Der vierte Teil meiner ausufernden Schreibereien über Leben und Werk von Clark Ashton Smith. Und wieder kommt unser eigentlicher Held nicht in ihnen vor. Na ja, vielleicht findet es dennoch irgendwer da draußen ganz interessant. Ehrlich gesagt bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich das Ganze überhaupt weiter fortsetzen soll. Irgendwann ist sowieso der Punkt erreicht, an dem mein altes Manuskript abbricht, und dann?
Kapitel 3: Ein amerikanisches Fin-de-siècle
Spätgeborene & Nietzscheaner
In seinem Roman The
Valley of the Moon erzählt Jack London die Geschichte des
Arbeiterehepaares Billy und Saxon, das nach einer Reihe
niederschmetternder und demoralisierender Erlebnisse, u.a. den
brutalen Auseinandersetzungen während eines großen Streiks in
Oakland, beschließt, San Francisco den Rücken zu kehren und aufs
Land hinauszuziehen, um irgendwo eine eigene Farm aufzubauen. Während
ihrer Wanderung durch Kalifornien gelangen sie auch nach
Carmel-by-the-Sea, wo sie sich mit dem nach George Sterlings Vorbild
gezeichneten Dichter Mark Hall anfreunden und ein halbes Jahr im
Kreis der Bohèmiens verbringen.
Das Buch gehört ganz sicher nicht
zu Londons Meisterwerken, enthält aber ein recht interessantes
Porträt der Künstlerkolonie von Carmel. Es herrscht eine
Atmosphäre von Ausgelassenheit und Lebensfreude, in die sich
manchmal ein Schuss Infantilismus mischt. Man liebt die Natur, das
Meer, körperliche Ertüchtigung, die Jagd, kleine athletische
Wettbewerbe, den Wein und die Abalonen. Klassenunterschiede spielen
für die Gemeinschaft keine Rolle, die "respektablen" Spießbürger
von Monterey verachtet man. Aber hinter all dem munteren Treiben ist
immer wieder ein Gefühl von Orientierungslosigkeit und tiefer
Verzweifelung zu spüren, das sich ab und an in bitterem Zynismus
Ausdruck verleiht. Die energische und stets optimistische Saxon ist
verwirrt:
[W]hat she could never comprehend was the pessimism that so often
cropped up. The wild Irish playwright had terrible spells of
depression. Shelley, who wrote vaudeville turns in the concrete cell,
was a chronic pessimist. St. John, a young magazine writer, was an
anarchic disciple of Nietzsche. Masson, a painter, held to a doctrine
of eternal recurrence that was petrifying. And Hall, usually so
merry, could outfoot them all when he once got started on the cosmic
pathos of religion and the gibbering anthropomorphisms of those who
loved not to die. At such times Saxon was oppressed by these sad
children of art. It was inconceivable that they, of all people,
should be so forlorn. (1)
Woher kam dieser Zug, von
dem auch London selbst nicht frei war?
Anders als die meisten
künstlerischen Bewegungen der Moderne war die Bohème der Bay Area
nicht aus einer Revolte gegen "die Alten" hervorgegangen.
Vielmehr hatten die größten Vertreter der ersten Generation der
kalifornischen Literatur – Ina Coolbrith, Joaquin Miller, Charles
Warren Stoddard und Ambrose Bierce – alles in ihrer Macht stehende
getan, um die jungen Talente zu fördern, und diese dankten es ihnen
mit rührender Hingabe und Verehrung. Sterling nannte Bierce stets
seinen "Meister", was diesem übrigens eher peinlich war, und
widmete Stoddard die wunderschöne Zeile: „His was the gentlest
soul of all.“ (2) Jack London sprach von
Ina Coolbrith als von der "Göttin meiner Kindheit" und seiner "literarischen Mutter". (3) In all dem drückte sich
nicht nur ein Gefühl
persönlicher Verbundenheit, sondern auch eine künstlerische
Kontinuität aus. Die Fackel war an die junge Generation
weitergegeben worden. Die Bohèmiens von Piedmont und Carmel waren
die legitimen Erben der alten Westküstenromantiker, und es war nicht
bloß Sentimentalität, was "The Hights" zu einem ihrer
Pilgerorte machte. Das soll nicht bedeuten, dass es zu keinen
wichtigen Veränderungen gekommen wäre. Schließlich hatte sich die
amerikanische Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten in vielem
grundlegend gewandelt. Würde die Kunst das nicht auf ihre Art
widerspiegeln, so wäre das in der Tat verwunderlich.
Die rasante ökonomische
Entwicklung, die das Gilded Age gekennzeichnet hatte, gewann gegen
Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Qualität. Die Vereinigten
Staaten waren nun die größte Industriemacht der Welt.
Hunderttausende von Immigranten aus Süd- und Osteuropa strömten
Jahr für Jahr ins Land und sorgten für den nötigen Nachschub an
billigen Arbeitskräften. Der Prozess der Konzentration des Kapitals
beschleunigte sich weiter, die Jahre 1898-1904 bildeten den Höhepunkt
der ersten großen "Verschmelzungswelle", in der die riesigen
Trusts wie Standard Oil, American Tobacco, US Steel oder United Fruit
entstanden waren. Ihre Macht wurde nur noch von der der Großbanken
in den Schatten gestellt, die sich von bescheidenen
Kapitalvermittlern zu Herren über große Teile des
gesellschaftlichen Gesamtkapitals aufgeschwungen hatten. Historiker
Howard Zinn schreibt: „The banks had interests in so many of
these monopolies as to create an interlocking network of powerful
corporation directors, each of whom sat on the boards of many other
corporations. According to a Senate report of the early twentieth
century, Morgan at his peak sat on the board of forty-eight
corporations; Rockefeller, thirty-seven corporations.“
Bereits 1890 hatte die radikale Aktivistin Mary Elizabeth Lease
erklärt: „Wall Street owns the country. It is no longer a
government of the people, by the people, and for the people, but a
government of Wall Street, by Wall Street, and for Wall Street.“ (4) Worte, die bis heute ihre
Gültigkeit nicht verloren haben. Die Weltwirtschaft trat in eine
neue Ära, die des Finanzkapitals, ein, und die USA standen dabei an
vorderster Front.
Die ökonomische Entwicklung führte auch zu
einschneidenden Veränderungen in der Außenpolitik. Mit der Annexion
Hawaiis und dem Spanisch-Amerikanischen Krieg, der zur Unterwerfung
Kubas und zur Eroberung Puerto Ricos und der Philippinen führte,
betraten die USA 1898 die Bühne der Weltpolitik als imperialistische
Großmacht. Zwei Jahre später beteiligten sie sich an der
Niederwerfung des chinesischen Boxeraufstands, bekräftigten in der
Venezuela-Affäre von 1901/02 und der Santo Domingo-Affäre von
1904-07 ihren Anspruch auf die uneingeschränkte Hegemonie über
Lateinamerika und brachten 1902/03 Panama unter ihre Kontrolle, wo
sie den Kanalbau forcierten. 1908 schickte Präsident Theodore
Roosevelt eine Flotte von sechzehn Kriegsschiffen rund um die Welt:
eine eindrucksvolle Demonstration von Washingtons Anspruch, von nun
an mit zu den "großen Spielern" zu gehören.
