"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Samstag, 30. April 2016

Häxan

Von einer satanischen Orgie auf dem Brocken einmal abgesehen – wie besser könnte man die Walpurgisnacht feiern als mit einem Besuch von Benjamin Christensens Klassiker Häxan aus dem Jahre 1922 – im englischsprachigen Raum vielleicht besser unter dem etwas irreführenden Titel Witchcraft Through The Ages bekannt.



Die Online-Fassung der Encyclopaedia Britannica eröffnet ihren Eintrag über Christensen mit folgender Beschreibung: "Danish motion-picture director known for his exploration of the macabre."
Wirft man einen Blick auf die Filmographie des Regisseurs, so scheint einiges dafür zu sprechen,dass diese Einschätzung in erster Linie auf Häxan beruht. Denn auch wenn er später in seiner Hollywood-Zeit drei Filme gedreht hat, die man dem Horrorgenre zurechnen kann – The Haunted House (1928), Seven Footprints to Satan (1929) und House of Horror (1929) –, von denen zwei zudem eher komödienhaft gewesen sein sollen*, hinterlässt sein Gesamtwerk doch einen vielgestaltigeren Eindruck. Besonders interessant ist dabei die Tatsache, dass viele seiner letzten Filme wie Skilsmissens børn (1939) und Barnet (1940) offenbar deutlich sozialkritische Intentionen verfolgten.  Mir scheint es wichtig, dies zu betonen, da Häxan in den meisten Fällen ausschließlich unter dem Horrorblickwinkel betrachtet zu werden scheint, was ich für etwas einseitig halte. Doch dazu später mehr.

Der am 28. September 1879 in Viborg zur Welt gekommene Benjamin Christensen gilt wohl nicht zu Unrecht als einer der großen Pioniere des frühen Films. Nach einem abgebrochenen Medizinstudium, widmete er sich ab 1901 zuerst dem Theater. Einer Schauspielausbildung am Kongelige Teater in Kopenhagen folgte ein Bühnenengagement in Aarhus. Doch offenbar erwiesen sich die "Bretter, die die Welt bedeuten" nicht als das, was sich der junge Christensen erträumt hatte, so dass er schon bald seine Brötchen lieber als Weinhändler verdiente. 1911 freilich gab er dann sein Leinwanddebüt, übernahm zwei Jahre später die Kontrolle über die Filmfirma, bei der er arbeitete, reorgansierte sie unter dem Namen Dansk-Biograf Kompagnie und machte sich 1914 daran, den ersten Film unter eigener Regie zu drehen – den Spionagestreifen Det hemmelighedsfulde X (The Mysterious X). Ein erstaunliches Werk, das in seiner visuellen Ästhetik seiner Zeit weit voraus war. Um Ralf Ramge von der edition-filmmuseum zu zitieren:
Der Film fiel vor allem durch seinen außergewöhnlichen Umgang mit Licht und Schatten auf, ein halbes Jahrzehnt bevor der Expressionismus in Deutschland seine Wurzeln in den Boden schlug. Christensen benutzte vorrangig nur eine Lichtquelle und baute die hierdurch resultierenden starken Schattenwürfe elegant in das Gesamtbild ein. Berühmt sind auch seine Versuche mit Gegenlicht, welches scharf umrissene Silhouetten erzeugte und Szenen in dunklen Räumen, welche durch einzelne Lichtstrahlen durchbrochen werden. 
Inhaltlich ist Det hemmelighedsfulde X ein ziemlich konventioneller Film, eine Mischung aus Spionagestory und Melodrama, gewürzt mit einer ordentlichen Prise Hurrapatriotismus und Kriegsbegeisterung. Doch in cinematographischer Hinsicht enthält er in der Tat einige äußerst beeindruckende Szenen.
Zwei Jahre später legte Christensen mit Hævnens nat (Blind Justice) nach, in dem er die Geschichte eines zu Unrecht des Mordes angeklagten Mannes erzählt. Ich habe den Film noch nicht gesehen, aber er soll seinem Vorgänger in nichts nachstehen. Auch zeigt sich in ihm wohl zum ersten Mal das Interesse des Regisseurs für soziale Probleme und Ungerechtigkeiten.
Zwischen 1918/19 und 1921 beschäftigte sich Christensen intensiv mit der Geschichte der Schwarzen Magie und der spätmittelalterlichen Hexenverfolgungen. Anstoß dafür soll eine Lektüre des berüchtigten Hexenhammers (Malleus Maleficarum) gewesen sein. Ergebnis dieser Recherchen war Häxan – ohne Zweifel sein berühmtester und wohl auch einflussreichster Film.

Auch wenn viele ihn neben Victor Sjöströms Körkarlen (The Phantom Carriage) von 1921 als einen der ersten Höhepunkte des skandinavischen Horrorfilms betrachten, präsentiert sich Häxan zuerst einmal als ein Dokumentarfilm – als der erste Teil einer geplanten, aber nie vollendeten Trilogie über Aberglauben.
Und so beginnt der Film mit mehr oder minder wissenschaftlichen Ausführungen über vormoderne Weltbilder und den aus Unwissenheit geborenen Glauben an Dämonen und andere unkörperliche Wesenheiten, zur Veranschaulichung unterlegt mit Fotographien und Illustrationen. Bald jedoch mischen sich mehr und mehr "Spielszenen" in den Ablauf ein, in denen wir zu sehen bekommen, was Hexen in der Vorstellung des Mittelalters so getrieben haben sollen. Dabei fällt auf, wie Christensen Makabres {eine Hexe und ihr Gehilfe hantieren mit der abgeschlagenen Hand eines hingerichteten Diebes herum} mit Burleskem {eine junge Frau besorgt sich einen Trank, um einen fetten Franziskaner liebestoll zu machen}vermischt. Bald schon allerdings begibt sich der Film in offen phantastische Gefilde, wenn die ersten leibhaftigen Teufel auftreten.
Adam Scovell schreibt in einem seiner Essays auf Celluloid Wicker Man:
Christensen begins his film relatively slowly, earnestly showing the tools, instruments, and beliefs of occultism to be purely historic. Gradually, Häxan begins to reproduce the ceremonies, punishments, and rituals of these times but opts to also show a potential, supernatural force as part of reality.  Before the viewer has had time to assess what has actually happened, Christensen has put devils of all sorts into the mix, even going so far as to play one himself; he is the ultimate trickster of the film.  This overt interpretation of the supernatural comes as real shock, chiefly because the film sets itself up as being so traditionally factual that the presence of flying witches and devils sacrificing babies becomes just another aspect; in other words it is normalised.
Und so verwandelt sich eine gelehrt-aufklärerische Dokumentation mehr und mehr in eine Aneinanderreihung großartig-grotesker, expressionistisch-phantasmagorischer Szenen.
Doch der Film bleibt nicht dabei stehen. Alsbald streift er auch die letzten Überreste seines Doku-Charakters ab und beginnt eine mehr oder weniger zusamenhängende Geschichte aus den Tagen der Hexenverfolgung zu erzählen. Der für die Angehörigen überraschende und unerklärliche Tod eines Mannes führt dazu, dass eine alte Bettlerin der Hexerei bezichtigt wird. Die Dominikaner-Inquisitoren machen sich allsogleich ans Werk und zwingen der Angeklagten unter der Folter immer fantastischere Geständnisse ab. Zuerst berichtet sie über das wüste Treiben am Hexensabbat, was Anlass zu einigen der großartigsten Szenen des Filmes gibt, um anschließend eine ganze Reihe anderer Frauen als Hexen zu denunzieren.
Soweit ließe sich auch das als bloße "Illustration" interpretieren, doch daneben entwickelt sich zugleich eine Art persönliches Drama. Die Frau, die zu den Dominikanern eilt, um die Alte anzuklagen, trifft dort zuerst auf den jüngsten der Inquisitoren, der ins Gebet vertieft ist. Als sie den Arm des jungen Mönchs packt, um ihn aus seiner Versenkung zu rütteln, hat das ungeahnte Folgen. Die Berührung durch eine hübsche junge Frau weckt offenbar höchst "sündige" Gedanken in ihm. Als er sie einem seiner Mitbrüder beichtet, geißelt ihn dieser dieser erst einmal blutig, um die "Verführerin" daraufhin der Hexerei zu bezichtigen. Der junge Dominikaner, der schon zuvor in den Folterszenen mit der alten Bettlerin gezeigt hatte, dass er sich trotz seiner Rolle als angehender Hexenjäger offenbar ein menschliches Gewissen bewahrt hat, versucht das Unausweichliche zu verhindern, doch letzlich muss er mit ansehen, wie seine "Angebete" auf perfide Weise zu einem "Geständnis" gebracht und dem Henker übergeben wird.
Story und Charaktere bleiben zugegebenermaßen rudimentär, aber da keine der Besprechungen von Häxan, die ich gelesen habe, dieses kleine "Drama" erwähnt, schien es mir wichtig, auf seine Existenz hinzuweisen. Mit ihm entfernt sich der Film strukturell am weitesten von seinem vermeintlich dokumentarischen Charakter.
Mit einer erneut wunderbar grotesken Sequenz über besessene Nonnen nimmt er wieder stärker episodische Qualität an, um schließlich in einer Art Epilog über "Hexerei in der Gegenwart" auszuklingen.

