You, octagonal yurt,
Again sweetly tune my gaze!
It seems I bid farewell to you
And I left for the city's bright sights.
I bid farewell to you, my sickly one,
A young man in his prime ...
The cloud of smoke above you
Has thinned to a charred shock of hair.
Though it was so painful for me
To leave you, my ailing one,
I could not toss off like old boots
My thirst for knowledge, for light!
I left with the secret desire
To learn, to experience and to suffer
And, before life soured
My youthful years, to see life.
I left without telling anyone
That I would return to my birthright, to you
But I would return with a truth that triumphed,
Tempered in red-hot battle.
It was hard then for me to wander
Through strange and unknown places,
I remember those days – I wept from mockery.
All around both merriment and uproar.
Though I tried to be bold and proud,
My heart sometimes cringed at the phrase,
"Hey, Buryat! You, slant-eyes!"
With which they regaled me, the wanderer, more than once.
I would have pierced my heart with steel,
Would have put a bullet through my temple,
If the winds from the distant forest
Had not stirred up the sand near the yurt.
I am now ringed by the radiance
Of the resounding triumph of labor.
Be gone, oh former suffering,
Forever, forever, forever!
Pjotr Dambinow, The Octagonal Yurt (1)
Wie ich in Blogposts über den Maler Nikolai Roerich sowie die symbolistische Literatur (hier * hier * hier) in der Vergangenheit schon mehrmals geschildert habe, hatte sich um die Jahrhundertwende in bedeutenden Teilen der russischen Intelligenzija eine starke Faszination für allerlei mystische Heilslehren ausgebreitet, wobei neben dem von Dimitri Mereschkowski gepredigten, christlichen "neuen religiösen Bewusstsein" die von der russischen Generalstochter Helena Blavatsky gegründete Theosophie eine wichtige Rolle spielte.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass so manche der bürgerlichen Intellektuellen, für die die Oktoberrevolution einem Weltuntergang gleichkam, die Hoffnung hegten, die asiatischen Völkerschaften des ehemaligen Zarenreiches würden sich als das Bollwerk erweisen, an dem die revolutionäre Flutwelle schließlich zerbrechen werde. – Asien ist uralt, weise und unveränderlich, der Bolschewismus nur ein vorübergehender Fieberwahn. (2)
So glaubte z.B. die Dichterin Marina Zwetajewa während einer Reise auf die Krim einer Welt zu begegnen, an deren patriarchalisch-schwermütiger Würde die Sturmflut der Revolution wirkungslos abprallen werde:
Ein Kaffeehaus in Otusi. An den Wänden bolschewistische Aufrufe. An den Tischen langbärtige Tataren. Wie langsam sie trinken, wie sparsam sie reden, wie gewichtig sie sich bewegen. Für sie ist die Zeit stehengeblieben. Das 17. Jahrhundert gleicht dem 20. Jahrhundert. Auch die Tässchen sind die gleichen, blaue, mit kabbalistischen Zeichen, ohne Henkel ... Bolschewismus? Marxismus? Plakate, schreit euch die Kehle heiser! Was gehen uns eure Maschinen, Lenins und Trotzkis an, was eure neugeborenen Proletariate, eure sich zersetzenden Borgeoisien ... Wir haben den Ramadan, den Mullah, den Wein und die dunkle Erinnerung an eine große Herrscherin ... Hier dieses siedene Pech auf dem Grund vergoldeter Tässchen ... Wir stehen außerhalb, wir stehen darüber, wir sind seit ewigen Zeiten. Ihr müsst erst werden, wir sind schon vergangen. Wir sind ein für allemal. Uns gibt es gar nicht. (3)
Seien wir ehrlich: Ist diese vermeintliche "Ehrfurcht" vor dem "unveränderlichen Asien" bei Lichte betrachtet nicht selbst ein Ausdruck westlich-europäischer Arroganz? – Wir haben die Elektrizität, das Auto und die moderne Medizin, bleibt ihr mal schön bei euren Mullahs und eurem Tässchen Mokka.
Doch schon
bald sollte sich herausstellen, dass auch für Asiens Völker die
Zeit keineswegs stehengeblieben war.
Es gibt kaum ein dümmeres Vorurteil
als den Glauben an die Unveränderlichkeit des "Nationalcharakters".
Die Mentalität eines Volkes ist weiter nichts als die
aufgespeicherte Masse seiner historischen Erfahrungen. Sie wird
geformt von sozialen, kulturellen und politischen Kräften und verändert sich
zusammen mit ihnen. Zwar ist die Tradition ein psychologischer Faktor
von beträchtlicher konservativer Widerstandskraft, doch letztlich
erweist sich die Macht der Geschichte jeder noch so fest verwurzelten "nationalen Eigenart" als überlegen.
Der Kapitalismus hatte
bereits in den Jahrzehnten vor der Revolution begonnen, das
wirtschaftliche und soziale Fundament zu zersetzen, auf dem die
traditionelle Lebensweise der "kleinen Völker" des Russischen
Reiches beruhte. Die Revolution und die bewusste Politik der
Bolschewiki beschleunigten diesen Prozess und hoben ihn auf ein neues
Niveau.
Zwar geriet die wirtschaftliche Integration der Peripherie
infolge der durch Welt- und Bürgerkrieg hervorgerufenen Krise erst
einmal ins Stocken, dafür riss allein schon die Heftigkeit der
sozialen Kämpfe die "kleinen Völker" aufs
unbarmherzigste aus ihrem mittelalterlichen Schlummer.
Zugleich
begann sich eine kulturelle Umwälzung von nie dagewesenem Umfang
Bahn zu brechen. Die Sowjetregierung erklärte dem Analphabetentum
den Krieg, gründete unzählige neue Schulen, Bibliotheken und
Kultureinrichtungen, mobilisierte die Jugend gegen die patriarchalen
und feudalen Vorurteile ihrer Eltern. Große Bedeutung kam dabei u.a.
dem Ringen um die Befreiung der Frau zu. Die bolschewistische Frauenorganisation Schenotdel führte in den asiatischen Sowjetrepubliken einen unermüdlichen Kampf gegen die traditionelle
Despotengewalt von Vater und Ehemann, gegen jahrhundertealte
religiöse und kulturelle Vorurteile und die faktische Haussklaverei
der Frau. Eine ganze Reihe ihrer Vertreterinnen fielen dabei Mordanschlägen religiöser Fanatiker zum Opfer. Aus gutem Grund bekommen wir in Dsiga Wertows großartigem Film Schestaja Tschast' Mira / Ein Sechstel der Erde (1926) eine Szene zu sehen, in der eine Muslimin öffentlich den Schleier ablegt. (4) Organisationen wie der
1923 in Tiflis gegründete Mohammedanische Frauenklub waren
bemüht, auch die am stärksten den alten Traditionen verhaftet
gebliebenen Teile der weiblichen Bevölkerung zu erreichen. In seinen
Räumen wurde nicht nur politische Propaganda betrieben, hier fanden
auch Lese- und Schreibkurse, populärwissenschaftliche
Vortragsabende und kulturelle Veranstaltungen statt, außerdem wurde
den Frauen juristische Beratung angeboten.
