer Mehrheit
deshalb entweder den bürgerlich-liberalen "Kadetten"
("Konstitutionelle Demokraten") oder den konservativen
Oktobristen nahe. Die armenische nationalrevolutionäre Partei
Daschnakzutjun ("Föderation"), deren Programm sich am
Vorbild der Sozialrevolutionäre (SR) orientierte, bildeten eine
seltene Ausnahme. Allerdings sollte ihr radikaler Demokratismus die
Daschnaken nicht davon abhalten, während des Weltkriegs Seite an
Seite mit dem Zarismus gegen das Osmanische Reich zu kämpfen.
Das Verhalten der
Nationalisten in der Ära des Halbkonstitutionalismus zeigt einmal
mehr, dass Klasseninteressen noch immer über "nationale"
Interessen gesiegt haben. Wenn das russische Bürgertum in Reaktion
auf die Revolution auch die letzten Überbleibsel seiner ohnehin nie
besonders starken republikanischen Ambitionen über Bord warf, so
galt ähnliches für die wohlhabenden Schichten der "Fremdvölker".
Die Angst vor einer neuen Revolution wog schwerer als alle
demokratischen oder patriotischen Ideale. Aus Burjatien wird
berichtet, dass nicht wenige Großbauern und Adelige ernsthaft mit
dem Gedanken spielten, in die Mongolei auszuwandern, um einer
drohenden Wiederholung der Unruhen von 1905 zuvorzukommen. Kein
Wunder also, dass die besser gestellten Kreise der "fremdstämmigen"
Intelligenz, die die "offizielle" Führung der Nationalbewegung bildeten,
gleichfalls immer konservativer wurden.
Freilich blieben der Integration der nichtrussischen Eliten in die zaristische Gesellschaft während der von Autoritarismus und nationalem Chauvinismus geprägten Stolypin-Ära enge Grenzen gesetzt. Der von der Revolution in Furcht und Schrecken versetzte Zarismus beäugte alle noch so harmlosenn politischen Regungen seiner Untertanen mit tiefem Misstrauen. Erst recht, wenn es sich bei ihnen um Nichtrussen handelte. So witterten die tumben Polizeibürokraten z.B. hinter den Bemühungen der Dschaddiden, ein Netz moderner Schulen für
Muslime aufzubauen, eine panislamische Verschwörung und die Hand
Istanbuls. Als Mufti Muhammad’yar Sultanow zusammen mit anderen
islamischen Rechtsgelehrten 1913 erklärte, an geistlichen Schulen
könnten in Zukunft neben religiösen auch weltliche Fächer
unterrichtet werden, stand für die Regierung fest, dass der
zarentreue Mufti unter den Einfluss von „Tatar narodniks“
geraten war. (12) Ein derart "subversives" Ansinnen konnte schließlich nur einem von
revolutionärer Propaganda verseuchten Gehirn entsprungen sein! Auf
ausdrückliche Anordnung der Regierung durften in den maktabs und
medresen nur der Koran und die theolgische Überlieferung
studiert werden. Selbst die russische Sprache, deren Studium man vor
1905 von den islamischen Geistlichen verlangt hatte, sollte jetzt aus
den religiösen Lehranstalten der Muslime verschwinden! Nicht viel
besser als den Dschaddiden erging es den burjatischen Nationalisten,
deren Kulturbarbeit nicht wenige zaristische Bürokraten als Teil
einer von Japan gesteuerten panmongolischen Konspiration
betrachteten.
Als ernstzunehmende politische Massenbewegungen existierten Panislamismus,
Panturkismus und Panmongolismus freilich nur in den Köpfen der
Petersburger Poilzeioberen. Zwar mochten Teile der jungtürkischen
Elite von der Vereinigung aller Turkvölker unter der Führung
Istanbuls träumen und dabei auch eine Handvoll Anhänger unter den
muslimischen Intellektuellen des russisch beherrschten Zentralasien
gewonnen haben, doch deren politischer Einfluss war minimal.
Ähnliches gilt für die Bemühungen Tokios, die panmongolischen und
panbuddhistischen Neigungen burjatischer Intellektueller den
imperialistischen Ambitionen Japans im Fernen Osten dienstbar zu
machen. Führende Vertreter des russischen Panmongolismus wie Agvan
Dorschiew, Tsyben Jamtsarano oder Fürst Esper Uchtomski erblicketn
im Zaren und nicht im Tenno ihren ersehnten Schutzherrn.