Allerdings war
Amerikas Aufstieg zur Weltmacht kein simpler Triumphmarsch. Im
Inneren regte sich immer heftigerer Widerstand, nicht nur gegen
Washingtons imperiale Ambitionen – man lese etwa Mark Twains
polemischen Essay To the Person Sitting in Darkness oder seine
ätzende Parodie auf die Battle Hymn of the Republic –,
sondern vor allem gegen die unerträglichen sozialen und politischen
Verhältnisse im Land. Speerspitze und treibende Kraft der Bewegung
waren Sozialisten und radikale Gewerkschaftler, wie die Mitglieder
der IWW (Industrial Workers of the World) – die sog. "Wobblies"
– deren Zahl zwar gering blieb, denen es jedoch immer wieder
gelang, Hunderttausende zu mobilisieren. Und das nicht nur, wenn es
um unmittelbare ökonomische Ziele, sondern auch, wenn es um die
Verteidigung der Redefreiheit oder den Kampf gegen die Kinderarbeit
ging. Militante Streiks wie der hauptsächlich von jüdischen
Näherinnen bestrittene New Yorker "Shirtwaist"-Streik von 1909,
der Streik der Textilarbeiter von Lawrence 1912 oder der Streik der
Bergleute in den Kohlegruben von Colorado 1914 erschütterten in
regelmäßigen Abständen die USA. Die 1901 gegründete
Sozialistische Partei, deren bekanntester Vertreter und mehrfacher
Präsidentschaftskandidat der ehemalige Eisenbahner Eugene Debs war,
konnte in den Jahren bis 1914 ein rasches und stetiges Wachstum
verzeichnen. Daneben formierten sich weitere Protestbewegungen. So
nahm der Kampf der Frauen um das Wahlrecht endgültig einen
Massencharakter an, und mit W.E.B. Du Bois und der NAACP (National
Association for the Advancement of Coloured People) begann sich eine
radikalere Schwarzenbewegung herauszubilden, die sich in bewussten
Gegegensatz stellte zur bisher vorherrschenden, ganz auf Unterordnung
und friedliches Sicheinfügen ausgerichteten Philosophie Booker T.
Washingtons. Selbst liberale Reformer riefen immer lauter nach einer
Beschneidung der Macht der Trusts und nach einer wenigstens
teilweisen Trockenlegung des politischen Sumpfes, vor allem in den
hoffnungslos korrupten Stadtverwaltungen. Es begann die sog. "progressive" Ära.
Die demokratischen und
sozialen Reformen der folgenden Jahre – u.a. die progressive
Einkommenssteuer, die Direktwahl der Senatoren, einige
Anti-Trust-Gesetze und schließlich auch das Frauenwahlrecht –
werden fälschlicherweise oft als das Werk wohlmeinender Liberaler
dargestellt. Tatsächlich trug der "Progressivismus" ein
Janusantlitz. Einerseits war er eine Reaktion auf die "sozialistische
Herausforderung". So schwadronierte Ralph Easley, Leiter der
National Civic Association – eines der zentralen Organe der Reform
–, oft über „the menace of Socialism as evidenced by its
growth in the colleges, churches, news-papers“, und das
‘progressive’ Milwaukee Journal erklärte ganz
offen, die Konservativen „fight socialism blindly ...
while the Progressives fight it intelligently and seek to remedy the
abuses and conditions upon which it thrives.“ (5) Eine typische Vertreterin
der liberalen Reformbewegung war die am 16. 6. 1910 von Akademikern,
Geistlichen beider Konfessionen und Gewerkschaftsfunktionären
gegründete Industrial and Social Justice League: "'Briefly stated, the purpose of the league is to combat socialism,' wrote the New York Times, 'primarily in the churches and the labor unions.' The League declared
it would do so by restoring 'faith in personal initiative as the
mainspring' of all progress and by defending private property and
religion, 'the foundation of civilization.' To meet these ends the
League proposed 'resisting the aggressiveness of private privilege at
the expense of public welfare' and defending 'the working man in his
call for an equitable return on his labor.'" (6) Begrenzte Verbesserungen
sollten also der Gefahr einer radikalen Umwälzung vorbeugen.
Andererseits bedeutete der "Progressivismus" eine
Rationalisierung des politischen Systems, was durchaus den Interessen
der Banken und Trusts entsprach, und die Vereinigten Staaten fit
machte für die Herausforderungen des neuen Jahrhunderts.
Dies war der Hintergrund,
vor dem sich die kalifornische Bohème entwickelte.
Die Frontierzeit, die für
die Generation der "Golden Gate Trinity" von prägender Bedeutung
gewesen war, kannten die Jungen nur noch aus halb legendenhaften
Erzählungen oder den wild ausgeschmückten Anekdoten Joaquin
Millers. Das traf auch auf die zu, die nicht wie George Sterling
ohnehin von der Ostküste stammten. Jack London hatte versucht, den
vermeintlichen Zauber dieser Zeit in Alaska wiederzufinden, aber ein
Jahr unter Goldgräbern zu leben ist nicht das gleiche, wie in einer
Gesellschaft von Pionieren aufgewachsen zu sein. Der abenteuernde
Schriftsteller war kein Forty-niner, was sich schon daran zeigte,
dass er bei seinem Marsch über den Chilcoot-Pass Bücher von Darwin,
Spencer, Nietzsche und Marx mitschleppte.
Dasselbe galt für den
Bürgerkrieg, der in Ambrose Bierce’ Entwicklung eine so wichtige
Rolle gespielt hatte. Die Bohèmiens von Carmel kannten weder die
blutige Realität des Schlachtfeldes, noch die revolutionäre
Aufbruchsstimmung der Lincoln-Ära. George Sterlings heftige
Abneigung gegen Walt Whitmans Leaves of Grass hatte wohl nicht
allein stilistische Gründe. Der Optimismus des großen Bejahenden,
des ekstatischen Rhapsoden einer revolutionären Demokratie war ihm
einfach vollkommen fremd.
Man gehörte zu den
Spätgeborenen, und Sterlings Gedicht To an Elder Poet lässt
erahnen, was dieser Umstand für viele Dichter seiner Generation
bedeutet haben muss:
Now stir the blossoms in the grass;But oh! the fadeless flowers you bringAre children of a wilder Spring,And pass not tho' the seasons pass.Their breath along the Singing-WayIs more of rapture than of rest;The undeparting blooms attestWhat rains and winds of yesterday! (7)
Die unsterbliche Poesie
der Vergangenheit war aus der Auseinandersetzung mit einer rauen
Wirklichkeit hervorgegangen. Doch die Zeit der großen Kämpfe und
Herausforderungen schien vorbei, und man hat das Gefühl, Sterling
bezweifle, ob seine Generation etwas ebenbürtiges werde schaffen
können.