Zwar sahen sich die
Kommunisten hin und wieder dazu gezwungen, Kompromisse mit konservativeren Kräften unter den nationalen Minderheiten einzugehen, doch im Großen und
Ganzen war die Entwicklung nicht aufzuhalten. Man vergleiche Zwetajewas
wehmütige Szenerie – ihre langbärtigen Tartaren, die über Tässchen
mit "kabbalistischen Zeichen" sitzen – mit der Beschreibung der
jungen Studenten und Studentinnen, denen der britische Journalist
Henry N. Brailsford wenige Jahre später an der Tartarischen RABFAK
[Arbeiterfakultät] in Kasan begegnete:
They are a stimulating sight when the students are Russians, but a view of the faces of these Tartar and Bashkir students made me long for a knowledge of their speech, that I might explore their minds. The heads and faces were remarkable enough as one saw them massed in the class room. The straight black hair, the high cheek-bones, the closely set eyes and the wide nostrils proclaimed their Mongolian descent. But through what mental adventures must they be passing! Conceive the bewilderment of these girls in their early twenties, if anyone had told them, ten years ago, that their destiny is not the veil and subjection in a Tartar laborer's hut, but a share in the learned work of the new rulers of Russia. That dark-skinned, comely girl with the great shock of black hair grew up in a Nomad's tent, the inheritor of a mental world which had neither changed nor expanded for ten centuries. today she sits gazing at charts and pictures which illustrate the Darwinian theory, and dreams of her coming work as a doctor. The lad beside her, who may have hoped to herd horses on the steppe, may take his degree in economics, and live to administer the industries of the Republic. (5)
Mir geht es nicht darum, die frühsowjetische Nationalitätenpolitik kritiklos zu verherrlichen. Die Bolschewiki selbst taten dies ja auch nicht. Vielmehr erklärten sie
immer wieder, dass sie im Interesse der Revolution bereit seien, sich
jederzeit über die formalen Grundsätze der Demokratie
hinwegzusetzen. Und das Recht auf nationale Selbstbestimmung bildete
da keine Ausnahme. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Georgien und
der Zerschlagung der menschewistischen Republik im Feburar 1921 erklärte Trotzki ohne
Umschweife:
We do not only recognize, but we also give full support to the principle of self-determination, wherever it is directed against feudal, capitalist and imperialist states. But wherever the fiction of self-determination, in the hands of the bourgeoisie, becomes a weapon directed against the proletarian revolution, we have no occasion to treat this fiction differently from the other ‘principles’ of democracy perverted by capitalism. (6)
Auch war nicht zufällig die Nationalitätenpolitik einer der Punkte, an denen sich Lenins "letzter Kampf" gegen Stalin und die erstarkende Bürokratie entzündenn würde. Doch dazu später mehr.
Jedenfalls kann ein
objektiver Betrachter der Sowjetgeschichte kaum leugnen, dass
der Sieg der Bolschewiki den Weg ebnete für eine nie dagewesene
kulturelle Blüte unter den nationalen Minderheiten des Russischen
Reiches. Völker, die seit Jahrhunderten unter der Knute des Zarismus
und den Russifizierungsbestrebungen seiner Beamten gelitten hatten,
deren Kinder in der Schule nicht einmal ihre eigene Muttersprache
hatten benutzen, geschweige denn die Kultur und Geschichte ihrer
Heimat hatten kennenlernen dürfen, erwachten zu einem neuen und
selbstbewussten Leben.
Zu ihnen gehörte auch das Volk der Burjaten oder Burjat-Mongolen.
Die russische Expansion nach Sibirien setzte im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts ein, als der Kosakenataman Jermak Timofejewitsch und seine Mannen im Auftrag der Nowgoroder Kaufmannsfamilie Stroganow und mit dem Segen von Zar Iwan IV. "Grozny" ("dem Schrecklichen") erstmals in die finsteren Wälder jenseits des Urals vorstießen. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts brachte das Zarenreich schließlich auch die fernöstliche Region um den Baikalsee unter seine Kontrolle und unterwarf sich das dort lebende Volk der Burjaten – Nachkommen mongolischer Stämme, die gut vier Jahrhunderte zuvor vom Süden kommend in den Landstrich eingewandert waren und sich mit den dort lebenden Tungusen und anderen sibirischen Völkerschaften vermischt hatten.
Befestigte
Kosakensiedlungen (ostrogi) bildeten die Vorposten des Reiches
in den neu eroberten Gebieten. Die Hauptgefahr ging allerdings nicht
in erster Linie von den einheimischen Stämmen aus – auch wenn es
1695/96 zu Aufständen der Burjaten kam –, als vielmehr vom China der
Qing-Dynastie, das Russlands neugewonnene Vormachtstellung im Fernen
Osten mit großem Argwohn registrierte. Die Russen schickten
daraufhin mehrere Emissäre an den Hof des Kaisers K’ang-hsi, und
schließlich trafen sich im Jahre 1689 zwei Gesandtschaften in der
russischen Siedlung Nertschinsk und handelten einen Vertrag aus, der
den Flusslauf des Amur und das Hsingan-Gebirge als Grenze zwischen
den beiden Reichen festschrieb. Dennoch blieb die Lage in den
nächsten Jahrzehnten ziemlich gespannt.
In eben diese Zeit fallen
auch die ersten Anfänge buddhistischer Missionstätigkeit in
Burjatien. Im Jahr 1712 erreichte eine Gruppe von einhundertfünfzig
Gelug-pa - Mönchen (7) aus Tibet und der Mongolei die Ufer des Baikalsees
und begann unter den burjatischen Stämmen "das Rad des Dharma zu
drehen". Die russischen Behörden verfolgten das eifrige Wirken der
Lamas mit zunehmendem Unbehagen. Die Mönche stammten aus Gebieten,
die dem Einfluß der Qing unterstanden, und die Statthalter des Zaren
sahen in der rasch wachsenden buddhistischen Gemeinde deshalb wohl
nicht ganz zu Unrecht eine Art "fünfte Kolonne" Pekings. An
diesen Befürchtungen änderte auch der russisch-chinesische Vertrag
von Kjachta wenig, in dem 1727 der Grenverlauf entlang von Amur und
Argun erneut fixiert wurde.
Doch schließlich
entwickelte Savva Ragusinski, der russische Botschafter in Peking,
eine ebenso einfache wie geniale Strategie zur Lösung des Problems.