Die paranoide Furcht der Petersburer Führung vor all diesen pannationalistischen Schreckgespenstern war letztenendes Ausdruck eines geschichtlichen Widerspruchs, der im Rahmen des zaristischen Systems nicht aufgelöst werden konnte. Einerseits machte die Entwicklung des Kapitalismus, die unter Stolypin noch weiter forciert wurde, die Modernisierung der nichtrussischen Regionen des Reiches zu einer absoluten Notwendigkeit und stärkte damit die Position der nationalen Reformer. Andererseits bedeutete jedes Anzeichen einer nationalen Emanzipation unter den "Fremdstämmigen", jedes noch so bescheidene organisierte Auftreten der nationalen Intelligenzija automatisch eine Provokation für das Zarenregime und wurde von diesem als Bedrohung wahrgenommen.
Wenn das neu
entstandene Netzwerk der Bildungs- und Kulturvereine, der politischen
Parteien und der Presse der alten Führung der Nationalbewegung erlaubte, sich
zumindest partiell mit dem autokratischen Regime zu arrangieren, begünstigte es
andererseits das Heranwachsen einer neuen Generation burjatischer
Intellektueller, die nicht länger bereit waren, sich mit der
friedlichen Kulturarbeit ihrer Väter zu begnügen.
Als der
zukünftige Dichter und Dramatiker Pjotr Dambinow 1907 sein Studium
an der vierzig Werst von Irkutsk entfernt gelegenen
Landwirtschaftlichen Dscherdowski-Akademie antrat, wurde er Teil
eines studentischen Milieus, in dem die Nachwirkungen des "tollen
Jahres" noch deutlich zu spüren waren. Nicht, dass die Akademie
die Heimstatt politischer Verschwörer gewesen wäre, aber
offensichtlich huldigte man hier doch radikaleren Ansichten als in
den Kreisen Jamtsaranos und Andrei Michailows. In einem Brief an die
Pravda aus dem Jahr 1923 bezeichnete der Schriftsteller später
den linken Nationalisten Michail Bogdanow als seinen ersten "revolutionären Lehrmeister". Allerdings stammte Dambinow auch
nicht wie die meisten der älteren Intellektuellen aus einer
wohlhabenden großbäuerlichen Familie. Wenn er an seine Kindheit
zurückdachte, so erinnerte er sich vor allem an den ständigen Mangel an
Essen, „leading the entire family to a half-starved existence…” Sicher kein unwichtiger Faktor für die politische Entwicklung des
jungen Mannes. Und Dambinow war nicht allein auf der Akademie. Er
fand vielmehr eine ganze Schar Gleichgesinnter. Die Studenten
organisierten "Kulturabende", auf denen Lieder gesungen und Tänze
oder kleine Theaterstücke aufgeführt wurden, die meist einen
propagandistischen Inhalt hatten und den Zarismus oder die
rückständigen Traditionen Burjatiens attackierten. Gemeinsam mit
zwei Freunden gründete Dambinow einen Studienzirkel, in dem man sich
mit Fragen der Philosophie, Geschichte, Soziologie und Psychologie
auseinandersetzte. Die jungen Leute nannten ihre Gruppe Solbon
(Venus; Morgenstern), wovon Dambinow später sein Pseudonym
Solbone Tuya (Strahl der Venus) ableiten sollte. Hier las der
zukünftige Dichter zum ersten Mal Pjotr Kropotkins Memoiren eines
Revolutionärs. Die Lektüre der Autobiographie des bekannten
Anarchisten führte fast zu seiner Relegation von der Akademie.