Wie gesagt wird Häxan heute in erster Linie als ein phantastischer Film betrachtet. Adam Scovell sieht in ihm sogar die Geburtsstunde "of both occult horror and folk horror."
In meinen Augen ist das eine legitime, aber auch etwas einseitige Interpretation. Obwohl der Film aufgrund seiner für die Zeit wohl ziemlich skandalösen Darstellungen von Erotik und Gewalt in vielen Ländern mit dem Zensor zu ringen hatte, ist sein Einfluss vor allem auf den Deutschen Expressionismus wohl kaum zu leugnen. Und thematisch kann man ihn ohne Frage als einen Vorläufer späterer Horrorfilme, die sich folkloristischer oder okkultistischer Motive bedienen, betrachten.
Doch gerade sein abschließendes Kapitel zeigt meiner Ansicht nach sehr deutlich, dass Christensens Intentionen sich nicht auf die Darstellung des Bizarren und Phantastischen beschränkten. {Auch wenn ganz offensichtlich sehr viel Liebe in dieselbige geflossen ist.} Man würde vielleicht erwarten, zum Abschluss etwas über okkultistische Praktiken in der Gegenwart und das Fortleben des Aberglaubens erzählt zu bekommen, doch das geschieht bloß am Rande. Vielmehr stellt Christensen im letzten Kapitel die These auf, der Hexenglaube vergangener Zeiten sei das Produkt psychischer Erkrankungen gewesen. Dabei konzentriert er sich auf den Begriff der "Hysterie", was aus heutiger Sicht natürlich ziemlich problematisch erscheint, ist dieser doch kaum von der Misogynie jener Zeit zu trennen. Kein Wunder also, dass der Schlusspart des Filmes auf mich einen ziemlich widersprüchlichen und verstörenden Eindruck hinterlassen hat. Doch interessanterweise scheint dies wenigstens zum Teil beabsichtigt gewesen zu sein. Christensen begrüßt, dass wir die Armen und Kranken nicht länger auf den Scheiterhaufen schicken, aber zugleich zieht er beunruhigende Parallelen zwischen "modernem" und "mittelalterlichem" Verhalten. Der Psychiater, der eine junge Frau in die Irrenanstalt einweist, weist bei ihm gruselige Ähnlichkeiten mit den Inquisitoren der Vergangenheit auf. Christensen scheint hier die Frage zu stellen, ob wir nicht immer noch den barbarischen Praktiken unserer Vorfahren folgen, wenn wir all jene, die "anders" oder "nicht normal" erscheinen, aus unserer Gemeinschaft ausschließen.

So groß der Beitrag von Häxen zur filmischen Phantastik im Hinblick auf visuelle Ästhetik, Cinematographie, Tricktechnik und Motivik auch sein mag, ich fände es schade, darüber den humanen und sozialkritischen Impetus zu vergessen, der dem Film ganz offenbar innewohnt.     
 

* Von den drei Streifen hat sich nur eine ziemlich ramponierte Version von Seven Footprints to Satan erhalten.

Strandgut der Woche

Dienstag, 26. April 2016

Der Décadent der Fantasy (7)


Hier nun ein weiterer Teil meiner mäandernden Schreibereien über George Sterling und die kalifornische Bohème der Jahrhundertwende. {Ich verspreche, der Text wird in nicht all zu ferner Zukunft wieder zu Clark Ashton Smith zurückfinden ...}

Teil 1 * Teil 2 * Teil 3 * Teil 4 * Teil 5 * Teil 6

Damit wären wir wieder bei Sterlings metaphysischem Schönheitsbegriff angelangt. Für sich allein genommen besagt dieser poetische Platonismus eigentlich recht wenig, besitzt er doch einen festen Platz in der abendländischen Dichtungstradition. Er gleicht eher einem ererbten antiken Gefäß, in das jede Generation einen neuen, ihrer Zeit entsprechenden Inhalt füllt. Ziehen wir eine Linie von den großen Romantikern zu Sterling und führen sie dann später weiter fort zu Clark Ashton Smith, so wird sich dabei das aufschlussreiche Bild einer stufenweisen Entwicklung ergeben. Zum Ausgangspunkt müssten wir dabei eigentlich Shelley oder Keats nehmen, aber da wir uns in einem späteren Kapitel noch ausführlicher mit letzterem beschäftigen werden, wollen wir an dieser Stelle ihren deutschen Widerpart zum Vergleich heranziehen: Friedrich Hölderlin. (1)

Von allen deutschsprachigen Dichtern stand er den Englischen Romantikern am nächsten. Niemand wird bezweifeln, dass sein Werk stark vom philosophischen Idealismus und einer ganz eigentümlichen Religiosität geprägt ist. Die komplexen Versformen und die nicht immer leicht zugängliche Sprache verstärken noch den Eindruck, es mit einem Mystiker tun zu haben. Andernfalls hätte Erzreaktionär Martin Heidegger nie den perversen Versuch unternehmen können, Hölderlins Werk für seine obskurantistische Philosophie zu vereinnahmen. Doch was sich in Wahrheit hinter seiner Idee des Schönen verbarg, waren die Ideale der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit; ein "altrömisches" Republikanertum à la Brutus; der Traum von einer glorreichen Wiedergeburt der antiken Kultur und ihrer Tugenden. Wenn er sie in ätherische Sphären entrückte, so um ihre Reinheit zu bewahren inmitten der spießbürgerlichen Atmosphäre des damaligen Deutschlands, dieses „Dunghaufens“, wie Engels sich ausdrückte. (2)
Den Glauben an ihre unmittelbare Umsetzbarkeit hatte ihm der Lauf der Ereignisse schon bald ausgetrieben: In Frankreich wurde die heroische Phase der Revolution mit dem Sturz Robespierres durch das prosaische Regime des Direktoriums – die Herrschaft der bourgeoisen Revolutionsgewinnler – abgelöst; die deutschen Jakobiner hatten sich als mutige, aber hoffnungslos isolierte Vorkämpfer der Freiheit erwiesen. 
Vorbei waren die Tage, da Hölderlin in jugendlichem Überschwang im Tübinger Seminar zusammen mit seinen Kommilitonen Hegel und Schelling den Freiheitsbaum aufgepflanzt hatte. Geblieben war der revolutionäre Tatendrang, der unter den gegebenen Umständen aber nur in Frustration und Verzweifelung münden konnte. In den Worten von Hölderlins Hyperion: „O gäb’ es eine Fahne, Götter! [...] ein Thermopylä, wo ich mit Ehren sie verbluten könnte, all die einsame Liebe, die mir nimmer brauchbar ist!“ (3)
Wie viele deutsche Intellektuelle seiner Zeit, schreckte auch er vor der Brutalität des terreur zurück. Doch war dies nicht der Hauptgrund für seine Verbitterung: Spätestens seit dem Fall der Mainzer Republik schaute man sich in Deutschland vergebens nach irgendwelchen Thermopylen um, bei deren Verteidigung man einen ehrenvollen Tod hätte sterben können. Das Land war einfach noch nicht reif für eine bürgerliche Revolution. Aber Hölderlin war nicht bereit, seinen Idealen abzuschwören. Sich in eine abgeklärte Resignation zurückzuziehen, widersprach völlig seinem leidenschaftlichen Wesen. „Lieber das Grab, als diesen Zustand!“ (4) Es fehlte ihm die Abstraktionskraft, aber auch die Unempfindlichkeit seines verehrten Vorbilds Schiller, der die gescheiterten Freiheitsträume in sein Programm einer Ästhetischen Erziehung des Menschen umzuschmelzen verstand. Die Folge war zwangsläufig eine immer größere Isolation des Dichters. Er fühlte sich als Fremdling in seinem Zeitalter und seinem Vaterland. Resigniert stellte er fest „[S]ie können mich nicht brauchen.“ (5)

Wenn die Seele dir auch über die eigne Zeit
Sich, die sehnende, schwingt, trauernd verweilest du
Dann am kalten Gestade
Bei den Deinen und kennst sie nie (6)