Statt den Buddhismus zu bekämpfen, solle die Regierung vielmehr
alles daran setzen, eine starke und unabhängige buddhistische
Hierarchie in Burjatien aufzubauen, die keinerlei Verbindungen zu den
chinesisch kontrollierten "Heimatgebieten" mehr haben dürfe. So
könne man nicht nur der Gefahr einer Einflussnahme durch China
begegnen, sondern würde zugleich eine loyale burjatische Elite
heranbilden, die im Zaren ihren Schutzherrn sehen werde. Diesen Plan
legte Ragusinski 1728 in einer Art Memorandum mit dem nichtssagenden
Titel Instruktionen für das Wachpersonal an unseren Grenzen nieder.
Er forderte darin, die russisch-chinesische Grenze für alle
ausländischen Lamas zu schließen und gleichzeitig aus jedem
burjatischen Klan zwei Jungen auszuwählen, die in Zukunft hohe
Posten in der buddhistischen Hierarchie einnehmen sollten. Die
bereits vorhandenen religiösen Institutionen müsse man nicht nur
anerkennen, sondern sogar nach Kräften unterstützen. Gleichzeitig
sei jedoch Sorge dafür zu tragen, dass alle Verbindungen der
Großlamas nach Tibet, der Mongolei, Urga (Yihe Huree) und der
Mandschurai gekappt würden. (8)
Die russische Herrschaft
in Sibirien basierte zu einem Gutteil auf der Zusammenarbeit mit den
einheimischen Eliten. Lokale Kleinfürsten
und Stammesoberhäupter wurden in das imperiale System integriert,
solange sie dem Zaren Tribut entrichteten. Sogenannte "Diensttataren" bildeten einen
wichtigen Bestandteil der russischen Truppen. Raguzinskis Vorschlag
entsprach vollkommen dieser politischen Strategie und stieß in
Petersburg auf offene Ohren. 1741 wurde der Buddhismus in einem
Dekret der Zarin Jelisaweta Petrowna offiziell als eine der
Religionen des Reiches anerkannt.
Bis 1777 wurden insgesamt
zwölf buddhistische Klöster in Transbaikalien gegründet. 1764
schuf man den Rang des Pandito Chambo Lama, der als oberster
weltlicher und geistlicher Würdenträger der burjatischen Buddhisten stets aus den Reihen der
einheimischen Großlamas und tulkus
(9) stammte. Sitz des Hierarchen war anfangs das 1730 gegründete
Kloster (datsan) von Shiretui tsongol'skii, doch kam es
schon bald zu heftigen Rivalitäten zwischen der Führung des
Heiligtums und den mächtigen Lamas des Gänsesee-Klosters (Gusino
Ozero). 1808 setzte sich das Gänsesee-Kloster endgültig gegen
seinen Rivalen durch, und der Sitz des Pandito Chambo Lama wurde in das
südlich von Verchne-Udinsk (heute Ulan-Ude) gelegene Heiligtum
verlegt, das bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts das
unbestrittene Zentrum des Buddhismus in Burjatien blieb. Nach der Gründung des
Gouvernements Irkutsk im Jahr 1801 trieb die russische Verwaltung den
Aufbau einer starken einheimischen Hierarchie mit Unterstützung des
burjatischen Adels weiter voran, wobei sich
die zaristischen Behörden allerdings das Recht vorbehielten, bei der
Besetzung von wichtigen religiösen Posten ein entscheidenes Wörtchen
mitzureden. Anders als die Kalmüken, die gleichfalls der Lehre des
Buddha folgten, blieben die Burjaten deshalb weitgehend verschont von
den aggressiven Missionsbemühungen der orthodoxen Kirche.
Der
Versuch der russischen Behörden, den burjatischen Sangha
(10) vollständig von der Mongolei und Tibet zu isolieren, war allerdings
nur zum Teil erfolgreich. Als Angehörige der "gelben Kirche"
sahen die burjatischen Buddhisten im Dalai Lama immer noch ihr
religiöses Oberhaupt, und manch ein Lama machte sich trotz aller
Verbote auf die lange und beschwerliche Reise in das ferne
Schneeland, um in den großen Klöstern der Gelug-pa religiöse
Unterweisung zu suchen.
Die Zentren des
burjatischen Buddhismus lagen südlich und östlich des Baikalsees,
wo die Burjaten auch weiterhin an der nomadischen Lebensweie ihrer
mongolischen Vorfahren festhielten. Inmitten von Tundra und Bergland
erhoben sich hier die großen buddhistischen Klöster, deren Äbte
als Feudalherren über das Umland und seine Bewohner herrschten.
Weiter im Westen wandten sich die Burjaten verstärkt dem Ackerbau zu
und eigenartigerweise erwies sich der vorbuddhistische
schamanistische Glaube gerade in diesen bäuerlich geprägten
Regionen als besonders zäh.
Gegen Ende des 19.
Jahrhunderts kam es zu einschneidenden Veränderungen in den sozialen
und kulturellen Verhältnissen der Region, als die kapitalistische
Entwicklung, die seit der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahr 1861
ganz Russland erfasst hatte, auch den Fernen Osten erreichte. Zentrum
der Entwicklung wurde die Stadt Irkutsk, ein wichtiger
Warenumschlagsplatz im russisch-chinesischen Handel. Symbol und Motor
des wirtschaftlichen Fortschritts war die Transsibirische Eisenbahn,
deren Bau im Frühjahr 1891 in Wladiwostok und zugleich in
Tscheljabinsk am Ural begonnen worden war. Am 16. August 1898 rollte
der erste Zug aus Moskau im Bahnhof von Irkutsk ein. Mit der Transsib
begann zunehmend russisches und ausländisches Kapital in die
bisher weitgehend unzugänglichen Regionen zu strömen. Existierten
1894 in ganz Sibirien nur fünf Banken, so waren es ihrer 1911
bereits knapp siebzig, zehn davon in Wladiwostok. Der Bau der
Eisenbahnstrecke selbst war zu einem Gutteil mittels französischer
und belgischer Anleihen finanziert worden, nun floss ausländisches
Geld auch in Fabriken, Bergwerke und Handelsunternehmen.
Das Aufblühen der
Gouvernementshauptstadt Irkutsk begann auch die in ihrer Umgebung am
Westufer des Baikalsees lebenden Burjaten zu beeinflussen.
Burjatische Kaufleute wurden als Zwischen- und Kleinhändler zu einem
wichtigen Bestandteil der lokalen sibirischen Wirtschaft. Hinzu kamen
erste moderne Schulen, die zum Teil von nach Sibirien verbannten
Russen gegründet worden waren, und in denen die Schüler anders als
in den buddhistischen Klöstern mit modernen wissenschaftlichen Ideen
bekannt gemacht wurden. Auf dieser materiellen und kulturellen
Grundlage entwickelte sich vor allem im Westteil Burjatiens eine
moderne nationale Intelligenzija. Es ist kein Zufall, dass so
hervorragende Vertreter der burjatischen Nationalbewegung wie der
Politiker Michail Bogdanow oder der Dichter und Dramatiker Pjotr
Dambinow ausgerechnet aus der kleinen, nahe bei Irkutsk gelegenen
Siedlung Bokhan stammten.