Aus diesen Kreisen gingen
jene Männer und Frauen hervor, die 1917 auf der äußersten Linken
in Burjatien stehen sollten. Einige von ihnen würden zu den
Begründern des burjatischen Bolschewismus werden. Zu ihnen gehörte
auch Maria Michailowna Sachjanowa, die erste burjatische Frau, die
sich der bolschewistischen Partei anschloss. Die junge Bauerstochter
aus dem heute unter einem Stausee begrabenen Shabartai Ulus kam 1915
nach Petrograd
(13), um die Höheren Bildungskurse P.S. Lesgafts zu besuchen. Wie viele
junge Burjaten war auch Maria von einem leidenschaftlichen Verlangen
nach Bildung, Wissen und Kultur erfüllt. Kurz nach ihrer Ankunft in
der Hauptstadt schrieb sie in einem Brief an ihren ehemaligen Lehrer
und Förderer Chagalow: „Here I am, in classes in the lecture
hall, right at the center of light and knowledge that called to me so
powerfully! Every day, every hour I spend is filled with gratitude
to all of you who gave me moral and financial support.“
In Petrograd fand sie schon bald Zugang zu sozialdemokratischen
Studentenzirkeln:
In late 1915 in Petrograd, in the socialdemocratic club at Lesgaft’s courses, fiery debates raged between Bolsheviks and Mensheviks about the question of peace and revolution. I felt closer to the Bolshevik’s position and understood it better. I somehow quickly took the side of the defeat of tsarism in the imperialist war which would transform into civil war. In february 1916 I became a member of the Petrograd Organization of the Russian Social Democratic Revolutionary Party (Bolshevik). (14)
Neben der Kriegsfrage war
es sicher die kompromisslose Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts
der Nationen durch die Bolschewiki und ihr unermüdlicher Kampf gegen
den großrussischen Chauvinismus der die Entscheidung der jungen
Burjatin beeinflusste. Eigenen Aussagen zufolge beeindruckten sie von
Lenins Schriften neben der Abhandlung Der Krieg und die russische
Sozialdemokratie vor allem Die Sozialistische
Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen sowie Über
den Nationalstolz der Großrussen.
Lenin hatte den
großrussischen Chauvinismus bereits während seiner Kindheit und
Jugend im Gouvernement Simbirsk kennen und hassen gelernt:
[I]ch brauche mir nur meine Wolgazeit ins Gedächtnis zurückzurufen und mich daran zu erinnern, wie man bei uns die Nichtrussen behandelt, wie man einen Polen nicht anders denn "Polacken" nennt, jeden Tataren als "Fürsten" verspottet, den Ukrainer nur beim Spitznamen "Chochol" ruft, alle Georgier und die Angehörigen anderer kaukaischer Stämme als "Kapkaser" verhöhnt. (15)
Er betrachtete es als
die unbedingte Pflicht eines großrussischen Sozialisten, jede Form
der nationalen Unterdrückung und Benachteiligung aufs
entschiedenste zu bekämpfen. Das nationale Programm der Bolschewiki
umriss er 1913 wie folgt:
[K]eine Privilegien für irgendeine Nation, für irgendeine Sprache; Lösung der Frage der politischen Selbstbestimmung der Nationen, d.h. ihrer staatlichen Lostrennung, auf völlig freiem, demokratischem Wege; Erlass eines für den ganzen Staat geltenden Gesetzes, kraft dessen jede beliebige Maßnahme [...], die in irgendwelcher Hinsicht einer der Nationen ein Privileg gewährt und die Gleichberechtigung der Nationen oder die Rechte einer nationalen Minderheit verletzt, für ungesetzlich und ungültig erklärt wird – und jeder beliebige Staatsbürger berechtigt ist zu verlangen, dass eine solche Maßnahme als verfassungswidrig aufgehoben wird und diejenigen, die sie durchsetzen wollen, strafrechtlich belangt werden. (16)
Jede Form des nationalen
Chauvinismus müsse aufs schärfste bekämpft und das Recht der "kleinen Völker" auf Bildung eigener Staaten kompromisslos
verteidigt werden. Immer wieder zitierte Lenin in seinen
entsprechenden Schriften den engels’schen Ausspruch: „Ein
Volk, das andre unterdrückt, kann sich nicht selbst emanzipieren.“ (17) Das bedeutet allerdings nicht, dass die Bolschewiki für eine
Aufteilung Russlands in unzählige kleine Nationalstaaten eingetreten
wären. Ein Recht zu verteidigen ist schließlich nicht
gleichbedeutend damit, die Ausübung dieses Rechtes auch zu fordern.