Aus dieser Situation erwuchs Hölderlins Mystizismus. Da die Gegenwart keinen Ansatz zur Verwirklichung seiner Ideale bot, versetzte er sie in ein zeitloses Jenseits und verlieh ihnen zugleich einen tragisch-heroischen Zug. 
Wenn sie dabei drohten, sich ins Abstrakte und Allgemeine zu verflüchtigen, so eröffnete sich für Hölderlin damit doch zugleich die Möglichkeit, die historisch determinierten Begrenztheiten seiner Zeit zu überwinden. Seine Vision von Hellas und dessen kommender Wiedergeburt, die er in dem berühmten Gedicht Der Archipelagus auf so großartige Weise beschrieben hat, kann nicht einfach gleichgesetzt werden mit der parlamentarischen Republik, die objektiv betrachtet doch das Maximalziel der revolutionären Kämpfe des ausgehenden 18. Jahrhunderts darstellte. Gerade die mangelnde Konkretheit befreit das utopische Element des Jakobinertums und Rosseauismus aus seiner kleinbürgerlichen Schale, lässt uns das Bild einer wirklich befreiten Menschheit erahnen, die zum Einklang mit sich selbst und der Natur zurückgefunden hat. Es ist dies derselbe Geist, der uns z.B. auch aus Beethovens großen Symphonien entgegenklingt. 
Was nicht bedeutet, dass Hölderlin sich auch nur ansatzweise im Klaren darüber gewesen wäre, wie dieses Ideal verwirklicht werden könnte. Er war kein dichtender Gracchus Babeuf. (7) Aber bei aller mystischen Verschwommenheit weisen seine Gedichte doch intuitiv über die Grenzen der bürgerlichen Ordnung hinaus. Und im Unterschied zu echt teutschen Romantikern wie Novalis blickte er dabei nicht zurück auf das vermeintlich so harmonische Mittelalter. Auch wusste er, dass nicht irgendwelche gottbegnadeten Führer oder Dichterseher die Menschheit in das bessere Morgen geleiten können. Das Schicksal der Menschen liegt ganz allein in ihren eigenen Händen: „Euch ist nicht/ Zu helfen, wenn ihr selber euch nicht helft.“ (8)
Es ist hier nicht der Ort, um all dies im Detail zu diskutieren. Entscheidend für unsere Fragestellung ist allein, dass Hölderlins Ideale trotz aller Entäuschungen ihre wirkliche Bedeutung bis zum tragischen Ende des Dichters aus der Perspektive ihrer künftigen Verwirklichung beziehen. Sie stehen nicht in einem unversöhnlichen Gegensatz zur irdischen Realität, diese trägt sie vielmehr als „edles Samenkorn“ in sich. Dabei spielt der rousseausche Naturbegriff eine große Rolle. Der herrschende Zustand, der den Dichter zwang, seine Ideale ins Transzendente zu versetzen, um sie so unangreifbar zu machen, galt ihm als unnatürlich. Die kommende Selbstbefreiung des Menschen ist eine Rückkehr in den harmonischen Urzustand ,„bei unendlich vervielfältigten und verstärkten Bedürfnissen und Kräften, durch die Organisation, die wir uns selbst zu geben imstande sind.“ (9) Dann wird das Gute, Wahre, Schöne aus dem platonischen Ideenhimmel herabsteigen und wieder das werden, was es eigentlich immer hätte sein sollen: Ein natürlicher, konkreter Bestandteil des menschlichen Lebens. Den Dichter sah er dementsprechend als Wegbereiter der Zukunft. Nicht Schillers „Was unsterblich im Gesang soll leben,/ Muss im Leben untergehn“ (10) – eher schon: ‘Was unsterblich im Gesang soll leben,/ Muss im Leben auferstehn’!

Bei Sterling finden wir nur noch ein letztes, leises Nachwehen dieses Geistes, der in ähnlicher Weise auch die größten Werke der englischen Romantiker erfüllt hatte. Freilich war auch für ihn die Idee des Schönen nicht bloß ein ästhetisches Ideal. Vielmehr vereinte sich ihm in ihr alles Gute und Erstrebenswerte. Sie besitzt eine ethische Dimension. In dieser Hinsicht besonders aufschlussreich ist sein Gedicht Poe’s Gravestone:

            The very tomb shall cover not the shame
Of those that would have bound thy wings of light!
Toiling for Beauty in the quiet night,
Little to thee were primacy or name;
But now thy star is found a holy flame
In heavens unpermitted to their flight –
Unseen by those who have not in their sight
The slowly guttering candles of their fame.

Puritanism's grey and icy ooze
Was rheum in those inexorable eyes,
That would not see wherein thy greatness stood.
The meager honor that they dared refuse
Was earth's, O thou that followed to the skies
Beauty, whose final goal is human good. (11)

Indem er Edgar Allan Poe nachträglich gegen dessen zeitgenössiche Verächter verteidigt, für die die Dichtung stets im Dienste der Moral zu stehen hatte, weist Sterling die entsprechenden Ansprüche seiner eigenen Kritiker zurück, die vor allem anlässlich von A Wine of Wizardry entrüstet über ihn – den "amoralischen Ästheten" – hergefallen waren. In der Tat ähnelten seine ästhetischen Vorstellungen in vielen Punkten denen Poes. Für diesen war wahre Schönheit ebenfalls eine transzendente Herrlichkeit gewesen, die die Kunst nur ungenügend wiederzugeben vermag. In seinem berühmten Essay The Poetic Principal hatte er geschrieben: „Inspired by an ecstatic prescience of the glories beyond the grave, we struggle, by multiform combinations among the things and thoughts of Time, to attain a portion of that Loveliness whose very elements, perhaps, appertain to eternity alone.“ 
Um so erstaunlicher mutet die Schlusszeile von Sterlings Sonett an. Wohl nicht zufällig lässt er ausgerechnet ein Gedicht auf Poe mit diesem Vers ausklingen, war Poe doch der Verkünder des l’art pour l’art in der amerikanischen Literatur: „[T]here neither exists nor can exist any work more thoroughly dignified – more supremely noble than [... the] poem written solely for the poem’s sake.“ (12)
Und doch erklärt Sterling das "Wohl des Menschen" zum letztendlichen Ziel eben jener Schönheit, nach deren Verwirklichung der Dichter von The Raven, Ulalume und Annabel Lee gestrebt hatte. Einmal mehr beweist er damit, dass er keineswegs der unerschütterliche Anhänger der "reinen Poesie" war, den Joshi und andere in ihm sehen wollen. Jedenfalls nicht, wenn man diese "Reinheit" so versteht, als habe die Kunst bloß dem ästhetischen Ergötzen zu dienen. Hier greift Sterling tatsächlich den besten Teil des romantischen Erbes auf, hatte doch auch Keats die künstlerische Schönheit als „a friend to man“ (13) bezeichnet.
Man fragt sich natürlich, wie Sterling sich die Beziehung zwischen "Schönheit" und "menschlichem Wohl" vorgestellt hat. Das Gedicht gibt darüber keine Auskunft, und auch anderenorts findet sich nichts, was uns hierauf eine Antwort geben könnte. So bleibt uns nichts anderes übrig, als zu spekulieren. Ganz sicher wollte Sterling nicht der didaktischen Dichtung das Wort reden. Es ging ihm nicht darum, den Leser zu belehren oder sittlich zu erbauen. Das Humane aller großen Kunst muss anderswo liegen. 
Ich kann hier nur meine eigenen Gedanken wiedergeben: Die Kunst erfüllt ihren Dienst an den Menschen, indem sie diese emotional bereichert, ihnen neue Perspektiven auf ihr eigenes Ich, das menschliche Leben und die sie umgebende Welt eröffnet. Auf diese Weise trägt auch ein Edgar Allan Poe – entgegen seinen eigenen Überzeugungen – zum „human good“ bei. Im Grunde geht es darum, die Menschen spüren zu lassen, welch ungeheures Potenzial in ihnen schlummert.

Wenn Sterling die Schönheit mit dem menschlichen Wohl verknüpfte, so dürfen wir  annehmen, dass die Perspektive dabei ganz wie im Falle Hölderlins auf deren künftige Verwirklichung in der Welt ausgerichtet war. Und tatsächlich kann die Idee des Schönen in einigen wenigen Fällen auch bei ihm einen utopischen Charakter annehmen. Dann wird sie zur Vorahnung des großen Tages der Befreiung, der die Menschheit am Ende ihrer historischen Via Dolorosa erwartet, wie es der Dichter in Ascension beschrieben hat:

When I contemplate this mine urgent race
And see what paths its tireless feet have worn,
In silence and essential night forlorn,
To each cold peak that gives on mental space, –
Each spirit-eyrie of our time and place,
It seems a Titan toiling toward the morn.
With bloody feet and coronal of thorn.
And holding to the skies an exiled face.