Die Metropole
Ostsibiriens trug die Züge einer typischen russischen
Kolonialsiedlung Ihr Stadtbild wurde geprägt von den Türmen
unzähliger orthodoxer Kirchen und Klöster. Als Symbol imperialer
Herrlichkeit erhob sich im Zentrum der mächtige Triumphbogen zu
Ehren des Fürsten Murawjew, der einst den Fluss Amur erkundet und
dem Zarenreich so einen Zugang zum Pazifischen Ozean eröffnet hatte.
Wie überall in Sibirien bestanden die meisten Häuser aus Holz –
1879 hatte eine fürchterliche Feuersbrunst große Teile der Stadt
hinweggerafft –, die Straßen waren schlammig und ungepflastert, und
im Hotel Metropol, dem besten Haus am Ort, kostete eine Übernachtung oder ein Mittagsmahl mehr als im
sprichwörtlich teuren St. Petersburg. Insgesamt haftete der
Stadt trotz ihres raschen Wachstums und ihrer bereits beeindruckenden
Größe immer noch etwas Provisorisches und Hinterwäldlerisches an.
Die örtliche Elite bestand wie vor hundert Jahren aus dem Gouverneur
und seiner Familie, den zaristischen Verwaltungsbeamten und
Offizieren sowie einer Handvoll reicher Kaufleute – allesamt Russen.
Dennoch galt Irkutsk nicht ganz zu unrecht als das "Paris Sibiriens", immerhin
gab es hier mehrere Theater, eine öffentliche Bibliothek und seit
1901 sogar elektrisches Licht. Den meisten Burjaten jedoch erschien
die Stadt nach wie vor als eine fremde und bedrohliche Welt, wie es
Pjotr Dambinow später in einem seiner Gedichte beschrieben hat:
For me, a
Buryat, it's so unexpected - and new
Are the peals
and whistles…
The sighs,
shouts, the uproar, the pipescreams,
The many-colored lights…
The churches,
temples rising to the depths of the heavens,
The towers and
palaces…
The waltzes,
the dancing, the sounds - songs,
The endlessly festive balls…
And the ladies'
attire? - so slim in the middle…
How could this
not be a miracle!
Could I have
imagined this in my native lands,
Living off the free steppe?
It's so new for
me to see the hungry here,
Dying in the
dust!
Next to them, I
see the well-fed and carefree,
Drowning drunkenly in intoxication!
I cannot
comprehend the house of ill repute,
With the red
lamp, the flame…
Where the
desired city, in naked passion,
Lusts time away both night and day!...
Oh, you city,
city! Illuminated brightly
With electric
light! -
You are alien,
strange to me, and tiresome…
Tiresome,
tiresome in every way!
Die zaghaft einsetzende
Modernisierung änderte nichts an der ungeheuren Armut, unter der die
meisten Burjaten litten. Viele Familien hatten ständig mit dem
Hunger zu kämpfen. Der amerikanische Historiker und Ethnologe Jeremiah Curtin,
der im Jahr 1900 die Region bereiste, um burjatische Mythen und
Legenden zu sammeln, zeichnet ein eindringliches Bild von der
traurigen Trostlosigkeit der kleinen Dörfer im Hinterland:
The earth was covered with dust which in the middle of the space occupied reached to the ankles as one walked through it. This stratum, thicker in some places, covered everything to the rim of the village, reaching to the outer houses and beyond them, growing thinner toward the open country till at last one could note it no longer. The dust is the dried and pulverised droppings of animals, such as sheep, horses, and horned cattle. In time of thaw and rain the droppings become a soft mud, in dry, warm weather they are turned into dust. When the days are calm the dust keeps its place and people wade through it; when the wind blows, it fills the air in all directions and is carried into each chink, cranny, and little crevice, into the smallest places. People breathe it, swallow it, drink it, eat it, live, move and have their being in it. (11)
Von ganz ähnlichen
Eindrücken wusste auch der russische Forscher B.E. Petri in einem
Brief ins heimatliche Petersburg zu berichten, als er sich auf einer
Reise zur heiligen Insel Olkhon im Baikalsee befand: „I have to
admit, however, that I truly long to return to St. Petersburg. I am
sick of smoke inside the yurts, the dirt all around, all over the
body and in the food…the journeys on bumpy wagons, the rain…“ (12)
Curtins Buch A Journey
in Southern Siberia, das ethnologische Beobachtungen und
mythologische Erzählungen mit einem sehr lebendigen Reisebericht
verbindet, konfrontiert den Leser mehr als einmal mit den traurigen
Zuständen, die Anfang des 20. Jahrhunderts an den Ufern des
Baikalsees herrschten: Eine rückständige Landwirtschaft und damit
verbunden eine äußerst einseitige Ernährung der Bevölkerung; der Mangel an den elementarsten Formen der Hygiene; die tiefe Kulturlosigkeit und maßlose Habgier der
großbäuerlichen Kreise; vor allem aber der allgegenwärtige
Alkoholismus. Kein Wort taucht so häufig in Curtins Bericht auf wie
tarasun, der Name eines aus fermentierter Milch gewonnen
Schnapses. Und mehr als einmal hat der Forscher mit der Trunksucht
seiner burjatischen Kutscher, Helfer und Informanten zu kämpfen.
Über den burjatischen Kulaken
Arkokoff – einen besonders unappetitlichen, aber wohl auch typischen
Vertreter seiner Klasse, bei dem Curtin mehrere Tage wohnt – schreibt
der Forscher: „Arkokoff professes to be greatly devoted to the
old religion; perhaps he is. One thing is certain, he is tremendously
devoted to making and hoarding money and drinking tarasun.“ (13)
Das materielle und
kulturelle Elend; der Chauvinismus der großrussischen Siedler und
Beamten; die zahllosen Beleidigungen und Erniedrigungen, denen die
Angehörigen eines unterdrückten Volkes tagtäglich ausgesetzt sind
– Gegen all dies versuchten die jungen burjatischen Intellektuellen
anzukämpfen. Der sich entfaltende Kapitalismus hatte die
unterdrückten Nationen des Riesenreiches aus ihrem
jahrhundertelangen Dornröschenschlaf geweckt. Ein neues
Nationalbewusstsein entwickelte sich. Die sprichwörtlichen "Hundert
Völker" Russlands rieben sich die Augen und rüttelten, vorerst
noch zaghaft, an den Gitterstäben des zaristischen
Völkergefängnisses.
