"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Sonntag, 29. November 2015

Mein Double Bill zu Halloween (II)

Ich kehre endlich zu meiner Halloween-Filmnacht zurück und beginne den zweiten Teil meiner Betrachtungen mit einer unnötig langen Einführung, die so gut wie nichts mit dem Film zu tun hat, den ich besprechen werde.

In den 60er Jahren waren AIP (American International Pictures) die unangefochtenen Herrscher des amerikanischen Horrorfilms, mit Vincent Price als ihrem hauseigenen Star und Roger Cormans Poe-Zyklus {dem man frecherweise auch die Lovecraftadaption The Haunted Palace* [1963] und Michael Reeves' Folk Horror - Klassiker Witchfinder General** [1968] hinzufügte} als ihrem Kronjuwel. Doch zu Beginn des nächsten Jahrzehnts zeichnete sich immer deutlicher das Ende des klassischen "Gothic Horror" ab. Zwar schufen AIP mit The Abominable Dr. Phibes (1971) und Dr. Phibes Rises Again (1972) noch einmal einen wundervoll dekadenten Abschluss für die Ära, doch ihr Versuch, mit dem durch den Low Budget - Streifen Count Yorga, Vampire (1970) bekannt gewordenen Robert Quarry einen neuen Horrorstar aufzubauen und mit seiner Hilfe im Geschäft zu bleiben, war kein dauerhafter Erfolg beschieden. Eine Geschichte, die ich vor anderthalb Jahren in diesem Post ausführlicher geschildert habe. 1973 versetzte der gewaltige kommerzielle Erfolg von William Friedkins The Exorcist dem stilvollen Grusel der 60er dann endgültig den Todesstoß, und AIP sattelte ganz auf andere Genres, insbesondere den aufblühenden Blaxploitation-Markt, um.
Der Einfluss von The Exorcist beschränkte sich interessanterweise nicht auf die Welt des Films. Vier Jahre später, im September 1977, erschien Jay Ansons Buch The Amityville Horror: A True Story, das sich rasch zu einem äußerst erfolgreichen Bestseller mauserte. Was der bisher hauptsächlich für Kurz-Dokus über Hollywood-Themen bekannte Autor in seinem Schmöker erzählte, wurde als Tatsachenbericht über die unheimlichen Erlebnisse der Familie Lutz verkauft, welche im Dezember 1975 achtundzwanzig Tage voller übernatürlicher Schrecken erlebt zu haben behauptete, nachdem sie in ein Haus in Amityville/New York eingezogen war, in dem ein Jahr zuvor ein grauenhafter Mehrfachmord geschehen war. Das vermeintliche paranormale Geschehen hatte seinerzeit das Interesse einer ganzen Reihe selbsternannter "Geisterjäger" und "Dämonologisten" geweckt {u.a. des berüchtigten "Ermittler" - Paares Ed & Lorraine Warren, der "Helden" von James Wans The Conjuring [2013]}, doch nach allem, was wir heute wissen, hatte es sich um nichts anderes als eine dreiste Lügenmär gehandelt, die sich George Lutz und der Anwalt William Weber "over many bottles of wine" ausgedacht hatten. Weber wollte die Spukgeschichte dazu verwenden, eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen seinen Klienten Ronald DeFeo zu erreichen, der wegen des Mordes an seinen Eltern und Geschwistern zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Joe Nickell schreibt in einem Artikel für den Skeptical Inquirer, dass einige der Elemente der wilden Story "seemed to have been lifted from the movie The Exorcist."
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass einer der letzten Filme, die von AIP als einer selbstständigen Firma produziert wurden, Stuart Rosenbergs Amityville Horror von 1979 war. Nicht nur versuchte man damit an jene inzwischen nicht mehr ganz so neue Strömung im Horrorkino anzuknüpfen, die die Firma ein gutes halbes Jahrzehnt zuvor aus ihrer einst beherrschenden Stellung verdrängt hatte, man stützte sich dabei auch noch auf eine Geschichte, die ihrerseits von eben jenem Film beeinflusst worden war, der wie kein anderer jene Wende verkörperte, welche zu AIPs Sturz vom Thron geführt hatte.***

Das auf Jay Ansons Bestseller basierende Drehbuch verfasste Sandor Stern, der bisher ausschließlich fürs Fernsehen gearbeitet hatte. Zehn Jahre später würde der gute Mann mit Amityville Horror IV zu dem Franchise zurückkehren, das derweil auf dem mit vielen vielen Dollars gedüngten Boden des ersten, äußerst erfolgreichen Streifens herangewachsen war.