Wenn Autoren wie Mark
Twain oder Bret Harte der Welt der Pioniere und Goldgräber eine
romantische Aura verliehen, so taten sie dies als Menschen, die
selbst noch Teil dieser Welt gewesen waren, sie taten es im Stile der "Tall Tales", der wilden Geschichten, die die Männer jener Tage
sich erzählten, wenn sie im Saloon oder am Lagerfeuer
beieinandersaßen. Der Blick der jungen Generation auf das "heroische
Zeitalter" war ein anderer. In dem Gedicht The Master Mariner
stellt Sterling sich selbst seinem Großvater Wickham Havens
gegenüber, einem neuenglischen Walfänger, der – wie sein Enkel
nicht müde wird zu betonen – die Harpune weiter schleudern konnte,
als jeder andere in der Flotte. „A true man, a taut man,/ With
sea-blue eyes and bright./ Three foot across the shoulders/ And five
foot five in height.“ (8) Neben dem alten Seebären
– Mann des Abenteuers und der fernen Horizonte, dessen Leben ein
täglicher Kampf mit den Elementen war – wirkt der Dichter wie eine
überfeinerte und halb lebensuntüchtige Gestalt – Vertreter einer
dekadenten Generation:
My grandsire
sailed three years from home,
And slew
unmoved the sounding whale:
Here on a
windless beach I roam
And watch far out the hardy sail.
The lions of
the surf that cry
Upon this
lion-coIored shore
On reefs of
midnight met his eye:
He knew their fangs as I their roar.
My grandsire
sailed uncharted seas,
And toll of all
their leagues he took:
I scan the
shallow bays at ease.
And tell their colors in a book.
The
anchor-chains his music made
And wind in
shrouds and running-gear:
The thrush at
dawn beguiles my glade,
And once, 'tis said, I woke to hear.
My grandsire in
his ample fist
The long
harpoon upheld to men:
Behold obedient
to my wrist
A grey gull’s-feather for my pen!
Upon my
grandsire's leathern cheek
Five zones
their bitter bronze had set:
Some day their
hazards I will seek,
I promise me at times. Not yet.
I think my
grandsire now would turn
A mild but
speculative eye
On me, my pen
and its concern,
Then gaze again
to sea – and sigh. (9)
Der aus Nebraska
stammende Schriftsteller John G. Neihardt, der eine zeitlang mit
Sterling korrespondierte, stellte sich allen Ernstes die Aufgabe, die
Ereignisse der Pionierzeit im Stile des klassischen Heldenepos zu
verewigen. The Song of Hugh Glass und The Song of Three
Friends, die er später zu dem fünfteiligen Cycle of the West
erweiterte, sollten für Amerika leisten, was Homer für die
Griechen, Firdousi für die Perser und der Dichter des Mahabharata
für die Inder geleistet hatte. Auf bizarre Weise sagt dieses
Projekt eine Menge über das Verhältnis der Dichter der
Jahrhundertwende zur Vergangenheit ihrer Heimat aus.
Verglichen mit
den Ländern Europas war Amerika natürlich immer noch furchtbar
jung, doch seine "Sturm & Drang" - Zeit war unwiderruflich
zuendegegangen, bevor die meisten von ihnen überhaupt geboren worden
waren. Sie waren Kinder des Gilded Age, etwas anderes hatten sie nie
kennengelernt. Und viele von ihnen hatten offenbar das Gefühl, ihr
Vaterland altere mit geradezu erschreckender Geschwindigkeit. Die
Dynamik der amerikanischen Gesellschaft – und sie war ausgesprochen
dynamisch – schien ihnen kein Zeichen des Lebens, sondern vielmehr
eines rasch fortschreitenden Zerfalls zu sein. Jack London
beschreibt den Eindruck, den die Vertreter der bürgerlichen Elite,
die er in seiner Jugend naiverweise für die Verkörperungen von
Bildung und Edelmut gehalten hatte, auf ihn machten, so: „It is
true, I found many that were clean and noble; but with rare
exceptions, they were not alive. I do verily believe I could count
the exceptions on the fingers of my two hands. Where they were not
alive with rottenness, quick with unclean life, they were merely the
unburied dead clean and noble, like well-preserved mummies, but not
alive.“ (10) Wohl nicht zufällig ist
der unausweichliche Niedergang aller Herrscher und Imperien ein immer
wiederkehrendes Motiv in Sterlings Gedichten. Das bekannteste
Beispiel dafür dürften die Three Sonnets on Oblivion sein,
von denen ich hier das zweite zitieren will:
The Dust Dethroned
Sargon is dust,
Semiramis a clod!
In crypts
profaned the moon at midnight peers;
The owl upon
the Sphinx hoots in her ears,
And scant and sear the desert grasses nod
Where once the
armies of Assyria trod,
With younger
sunlight splendid on the spears;
The lichens
cling the closer with the years,
And seal the eyelids of the weary god.
Where high the
tombs of royal Egypt heave,
The vulture
shadows with arrested wings
The indecipherable boasts of kings,
As Arab
children hear their mother's cry
And leave in
mockery their toy they leave
The skull of
Pharaoh staring at the sky. (11)
In seinem Gedicht Of
America übertrug er diesen Gedanken direkt auf die Gegenwart,
indem er die USA mit den Reichen von Babylon und Ägypten verglich,
deren Niedergang er in der Rolle des verdammenden Propheten so
beschreibt:
[...] Yearly the
golden chain
Is weightier at
thy wrists, and fostered Pow'rs
Plan in their
dusk of tyranny thy tomb;
And in that
shadow Mammon's eyes grow fierce,
And half thy
sons adore him. Now the land
Grows vile, and
all thy statehood is a mart ... (12)
Es ist nicht
verwunderlich und war keineswegs eine bloße Modeerscheinung, dass
Dichter wie Sterling, Herman Scheffauer oder Clark Ashton Smith eine
tiefe innere Verwandtschaft zur europäischen Décadence verspürten.
Persönliche Verbindungen gab es natürlich keine, wenn man von
Xavier Martinez absieht, der in Paris Paul Verlaine Schnäpse
spendiert und Joris-Karl Huysman auf seinem Esel durch die Straßen
reiten gesehen hatte. Aber das Lebensgefühl war ein ähnliches auf
beiden Seiten des Atlantiks. „[A]ufgeregte, überlebendige
Paradoxie einerseits, apathische Mutlosigkeit und Weltverzweifelung
andererseits: das Gefühl des Fertigseins, des Zu-Ende-Gehens
– Fin-de-siècle-Stimmung.“ (13) Nicht wenige der
kalifornischen Künstler empfanden ähnlich wie die österreichische
Essayistin Marie Herzfeld. Sie sahen sich als Menschen einer
Niedergangsepoche.
Natürlich existierte für
sie nicht die schwere Last einer jahrhundertealten Tradition, die die
europäischen Dichter des fin-de-siècle so deutlich spürten. Die
Melancholie Sterlings konnte nicht die Hugos von Hofmannsthal sein,
nicht Schnitzlers Gefühl des „Heimweh[s], während wir doch zu
Hause sind“ (14), ebensowenig wie das
dynamische San Francisco des beginnenden 20. Jahrhunderts der
allmählich in einen lebendigen Todesschlummer versinkenden
Donaumetropole der k.u.k.-Monarchie glich. „Hohe
Gitter, Taxushecken,/ Wappen nimmermehr vergoldet,/ Sphinxe, durch
das Dickicht schimmernd .../ ... Knarrend öffnen sich die Tore. –/
Mit verschlafenen Kaskaden/ und verschlafenen Tritonen./
Rokkoko, verstaubt und lieblich“. (15) Ein vergleichbares
kulturelles Erbe, dem man elegisch nachtrauern und in dessen Zerfall
man zugleich auf morbide Weise schwelgen konnte, gab es hier nicht.