Die burjatischen
Nationalisten waren in gewissem Sinne die jüngeren Geschwister jener
russischen Intellektuellen, die in den 1850er und 60er Jahren den Kampf
gegen den Zarismus und die alte Feudalgesellschaft aufgenommen
hatten. Sie teilten viele Eigenschaften mit jener außergewöhnlichen
Generationen, die den Begriff der "Intelligenzija" geprägt hatte
und mit Namen wie Herzen, Belinski, Dobroljubow und
Tschernyschewski verbunden ist. Wie diese empfanden auch sie den
Dienst am Volk als eine geradezu heilige Pflicht und unterwarfen sich
einem strengen demokratischen Ethos. Ihr Nationalbewusstsein war im allgemeinen weltoffen, auch wenn viele von
ihnen panmongolischen Überzeugungen huldigten: Da gab es z.B. Bazar
Baraadin, der an der Petersburger Universität bei den berühmten
Orientalisten Stcherbatski und Oldenburg studiert hatte, nun selbst
ein bedeutender Buddhologe war und eine neue mongolische Schrift
entwickelte, die sich an der modernen Aussprache orientierte und so
die Kommunikation zwischen den verschiedenen Völkern mongolischer
Abstammung erleichtern sollte. Doch die Liebe zur eigenen Kultur und
Tradition verbanden die jungen Idealisten mit Aufgeschlossenheit
gegenüber neuen Ideen und den Errungenschaften der Wissenschaft. Sie
betrachteten es als ihre höchste Aufgabe, das Wissen, das sie in
Schulen und Universitäten erworben hatten, in den Dienst des
einfachen Volkes ihrer Heimat zu stellen, das Licht der Kultur in
jede Hütte und Jurte zu tragen und ihre ganze Energie darauf zu
verwenden, die Burjaten von Unterdrückung und Unwissenheit zu
befreien. Dieses tiefe
Pflichtbewusstsein gegenüber dem Volk findet beredten Ausdruck in
einem Brief des jungen Wassili Michailow, den dieser als Student aus
St. Petersburg an seinen Vater Andrei schrieb:
The most important things for me are the Mongolian and Kalmyk languages and those disciplines that will in some way help me to study Siberia in general and to understand as much as possible the moral and intellectual level of our people who are suffering in ignorance, who are oppressed and forgotten. My moral obligation, the obligation of a person who loves his people, his fellow tribesmen, is to return to my own, to Siberia, and dedicate all my strength to serving my homeland in general and my tribesmen in particular. Let my road be filled with obstacles, let these obstacles rise up before me and crush me like cliffs, let those I long to help react to me coldly. I will not be moved because I will do my duty.
In mancherlei Hinsicht
unterschieden sich die burjatischen Intellektuellen allerdings auch sehr
deutlich von ihren russischen Vettern und Cousinen der 60er Jahre. So
waren nur die wenigsten von ihnen materialistische "Nihilisten"
vom Typus des Jewgeni Basarow aus Turgenjews berühmtem Roman Väter
und Söhne. Der Ferne Osten Sibiriens lag in sozialer wie
kultureller Hinsicht noch immer weit hinter dem europäischen Teil
Russlands zurück, und die jahrhundertealten religiösen Traditionen
lasteten schwer auf den Schultern der jungen Männer und Frauen und
beeinflussten ihr Denken und Fühlen, auch wenn sie Darwins Ursprung
der Arten studiert hatten. Sie waren die Vertreter einer
Übergangszeit, einen Fuß bereits in der modernen Welt, den anderen
noch auf dem religiös durchtränkten Boden der Vergangenheit. So
schreibt Jeremiah Curtin über Wassili Michailow:
This young Buriat proved to be a very interesting person. He was at that time a student at the Irkutsk gymnasium. He had passed six years there, and intended to work still another year. Besides studying he had read a good deal, and knew something of great problems in science and also in history. He could talk about Darwin, and the descent of man, and had some knowledge of chemistry. Above all, and for me that was the main point, he knew considerable about his own people, the Buriats. I congratulated him very heartily on being one of a people who had preserved their primeval religion, and who still held to the customs and beliefs of their remote ancestors. I told him that the Buriats were the only Eastern Mongols who had done this, an act which might be considered an exploit and a service to science.
Sein Vater Andrei
bekundete voller Stoz: „Bishops and priests [...] have asked me
to be baptized, but I would not. I will stay with the beliefs into
which I was born." (14) Beide nahmen jedes Jahr
an buddhistischen Zeremonien in den Klöstern Transbaikaliens teil.
Von Tsyben Jamtsarano,
einem der bedeutendsten Vertreter des bürgerlichen Nationalismus
Burjatiens, berichtete ein Bekannter:
He was a well-educated person, but nonetheless very superstitious. He believed in the most impossible things, such as amazons, devils, cannibals, dragons living in wells, cattle living in lakes and only coming out occasionally ... He believed in shamans, and when he was ill, he summoned shamans, healers, lamas, and Russian doctors, taking all their medications simultaneously and agreeing with their magical effects ...
Sowohl Andrei Michailow
als auch Jamtsarano glaubten, dass der Buddhismus eine
fortschrittliche Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung
Burjatiens spielen könne und sahen in ihm vor allem eine Waffe gegen
den Alkoholismus.
Doch keineswegs alle Intellektuellen teilten ihre
Überzeugungen. Die burjatische Nationalbewegung umfasste vielmehr
eine Vielzahl politischer und weltanschaulicher Strömungen.
Auf ihrem äußersten
rechten Flügel standen radikale Verfechter panmongolischer und
panbuddhistischer Ideen wie der Großlama Agvan Dorschiew oder der in
Petersburg lebende Arzt Pjotr Badmajew, die bei der Verwirklichung
ihrer bizarren Träume auf die Unterstützung des russischen
Imperialismus setzten.
Der in der Mitte des 19.
Jahrhunderts geborene Dorschiew zählt sicher zu den faszinierendsten
Gestalten des russischen Buddhismus und spielte eine wichtige Rolle
sowohl in der Geschichte Tibets als auch in der seiner burjatischen
Heimat. Zu Beginn der 70er Jahre hatte er sich in das ferne
Schneeland begeben, um im Kloster Drepung – einem der drei riesigen
Hauptköster der Gelug-pa in der Nähe Lhasas – seine religiöse und
philosophische Ausbildung zu vervollkommnen. Er erwarb sich den Titel
eines Tsanid-Hambo ("Meisters der buddhistischen
Philosophie") und wurde zu einem der Lehrmeister des XIII. Dalai
Lama Tubten Gyatso. Mit der Zeit entwickelte sich ein enges und
vertrauensvolles Verhältnis zwischen dem Burjaten und seinem
Schüler, der zu einem intelligenten, selbstbewussten und äußerst
ehrgeizigen jungen Mann heranwuchs. In der Folge spielte Dorschiew eine wichtige Rolle in den politischen Manövern, in deren Verlauf sich Tibet immer weiter in das Netz des "Great Game" verhedderte, jenes großen Ringens zwischen Russland und Großbritannien um die Vorherrschaft über Zentralasien. Auf sein Anraten hin versuchte Tubten Gyatso sich die Unterstützung des Zaren zu sichern, was in einer Katastrophe enden sollte. Im Januar 1904 rückten britische Truppen unter dem Kommando von Sir Francis Younghusband im Schneeland ein. Der Kundun musste in die Äußere Mongolei flüchten, und Dorschiew kehrte in seine russische Heimat zurück.