Ich selbst bin kein besonders großer Fan der Reihe {auch wenn Lalo Schifrins Musik für das Original schon verdammt cool ist}, und sehe Sterns größten Beitrag zum Horrorkino darum auch nicht in den Amityville - Streifen, sondern in PIN (1988), der den zweiten Teil meines diesjährigen Halloween Double Bill darstellte. Der Film, bei dem Stern auch die Regie führte, hat ganz sicher nie die allgemeine Bekanntheit von Amityville erreicht, doch handelt es sich bei ihm um ein zugleich sehr viel verstörenderes und humaneres Werk als alle Einträge in die Spukhaus-Saga zusammengenommen.

       

Das Drehbuch basiert auf einem Roman von Andrew Neiderman, der Filmfans vielleicht am ehesten als Verfasser der Vorlage zu Taylor Hackfords The Devil's Advocate (1997) bekannt sein dürfte.

Für einen Horrorflick der 80er – einem Jahrzehnt, das man eher mit bluttriefenden Slasher-Eskapaden und ähnlichem verbindet – ist PIN erstaunlich zurückhaltend inszeniert. Der Film enthält keinerlei Gore und überhaupt nur wenig physische Gewalt – was ihm nichts von seiner bedrückenden Intensität nimmt.

Dr. Frank Linden (Terry O'Quinn) und seine Frau (Bronwen Mantel) unterwerfen ihre Kinder Leon und Ursula einer rigorosen Disziplin. Während der Vater, den sie stets mit "Sir" anzureden haben, die beiden jeden Abend zu sich zitiert, um ihnen eine Aufgabe zu stellen, mit deren Hilfe er ihre Lernfortschritte überprüfen will, wird die Mutter von einem neurotisch anmutenden Hygienefimmel beherrscht, der dazu führt, dass die beiden praktisch nichts von dem machen dürfen, was Kindern so Spaß macht. Dies hat vor allem auf Leons psychische Entwicklung veheerende Auswirkungen. Die ihm von seinen Eltern auferlegten Regeln machen es ihm unmöglich, echte Freundschaften zu schließen. Zu einem Außenseiterdasein verdammt, erschafft sich Leon einen "imaginären Freund" und sein Vater hat ihm dazu, ohne es zu wissen, eine ideale Vorlage geliefert: "Pin", ein "anatomisches Modell" in der Praxis des Doktors, das dieser mittels Bauchreden "zum Leben erweckt", um auf spielerische Weise mit seinen jungen Patienten (und auch seinen eigenen Kindern) zu kommunizieren. 
Die einzige reale Person, zu der Leon eine {wenn auch nicht unbedingt gesunde} Beziehung aufzubauen versteht, ist seine jüngere Schwester. Auf diese scheint die verkorkste Kindheit keine bleibenden Auswirkungen zu haben, auch wenn man die Tatsache, dass Ursula (Cynthia Preston) mit fünfzehn Jahren ein äußerst reges Sexleben entfaltet, wohl als eine Art von Rebellion gegen das rigide Familienregime interpretieren darf. Eine Revolte, der Leon (David Hewlett) aus einer Reihe von Gründen bald schon ein Ende bereitet. Und auch wenn Ursula in mancherlei Hinsicht recht selbstbewusst ist, neigt sie doch dazu, den Wünschen ihres Bruders folgezuleisten. Dessen Fixiertheit auf "Pin" hat derweil die Ausmaße offener Schizophrenie erreicht. Nicht nur hält er auch mit achtzehn Jahren die lebensgroße Puppe immer noch für eine reale Person, er hat selbst bauchrednerische Fähigkeiten entwickelt und führt regelmäßig "Gespräche" mit "Pin". 
Als ihn sein Vater eines Tages bei einer solchen "Unterhaltung" überrascht, versucht der Doktor die Puppe loszuwerden, stirbt jedoch noch in der selben Nacht zusammen mit seiner Frau bei einem Autounfall (für den in gewisser Weise "Pin" verantwortlich ist). Für Leon gleicht der Tod seiner Eltern einer langersehnten Befreiung, und auch seine Schwester zeigt sich nicht eben zutiefst erschüttert. Weniger begeistert ist sie davon, dass Leon "Pin" zu einem Mitglied des Haushalts macht, ein eigenes Zimmer für ihn einrichtet, ihm einen Anzug ihres verstorbenen Vaters anlegt, ihn an den Esstisch setzt und schließlich sogar ein wächsernes Gesicht verpasst. Sie weiß natürlich, dass ihr Bruder schwer krank ist, aber sie bringt es nicht übers Herz, ihn zu "verraten" und Hilfe bei Ärzten oder Psychiatern zu suchen. Allerdings versucht sie zumindest, sich ein wenig der bedrückenden Kontrolle durch Leon zu entziehen, indem sie in der örtlichen Bücherei zu arbeiten beginnt. Dort lernt sie den netten Stan Fraker (John Pyper-Ferguson) kennen. Die beiden verlieben sich ineinander, was schließlich dazu führt, dass die Ereignisse eine dramatische und blutige Wendung nehmen. Denn Leon kann die Vorstellung, seine Schwester zu "verlieren", nicht ertragen, und "Pin" hat eine Idee, wie man diese Bedrohung aus der Welt schaffen könnte ...