An seine Stelle trat das romantisch verklärte Heldentum der Pioniere
– siehe Neihardt.. Dennoch hatte das Gefühl des "Zu-Ende-Gehens"
auch in Amerika seine Berechtigung.
Die fortschrittliche
Rolle der Bourgeoisie war auch in den Vereinigten Staaten
ausgespielt. Man braucht sich nur die Reihe der moralischen und
intellektuellen Nullen anzuschauen, die nach Abraham Lincolns Tod das
Weiße Haus bevölkerten: Von Andrew Johnson, der den revolutionären
Impetus des Bürgerkriegs abwürgte und mit der bezwungenen
Südstaatenoligarchie zu einer Übereinkunft gelangte, bis hin zu
William McKinley und Teddy Roosevelt, die die USA mit
unvergleichlicher "demokratischer" Heuchelei in die Ära des
Imperialismus führten. Die beste Figur macht noch der alte Haudegen
Ulysses S. Grant, dessen Amtszeit (1869-77) die radikalste Phase der
Reconstruction auf symptomatische Weise mit der wild ins Kraut
schießenden Korruption des Gilded Age verbunden hatte. Irgendwie
passend, dass der ehemalige Oberkommandierende der Nordstaaten völlig
verarmt gestorben war, nachdem er durch die windigen Geschäfte des
Wall Street - Spekulanten Ferdinand Ward um sein gesamtes Vermögen
gebracht worden war.
Der Amerikanische Traum
hatte seinen freiheitlichen Inhalt verloren. Übriggeblieben waren
Selbstsucht und nackte Gier. Für die sensibelsten Vertreter der
jungen Generation waren der naive Optimismus und der selbstgefällige
Glaube an die Ausnahmestellung des "Land of the Free and Home of
the Brave", die bisher das amerikanische Denken dominiert hatten,
zu einer Unmöglichkeit geworden. Doch wie oft in solchen Fällen,
empfanden die meisten Intellektuellen den Niedergang einer bestimmten
Gesellschaftsordnung und ihrer Moral als das Ende der
allgemeinen Weltordnung. Orientierungslosigkeit und Nihilismus
machten sich breit. Eine der Formen, in denen die verunsicherten
Intellektuellen nicht nur in Amerika auf diese Situation reagierten,
war eine maßlose Vergötterung des eigenen Ichs. Das
bügerliche Individuum, das täglich seine reale Machtlosigkeit vor
Augen geführt bekam, blähte sich in der eigenen Phantasie zu
wahrhaft elefantösen Dimensionen auf. Friedrich Nietzsche, der
geniale Verkünder des philosophischen Größenwahns, wurde zum
Propheten der Generation. Er hatte nicht nur das Empfinden des
Fin-de-siècle auf den Punkt gebracht – „Was bedeutet
Nihilismus? – Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das
Ziel; es fehlt die Antwort auf das ‘Warum’" (16) –, sondern scheinbar
auch einen Ausweg aus der Misere gewiesen: „Seht, ich lehre euch
den Übermenschen“. (17) Zarathustras Ruf
erreichte auch Amerikas Küsten. Seinen eloquentesten Herold fand er
in dem berühmten nonkonformistischen Journalisten und Essayisten H.
L. Mencken, der gleichfalls zu Sterlings Freunden zählte und dessen
1907 erschienenes Buch The Philosophy of Friedrich Nietzsche für
das amerikanische Publikum die erste ausführliche und auf wirklichem
Quellenstudium basierende Einführung in das Denken des Philosophen
darstellte. Auch Herman Scheffauer wurde ein Jünger des „lofty
and Luciferian philosopher“ (18) und übertrug einige
seiner Gedichte ins Englische. Und sogar Jack London fand die Gefilde "jenseits von Gut und Böse" eine Zeit lang sehr verführerisch,
gelangte allerdings schon bald zu einer differenzierteren Sicht. Die
kritische Auseinandersetzung mit Nietzsche gehört zu den
interessantesten Aspekten seines Werkes. So schuf er mit "Seewolf"
Larsen das faszinierende Porträt einer proletarischen Version der "Blonden Bestie", und zumindest einer der Gründe für den
Untergang seines alter ego Martin Eden ist dessen
Übermenschenphilosophie. Aber selbst Londons sozialistischer Held
Ernest Everhard in The Iron Heel ist immer noch eine Mischung
aus Big Bill Haywood und Zarathustra. (19)
Rebellen & Revolutionäre
Bei Fin-de-siècle und
Décadence denken wir meist an eine apolitische Bewegung, an
Mallarmés "Streik gegenüber der Gesellschaft", an Huysmans
Helden Des Esseintes und seine Flucht in die ästhetizistische
Scheinwelt von Fontenay-aux-Roses. Oder wir assoziieren damit den
antidemokratischen Aristokratismus eines Gabriele d’Annunzio oder
Stefan George. Doch eine solche Sicht ist zumindest einseitig. Oscar
Wilde schrieb nicht nur The Picture of Dorian Gray, sondern
auch den ebenso humanen wie scharfsinnigen Essay The Soul of Man under Socialism. Arthur Rimbaud schloss sich 1871
voller Begeisterung dem Aufstand der Pariser Kommune an. Sein
Trunkenes Schiff (Le Bateau ivre) enthält eine Reihe von Gedichten, die diesem
epochalen Ereignis gewidmet sind. Und auch der belgische Meister des
symbolistischen Dramas Maurice Maeterlinck bekundete offen seine
Sympathien für den Sozialismus. Ja selbst Mallarmé und Huysmans
gehörten zu den regelmäßigen Lesern des anarchistischen Journals
La Revolte.
Auf ihre kalifornischen
Geschwister trifft die voreilige Identifikation von Ästhetizismus
und Konservatismus erst recht nicht zu. Bereits in der zweiten Hälfte
der 1890er Jahre war es zu einer merklichen Radikalisierung in der
Literaturszene der Bay Area gekommen. Die große Wirtschaftskrise von
1893-96, der Marsch von "Coxeys Armee" der Arbeitslosen nach
Washington und der landesweite Pullman-Streik von 1894 hatten ihre
Wirkung nicht verfehlt. Man begann nicht nur in Arbeiterzirkeln,
sondern auch an Universitäten und in intellektuellen Kreisen nach
Wegen zur Behebung der vielfältigen gesellschaftlichen Missstände
zu suchen. „The representatives of different schools of thought
were organizing and involving themselves in discussions: nationalists
(the followers of the utopist Edward Bellamy), anarchists, populists
(the supporters of the Agrarian Party), and others.“ (20) Auch der Sozialismus
gewann immer mehr Anhänger unter den Intellektuellen der Bay Area.