Seiner Stellung innerhalb
der burjatischen Nationalbewegung tat dies jedoch keinen Abbruch.
Dorschiew war nicht der einzige Lama unter den nationalistischen
Wortführern, doch was seinen kulturellen Horizont und seine
Welterfahrung anging, übertraf er die übrigen buddhistischen
Hierarchen um ein vielfaches. Das Kloster Drepung und der Hof des
Dalai Lama mit ihrem Ränke- und Intrigenspiel waren seine politische
Schule gewesen. In Paris hatte er 1898 die europäische Kultur in
einer ihrer führenden Zentren kennenlernen können. Seit 1902 hatte
er nicht nur Beziehungen zum Zarenhof und hohen zaristischen Beamten
wie Fürst Uchtomskij, sondern auch zu einflussreichen Teilen der
Petersburger Intelligenz – Künstlern, Gelehrten und Journalisten –
geknüpft. Sein Ausflug in die Welt der internationalen Politik
endete zwar mit einem Fiasko, dennoch hatte er dabei zweifelsohne
wichtige Erfahrungen gesammelt und manch interessante Einsichten
gewonnen. Außerdem dürfte die Position, die er als Berater des
Dalai Lama an der Spitze des tibetischen Staates eingenommen hatte,
sein Selbstbewusstsein beträchtlich gestärkt haben. Unter den
burjatischen Lamas musste sich Dorschiew in der Tat vorkommen wie
der Hecht im Karpfenteich. Und so griff er immer wieder mit
Veröffentlichungen in der sibirischen Presse in die politischen
Debatten ein, wobei er sich mit großer Entschiedenheit gegen den
säkularen Nationalismus der fortschrittlicheren Intellektuellen
wandte und trotz der Katastrophe von 1904 weiterhin an seiner Vision
eines buddhistischen Großreichs unter der Schutzherrschaft des Zaren
festhielt.
Freilich wurden die überspannten Hoffnungen des Großlamas und seiner Gesinnungsgenossen selbst von ausgesprochen
konservativen Nationalisten wie Tsyben Jamtsarano nicht geteilt. Auch standen diese der
russischen Herrschaft über ihr Volk im allgemeinen sehr viel
kritischer gegenüber als die Panbuddhisten. Einig waren sie sich mit Dorschiew allerdings in der Unterstützung der
buddhistischen Religion, in der Ablehnung des politischen
Radikalismus und im Kampf gegen das "Assimilantentum". Für
Jamatsarano war der Buddhismus der „Fluchtpunkt des nationalen
Geistes... der nationalen Individualität und Solidarität“ und
ein unverzichtbarer Schutzwall gegen den Einfluss der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR), deren Politik
letzlich auf die Auflösung der traditionellen Kultur und
Gesellschaftsordnung Burjatiens hinauslaufe, weswegen er die
Marxisten im Revolutionsjahr 1905 als die „Partei der
Kapitalisierung und Proletarisierung“ beschimpfte. (15) Diese feindselige Haltung
gegenüber der SDAPR war übrigens unter den Führern der
verschiedenen Nationalbewegungen im Zarenreich keine Seltenheit. So
schrieb Mahmud Behbudi, einer der Gründer des nationalistischen
Dschaddidismus
in Turkestan, 1906 über die Sozialdemokraten: „Our present
epoch is not propitious for carrying out their program. . .. Their
wishes appear fantastic and joining this party is extremely dangerous
for us Muslims." (16)
Etwas anders verhielt es
sich natürlich mit dem selbst sozialdemokratisch beeinflussten
Michail Bogdanow und anderen Vertretern des linken Flügels. Bogdanow
betrachtete den Buddhismus ganz sicher nicht als eine Kraft, die zur
Verbreitung von Bildung und Kultur unter den Burjaten beitragen
könnte. Außerdem wandte er sich gegen den kulturellen Seperatismus
vieler Intellektueller und äußerste ernste Zweifel an der
Lebensfähigkeit der traditionellen burjatischen Kultur:
Will not the omnipotent god of Western European culture, capital, succeed in crushing us? Capital, which has brought new ways of life to Russia and is striding powerfully forward? We must recall that we do not live in the Middle Ages when every little ethnic group could live inside its own little world completely isolated from the outside. We live in the twentieth century when the process of capitalist development is destroying almost all ethnic differences, no matter what Great Walls of China have been thrown up around them. Our salvation lies not in trembling beneath our invented national traits, but in the possibly modest and firm mastery of civilized ways. (17)
Doch welchem Flügel der
Bewegung sie auch angehören mochten, die allermeisten Nationalisten
der ersten Generation waren keineswegs Revolutionäre und nicht
einmal Demokraten im politischen Sinn des Wortes. Sie riefen nicht
zum Kampf gegen die Zarenherrschaft auf, sondern sahen ihre
Hauptaufgabe in geduldiger, friedlicher Kulturarbeit. Einen recht
guten Eindruck von der Aktivität dieser burjatischen "Kulturträger"
vermittelt uns ein Brief des Dorfschullehrers Archip Alachanow aus
dem Jahre 1913 an Wassil Michailow in Petersburg. Der Lehrer
berichtet darin von einem Neujahrsabend, den man im abgelegenen
Kharazargai organisiert habe. Zu den Festlichkeiten gehörten die
Inszenierung eines burjatisches Theaterstücks mit dem Titel Ukhyl
(Der Tod), eine burjatische Tanzvorführung und der
Vortrag eines russischen Gedichtes. Im Anschluss sang der örtliche
Chor unter Begleitung von Balalaikas und Gitarren burjatische
Volksweisen und schließlich klang der Abend mit Tanz und dem Spielen
von "Stille Post" aus. Wie Alachanow mit einer Mischung aus Stolz
und Ironie bemerkt, waren sämtliche "Großkopferten" der
benachbarten Gebiete zugegen.
Die Veranstaltung wirkt in ihrer Harmlosigkeit beinahe ein wenig
lächerlich. Nichts deutet auf ein subversives Element in den
Festlichkeiten hin. Und doch waren Abende wie dieser Bestandteil des
mühseligen Ringens, ein wenig Kultur und Aufklärung in Regionen zu
tragen, in denen die Menschen noch immer nach den Sitten und
Gebräuchen einer vorfeudalen Zeit lebten.