Hasten, O Time, that far, atoning Day
Whose feet of fire shall quench the lesser lights.
Yet to whose music, old ere life began
And throats and harps were fashioned of the clay,
The seraphim of unconjectured nights
Shall hear stars chanting in the soul of man. (14)

Doch schon der Umstand, dass Sterling sein ersehntes Utopia sehr häufig in die Gestalt der "Insel der Seligen" kleidete – eines mythischen Ortes also, und keines künftigen Zeitalters –, lässt vermuten, dass er an dessen Verwirklichung nicht wirklich glaubte. Gedichte wie Ascension bilden deshalb Ausnahmen in seinem Werk. Auch besteht ein unverkennbarer Widerspruch zwischen dieser utopischen Vision und Sterlings Platonismus. Wenn die Idee des Schönen sich in so unerreichbar jenseitigen Sphären befindet, dass selbst der inspirierte Künstler bekennen muss, dass er von ihrer „sudden vision and its bliss“ nur broken news and songs amiss“ (15) wiederzugeben imstande sei, wie soll man sich dann vorstellen können, dass sie sich eines Tages auf dieser Welt und im Leben der Menschen verwirklichen werde?

Hölderlin betrachtete seine Ideale, so fern und mystisch verschleiert sie mitunter auch wirken mochten, als Ausfluss der "göttlichen" Natur. Wenn in seiner leider Fragment gebliebenen Tragödie Der Tod des Empedokles die Bürger Akrigents den zum Freitod entschlossenen Philosophen fragen, wie sie ohne ihren Lehrer die Wahrheiten erkennen sollen, derer sie als Richtschnur bei der Gründung eines neuen Goldenen Zeitalters bedürfen, verweist dieser sie deshalb auf die Schönheiten der Natur: 

Es sprechen, wenn ich ferne bin, statt meiner
Des Himmels Blumen, blühendes Gestirn,
Und die der Erde tausendfach entkeimen.
Die göttlichgegenwärtige Natur
Bedarf der Rede nicht, und nimmer läßt
Sie einsam euch, wenn Einmal sie genaht,
Denn unauslöschlich ist der Augenblick
Von ihr, und siegend wirkt durch alle Zeiten
Beseligend hinab sein himmlisch Feuer. (16)

Bei Sterling hingegen hatte sich die Idee des Schönen beinahe vollständig von der Wirklichkeit gelöst. Warum war dies so? Wenn Hölderlins Mystizismus tatsächlich aus der tragischen Lage eines revolutionären Dichters in einer Gesellschaft, die für eine Revolution noch nicht reif war, entsprang, welchen Grund hätte es für Sterling geben sollen, nicht nur denselben Weg einzuschlagen, sondern ihm auch noch bis zu einem sehr viel extremeren Ende zu folgen? Die sozialistische Bewegung, der er nahestand, mochte zwar numerisch schwach sein, doch war sie in sehr viel höherem Maße Ausdruck realer gesellschaftlicher Entwicklungen, als der deutsche Jakobinismus es in Hölderlins Zeiten gewesen war. Warum also das Ideal, das er doch offensichtlich mit einer besseren gesellschaftlichen Ordnung identifizierte, in ein schier unerreichbares Jenseits versetzen? Hätte er dessen Spuren nicht sehr viel deutlicher als Hölderlin bereits im Hier und Jetzt erkennen müssen? Warum die Rückkehr zum metaphysischen Schönheitsbegriff Edgar Allan Poes, der als überzeugter Tory und Verächter des "Pöbels" tatsächlich keinerlei Veranlassung gehabt hatte, dem Glauben seiner demokratischen Zeitgenossen Emerson und Thoreau an das Gute im Menschen und in der Natur beizupflichten? 

Der springende Punkt ist, dass Sterling sich zwar auf moralischer und intellektueller Ebene mit dem Sozialismus identifizierte, ihm jedoch im tiefsten Inneren emotional fern stand. Eben dies aber ist für den Künstler von alles entscheidender Bedeutung. Bei Hölderlin existierte eine innige Verwandtschaft zwischen seinen intimsten Empfindungen und dem gesellschaftlichen Drama seiner Zeit. Seine persönliche Tragödie schien eins zu sein mit der historischen Tragödie der bürgerlichen Revolution. War es nicht dieselbe fette Bourgeoisie, die ihm seine über alles geliebte "Diotima" Susette Gontard genommen, und die in Frankreich die Revolution ihres Heroismus beraubt hatte? War es nicht derselbe kleinbürgerliche deutsche Morast, der die von Männern wie Andreas Joseph Hofmann, Georg Forster, Felix Anton Blau oder Eulogius Schneider verkündete Freiheit erstickt hatte, und der ihn dazu verurteilte, unter dem pompösen Titel "Hofmeister" in "aufgeklärten" Kaufmannsfamilien um eine Hauslehrerstelle zu betteln? (17) So wurde Hölderlin ein wirklich revolutionärer Dichter, auch wenn er kein einziges Mal das Wort Revolution in den Mund nahm. Sterling hingegen war nie ein echt sozialistischer Dichter, trotz seiner gelegentlichen Reimereien über Mammons Despotie. 

Der Sozialismus basiert auf der modernen Industriegesellschaft. Er ist beileibe nicht identisch mit einer Technokratie, aber ohne die Maschine ist eine klassenlose Gesellschaft nun einmal nicht denkbar. Sterling jedoch setzte die Industrialisierung mit dem nackten Nützlichkeits- und Gewinnstreben gleich, das er am Amerika des beginnenden 20. Jahrhunderts zu recht verabscheute. Mit anderen Worten, er verwechselte den technischen Fortschritt mit der gesellschaftlichen Ordnung, unter der sich dieser vollzog. Ein Fehler, der auch heute noch vielen unterläuft. Der Nährboden, dem tatsächlich eine bessere Welt entwachsen könnte, schien ihm verpestetes Ödland zu sein. Von ihm wandte er sich erschaudernd ab. Sein Utopia fand er stattdessen in den grünen Wäldern von Carmel. Doch diese konnten nie mehr sein als ein Refugium für eine Handvoll zivilisationsmüder Intellektueller: In der Tat eine Art "Insel der Seligen", während die übrige Menschheit auch weiterhin in den kapitalistischen Tartarus verbannt blieb. Von dort führte kein Weg zu einer gesellschaftlichen Umwälzung, ist es doch nicht möglich, die ganze Welt in eine Bohème zu verwandeln.
Trotz seines ehrlichen Bekenntnisses zum Sozialismus stand Sterling also der realen historischen Entwicklung innerlich ferner als der deutsche Dichter. Besonders deutlich wird dies, wenn man sich sein Ideal der Antike betrachtet. Wenn Hölderlin seine Hymnen auf das alte Hellas anstimmte, so feierte er die Polis als strahlendes Vorbild für eine Gemeinschaft freier und stolzer Menschen. Athen war ihm die Mutter der Demokratie, „wo der brüderlichen Freude Ruf/ aus der lärmenden Agora schallte“ (18) In den Helden von Marathon und Salamis verherrlichte er den Triumph des Volkes über die (persische) Königsmacht. Wenn er eine Wiedergeburt der Antike herbeisehnte, so hatte er dabei eine auf Gleichheit und Brüderlichkeit basierende politische Ordnung vor Augen. Wie es sein Empedokles den Akrigentern verkündet:

[D]ann reicht die Hände
Euch wieder, gebt das Wort und teilt das Gut,
O dann, ihr Lieben! Teilet Tat und Ruhm
Wie treue Dioskuren: jeder sei
Wie alle, wie auf schlanken Säulen ruh’
Auf richt’gen Ordnungen das neue Leben,
Und euern Bund befest’ge das Gesetz. (19)

Wie anders Sterling! Bei ihm verkörperte die Antike nicht ein gesellschaftliches, sondern ein individuelles Ideal. Wenn er sich hellenischen Träumen hingab, so schwebte ihm dabei nicht die Polis Athen, sondern das Schäferparadies Arkadien vor, nicht eine gerechtere Ordnung der Gesellschaft, sondern die völlige Abkehr von ihr. Auf zugegeben recht charmante Weise findet sich das in The Faun ausgedrückt. 
Das Gedicht ist aus der Sicht eines Satyrs verfasst, der es sich in der prallen Mittagssonne auf einer Waldlichtung bequem gemacht hat.
 