Spätestens seit dem britischen Horrorklassiker Dead of Night (1945), den meine Twitter-Freundin Beth hier besprochen hat, gehören gruselige Puppen zum festen Inventar des cineastischen Horroruniversums. Im Vergleich zu den meisten seiner Brüder und Schwestern scheint "Pin" insofern etwas gehandicapt zu sein, als er ja nicht wirklich "lebt". In der Tat ist der Autounfall der Eltern die einzige Szene, die für einen kurzen Moment Zweifel darüber aufkommen lassen könnte, ob er nicht doch auf dämonische Weise "beseelt" ist. Doch handelt es sich dabei offensichtlich bloß um eine Widerspiegelung der Ängste von Dr. Linden. Aber erstaunlicherweise nimmt die Tatsache, dass es sich bei ihm in der Tat um nichts anderes als eine lebensgroße Puppe handelt, dem guten "Pin" nichts von seiner unheimlichen Präsenz, die durch die leicht kehlige, stets gleichbleibend ruhige Flüsterstimme (Jonathan Banks) noch verstärkt wird. Ganz im Gegenteil! Ja, "Pins" "Persönlichkeit" ist bloß eine Art Projektion von Leons gestörter Psyche, die Interaktion zwischen den beiden bloß Ausdruck der Geisteskrankheit des jungen Mannes, doch verstärkt das in gewisser Weise nur die gruselige Aura, die die Puppe umgibt. Denn was den Film so verstörend macht ist letztenendes Leon, und "Pin" ist ein Teil von ihm.