Ihnen schwebte vielmehr ein freiwilliges Bündnis aller
Nationen des russischen Reiches auf demokratischer und
gleichberechtigter Grundlage vor. Die Verteidigung des Rechts auf
Selbstbestimmung müsse einhergehen mit der Erziehung der „Arbeiter
zur ‘Gleichgültigkeit’ den nationalen Unterschieden
gegenüber". Eine Aufsplitterung der Arbeiterbewegung nach nationalen
Gesichtspunkten, wie sie der jüdische Bund praktizierte,
lehnten die Bolschewiki kategorisch ab. Die Sozialisten in den
unterdrückten Nationen müssten vielmehr gegen den bürgerlichen
Nationalismus und Separatismus ankämpfen und stattdessen für ein
enges Bündnis mit der großrussischen Arbeiterklasse eintreten:
D]er Sozialdemokrat einer kleinen Nation [muss] den Schwerpunkt seiner Agitation auf das zweite Wort unserer allgemeinen Formel legen: "freiwillige Vereinigung" der Nationen. [...] In allen Fällen [...] muss er gegen die kleinnationale Beschränktheit, Abgeschlossenheit und Isolation kämpfen, für die Berücksichtigung des Ganzen und Allgemeinen, für die Unterordnung der Interessen des Teils unter die Interessen der Gesamtheit. (18)
Das Endziel des
Sozialismus aber bestehe in der zukünftigen Verschmelzung
aller Nationen: „The aim of socialism is not only to abolish the
present division of mankind into small states and all national
isolation; not only to bring the nations closer to each other, but
also to merge them.“ (19)
Wie in allen
kriegsführenden Nationen führte der Weltkrieg auch in Russland zu
einem nie gekannten Ausbruch des nationalen Chauvinismus, der das
ganze Land in einer übelriechenden Schlammflut zu ertränken drohte.
Lenin verfasste daraufhin sein wütendes Pamphlet Über den
Nationalstolz der Großrussen:
Wieviel wird jetzt über Nationalität und Vaterland geredet, gedeutelt, geschrien! Liberale und radikale Minister Englands, eine Unmenge "fortschrittlicher" Publizisten Frankreichs (die mit den reaktionären Publizisten ganz einer Meinung sind), eine Unmasse amtlicher, kadettischer [liberaler] und progressiver Federfuchser Russlands (manche Volkstümler und "Marxisten" eingeschlossen) – sie alle lobpreisen auf tausenderlei Art die Freiheit und Unabhängigkeit der "Heimat", die Erhabenheit des Prinzips nationaler Selbstständigkeit. Man weiß nicht, wo man den Grenzstrich ziehen soll zwischen dem käuflichen Barden des Henkers Nikolaus Romanow oder der Schinder von Negern und Indern und dem Durchschnittsspießer, der aus Stumpfsinn und Charakterlosigkeit "mit dem Strom" schwimmt. Es hat auch keinen Sinn, hier Unterschiede zu machen. [...] Niemand ist schuld daran, dass er als Sklave geboren wurde; aber ein Sklave, dem nicht nur alle Freiheitsbestrebungen fremd sind, sondern der seine Sklaverei noch rechtfertigt und beschönigt (der beispielsweise die Erdrosselung Polens, der Ukraine usw. als "Vaterlandsverteidigung" der Großrussen bezeichnet) – ein solcher Sklave ist ein Lump und ein Schuft, der ein berechtigtes Gefühl der Empörung, der Verachtung und des Ekels hervorruft. (20)
Maria Sachjanowa konnte
ihr Studium in Petrograd nur mit Unterbrechungen fortzsetzen, da ihre
finanzielle Lage sie immer wieder zur Annahme zeitraubender
Gelegenheitsarbeiten zwang. Daneben leitete sie einen marxistischen
Zirkel unter den Studenten und Studentinnen der Lesgaft’schen
Kurse. Politische Literatur und Propagandamaterial erhielt die Gruppe
vom Petrograder Parteikomitee:
The [...] Committee systematically gave the Lesgaft Bolshevik Student Organization copies of the newspaper The Social Democrat and collections of articles by the same name, which Lenin published abroad illegally. Lenin's articles and works printed in these publications gave us underground political activists valuable and rich guidance in our actions. We found comprehensive answers to all questions related to our struggle.
Gegen Ende 1916 wurde die
junge Revolutionärin verhaftet und im Petrograder Frauengefängnis
inhaftiert. Doch schon nach wenigen Monaten sollte der Februarumsturz
sie wieder aus dem zaristischen Kerker befreien.
Fortsetzung folgt ...
(1) Zit. nach: Frederik Hetmann: Rosa L.– Die
Geschichte der Rosa Luxemburg und ihrer Zeit. S. 132.
(2) Cecilia Bobrovskaya: Twenty Years in
Underground Russia: Memoirs of a Rank-and-File Bolshevik. Kap. 7.
(3) In: A. Izgoev: P. A.
Stolypin. Ocherk zhizni i deiatel'nosti. S. 88f. Zit. nach:
Heinz-Dietrich Löwe: Russian Nationalism and Tsarist
Nationalities Policies in Semi-Constiutional Russia, 1905-1914.