Now in the noontide peace I lie
Where waving grass is green,
With bosom open to the sky
And not a cloud between;

Der Bocksbeinige beobachtet das emsige Treiben der Ameisen und bittet Zeus inständig, ihm niemals den Fleiß dieses Insektenvolkes zu verleihen. Und auch die Menschen erscheinen ihm nicht eben beneidenswert.
 
From yonder hill I spy on man
And marvel at his need,
Who fashions, in a season's span,
A thousand fanes to Greed;
Perchance from each, his worship done,
He ventures forth repaid,
But grant thou me the spendthrift sun 
And berries of the glade. 
  
Als dann auch noch Caesar Triumphwagen an der Lichtung des Fauns vorbeirumpelt, kann er nur mitleidig den Kopf schütteln. All dieses Streben nach Macht und Reichtum, was bringt es schlussendlich ein außer Mühe und Sorgen? Ist es da nicht viel besser, wie er jedweden Ehrgeiz über Bord zu werfen und das Leben einfach bloß in vollen Zügen zu genießen, ohne an das Morgen zu denken?
 
A golden house let Caesar build,
To hold his ghosts and gods –
For me the summer eves are stilled,
For me the flower nods.

Natürlich wendet sich Sterling hier in erster Linie gegen die bürgerliche Ethik von Gewinnstreben und "Erfolg", denen alles übrige geopfert werden müsse. Und wer wollte ihm da widersprechen? Auch Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue proklamierte ja das "Recht auf Faulheit". (20)
Aber ist dieser Faun, der eine nie enden wollende Siesta genießt, ab und und an mit einer Nymphe herumschmust und völlig unbeteiligt die Mühen der Menschen und das triumphale Gehabe der Mächtigen betrachtet, nicht auch ein letztlich wenig schmeichelhaftes Porträt der "Carmel Crowd", die sich an Montereys Küste mit Wein und Abalonen vergnügte, während sich um sie herum eine gesellschaftliche Entwicklung vollzog, die schon bald in das blutige Grauen des Weltkriegs und in die heftigen Klassenkämpfe der Nachkriegsjahre münden sollte? Und es ist ja nicht so, als ob sie nicht gewarnt worden wären. Hatte Jack London nicht 1908 sein prophetisches Buch The Iron Heel vorgelegt? Sie brauchten bloß aufzuschlagen und zu lesen.
Doch wir wollen fair bleiben. Was auch immer man an ihm kritisieren mag, Sterling legte nie den krassen Egoismus an den Tag, der so viele heutige Anhänger der "Selbstverwirklichung" auszeichnet, wenn sie sich in ihre Privatparadiese zurückziehen. Es mangelte ihm nicht an Anteilnahme für seine Mitmenschen. Eben daraus entsprang ja der tragische Widerspruch seines Lebens. Er wollte zum Wohle der Menschheit beitragen, doch zugleich zog es ihn zu dem verantwortungslosen Dasein des Carmel-Fauns. Damit bugsierte er sich selbst in die Position eines ewigen Außenseiters. Und er spürte das. So lässt er seinen Satyr erklären:
 
I and my kin shall pass ere long,
And ants shall ever be; (21)

Jetzt verstehen wir vielleicht besser, warum sich das Ideal bei Sterling in unirdische Höhen verflüchtigt. Grund hierfür war die eigentümliche Position des Dichters zwischen Bohème und Sozialismus. Erstere rückte die Idee des Schönen in himmlische Sphären, letzterer zerrte sie wieder zurück und bemühte sich, eine Verbindung zwischen ihr und der irdischen Realität herzustellen.

Dieses Dilemma – und weniger die wissenschaftlichen Fortschritte der letzten hundert Jahre – machten es Sterling unmöglich, im Stile Hölderlins die wahre Schönheit mit der Natur in eins zu setzen. Mit Rousseau war’s endgültig aus. Dies führte aber nicht zu einem kühlen, objektiven Blick auf die Natur. Diese blieb vielmehr auch weiterhin verbunden mit der Idee des Schönen, doch war sie jetzt nur noch deren blasser Widerschein. Ihr Anblick stärkte Sterling nicht im Glauben an eine künftige Verwirklichung des Ideals in der menschlichen Gesellschaft, wie dies bei Hölderlin der Fall gewesen war, sondern weckte nur noch eine melancholische, hoffnungslose Sehnsucht. Am eindrucksvollsten geschieht dies in An Altar of the West, einem langen Gedicht, das Point Lobos, einer Landzunge am Südende der Bucht von Carmel, gewidmet ist:

Beauty, what dost thou here?
Why hauntest thou this empery of pain
Where men in vain
Long for another sphere?
[...]
All that man's yearning finds beyond its reach
Thou hast in promise, giving to his heart
A rapturous sadness all too wild for speech, —
A glory past the thresholds of his art,
Tho Nature tell it with the wind
And beckon him to find.[...]
Beauty, what dost thou here?
Why hauntest thou the House where Death is lord
And o'er thy crown appear
The inexorable shadow and the sword?
                                    Art not a mad mirage above a grave?
The foam foredriven of a perished wave?
A clarion afar?
A lily on the waters of despond?
A ray that leaping from our whitest star
Shows but the night beyond?
And yet thou seemest more than all the rest
That eye and ear attest —
A watch-tower on the mountains whence we see
On future skies
The rose of dawn to be;
The altar of an undiscovered shore;
A dim assurance and a proud surmise;
A gleam
Upon the bubble, Time;
The vision, fleet, sublime.
Of sorrowed man, the brute that dared to dream.
Ah! those, and more!
Made veritable tho the heart descry
No path to thy demesne
And Music builds, unseen.
Her Heaven we shall not enter tho we die.
Still must thou speak,
August and consecrate,
Of that Reality we can but seek,
Tho seeking fail —
That Sun eternal and inviolate.
Whereof thou art the portent and the veil. (22)

Hier finden sich alle wichtigen Elemente in wenigen Versen vereinigt: der immer noch romantisch verklärte Blick auf die Natur, der gebrochene Utopismus und der metaphysische Schönheitsbegriff.

Welche Folgen hatte all dies für Sterlings Dichtung? Ein Weg führte – wie wir bereits gesehen haben – von hier aus zur rauschhaften Sprachmusik der Décadence. Doch der Dichter wollte sich nicht für immer verlieren in den flirrenden Labyrinthen des Wine of Wizardry. Je älter er wurde, desto mehr zog es ihn zurück in menschlichere Gefilde. Doch konnte ein solches Unterfangen überhaupt erfolgreich sein? Sterling glaubte nicht, dass sich wahre Schönheit aus den Gegebenheiten dieser Welt entwickeln könnte. Gleichzeitig sollte die Idee des Schönen der Leitstern seines Lebens und seiner Kunst sein. Es fragt sich dann, welche Substanz eine solche, von allem Irdischen abgelöste Idee haben soll. 
Der große russische Aufklärer Nikolai Tschernischewski definierte in seiner auf Ludwig Feuerbachs materialistischer Philosophie basierenden Ästhetik: „Das Schöne ist das Leben; schön ist das Wesen, in dem wir das Leben so sehen, wie es unseren Begriffen nach sein muß; schön ist der Gegenstand, der in sich das Leben ausdrückt oder uns an das Leben erinnert.“ (23) Ob diese Definition ausreichend ist, sei dahingestellt, auf jedenfall drückte sich in ihr Tschernischewskis Optimismus aus, seine Bejahung des Lebens und damit verbunden sein Glaube an die Fähigkeit des Menschen zur Selbstvervollkommnung. 
Trotz seiner elegischen Grundstimmung gilt dies auch für Hölderlins Platonismus. Nicht so für denjenigen Sterlings. Dieser enthält eine implizite Verneinung des Lebens. Das Schöne ist ihm kein von allem Demoralisierenden und Herabziehenden gereinigter Aspekt der Realität, kein Ausdruck des ungeheuren Potenzials, das dem menschlichen Wesen innewohnt, sondern wird definiert in einem letztlich unüberbrückbaren Gegensatz zur Wirklichkeit. 
Aber wahre Kunst ist stets eine Form der „Erkenntnis des Lebens“, wie es der sowjetische Literaturkritiker Alexander Woronski – einer der vielen brillanten Marxisten, die Stalins politischem Völkermord zum Opfer fielen – ausgedrückt hat. (24) Wie soll eine Poesie, die einem so abstrakten und unirdischen Schönheitsbegriff wie dem Sterlings verpflichtet ist, diese Aufgabe bewältigen können? 
Jack London rief einmal den Kritikern Rudyard Kiplings entgegen, die den englischen Schriftsteller für "vulgär" hielten:

Well, and isn’t life vulgar? Can you divorce the facts of life? Much of good is there, and much of ill; but who may draw aside his garment and say, ‘I am none of them’? Can you say that the part is greater than the whole? that the whole is more or less than the sum of the parts? As for the puddle of life, the stench is offensive to you? Well, and what then? Do you not live in it? Why do you not make it clean? Do you clamor for a filter to make clean only your own particular portion? (25)
  
Hätte er dieselben Fragen nicht auch seinem Freund, dem "Griechen", stellen können? 
Was nicht bedeuten soll, dass Sterling blind für die Schönheiten dieser Welt gewesen wäre. Das genaue Gegenteil war der Fall. Clark Ashton Smith beschrieb seinen Freund und Mentor als einen Charakter „responsive to beauty in every living nerve, whether the beauty was that of an ocean sunset, a line of poetry, a mountain, or a woman's face.“ (26) Doch der Freude an diesen Schönheiten war stets ein Element der Entäuschung beigemischt. Früher oder später mussten sie sich als ungenügend erweisen. Letztenendes verstärkten sie sogar noch das Gefühl des Weltschmerzes, denn sie verdeutlichten die Diskrepanz zwischen Ideal und Realität, waren a ray that leaping from our whitest star/ shows but the night beyond“. Sterlings Freundin Sara Bard Field erwiderte auf die Frage, ob der König der Bohème es wirklich verstanden habe, den Augenblick zu genießen: „I think he did, without it fully satisfying him, because if he had enjoyed the moment fully so that it had been absorbed into a kind of rich tapestry of life, I don’t believe he would have committed suicide, as he did. Underneath all his popularity and his bohemian living there was a sadness in him, a certain dissatisfaction, a certain sense that something was wanting.“ (27)
Das macht es verständlicher, warum die Schönheit in Sterlings Gedichten fast immer mit Schmerz und Trauer verbunden ist. Der Poesie ruft er zu: „What joyance on thy lips divine/ And at thy heart what tears!" (28), die Musik erklingt bei ihm in „ecstasies of grief and joy“ (29), und die Augen der göttlichen Schönheit, die ihm im Traum erscheint, sind „great with griefs unsearchable, and gleamed,/ Sorrow beyond them, like the larger dew/ Of Aidenn, having each Love's perfect star/ Mirrored therein. And with her came the hush/ That follows music dying, or is peace/ About all dead things beautiful.“ (30) Im Ausdruck dieser Melancholie scheint mir Sterlings Lyrik am authentischsten und stärksten zu sein:
 
The fairest things seem ever loneliest:
The whitest lily ever blooms alone,
And purest winds from widest seas are flown.
High on her utmost tower of the West

Sits Beauty, baffling an eternal quest;
From out her gates and oriels unknown
The murmurs of her citadels are blown
To blue horizons of the world's unrest.

We know that we shall seek her till we die,
And find her not at all, the fair and far:
Her pure domain is wider than the sky,

And never night revealed her whitest star;

Beyond the sea and sun her feet have trod;
Her vision is our memory of God. (31)

Übergehen wir für den Moment die religiösen Implikationen der letzten Zeile und konzentrieren wir uns auf den Inhalt der ersten: „The fairest things seem ever loneliest“. Den tiefsten Grund von Sterlings Wesen bildete ein Gefühl großer Einsamkeit, und ein Gutteil seines Lebens verbrachte er mit verzweifelten Versuchen, diese Isolation zu überwinden. So scheint er stets jemanden gebraucht zu haben, dem er sich anschließen konnte – erst Ambrose Bierce, dann für kurze Zeit Herman Whitaker und schließlich Jack London. „He was one of the kind of people who, when they become friends, are all-absorbing“, erinnert sich Elsie Martinez. (32)
Doch so sehr er sich auch an seine Freunde klammerte, sie konnten ihn nicht von seiner Melancholie erlösen. Die glücklichste Zeit seines Lebens waren sicher die Piedmont-Tage. Danach verstärkten eine Reihe von Ereignissen das Gefühl der Verlassenheit immer mehr. Nach der Übersiedelung nach Carmel lockerte sich der zuvor so enge Kontakt zu London. Der Freund besuchte nur ein einziges Mal die Künstlerkolonie. In einem Brief vom 14. Oktober 1913 redete Sterling seinen "Wolf" halb vorwurfsvoll, halb ironisch mit „Beloved Man-with-no-time-to-visit-Carmel-but-with-two months-to-go-cruising in! (I don't blame you)“ an. Schon im März hatte er bekannt: „I know I don't deserve you, Wolf. But in a way I am glad that I'm one of the illusions you still elect to fall for.“ (33) Im selben Jahr brach Ambrose Bierce aus nicht ganz geklärten Gründen plötzlich mit seinem einstigen Protégé, bevor er auf Nimmerwiedersehen in den Wirren der Mexikanischen Revolution verschwand. Und als wäre dies noch noch nicht genug, war 1913 auch das Jahr, in dem Sterlings Frau Carrie sich von ihm scheiden ließ, nachdem die Beziehung bereits seit Jahren durch die zahllosen Affären des Dichters schwer belastet worden war.
Aber solche biographischen Fakten tragen nur wenig zum Verständnis eines Gefühles bei, das von Anfang an ein fester Bestandteil von Sterlings Wesen war, und das seinen wohl anrührendsten Ausdruck in dem Gedicht In Autum gefunden hat:
 
Mine eyes fill, and I know not why at all.
Lies there a country not of time and space
Some fair and irrecoverable place
I roamed ere birth and cannot now recall?
A land where petals fall
On paths that I shall nevermore retrace?
Something is lacking from the wistful bow’rs,
And I have lost that which I never had.
The sea cries, and the heavens and sea are sad,
And Love goes desolate, yet is not ours.
Brown Earth alone is glad,
Robing her breast with fallen leaves and flow’rs
High memories stir; the spirit’s feet are slow,
In nameless fields where tears alone are fruit.
And voices of the wind alone transmute
The music that I lost so long ago.
I stand irresolute,
Lonely for some one I shall never know. (34)

Noch nach vielen Jahren erinnerte sich Charmian London genau daran, wie tief erschüttert sie und Jack nach der ersten Lektüre dieses Gedichtes waren. Und man kann ihre Reaktion sehr gut nachvollziehen. Vor allem die Schlusszeile besitzt in ihrer grenzenlosen Verzweifelung eine geradezu gespenstische Qualität.

Es ist müßig über die persönlichen Hintergründe von Sterlings offensichtlicher Depressivität zu spekulieren. In der Form, die sie in seinem literarischen Werk annahm, gewann sie allgemeineren Charakter, wurde sie zum extremen Ausdruck eines Lebensgefühls, das großen Teilen der Bohème gemeinsam war. Dieselbe Empfindung lag auch dem zugrunde, was man als Sterlings "Kosmizismus" bezeichnen kann.

Fortsetzung folgt ...