Aber ebenso wie die
burjatische Intelligenz ihr Entstehen gesamtrussischen Entwicklungen
verdankte, war auch ihr weiteres Schicksal unauflöslich mit
demjenigen Russlands verknüpft.
Ein Großteil der
intellektuellen Elite des russischen Sibirien bestand aus ehemaligen
politischen Verbannten, auch wenn das revolutionäre Feuer bei den
meisten von ihnen mit den Jahren zu einem liberalen Glimmen
heruntergebrannt war. Das Gouvernement Irkutsk war Verbannungsort für
unzählige Revolutionäre aus dem europäischen Teil des
Zarenreiches. Bereits die Dekabristen – diese aristokratischen
Urväter der revolutionären Bewegung Russlands, die inspiriert von
den Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution 1826
einen Putschversuch gegen Zar Nikolaus I. unternommen hatten – waren
hierher deportiert worden. Einige ihrer bedeutendsten Vertreter, wie
Fürst Sergej Trubezkoi und seine Frau Ekaterina Iwanowna sowie Fürst
Serge Wolkonski und seine Frau Maria Nikolajewna, hatten sich
damals in Irkutsk niedergelassen. Der Einfluss der idealistischen
Adeligen auf die Kultur der Stadt war noch Jahrzehnte später zu
spüren. Von 1859 bis 1861 lebte der nach Sibirien verbannte Michail
Bakunin in Irkutsk, bevor er über den Fluss Amur aus Russland floh.
Nach der Niederschlagung des polnischen Aufstands von 1863 wurden
über 10.000 Männer und Frauen nach Ostsibirien deportiert.
1864 gelangte der zu Zwangsarbeit verurteilte Publizist Nikolai
Tschernyschewski – einer der glänzendsten Vertreter der russischen
Aufklärung und das geistige Haupt der demokratischen Bewegung der
60er Jahre – nach Irkutsk. Im Zuge der Zerschlagung der
revolutionären Partei Narodnaja Wolja in den 80er Jahren und
mit dem Beginn der sozialistischen Arbeiterbewegung in den 90er
Jahren stieg die Zahl der Deportierten, die man über die Flüsse
Sibiriens in die Tiefen der Taiga verschickte, um sie dort lebendig
zu begraben, dann immer weiter an.
Eine Reihe bedeutender
Vertreter des russischen Sozialismus gelangte auf diesem Weg in das
Gouvernement Irkutsk. 1897 traf Nikolai E. Fedosejew als Verbannter
in Ostsibirien ein, einer der ersten russischen Marxisten, zu dessen
Kasaner Studentenzirkel 1889 auch der junge Lenin gehört hatte. Drei
Jahre später, als Jeremiah Curtin die burjatischen Dörfer auf der
Suche nach Mythen und Märchen durchstreifte, wurde etwas weiter im
Norden ein junger Revolutionär die Lena stromaufwärts nach Ust-Kut
gebracht. Schon bald erschienen Artikel aus seiner Feder in der
Irkutsker Zeitung Östliche Rundschau, in denen sich der Autor
u.a. mit dem sibirischen Bauerntum und den russischen Klassikern, mit
Ibsen und Gerhart Hauptmann, Nietzsche und Maupassant, Leonid
Andrejew und Maxim Gorki auseinandersetzte. Siebzehn Jahre später
sollte der brillante marxistische Schriftsteller, der seine Beiträge
mit dem Pseudonym "Antid Oto" unterzeichnete, gemeinsam mit Lenin
an der Spitze der Oktoberrevolution stehen – Leo Trotzki. Während seiner
Verbannung beteiligte er sich am Aufbau der ersten
sozialdemokratischen Organisation in Ostsibirien. 1901 wurde ein
Komitee der SDAPR in Irkutsk gegründet. In seinem Umfeld war auch
der polnische Verbannte Felix Dserschinski tätig, der spätere
Leiter der Tscheka. 1904 schließlich traf ein weiterer Deportierter
im Gouvernement ein, der wie Trotzki einen gewaltigen Einfluss auf
die künftigen Geschicke des Landes ausüben sollte, wenn auch in
völlig anderer Richtung. Der junge Georgier, der im übrigen nur
einen Monat in Sibirien blieb und dann ins heimatliche Tiflis floh,
nannte sich Koba – den Namen Stalin würde er erst in späteren
Jahren benutzen.
Vor allem jene Burjaten,
die an den Ufern des Flusses Angara lebten, kamen häufiger in
Kontakt mit den deportierten Revolutionären und erhielten so aus
erster Hand Informationen über die großen politischen und sozialen
Kämpfe, die in Russland wüteten. Auf manch einen von ihnen sprang
dabei der revolutionäre Funke über. Die Grundfesten des
Zarenreiches begannen allmählich zu zerbröckeln und dieser Prozess
machte auch vor dem fernen Burjatien nicht halt. Am Horizont zogen bereits die Sturmwolken der ersten Revolution herauf.
Fortsetzung folgt ...
(1) Viele der Zitate in dem folgenden mehrteiligen Text wurden der Artikelserie Voices of Buryat History entnommen, die leider nicht mehr im Netz abrufbar ist. Oft war es mir deshalb nicht möglich, Quellenangaben zu liefern.
(2) Freilich konnten Elemente dieses alten Mystizismus auch mit der revolutionären Begeisterung der ersten Jahre des Sowjetregimes verschmelzen. So brachte z.B. der Stanislawski-Schüler Walentin Smyschliajew zur Eröffnung des Moskauer Proletkult-Theaters im November 1918 eine Dramatisierung von Émile Verhaerens Gedicht La Révolte auf die Bühne, welche sehr deutlich in der Tradition der symbolistischen Mysterienspiele stand. Das Stück begann mit einer "Schöpfungsszene", die auf Motive aus der Genesis und dem Prolog des Johannesevangeliums zurückgriff: "The
entire auditorium is sunk in darkness, from which the formless,
fleeting sounds of music are born, which slowly grow into an ecstatic
hymn. The curtain slowly parts, and the spectator cannot make out
anything onstage. Streams of golden sparks shatter the darkness and
merge with the stars. The howl of a formless, perturbed crowd, the
trampling of running feet. Slowly the red reflections of fires
disperse the dark. The spectator begins to make out some lines
reminiscent of the angles of houses, a window, a door; but these are
not sharp lines, rather quivering, smashed, rebelling. He sees a
seething, stirred-up crowd. Out of this chaos rise the words." (V. Smyshliaev: Opyt
instsenirovki stikhotvoreniia Verkharna 'Vosstaniia’. In: Gorn
(Die Esse) [Zeitschrift des Moskauer Proletkult], Nr..
2-3 (1919), S. 82. Zit. nach: James von Geldern: Bolshevik
Festivals, 1917-1920. S. 56/57.)