Auf Anregung Ina Coolbriths gründeten die Sozialisten an der
Öffentlichen Bücherei von Oakland die "Ruskin-Gruppe", einen literarischen
Zirkel, dem sich u.a. Herman Whitaker und Jack London anschlossen,
die beide zu dieser Zeit Anhänger von Daniel De Leons Socialist
Labor Party waren. Doch es sind vor allem zwei andere Namen, die hier
genannt werden müssen: Edwin Markham und Frank Norris. Keiner der
beiden war Sozialist im parteipolitischen Sinne, aber beide
verkörpern auf ganz unterschiedliche Weise die Hinwendung der
kalifornischen Schriftsteller zu einer kritischen Auseinandersetzung
mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Edwin Markham war Lehrer
und unterrichtete seit 1890 an der Tompkins Observation School in
Oakland. Er hatte schon seit 1880 in unregelmäßigen Abständen
Gedichte in Magazinen und Zeitungen veröffentlicht. Nun freundete
er sich mit Stoddard, Joaquin Miller und Ina Coolbrith an, die ihn in
seinen literarischen Ambitionen bestärkten. Auch Ambrose Bierce
gehörte anfangs zu seinen Förderern. Einige seiner Verse wurden
sogar in England von William Morris in seiner sozialistischen
Zeitschrift Commonweal veröffentlicht. 1898 schließlich trug
Markham auf einer öffentlichen Lesung erstmals das Gedicht vor, das
ihn schlagartig berühmt machen sollte: The Man with the Hoe.
Inspiriert von Jean-Francois Millets Gemälde L’homme à lahoue, beschäftigt es sich auf eindringliche
Weise mit den Leiden der arbeitenden Bevölkerung und deren
abstumpfender, barbarisierender Wirkung auf das menschliche Wesen.
Bowed by the
weight of centuries he leans
Upon his hoe
and gazes on the ground,
The emptiness
of ages in his face,
And on his back
the burden of the world.
Das Gedicht schliesst mit
der Prophezeiung einer kommenden Revolte der Geknechteten und
Entmenschten:
O masters,
lords and rulers in all lands,
How will the
Future reckon with this Man?
How answer his
brute question in that hour
When whirlwinds
of rebellion shake the world?
How will it be
with kingdoms and with kings –
With those who
shaped him to the thing he is –
When this dumb
Terror shall reply to God,
After the
silence of the centuries? (21)
Markham war stark
beeinflusst von den Ideen des Spiritisten, "Propheten" und
Utopisten Thomas Lake Harris, der 1875 in Santa Rosa die Fountain
Grove Community gegründet hatte, wo er und seine Anhänger den
Grundstein für die "Bruderschaft des Neuen Lebens" zu legen
versuchten. Das erklärt die eigenartige Mischung aus religiöser
Symbolik, Sozialkritik und utopischer Schau in vielen seiner
Gedichte. Für den Dichter bildeten die drei eine Einheit. Seine
‘Muse der Brüderlichkeit’ sagt von sich: „I am Religion by
her deeper name.“ (22) Vom Reich der Gleichheit,
dessen baldige Errichtung er herbeisehnt, spricht er meist in der
Sprache des christlichen Chiliasmus, es ist „the Vision that the
prophets saw/ The Comrade Kingdom builded in their dream.“ (23) Wenn sie nicht im Pathos
der Posaunen von Jericho erklingen, sind Markhams religiöse Gedichte
meist ziemlich sentimental, wenn sie auch oft einen sympathisch
franziskanischen Zug aufweisen. Aber so eigentümlich viele seiner
Verse auf den Leser von heute auch wirken müssen, man spürt bei
ihrer Lektüre doch, dass in Markhams Brust etwas von dem „Cromwell
fire“ (24) loderte, von dem er sich
wünschte, es möge seine Generation erfassen und zum Kampf für eine
gerechtere Welt anspornen.
Im selben Jahr, in dem
Markham zum ersten Mal The Man with the Hoe vortrug, erschien
auch Frank Norris Erstlingsroman McTeague. Mit Norris haben wir
einen gänzlich anderen Typ Schriftsteller vor uns – nicht den
inspirierten Propheten, sondern den nüchternen Beobachter der
Wirklichkeit. Dem Beispiel Zolas nacheifernd wurde er zu einem der
Begründer des Naturalismus in der amerikanischen Literatur. Und hier
nun scheint es endgültig vorbei zu sein mit der Romantik, wenn er in
seinem berühmtesten Roman The Octopus den
Kampf zwischen den Weizenfarmern von San Joaquin Valley und der
mächtigen Pacific & Southwestern Railroad Company schildert.
Doch der Eindruck täuscht. Nicht nur tritt Edwin Markham in der
sympathisch gezeichneten Gestalt des sensiblen jungen Dichters
Presley im Octopus auf. Der von einem tragischen Schicksal
verfolgte und möglicherweise mit übersinnlichen Fähigkeiten
begabte Hirte Vanamee ist selbst eine klassisch romantische Figur,
eine Mischung aus alttestamentarischem Propheten und Ahasverus.
Außerdem ist der Roman durchtränkt von einer Art "Mutter
Erde"-Mystik, der der Ackerboden als eine Manifestation der Mächte
der Fruchtbarkeit, die Arbeit des Bauern als ein quasi sexueller und
beinahe kultischer Akt erscheint.
Edwin Markham zog 1901
nach New York, wo er sich vor allem im Kampf gegen die Kinderarbeit
engagierte. Doch hielt er den Kontakt zu seinen kalifornischen
Freunden weiter aufrecht und besuchte mehr oder weniger regelmäßig
den Sonnenstaat. In der Literaturszene der Bay Area war er ein gern
gesehener Gast und galt als eine literarische Autorität. Wie wir
bereits gehört haben, legte ihm George Sterling 1911 Clark Ashtons
Ode to the Abyss zur Beurteilung vor. Frank Norris starb
tragischerweise bereits 1902 im Alter von zweiunddreißig Jahren an
einer Bauchfellentzündung. Von den Kreisen der Bohème hatte er
sich eher ferngehalten, doch war dies für ihn wohl hauptsächlich
eine Frage des individuellen Lebensstils gewesen. Einen
weltanschaulichen oder literarischen Konflikt hatte es nicht
gegeben. In Europa war die Décadence z.T. eine Revolte gegen den
Naturalismus gewesen. Für den Kreis um Sterling galt dies nicht.
Dafür sprechen u.a. die freundschaftlichen Beziehungen des Dichters
zu Upton Sinclair und Theodore Dreiser. In den Piedmont-Tagen hatte
mit Herman Whitaker sogar ein Autor von ausgesprochen
naturalistischer Prägung zum inneren Zirkel gehört. Sein vielleicht
bekanntester Roman The Planter beschreibt die barbarischen
Verhältnisse im Mexiko des Diktators Porfirio Diaz vor der
Revolution von 1911 und konzentriert sich dabei vor allem auf das
grausame Schicksal der Yaqui-Indianer, die sich auf den Plantagen von
Vera Cruz, von denen viele den Gringos gehörten, im wahrsten Sinne
des Wortes zu Tode schuften mussten. (25) Über die Frage, ob auch
Jack London dem Lager des Naturalismus zuzurechnen ist, existieren
sehr unterschiedliche Ansichten.