(4) Heinz-Dietrich Löwe: Russian Nationalism
and Tsarist Nationalities Policies in Semi-Constiutional Russia,
1905-1914.
(5) Zit. nach: Victor Buganow: Peter der Große:
Persönlichkeit und Epoche. S. 325.
(6) Heinz-Dietrich Löwe: Russian Nationalism
and Tsarist Nationalities Policies in Semi-Constiutional Russia,
1905-1914.
(7) Und nicht nur der einfachen Dorfpopen. Als Bischof Aleksej von
Saratow einen antisemitischen Aufsatz Über die Moral des Talmud
veröffentlichte, erschien kurz darauf ein Leserbrief I.G.
Neusichins in der liberalen Zeitung Rech’. Neusichin hatte
den Bischof während seiner Recherchen in einer Bibliothek getroffen
und war von ihm um Hilfe angegangen worden. Der Kirchenmann hatte
ihn u.a. um eine Erklärung der „geheimnisvollen Zeichen ‘3f.
a’, ‘47f. b’“ gebeten! Ergebnis der "profunden
Studien" Aleksejs war ein mit grammatikalischen Schnitzern
gespicktes Sammelsurium altbekannter judenfeindlicher
Lügengeschichten. (Vgl.: Raimund Elfering: Die „Bejlis-Affäre“
im Spiegel der liberalen russischen Tageszeitung „Rech’“.
S. 115.)
(8) Wissarion Beliniski: Brief an N.W. Gogol. In: Meister der
Kritik. Belinski - Dobroljubow - Tscheryschewski. S.
141.
(9) Vgl.: Naganawa Norihiro: Molding the Muslim Community through the
Tsarist Administration: Mahalla under the Jurisdiction of the
Orenburg Mohammedan Spiritual Assembly after 1905. S. 113.
(10) Vgl.: Elena A. Ostrovskaya: Buddhism in Saint Petersburg. In:
Journal of Global Buddhism. Nr. 5. S. 38f.
(11) Abeed Khalid: The Politics of Muslim Cultural Reform. Jadidism in Central Asia. S. 243.
(12) Vgl.: Naganawa Norihiro: Molding the Muslim Community through the Tsarist Administration: Mahalla under the Jurisdiction of the Orenburg Mohammedan Spiritual Assembly after 1905. S. 110/111. "Narodnik"="Volkstümler"; Anhänger der vormarxistischen revolutionären Bewegung Russlands, deren Erbe die Partei der Sozialrevolutionäre (SR) angetreten hatte.
(13) Seit dem Beginn des Weltkriegs hieß St. Petersburg offiziell Petrograd.
(11) Abeed Khalid: The Politics of Muslim Cultural Reform. Jadidism in Central Asia. S. 243.
(12) Vgl.: Naganawa Norihiro: Molding the Muslim Community through the Tsarist Administration: Mahalla under the Jurisdiction of the Orenburg Mohammedan Spiritual Assembly after 1905. S. 110/111. "Narodnik"="Volkstümler"; Anhänger der vormarxistischen revolutionären Bewegung Russlands, deren Erbe die Partei der Sozialrevolutionäre (SR) angetreten hatte.
(13) Seit dem Beginn des Weltkriegs hieß St. Petersburg offiziell Petrograd.
(14) Maria M. Sakhyanova: S
Lenym v serdse. In: Sibirskie stranitsy o Il'iche.
S. 170.
(15) Wladimir Iljitsch Lenin: Brief an den
Parteitag. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Bd. VI. S. 655.
(16) W. I. Lenin: Kritische
Bemerkungen zur nationalen Frage. In: Ders: Ausgewählte
Werke. Bd. II. S. 358/59.
(17) Friedrich Engels: Flüchtlingsliteratur. I: Eine polnische
Proklamation. In: K. Marx/ F. Engels: Werke. Bd. 18. S.
527.
(18) W. I. Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die
Selbstbestimmung. In: Ders.: Werke. Bd. 22. S. 354.
(19) Wladimir I. Lenin: The Socialist Revolution
and the Right of Nations to Self-Determination.
(20) Wladimir I. Lenin: Über den Nationalstolz
der Großrussen. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Bd. II. S.
533/35.
(21) Maria M. Sakhyanova: S Lenym v
serdse. In: Sibirskie stranitsy o Il'iche.
S. 170.