(1) Hölderlins Werk entstand in den Jahren 1786-1801; die letzten vier Jahrzehnte seines Lebens verbrachte er im Zustand geistiger Umnachtung. Um Missverständnissen vorzubeugen: Mein Vergleich soll nicht implizieren, die beiden Dichter ständen künstlerisch auf derselben Rangstufe.
(2) Friedrich Engels: Deutsche Zustände. In: Marx/Engels: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. S. 36.
(3) Friedrich Hölderlin: Hyperion. In: Das Meisterwerk. Bd. 2: Hyperion/Empedokles. S. 227.
(4) Brief an Ludwig Neuffer vom November 1794. In: Hermann Hesse & Karl Isenberg (Hg.): Hölderlin. Dokumente seines Lebens. Briefe - Tagebuchblätter - Aufzeichnungen. S. 49.
(5) Brief an C. U. Bühlendorf vom 4. Dezember 1801. In: Ebd. S. 197.
(6) Friedrich Hölderlin: An die Deutschen. V. 45-48. In: Das Meisterwerk. Bd. 1: Gedichte. S. 265.
(7) Babeuf war das Haupt der kommunistischen "Verschwörung der Gleichen", die 1796 das Direktorium zu stürzen versuchte.
(8) Friedrich Hölderlin: Der Tod des Empedokles. In: Das Meisterwerk. Bd. 2. Hyperion/Empedokles. S. 303.
(9) Friedrich Hölderlin: Thalia-Fragment des Hyperion. In: Das Meisterwerk. Bd. 2. Hyperion/Empedokles. S. 7.
(10) Friedrich Schiller: Die Götter Griechenlands (2. Fassung). In: Ders.: Gedichte. S. 124.
(11) George Sterling: Poe’s Gravestone. In: Ders.: Sails and Mirage and Other Poems. S. 66.
(12) Edgar Allan Poe: The Poetic Principle. In: Ders.: The Fall of the House of Usher and Other Writings. S. 504f.
(13) John Keats: Ode on a Grecian Urn. Z. 8. In: Werke und Briefe. S. 138.
(14) George Sterling: Ascension. In: Ders.: Beyond the Breakers and Other Poems. S. 49f.
(15) George Sterling: Yosemite.
(16) Friedrich Hölderlin: Der Tod des Empedokles. In: Das Meisterwerk. Bd. 2. Hyperion/Empedokles. S. 308f.
(17) Peter Weiss hat diese doppelte Tragödie in seinem Drama Hölderlin darzustellen versucht; leider nur mit sehr mäßigem Erfolg. Hofmann, Forster und Blau waren die führenden Köpfe der Mainzer Republik, der aus Franken stammende Schneider zählte zu den prominentesten Führern der Straßburger Sansculotten.
(18) Friedrich Hölderlin: Griechenland. Z. 6f. In: Das Meisterwerk. Bd. 1: Gedichte. S. 199. Fast die gleiche Formulierung findet sich auch in Der Archipelagus.
(19) Friedrich Hölderlin: Der Tod des Empedokles. In: Das Meisterwerk. Bd. 2: Hyperion/Empedokles. S. 306.
(20) Vgl. Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit. 
(21) George Sterling: The Faun. In: Ders.: The House of Orchids and Other Poems. S. 77ff.
(22) George Sterling: An Altar of the West. In: Ders.: The House of Orchids and Other Poems. S. 64f.; 74f.
(23) Nikolai Tschernischewski: Die ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit. In: Meister der Kritik. Belinski - Dobroljubow - Tschernischewski. S. 244.
(24) Alexander Woronski: Die Kunst als Erkenntnis des Lebens und die Gegenwart. In: Ders.: Die Kunst, die Welt zu sehen. S. 122.
(25) Jack London: These Bones Shall Rise Again. In: Ders.: Revolution and Other Essays. S. 230.
(26) Clark Ashton Smith: George Sterling: Poet and Friend. In: David E. Schultz & S.T. Joshi (Hg.): The Shadow of the Unattained. S. 299.
(27) Zit. nach: Amelia R. Fry: Sara Bard Field - Poet and Suffragist. S. 446f.
(28) George Sterling: Poesy. In: Ders.: The Testimony of the Suns and Other Poems. S. 25.
(29) George Sterling: The City of Music. In: Ders.: The Testimony of the Suns and Other Poems. S. 30.
(30) George Sterling: The Spirit of Beauty.In: Ders.: The Testimony of the Suns and Other Poems. S. 110.
(31) George Sterling: Beauty. In: Ders.: A Wine of Wizardry and Other Poems. S. 66.
(32) Elsie Whitaker Martinez: San Francisco Bay Area Writers and Artists. S. 159.
(33) Zit. nach: Peter Kratzke: The Man Who Would Have It All: George Sterling and the American Dream.
(34) George Sterling: In Autum. In: Ders.: The Caged Eagle and Other Poems. S. 40f.

Samstag, 23. April 2016

Prince & Phouka

Ich bin ganz sicher nicht die richtige Person, um dem Genie des vorgestern im viel zu jungen Alter von siebenundfünfzig Jahren verstorbenen Prince Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, deshalb werde ich das auch gar nicht erst versuchen. Stattdessen möchte ich bloß auf eine kleine Anekdote hinweisen, die Freunde & Freundinnen des Phantastischen vielleicht ganz interessant finden könnten.
Neben allem anderen, was Prince uns an Wundervollem geschenkt hat, spielte der Künstler auch {freilich ohne es zu wissen} eine nicht ganz unwichtige Rolle bei der Geburt der Urban Fantasy. War er doch die Inspiration für die Figur des Phouka in Emma Bulls 1987 erschienenem Roman War for the Oaks, der als das vielleicht wichtigste Gründungswerk des Subgenres gelten darf.
Bei meiner ersten Lektüre des Buches war mir das allerdings gar nicht bewusst geworden, doch als mich die wunderbare Athena Andreadis im letzten Jahr darüber aufklärte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Warum war ich da nicht schon viel früher drauf gekommen? Schon allein der Umstand, dass War for the Oaks u.a. ein Roman über Musik und Minneapolis ist, hätte mir eigentlich als deutlicher Hinweis dienen sollen.
Unglücklicherweise ist mir mein Exemplar des Buches vor einigen Jahren abhanden gekommen, so dass ich im Moment nicht in der Lage bin, spontan einmal wieder die Geschichte von Eddi McCandry, dem Phouka und dem Kampf zwischen dem Seelie und dem Unseelie Court zu besuchen. Ich sollte mir wirklich eine neue Ausgabe besorgen, denn War for the Oaks ist ein großartiger Roman. {Auch wenn jüngere Leser & Leserinnen Emma Bulls Leistung oft nicht recht zu würdigen verstehen, wurde sie in den letzten drei Jahrzehnten doch unzählige Male kopiert}.
Wie dem auch sei. Zum Abschluss nun Why Should I Love You -- eine Kooperation von Kate Bush und Prince. Erschien mir irgendwie angemessen ...


Strandgut der Woche

Dienstag, 19. April 2016

Ein Reisebericht aus den Vier Ländern - Teil 1

Terry Brooks has often been disparaged for imitating Tolkien, particularly by those reviewers who find his books inferior to Tolkien’s own. I can say only that I wish there were more imitators we need them and that all imitations of so great an original must necessarily be inferior.
So schreibt Gene Wolfe in seinem Tolkien gewidmeten Essay The Best Introduction to the Mountains.*

Nun ist Wolfe bekanntlich nicht nur ein großer Schriftsteller, sondern auch ein erzkonservativer Katholik, weshalb es nicht verwundert, dass ein Gutteil seines Essays der Vision einer idealisierten Feudalgesellschaft gewidmet ist, welche der Verfasser ganz wie Tolkien selbst der verdorbenen Moderne entgegenstellt. Der Anfang des Textes lautet:
There is one very real sense in which the Dark Ages were the brightest of times, and it is this: that they were times of defined and definite duties and freedoms. The king might rule badly, but everyone agreed as to what good rule was. Not only every earl and baron but every carl and churl knew what an ideal king would say and do. The peasant might behave badly; but the peasant did not expect praise for it, even his own praise.   
Er schließt mit folgendem Absatz:
We might have a society in which the laws were few and just, simple, permanent, and familiar to everyone — a society in which everyone stood shoulder-to-shoulder because everyone lived by the same changeless rules, and everyone knew what those rules were. When we had it, we would also have a society in which the lack of wealth was not reason for resentment but a spur to ambition, and in which wealth was not a cause for self-indulgence but a call to service. We had it once, and some time in this third millennium we shall have it again; and if we forget to thank John Ronald Reuel Tolkien for it when we get it, we will already have begun the slow and not always unpleasant return to Mordor. Freedom, love of neighbour, and personal responsibility are steep slopes; he could not climb them for us — we must do that ourselves. But he has shown us the road and the reward.
Ich habe nicht vor, mich an dieser Stelle mit Tolkiens feudaler Romantik zu beschäftigen -- das habe ich vor Zeiten schon einmal in einer Reihe von Posts getan (hier, hier, hier, hier & hier). Ebensowenig will ich mich mit Gene Wolfes politischer Philosophie auseinandersetzen. Mich interessiert für den Moment nur die oben zitierte Bemerkung über Terry Brooks. Wolfe begrüßt es, wenn andere Schriftsteller dem Vorbild Tolkiens nacheifern. Doch wie der Essay deutlich macht, sind seine Gründe dafür in erster Linie ideologischer, nicht ästhetischer Natur. Es stellt sich darum die Frage, ob seine "Verteidigung" von Brooks in dieser Hinsicht überhaupt ein einigermaßen stabiles Fundament besitzt. Mit anderen Worten: Können wir aus dem Umstand, dass Brooks in The Sword of Shannara zahlreiche Plotelemente und Figuren aus dem Lord of the Rings mehr oder weniger offen kopiert, automatisch den Schluss ziehen, dass sein Roman ein ähnliches Weltbild zum Ausdruck bringt wie Tolkiens Werk?