Man mag dieses friedliche
Nebeneinander scheinbar so gegensätzlicher literarischer Strömungen
für einen Beweis "amerikanischer Unreife" halten, doch im Kern
verband die beiden der gleiche Hass auf die herrschende Ordnung. Wie
Oscar Wilde einmal sehr treffend gesagt hat: „Das Mißfallen des
XIX. Jahrhunderts am Realismus gleicht der Wut Calibans, der
sein eigenes Gesicht im Spiegel erblickte. Das Mißfallen des XIX.
Jahrhunderts an der Romantik gleicht dem Caliban, der wütet,
weil er sich nicht im Spiegel sieht.“ (26) Erwiesen sich die
kalifornischen Schriftsteller mit ihrer Toleranz da nicht als sehr
viel verständiger als die meisten ihrer europäischen Geschwister?
Das soll natürlich nicht
heißen, dass alle kalifornischen Literaten diese Linkswende
gutgeheißen hätten. Ambrose Bierce z.B. verdammte, wie nicht anders
zu erwarten, Edwin Markhams sozialkritische Lyrik. In seinen Augen
hatte das einst so hoffnungsvolle Talent damit seine künstlerische
Berufung verraten: „False to his art and to his high command/
God laid upon him, Markham’s rebel hand/ Beats all in vain the harp
touched before:/ It yields a jingle and it yields no more.“ (27) Ganz ähnlich empfand
Bierce’ Protégé Herman Scheffauer, nur dass er dabei politischen
Erwägungen ganz offenbar den Vorrang vor künstlerischen gab. Der
Aufstand der Arbeiterklasse, den Markham am Ende von The Man with
the Hoe prophezeit, erschien ihm als eine Art drohender
Weltuntergang. Seine dahingehende Vision liest sich folgendermaßen:
‘Behold,
Love’s dawn eternal!’
The prophet
[Markham] made outcry.
The heavens
flamed infernal,
The red clouds
burned on high.
A silence
iron-handed
Held Earth’s
cowed millions dumb.
Up clomb an orb
commanded
By Hell whence
it had come.
A skull! With
one word branded on
Its brow
‘MILLENNIUM.’ (28)
Würde er an die
christliche Mythologie geglaubt haben, so hätte Scheffauer im
Proletariat wohl die apokalyptischen Erobererhorden Gog und Magog
gesehen. Wie seinem Mentor Bierce war auch ihm bewusst, dass wir in
einer „social night“ leben. Mammon als der Gott des
Zeitalters nimmt in seinem Werk eine mindestens ebenso prominente
Stellung ein wie etwa bei Sterling. Doch schien ihm der wildgewordene "Pöbel" letztenendes die weitaus größere Bedrohung zu sein.
Seinen beispielhaften Ausdruck fand diese Sicht in einem abstrusen
Gedicht auf die Russische Revolution von 1905 (Russia Agonized),
in dem sich Scheffauers Furcht vor den Massen mit einem lächerlichen
Appell an Zar Nikolaus II. verbindet, dieser möge in seinem Reich
doch bitte schön Freiheit und Demokratie einführen. Und das nach
dem Massaker vom Blutsonntag, bei dem die Kosaken des
Selbstherrschers Aberhunderte wehrloser Demonstranten abgeschlachtet
hatten! Aber der Dichter plapperte nicht nur einfach die Ansichten
seines Mentors nach. Während Bierce sich über die Sozialisten
lustig zu machen versuchte, fürchtete Scheffauer sie. Für ihn war
die Revolution nicht bloß ein schlechter Witz, sondern ein blutiger
Alptraum. Sein Gedicht Manhattan schließt mit den Zeilen:
Now
Anarchs of Annihilation take
Their
sleep of golden torpor in the glow
Of
thy sky-storming summits when they wake
What
ruin red shall their war-trumpets blow? (29)
Im Schatten der
Wolkenkratzer lauert die Bestie der Anarchie, und Scheffauer weiß
nicht, wie er mit ihr fertig-werden soll. Totlachen ist jedenfalls
keine erfolgsversprechende Strategie mehr. Er reagierte wohl auch
deshalb so anders auf diese Bedrohung, weil die Arbeiterklasse
inzwischen auch in den USA zu einer Macht herangewachsen war, die
nicht ernst zu nehmen, schlicht unmöglich war.
Nach einer tiefen
Rezession erlebte die amerikanische Wirtschaft seit 1897 erneut einen
mächtigen Aufschwung. Mit ihr wuchs auch die Arbeiterbewegung. In
Kalifornien stieg die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder zwischen 1900
und 1904 von 30.000 auf 110.000. Nirgendwo erreichten die Unions eine
solche Macht wie in der Hauptstadt des Sonnenstaates. „Der
amerikanische Gewerkschaftsmann deutet mit Stolz auf St. Franzisko,
denn dieses ist eine der stärksten, wenn nicht die stärkste
Hochburg des Tradeunionismus“, bemerkt der deutsche
Sozialdemokrat Fritz Kummer, der um 1910 in die Stadt am Goldenen
Tor gekommen war. (30) Sein Eindruck trog ihn
nicht. Der Historiker Michael Kazin schreibt: „Unquestionably,
San Francisco workers established the strongest labor movement in any
American city during the early twentieth century. Teamsters,
carpenters, iron molders, waitresses, seamen, and longshoremen, among
others, benefited from the high wages and fixed hours that a virtual
closed shop in their trades made possible. Moreover, economic power
at the workplace translated into considerable political power. The
Union Labor candidate for mayor was elected in 1901, 1903, and 1905.
In the 1905 election, all eighteen members elected to the board of
supervisors were Union Labor party nominees. In 1909, despite the
exposure of corrupt practices on the part of two of its leaders, the
Union Labor party elected its candidate mayor and obtained a majority
on the board of supervisors." (31) Der Building Trades
Council (BTC) unter der autoritären Führung von Patrick MacCarthy
war eine der einflussreichsten Organisationen der Stadt, die Union
Labor Party ihr Geschöpf. Mit revolutionären Ideen hatten die
Gewerkschaftsbürokraten, die aus gutem Grund im Rufe standen, eine
Clique außergewöhnlich korrupter und machtgieriger Gestalten zu
sein, allerdings herzlich wenig am Hut. Daran änderte auch die
Tatsache nichts, dass sie ab und an radikale Syndikalisten wie Big
Bill Haywood oder Tom Mann als Gäste willkommen hießen. Doch neben
den Unions existierte ja auch noch die Sozialistische Partei, deren
kalifornische Sektion Anfang des 20. Jahrhunderts mit rd. 6000
Mitgliedern eine der größten der Vereinigten Staaten war. Deren
Beziehung zu den Gewerkschaftsbossen war eher gespannt. MacCarthys
BTC hielt es im allgemeinen mit dem rechten Flügel um Job Harriman
aus Los Angeles, während in der San Franciscoer Partei die Linken um
die Arbeiterführer Tom Mooney und William McDevitt sowie den
radikalen Anwalt Austin Lewis dominierten, den wir bereits als einen
der Freunde Sterlings kennengelernt haben. Und schließlich gab es da
auch noch die revolutionär-syndikalistischen Industrial Workers of
the World (IWW), die insbesondere auf den Docks über einigen
Einfluss verfügten. Joe Hill, der legendäre Barde der Wobblies, war
den IWW 1910 in einem der Häfen Kaliforniens, vermutlich in San
Pedro, beigetreten.