David Hewlett ist vielen vermutlich in erster Linie als Dr. Rodney McKay aus Stargate Atlantis bekannt, doch seine ersten richtig großen Rollen hatte der Schauspieler in kanadischen Horrorflicks wie PIN und Christian Duguays Scanners II (1991). Und hier zumindest legt er eine wirklich beeindruckende Leistung hin.
Leon ist eine faszinierend vielschichtige und widersprüchliche Persönlichkeit. Was zuallererst auffällt ist, dass es sich bei ihm nicht um einen psychopathischen Serienkiller handelt, obwohl er das nach den Regeln des Genres eigentlich sein müsste. Gehemmt, sozial isoliert und mit einem gestörten Verhältnis zur Sexualität gehört er ganz offensichtlich zu der über die Jahrzehnte unüberschaubar gewordenen Nachkommenschaft von Norman Bates. Und doch schleicht er nicht nachts mit einem Messer durch die Gegend, um junge Frauen abzuschlachten. Beim ersten Mord, den er begeht, ist man sich als Zuschauer nicht einmal hundertprozentig sicher, ob er überhaupt als solcher intendiert war. Was sich in diesem Zusammenhang allerdings sehr deutlich zeigt, ist, dass Leon ganz offenbar ein Soziopath ist, dem es unmöglich ist, echte Empathie zu empfinden. Vermutlich realisiert er nicht einmal wirklich, was es bedeutet, einen anderen Menschen zu töten. 
Kein Wunder, dass er sich als unfähig erweist, zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen. Dabei gibt es vermutlich nichts, wonach er sich mehr sehnt, als geliebt und akzeptiert zu werden. "Pin" kann ihm das nicht wirklich geben,  und auf einer gewissen Ebene ist er sich sogar bewusst, dass sein "Freund" und "Ratgeber" in Wahrheit nichts als eine Puppe ist. Andernfalls würde er nicht so wütend und gewälttätig reagieren, wenn Ursula dieses Thema anzusprechen versucht.  
Was Leon in den Wahnsinn treibt {wenn man von einer möglichen biologischen Veranlagung einmal absieht} ist seine völlige Isolation von anderen Menschen. Die einzige Ausnahme bildet seine Schwester, doch kann er auch zu dieser, keine echte menschliche Beziehung aufbauen. Ursula liebt ihren Bruder, aber liebt dieser wirklich sie? Ist er dazu überhaupt in der Lage? Er sehnt sich ganz offenbar nach einer liebevollen Beziehung, doch fehlt ihm die Fähigkeit, eine solche aufzubauen. So kann er nichts anderes tun, als zu versuchen, Ursulas Leben so weit es geht zu kontrollieren, um sie auf diese Weise an sich zu binden.
Leons Fixiertheit auf seine Schwester besitzt deutlich inzestuöse Untertöne, was sie direkt mit seinem gestörten Verhältnis zur Sexualität verbindet. Selbiges ist allerdings auch etwas anders gelagert, als man von einem Film dieser Art vielleicht erwarten würde. Leon ist nicht die verklemmte "ewige Jungfrau", für die Sex unmittelbar mit Gefühlen von Scham und Schuld verbunden wäre. Als gänzlich unsentimentaler Vertreter einer "wissenschaftlichen" Weltsicht hatte Dr. Linden seine Kinder schon sehr früh {durch den Mund von "Pin"} aufgeklärt, wobei er freilich "den Trieb" auf gut biologistische Art vollständig dem Ziel der Fortpflanzung untergeordnet hatte. Dieses Denken ist in gewisser Weise in seinem Sohn lebendig geblieben, hat dabei aber eine ganz eigene, bizarr pervertierte Form angenommen. In einer der verstörendsten Szenen des Films trägt dieser Ursula und Stan einen "Gesang" aus dem epischen Gedicht vor, an dem er arbeitet. Leon beschreibt sein Werk als einen "modernen Beowulf", doch die Heldentaten seines Protagonisten bestehen offenbar ausschließlich im Schwängern Hunderter von Frauen. In dem letzten fertiggestellten "Gesang" beschließt er nun erstmals, eine Frau zu vergewaltigen, bis ihm auf einmal klar wird, dass es sich bei dem ausgewählten Opfer um seine eigene Schwester handelt. Was diese Szene so ungemein verstörend macht ist, dass sich Leon ganz offenbar nicht bewusst ist, dass es sich bei seinem "Heldenepos" um einen grotesken Ausdruck sexueller Allmachtsfantasien mit höchst beunruhigenden Implikationen in Bezug auf die Beziehung zu seiner Schwester handelt. Für ihn ist das tatsächlich der "moderne Beowulf".