Wie ich vor einigen Wochen hier berichtete, habe ich kürzlich nach beinah dreißig Jahren einmal wieder die deutsche Übersetzung von The Wishsong of Shannara gelesen. Die Gründe dafür sind mir immer noch nicht ganz klar, aber es sollte noch merkwürdiger kommen: Kaum hatte ich die Abenteuer von Brin, Jair und Rone beendet, da wanderte auch schon der abgegriffene Goldmann-Band mit Tony Westermeyers Übersetzung von The Sword of Shannara auf meinen Nachttisch. 
Inzwischen bin ich auf Seite 152 angekommen. Keine Ahnung, ob meine eigentümliche Faszination für Terry Brooks lange genug anhalten wird, um mich durch die restlichen vierhundert Seiten zu tragen. Ein wirkliches Lesevergnügen ist das Ganze nämlich nicht. Darum habe ich beschlossen, meine Gedanken über das Gelesene in einer kleinen Reihe von Blogposts darzulegen, und nicht abzuwarten, bis ich den Schmöker ganz durchgeackert habe. Ich hoffe, im Zuge dessen auch eine Antwort auf die oben von mir selbst gestellte Frage geben zu können.

Hier meine ersten, grob skizzierten Eindrücke:
(1) Die Art, in der Terry Brooks in seinem Erstling die Expositionen handhabt, ist wirklich erschreckend mies. Es gehört zu den Klischees der High Fantasy, dass Bücher dieses Genres mindestens ein paar Kapitel besitzen müssen, in denen auf Dutzenden von Seiten die langwierige Hintergrundsgeschichte der aktuellen Ereignisse und die Historie der Sekundärwelt als solcher dargelegt werden. In The Lord of the Rings waren das vor allem The Shadow of the Past und The Council of Elrond. The Sword of Shannara besitzt zwei vergleichbare Passagen, in denen der Druide Allanon einmal in Shady Vale (der Heimat unseres Helden Shea) und dann in der Zwergensiedlung Culhaven lange Reden über die Geschichte der Welt, die vergangenen Kriege gegen den Dämonen-Lord und das sagenumwobene Schwert von Shannara hält. Doch während die entsprechenden Kapitel bei Tolkien durchtränkt sind von der reichen Historie und Mythologie Mittelerdes und wie der erste verführerische Einblick in eine gewaltige und poetische Welt wirken, erinnern Brooks' Expositionen in ihrer inhaltlichen und sprachlichen Dürftigkeit an die Infos für den DM aus einem alten D&D - Modul.
(2) Wie nicht anders zu erwarten, sind die Ähnlichkeiten zum Lord of the Rings leicht auszumachen: Shady Vale = The Shire/Das Auenland; Allanon = Gandalf; Shea = Frodo; Flick = Sam; der Dämonen-Lord = Sauron; das Schädelreich = Mordor; die Schädelträger = die Nazgûl; Culhaven = Rivendell; Balinor = Aragorn; Durin & Dayel = Legolas; Höndel = Gimli. Und das tentaklelbewehrte Nebelgespenst weckt natürlich Assoziationen zu Tolkiens "Watcher in the Water" am Westtor von Moria. Auch was den Plot angeht, bleibt die Story sehr eng ihrem Vorbild verhaftet. Verfolgt von den Schädelträgern müssen sich Shea und Flick alleine nach Culhaven durchschlagen, wo dann eine Art Rat abgehalten und eine "Heldengruppe" zusammengestellt wird, mit der sie weiterziehen.
(3) Auch wenn Culhaven in gewisser Weise die Rolle von Imladris übernimmt, haftet dem Ort doch nichts von der Magie des "Letzten Heimeligen Hauses östlich der See" an. Wie auch, besitzt Brooks' Welt doch nichts von der historisch-mythischen Tiefe und der Poesie Mittelerdes.
(4) Auf einige interessante Ideen bin ich allerdings trotzdem gestoßen:
  • Die Menschen {und damit auch Shea} betrachten sich selbst als die "ewigen Opfer" der Geschichte, die von den anderen Rassen in der Vergangenheit stets verfolgt und unterdrückt wurden. Ein Selbstverständnis, dass durch Allanons Enthüllungen gründlich in Frage gestellt wird. In Wahrheit waren sie die fanatischsten Anhänger des Dämonen-Lords, als dieser vor Jahrhunderten zum ersten Mal Tod und Vernichtung über die Vier Länder bringen wollte. Ob Brooks in der Folge noch einmal auf dieses eigentlich ganz spannende Motiv zurückkommen wird? Ich fürchte eher ncht ...
  • Es dürfte allgemein bekannt sein, dass die Shannara-Stories in einer postapokalyptischen Zukunft angesiedelt sind. Wie innovativ dieses Setting innerhalb der Fantasyliteratur der Zeit war, kann ich nicht wirklich beurteilen. Zumindest Fred Saberhagen hatte etwas ähnliches bereits in seiner Empire of the East - Serie getan, die er 1983/84 mit den Books of Swords fortsetzen würde. In The Sword of Shannara ist das Motiv -- abgesehen von Allanons Monologen über die Großen (Atom)Kriege -- bislang nur zweimal kurz aufgetaucht. Die Wirkung auf mich war dabei recht unterschiedlich. Da hätten wir zum einen den "König vom Silberfluss", eine eigentlich eher mythisch-märchenhafte Gestalt, die aber ganz offensichtlich mit einer Taschenlampe herumhantiert: "Das seltsame Licht in seiner Hand wirkte aus der Nähe grell, und in der Mitte konnte man keine Flamme erkennen. Plötzlich verschwand es, und stattdessen umklammerte die knorrige Hand des alten Mannes einen zylindrischen Gegenstand. [...] 'Das Licht', sagte Shea stockend. 'Wie ...?' 'Ein Spielzeug von Leuten, die lange tot und verschwunden sind'" (S. 92). Das fand ich ehrlich gesagt eher lächerlich. Zumindest potentiell etwas spannender ist da schon die Szene, in der unsere Heldengruppe auf die Ruinen einer "modernen" Stadt stößt: "Nach kurzer Zeit entdeckte die Gruppe ein ungewöhnliches Gefüge, das sich wie ein riesiger Rahmenbau aus dem Wald erhob. Es schien Teil des Waldes selbst zu sein, wenn man von der geometrischen Ausrichtung der Glieder absah, und nach Augenblicken waren sie nahe genug herangekommen, um eine Reihe von Riesentragbalken zu erkennen, bedeckt mit Rost, quadratische Ausschnitte des Himmels einrahmend." (S. 146f.) Könnten diese Ruinen der Grund dafür sein, dass über dem Wolfsktaag-Gebirge für Gnomen wie Zwerge ein Tabu liegt? Für einen Moment musste ich an die "Forbidden Zone" aus Planet of the Apes denken. Leider zerstörte der Auftritt eines leibhaftigen Cyborg-Monsters schon wenig später die leicht beklemmende Atmosphäre, die sich gerade einstellen wollte. 
  • Das Beste zum Schluss: Terry Brooks liefert uns eine wirklich clevere und innovative Begründung für Sheas Auserwähltenrolle. Warum kann nur er als letzter lebender Nachfahr der elfischen Königsdynastie Shannara das sagenumwobene Schwert einsetzen, um den Dämonen-Lord ein für alle Mal zu vernichten? Die Antwort ist für einen generischen High Fantasy - Roman ziemlich überraschend: Shea ist nicht deshalb "der Auserwählte", weil er von Schicksal oder Vorsehung dazu ausersehen worden wäre oder das Blut der königlichen Familie tatsächlich irgendeine mystische Qualität besitzen würde. Der Grund liegt vielmehr in der Tendenz der Menschen, Mythen zu erschaffen und diese schließlich für Wahrheit zu halten: "Als Brimen Jerle Shannara das Schwert gab, beging er den Fehler, es direkt einem König und einem Königshaus zu übergeben - er übergab es nicht dem Volk. Daraus erwuchs durch menschliches Missverständnis und historische Fehlbeurteilung der allgemeine Glaube, dass das Schwert allein die Waffe des Elfenkönigs sei, und nur jene, die von ihm abstammten, das Schwert gegen den Dämonen-Lord erheben konnten. So kommt es, dass jetzt, wenn es nicht von einem Sohn des Hauses Shannara ergriffen wird, die Person nie ganz an ihr Recht glauben kann, es zu gebrauchen." (S. 125) Das ist ein wirklich spannender Gedanke: Der von Menschen geschaffene Mythos hat ein Eigenleben gewonnen und ist zu einer realen Macht geworden, obwohl er auf einem Missverständnis beruht. Dieses Motiv bildet auch einen ersten deutlichen Hinweis darauf, dass The Sword of Shannara bei aller formalen Abhängigkeit im Geiste vermutlich kein Zwillingsbruder von The Lord of the Rings ist.   
Teil 2 * Teil 3 * Teil 4 * Teil 5 

* Die einzige im Netz verfügbare Fassung des Essays, die ich habe finden können, befindet sich leider auf der Website des ebenso unnachahmlichen wie unerträglichen John C. Wright.