Der zweite Teil von Jack
Londons The Valley of the Moon vermittelt einen recht guten
Eindruck davon, wie hart die Arbeitskämpfe in der Bay Area waren.
Wenn Streikposten, Polizei, gedungene Schläger und Streikbrecher
aufeinanderstießen, so nahm dies oft bürgerkriegsähnliche Formen
an. Der große Streik der Fuhrleute und Hafenarbeiter von 1901
erhielt nicht ohne Grund den Spitznamen ‘Labor War’. Nach
mehreren Monaten härtester Auseinandersetzungen zählte man 5 Tote
und 300 Verletzte. Scheffauers Ängste waren also nicht so
exzentrisch, wie man vielleicht meinen könnte.
Doch was auf ihn
furchteinflößend wirkte, übte auf andere Mitglieder der Bohème
eine gegenteilige Wirkung aus. Der Hass auf die bürgerliche
Gesellschaft war ihnen allen gemein. Warum also nicht die eigenen
rebellischen Gefühle mit denen der Arbeiter identifizieren? Hatte
man bisher als isolierter Intellektueller im Kampf gegen die
herrschende Ordnung auf verlorenem Posten gestanden, so bot sich
einem nunmehr ein mächtiger Verbündeter in Gestalt des Proletariats
an. Die psychologische Wirkung dessen sollte man auf gar keinen Fall
unterschätzen. Es war nicht nur die Freundschaft mit Jack London die
George Sterling zum Sozialisten machte.
Der Bohèmien, der gegen
das Bürgertum rebelliert, aus dem er selbst hervorgegangen ist,
findet sich, wenn er seine Revolte ernst nimmt, in einem sozialen
Niemandsland wieder. Er mag diesen Zustand idealisieren, indem er
sich stolz zum Übermenschen erklärt, dessen Schicksal es nun einmal
sei, in der Einsamkeit eisiger Höhen sein Dasein zu fristen, aber
selbst Nietzsche hat diese Pose nicht auf Dauer durchhalten können,
ohne dass dabei seine geistige Gesundheit in Mitleidenschaft gezogen
worden wäre. Leichter zu ertragen ist da z.B. die Rolle des
ironischen Beobachters, der sich in der Gesellschaft bewegt, ohne ihr
doch wirklich anzugehören, des Flaneurs, wie ihn Walter Benjamin in
seiner Studie über Baudelaire beschrieben hat. Der Dandy à la Oscar
Wilde ist die besser gekleidete Version dieses Typus. Doch ganz
gleich welche Überlebensstrategie sie wählen, den meisten Bohèmiens
ist das Gefühl der Heimatlosigkeit gemeinsam. George Sterling
bezeichnete sich in einem seiner Gedicht als „exile of a land I
cannot name. Homesick, I question all.“ (32) Gemeint war dabei
natürlich nicht die Sehnsucht nach dem bürgerlichen Milieu, sondern
nach einem utopischen Reich der Schönheit. Aber das Gefühl, das
diesen Versen zugrundelag, besaß seinen Ursprung z.T. in der
Erfahrung sozialer Entwurzelung. In den meisten Fällen kehrt der
Bohèmien irgendwann in den Schoß der Gesellschaft zurück, sei es
als reuiger Sünder oder als "anerkannter", also ungefährlicher
Exzentriker. Natürlich kann er auch sein Leben lang
Außenseiter bleiben, doch das wird Spuren hinterlassen – sowohl in
seiner Persönlichkeit als auch in seinem Werk. Wir werden das am
Beispiel Clark Ashton Smiths noch im Detail zu sehen bekommen.
Anders stellt sich die
Sache dar, wenn der künstlerische Rebell auf eine revolutionäre
Arbeiterbewegung stößt, die stark, selbstbewusst und energisch
genug ist, um ihm Vertrauen in ihren letztendlichen Triumph über die
bürgerliche Gesellschaft einzuflößen. Dann kann diese zur neuen
Achse für seine innere Existenz werden. Er, der bislang ein
zielloser Wanderer im Nichts war, erhält eine neue Perspektive, nach
der er sein Leben aus-richten kann. Nicht nur, dass seine rein
gefühlsmäßige Revolte in der Idee des Sozialismus ein konkretes
Ziel erhält – ihm eröffnet sich auch die Chance, eine neue "Heimat" zu finden und das Gefühl der Verlorenheit zu
überwinden, das ihn bisher beherrschte. Das Bewusstsein der eigenen
Machtlosigkeit, das so oft in Zynismus und Misanthropie mündet, kann
einem neuen Selbstvertrauen weichen.
Allerdings fällt es dem
Bohèmien selten leicht, sich auf einer tieferen Ebene wirklich mit
der Arbeiterklasse zu identifizieren. Dem stehen seine eigene
Lebensweise, das Milieu, in dem er sich für gewöhnlich bewegt, und
das intellektuelle wie psychologische Erbe seiner bürgerlichen
Herkunft entgegen. Sterling hat einmal behauptet, sein Mentor Ambrose
Bierce wäre ebenfalls Sozialist geworden, wenn er bloß eine
Generation später geboren worden wäre. Möglich – "Bitter"
Bierce verachtete die Herren des Gilded Age wie kaum ein zweiter und
die öffentliche Meinung war ihm stets gleichgültig gewesen. Doch
das Alter ist nicht der entscheidene Faktor. Wir haben gesehen, wie
ambivalent die Westküstenromantiker auf die ersten Anfänge einer
radikalen Arbeiterbewegung in den 1880er Jahren reagiert hatten und
Ambrose Bierce dabei seine protofaschistischen Ansichten entwickelte.
Grund dafür war in erster Linie nicht ihr Lebensalter, sondern ihre
soziale Stellung gewesen. Und auch Sterling gelang es nie, seine
sozialistischen Überzeugungen mit seinen tiefsten Empfindungen
wirklich in Einklang zu bringen. In Jack Londons autobiographischem
Roman Martin Eden taucht der nach Sterlings Vorbild
gezeichnete Bohèmien Russ Brissenden auf. Londons Held und alter
ego Eden ist ein überzeugter Nietzscheaner, der nicht verstehen
kann, warum sich sein Freund Brissenden zum Sozialismus bekennt:
‘I never can puzzle out why you, of all men, are a socialist,’
Martin pondered. ‘You detest the crowd so. Surely there is nothing
in the canaille to recommend it to your aesthetic soul.’ He pointed
an accusing finger at the whiskey glass which the other was
refilling. ‘Socialism doesn’t seem to save you.’