(3) Marina Zwetajewa: Auf eigenen Wegen. S.
15/16.
(4) Wertow würde dieses Thema acht Jahre später zum Leitmotiv für den ersten Teil seiner Drei Lieder über Lenin (1934) machen. Ein Film, der leider bereits sehr stark vom stalinistischen Geist – dem offiziellen Leninkult und der Verherrlichung von Zwangskollektivierung & Fünfjahresplan – erfüllt ist.
Wenn Dave Crouch in seinem 2006 erschienenen Artikel The Bolsheviks and Islam die Entschleierungskampagne (Hudschum) als einen stalinistischen Irrweg bezeichnet und sich ganz allgemein bemüht, die antireligiöse Politik der Bolschewiki kleinzureden, so spiegeln sich darin parteipolitische Interessen wider. Crouch ist (oder war?) Mitglied der britischen Socialist Workers Party (SWP), die zu dieser Zeit im Rahmen der "Antikriegskoalition" Respect ein prinzipienloses Bündnis mit der fundamentalistischen Muslim Association of Britain (MAB) eingegangen war. Vgl.: Chris Marsden / Julie Hyland: Respect-Unity coalition in Britain: a marriage of Labourism and Islamism. Part 1 * Part 2.
(5) Henry Noel Brailsford: How The Soviets Work. Kap. 7.
(6) Leo Trotzki: Between Red and White. Kap.9. Eigentlich stand Trotzki dieser überhasteten militärischen Aktion äußerst kritisch gegenüber. Die Intervention in Georgien scheint hinter dem Rücken der Parteiführung vom Kommando der 11. Armee eingeleitet worden zu sein. "Am 17. Februar 1921 benachrichtigte S.S. Kamenew, der Oberbefehlshaber der Roten Armee, Skljaniski, dass der Angriff der 11. Armee die Führer vor 'die vollendete Tatsache' des Einmarsches in Georgien gestellt habe. [...] Lenin und Trotzki, ersterer zurückhaltend, letzterer feindlich, beugten sich schweigend vor den vollendeten Tatsachen. Trotzki sollte sogar ein wenig später öffentlich polemisieren, um dieses Eingreifen und die Invasion Georgiens zu verteidigen, Mit seiner Partei solidarisch, selbst im Irrturm, akzeptierte er so, vor der internationalen Arbeiterbewegung für das Eingreifen in Georgien die Verantwortung zu tragen." (Pierre Broué: Trotzki. Eine politische Biographie. Bd. 1. S. 334.)
(7) Die Gelug-pa, auch "Gelbmützen"
genannt, bilden eine der vier Hauptschulen des tibetischen
Buddhismus. Ihr Oberhaupt ist der Dalai Lama. Der Orden wurde um das
Jahr 1400 von dem Gelehrten Tsong-kha-pa als eine Art Reformbewegung
gegründet. Nach blutigen Bürgerkriegen mit den anderen Schulen und
Teilen der weltlichen Aristokratie eroberten die Gelug-pa in der
Mitte des 17. Jahrhunderts unter Führung des V. Dalai Lama Lobsang Gyatso und mit Unterstützung des Mongolenfürsten
Guschri Khan die
Herrschaft über Tibet.
(8) Zur Frühgeschichte des burjatischen Buddhismus und seiner Beziehung zu den zaristischen Behörden vgl. Victor M. Fics Besprechung von Lukos Belkas Tibetsky buddhismus v
Burjatsku in Vol. 4 des Journal of Global Buddhism. Yihe Huree ist der alte Name des heutigen Ulaanbaatar.
(9) Die tulkus sind die
berühmten "reinkarnierten Lamas" des tibetischen Buddhismus;
Würdenträger, von denen es heißt, dass sie nach ihrem Tode
wiedergeboren werden, um ihre eigene Nachfolge anzutreten. Diese
einmalige Form der Erbfolge entstand ursprünglich in der zweiten
Hälfte des 12. Jahrhunderts in Tibet und diente dort der Festigung
der zuvor äußerst instabilen Ordensinstitutionen. Das tibetische
Wort tulku ist eine Übersetzung des
Sanskritbegriffes nirmanakaya, der eigentlich den irdischen
Leib eines Buddha bezeichnet. Es ist hier nicht der passende Ort, um
auf die buddhistische "Drei-Leiber-Lehre" einzugehen, jedenfalls
ist die im Westen weitverbreitete Übersetzung "lebender Buddha"
etwas unglücklich gewählt. Im tibetischen Kontext bedeutet der
Begriff tulku zweierlei: 1) Der betreffende Lama gilt als die
irdische Manifestation eines bestimmten Buddhas oder Bodhisattvas. 2)
Da er ein vollkommen Erleuchteter ist, kann er seine eigene
Wiedergeburt nach Belieben steuern und inkarniert sich "aus
Mitgefühl mit den leidenden Wesen" immer wieder als Nachfolger
seiner selbst.
(10) Sangha (skt.) = Mönchsgemeinschaft;
buddhistische Gemeinde; "Kirche".
(11) Jeremiah Curtin: A Journey in Southern
Siberia. S. 36.
(12) A.A. Sirina: Zabytye
stranitsy sibirskoi ethnografii: B.E. Petri. In: Repressirovannye
etnografy. Bd. 1. S. 63.
(13) Jeremiah Curtin: A Journey in Southern
Siberia. S. 83.
(14) Ebd. S. 31/38.
(15) Zit. nach: K. M.
Gerasimova: Obnovlenèeskoe dvišenije lamaistskovo duchovenstva.
S. 17. Vgl.: Boris Krumnow: Die Buddhistische Erneuerungsbewegung
im Sowjetrussland der 20er Jahre.
(16) Zit. nach: Abeed Khalid: The
Politics of Muslim Cultural Reform. Jadidism in Central Asia. S.
220.
(17) Mikhail Bogdanov: Buriatskoe
‘vozrozhdenie'. In: Sibirskie voprosy, Nr. 3 (1907), S.
47.
Hui, hast du dich da reingefummelt! Ich kenne aus dieser Zeit und Gegend nur Kropotkins MEMOIREN EINES REVOLUTIONÄRS von 1898 - immerhin. Übrigens sehr zu empfehlen: abenteuerlich, hintersinnig, verschmitzt ... viel Sibirien, viel Amur, viel Austricksen der Bürokratie ... macht Spaß.
AntwortenLöschenNa ja, 99% davon wurde bereits vor etlichen Jahren geschrieben. Auf meiner Festplatte stauben einige längere "Manuskripte" vor sich hin, die ich immer mal wieder für den Blog plündern kann.
AntwortenLöschenIch habe zwar einige Bücher von Kropotkin gelesen, jedoch nie seine "Memoiren eines Revolutionärs". Da sollte ich die wohl doch mal hervorkramen.