Es ist diese "Naivität", die Leon trotz seiner mitunter erschreckenden Gefühllosigkeit und Brutalität letztenendes zu einer bemitleidenswerten Figur macht. Dementsprechend klingt der Film in seinem finalen Twist, der nicht sonderlich schockierend oder originell wirkt, das ermutlich aber auch gar nicht sein soll, auf einer zutiefst traurigen Note aus.

So beeindruckend PIN in vielerlei Hinsicht auch ist, möchte ich am Ende dennoch auf eine "Schwäche" hinweisen, die der Streifen freilich mit sehr vielen Filmen der letzten Jahrzehnte teilt.
Kim Newman schreibt in seinem Klassiker Nightmare Movies sehr treffend über die beiden Urväter des Psychopathen-Horrors – Alfred Hitchcocks Psycho (1960) und Michael Powells Peeping Tom (1960):
The truly subversive aspect of the [...] films is the contrast between the interior world of their killer heroes and supposed normality. Peeping Tom and Psycho set up an everyday life full of grasping, petty characters and mindless minor brutalities.****
Diese weitere Perspektive auf eine inhumane, von Gier, Egoismus und Rücksichtslosigkeit gekennzeichnete Gesellschaft, vor deren Hintergrund sich das blutige Treiben des psychopathische Killers abspielt, fehlt PIN völlig. Bei Alice, Sweet Alice hatte das soziale Milieu noch eine zentrale Rolle gespielt. Bei PIN hat sich der Blick des Filmemachers ganz auf den Mikrokosmos der Familie verengt, die nicht als verkleinertes Abbild des gesellschaftlichen Ganzen, sondern als ein von völlig eigenen Gesetzen beherrschtes Miniuniversum erscheint. Die wenigen Vertreter der "Welt da draußen", denen wir in PIN begegnen, sind – von ein paar Highschool-Jocks einmal abgesehen – durchgehend positiv gezeichnet, warmherzig, mitfühlend und hilfsbereit. Das nimmt dem Film nicht unbedingt etwas von seiner Faszinationskraft, aber es erscheint mir doch symptomatisch. Schon seit mehreren Jahrzehnten scheinen sich viele Künstler & Künstlerinnen schwer damit zu tun, ein Bild der Gesellschaft als Ganzem zu zeichnen. Sie konzentrieren sich ganz auf Individuen oder kleine soziale Gemeinschaften wie die Familie, die sie als etwas völlig apartes, autonomes darstellen. Damit verbauen sie sich den Weg zu einem tieferen Verständnis auch dieser Individuen oder kleinen Gruppen, denn letztlich werden selbst unsere intimsten Beziehungen von dem Charakter der Gesellschaft mitgeformt, in der wir leben.
       
Das jedoch nur am Rande. Denn auch wenn PIN meiner Meinung nach nicht an die Qualität von Alice, Sweet Alice heranreicht, ist er doch ein äußerst sehenswerter kleiner Film, der eine weitere Bekanntheit verdient hätte, als er meines Wissens nach momentan genießt.


* Der Film basiert auf Lovecrafts The Case of Charles Dexter Ward, den Titel jedoch hatte Corman aus Poes berümtem Gedicht entwendet, das auch in The Fall of the House of Usher auftaucht. Vermarktet wurde der Streifen deshalb als "Edgar Allen Poe's The Haunted Palace" (vgl hier & hier).
** Der Film, den ich hier besprochen habe, war eine Koproduktion zwischen AIP und der britischen Firma Tigon. In den USA kam er als The Conqueror Worm in die Kinos. Ein Titel, der zwar wenig Sinn machte, aber einmal mehr aus Poes dichterischem Werk entlehnt war.
*** Zumindest im Hinblick auf seine Auswirkungen auf den Filmmarkt. In künstlerischer Hinsicht halte ich z.B. George A. Romeros Night of the Living Dead (1968), Messiah of Evil (1973; vgl. hier) von Willard Huyck & Gloria Katz oder Tobe Hoopers The Texas Chainsaw Massacre (1974) für sehr viel bedeutendere Vertreter des "neuen" Horrors. 
**** Kim Newman: Nightmare Movies. A Critical History of the Horror Film, 1968-88. S. 89.