‘I’m very sick,’ was the answer. ‘With you it is
different. You have health and much to live for, and you must be
handcuffed to life somehow. As for me, you wonder why I am a
socialist. I’ll tell you. It is because Socialism is inevitable;
because the present rotten and irrational system cannot endure;
because the day is past for your man on horseback. The slaves won’t
stand for it. They are too many, and willy-nilly they’ll drag down
the would-be equestrian before ever he gets astride. You can’t get
away from them, and you’ll have to swallow the whole
slave-morality. It’s not a nice mess, I’ll allow. But it’s been
a-brewing and swallow it you must. You are antediluvian anyway, with
your Nietzsche ideas. The past is past, and the man who says history
repeats itself is a liar. Of course I don’t like the crowd, but
what’s a poor chap to do? We can’t have the man on horseback, and
anything is preferable to the timid swine that now rule.’ (33)
Ob es sich bei dem
genialen Alkoholiker Brissenden um ein gerechtes Porträt Sterlings
handelt, kann ich nicht beurteilen. Doch glaube ich, dass Jack London
in seiner Gestalt einen entscheidenen Charakterzug der linken Bohème
sehr genau getroffen hat. London selbst war zu seinen sozialistischen
Überzeugen gelangt „in a fashion somewhat similar to the way in
which the Teutonic pagans became Christians – it was hammered into
me.“ (34) Es waren ganz elementare
und unmittelbare Lebenserfahrungen – seine Herkunft aus der
Arbeiterklasse, seine Schufterei in diversen "sweat shops", seine
Zeit als Tramp –, die ihn zum Sozialisten machten. Auf Sterling
traf dies nicht zu. Der Sänger des dekadenten Wine of Wizardry
fühlte sich zum Sozialismus hingezogen, weil er die bürgerliche
Gesellschaft verachtetete. Das Leben der Arbeiterklasse stand ihm
denkbar fern. Sein Hass auf die Bourgeoisie war zwar ehrlich
empfunden und nur zu berechtigt, hatte aber wenig gemein mit den
Gefühlen jener Menschen, die in den Fabriken oder auf den Plantagen
malochten. Im Grunde ging’s ihm wie Frank Wedekinds "Marquis von
Keith": „Meine Begabung beschränkt sich auf die leidige
Tatsache, dass ich in bürgerlicher Atmosphäre nicht atmen kann.“ (35)
(1) Jack London: The Valley of the Moon. S.
408f.
(2) George Sterling: Charles Warren Stoddard.
In: Ders.: The House of Orchids and Other Poems. S. 129.
(3) Als Bibliothekarin der
Öffentlichen Bücherei von Oakland hatte Ina Coolbrith den
zehnjährigen London 1886 erstmals mit der Welt der Bücher
bekanntgemacht.
(4) Vgl.: Howard Zinn: A People’s History of
the United States. Kap. 11.
(5) Zit. nach: Ebd. Kap. 13.
(6) Vgl. hier
(7) George Sterling: To an Elder Poet. In:
Ders.: A Wine of Wizardry and Other Poems. S. 41.
(8) George Sterling: Ballad of the Swabs.
(9) George Sterling: The Master Mariner. In:
Ders.: Beyond the Breakers and Other Poems. S. 15f.
(10) Jack London: What Life Means To Me. In:
Ders.: Revolution and Other Essays. S. 305.
(11) George Sterling: Three
Sonnets to Oblivion. II. In: Ders.: A Wine of Wizardry and
Other Poems. S. 47.
(12) George Sterling: Of America. In: Ders.:
A Wine of Wizardry and Other Poems. S. 60f.
(13) Marie Herzfeld: Fin-de-siècle.
In: Wolfgang Asholt & Walther Fähnders (Hg.): Fin de siècle.
Erzählungen – Gedichte – Essays. S. 176. Ist es ein Zeichen
der immer noch vorhandenen Arroganz europäischer Intellektueller
gegenüber der Kultur der USA, dass der Sammelband die Existenz eines
amerikanischen Fin-de-siècle einfach ignoriert? Nicht einmal im
Nachwort werden Sterling, Scheffauer und Smith, die Bostoner
Décadents oder Park Barnitz’ Book of Jade erwähnt.
(14) Arthur Schnitzler: Spaziergang. In: Jürg
Mathes (Hg.): Theorie des literarischen Jugendstils. S. 134.
(15) Hugo von Hofmannsthal: Prolog zu dem Buch
‘Anatol’. Z. 1-7. In: Ders.: Gedichte. S. 69.
(16) Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht.
Versuch einer Umwertung aller Werte. S. 10.
(17) Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra.
S. 8.
(18) Herman Scheffauer: Drake in
California. Poems and Ballads. S. 8. Der Band enthält vier
Gedichte Nietzsches in Scheffauers Übersetzung.
(19) William "Big Bill" Haywood (1869-1928) war
einer der bekanntesten militanten Arbeiterführer der USA,
Mitbegründer der Bergarbeiterföderation des Westens, der IWW und
später der Kommunistischen Partei.
(20) Vil Bykov: In the Steps of Jack London.Kap. 3.
(21) Edwin Markham: The Man with the Hoe. In:
Ders.: The Man with the Hoe and Other Poems. S. 1ff.
(22) Edwin Markham: The Muse of Brotherhood.
In: Ders.: Lincoln and Other Poems. S. 10.
(23) Edwin Markham: The Desire of Nations.
In: Ders.: The Man with the Hoe and Other Poems. S. 20.
(24) Edwin Markham: The Need of the Hour. In:
Ders.: Lincoln and Other Poems. S. 71.
(25) Die Pflanzer waren so erbost über
Whitakers Enthüllungen, dass sie einen der ihren als Killer nach
Kalifornien schickten. Dieser zog es allerdings vor, friedlich nach
Australien weiterzureisen, nachdem er die Familie des Schriftstellers
kennengelernt hatte. So zumindest berichtet es Whitakers Tochter
Elsie. Vgl.: Elsie Whitaker Martinez: San Francisco Bay Area
Writers and Artists. S. 37f.
(26) Oscar Wilde: Aphorismen zur
Kunst. In: Wolfgang Asholt & Walther Fähnders (Hg.): Fin
de siècle. S. 189.
(27) Ambrose Bierce: An Anarchist.
In: Ders.: Shapes of Clay. In: The Collected Works. Bd.
4. S. 53.
(28) Herman Scheffauer: Revelation (The Man with
the Hoe). In: Ders.: Of Both Worlds. S. 108.
(29) Herman Scheffauer: Manhattan. In: Ders.:
Looms of Life. S. 57.
(30) Fritz Kummer: Eines Arbeiters Weltreise.
S. 195.
(31) Michael Kazin: Reform, Utopia,
and Racism. The Politics of California Craftsmen. In: Daniel
Cornford (Hg.): Working People of California. S. 311f.
(32) George Sterling: Stars of the Noon. In:
Ders.: The House of Orchids and Other Poems. S. 47.
(33) Jack London: Martin Eden. S. 327f.
(34) Jack London: How I became a Socialist.
In: Ders.: War of the Classes. S. 264.
(35) Frank Wedekind: Der Marquis
von Keith. Erster Aufzug.
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