Samstag, 28. November 2015

Strandgut der Woche

Superhelden in aussichtsloser Lage

Wie ich auf diesem Blog schon mehr als einmal habe verlauten lassen, kann ich mit dem zeitgenössischen Superheldenfilm vor allem deshalb so wenig anfangen, weil er sich selbst und seine Helden & Heldinnen meines Erachtens nach viel zu ernst nimmt. Ein Aspekt dieses Problems besteht darin, dass er mich auf diese Weise dazu zwingt, ihn meinerseits ernster zu nehmen, als ihm gut tut. Dass ist mir vor ein paar Tagen besonders deutlich bewusst geworden, als ich mir den Trailer für Captain America: Civil War angeschaut habe.

 
Ich habe die Entwicklung des filmischen Marvel-Universums nur oberflächlich verfolgt, mit den Comics bin ich überhaupt nicht vertraut. Doch wenn ich es richtig verstehe, dann spalten sich die Avengers über der Frage, ob sie sich der Kontrolle durch die Regierung unterstellen (Tony Stark & Co) oder auf eigene Faust das tun sollen, was sie für richtig halten (Captain America & Co). Indem der Film unsere Helden und Heldinnen vor diese Alternative stellt, legt er auf besonders deutliche Weise den problematischen Inhalt des zeitgenössischen Superheldenkinos bloß. Denn ganz gleich, wie sie sich entscheiden, die Implikationen sind ziemlich beunruhigend.

Zwar sind die Marvel - Streifen im Großen und Ganzen verspielter und selbstironischer als die düster-pompös-prätentiösen Hervorbringungen der Nolan/Snyder - Schule, aber auch sie versuchen mehr zu sein als naiv-fröhlicher Eskapismus. Mehr als einmal haben sie motivisch auf den sog. "Krieg gegen den Terror" Bezug genommen oder den {ehrlich gesagt absurden} Versuch gestartet, das Superheldengenre mit dem des politischen Thrillers zu kreuzen. Ihre pseudorealistische Herangehensweise zwingt uns letztlich dazu, die von ihnen erzählten Geschichten im Kontext der realen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen unserer Zeit zu sehen. Und vor diesem Hintergrund ist die Wahl, die die Mitglieder der Avengers in Civil War treffen werden, eine Wahl zwischen zwei Übeln:
Folgen sie Tony Stark, dann erkennen sie die Legitimät der existierenden staatlichen Autorität an, bleiben die Verteidiger des gesellschaftlichen Status Quo, die sie im Grunde bisher immer gewesen sind.
Folgen sie Captain America, dann werden sie nicht etwa zu Proto-Revolutionären, sondern in der Tat zu Vigilantes, zu Individuen, die glauben, das Gesetz in die eigenen Hände nehmen zu dürfen {oder gar zu müssen}. Ihre Weigerung, sich der Kontrolle durch die Regierung zu unterwerfen, hätte nichts mit einer Revolte gegen eine ungerechte Gesellschaftsordnung zu tun, sondern würde eher dem Denken der extremen Rechten der USA ähneln, die den Staat ja gleichfalls für ein korruptes, bürokratisches Monstrum halten, gegen das alle "aufrechten Amerikaner"  aufbegehren sollten. Oder aber man könnte Parallelen zwischen ihrem Verhalten und dem immer selbstbewusster artikulierten Verlangen von Vertretern des Militärs und der Geheimdienste ziehen, die sich nicht länger den zivilen Autoritäten unterordnen wollen.
Keine der beiden Alternativen wäre sonderlich sympathisch. Aber sie sind unausweichlich, wenn man die von Natur aus extrem individualistischen Superhelden in eine Welt verpflanzt, die auf pseudorealistische {und gänzlich unkritische} Weise die gesellschaftliche Wirklichkeit unserer Zeit widerzuspiegeln versucht.

Ich möchte noch einmal betonen, dass das Problem meiner Ansicht nach nicht im Superheldengenre per se liegt, sondern in der pseudorealistischen Herangehensweise. Man schaue sich zum Vergleich  etwa Richard Donners Superman aus dem Jahre 1978 an. Niemand käme auch nur auf die Idee, sich zu fragen, ob es ein Problem darstellt, dass der Kryptonier ohne staatliche Autorisierung herumfliegt und verirrte Kätzchen oder abstürzende Jumbojets retttet. Die Welt, in der dieser Film spielt, ist ganz offensichtlich nicht die unsere, auch wenn Clark & Lois der Freiheitsstatue einen Besuch abstatten. Es handelt sich bei ihr um ein märchenhaft-phantastisches Paralleluniversum. In diesem Kontext können wir unseren Superhelden als das sehen, was er sein sollte: als den ins Heroisch-Phantastische überhöhten Vertreter simpler menschlicher Anständigkeit. Nimmt man ihm diese Aura der Naivität, zwingt man ihn dazu, auf unserer Welt zu leben, dann verwandelt er sich in eine mehr als zweifellhafte Figur, ob er das will oder nicht. Und so schließe ich diesen Post denn mit ein paar Szenen aus einem der meiner Meinung nach besten Superheldenfilme aller Zeiten, unterlegt mit der grandiosen Musik von John Williams.



Hach, ich liebe diesen Film -- bunter, fröhlicher, fantasievoller Abenteuerspaß mit menschlichem Herz. Und Christopher Reeve ist bis heute unübertroffen als Clark Kent.

Samstag, 21. November 2015

Strandgut der Woche

Sonntag, 15. November 2015

Strandgut der Woche

Samstag, 14. November 2015

Bye-bye, Howie

Der World Fantasy Award wird in Zukunft also nicht mehr das Antlitz von H.P. Lovecraft tragen. Für einige Leute scheint das ein ungemein wichtiges Thema zu sein, über das man lang und breit in irgendwelchen Foren, auf Twitter & Facebook diskutieren oder leidenschaftliche Blogposts verfassen muss. Ich für meinen Teil kapier das ganze Trara mal wieder nicht.

Der vernünftigste Kommentar, den ich zu dem Ganzen bisher gelesen habe, stammt von Black Gate's John O'Neill:  
The World Fantasy Committee made the right call in changing the awards.
I was initially resistant to the idea of a change, but I was swayed after Sofia Samatar won her award last year and accepted it with grace and humility, but shared just how uncomfortable it made her to receive an award with Lovecraft’s likeness. I spent the next few months educating myself on the extent of Lovecraft’s racism (it is appalling).
If the highest award our genre has to offer makes some of its recipients that uncomfortable, then it needs to go. [...] [B]ecause I don’t want a trophy that makes that many of our finest writers that uncomfortable.
It was time for it to go.
Die mit Abstand verrückteste Reaktion, die mir bislang unter die Augen gekommen ist, stammt von S.T. Joshi. {Seine wüste Tirade erweckt bizarrerweise den Eindruck, als habe der Preis bislang "H.P. Lovecraft Award" geheißen, was natürlich nicht stimmt, obwohl die Trophäe gerne scherzhaft als "Howie" bezeichnet wurde.} 

Auch wenn manche, die meine alten Posts über Lovecrafts Rassismus (hier & hier) gelesen haben, das vielleicht glauben, bin ich keineswegs der Meinung, dass man sein Werk auf den Müllhaufen der Geschichte werfen sollte. Ganz im Gegenteil! Ich bin ein großer Bewunderer des alten Gentleman von Providence, den ich für einen der bedeutendsten phantastischen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts halte. Aber ich habe wenig Geduld für Leute, die versuchen, Lovecrafts bösartigen und abstoßenden Rassismus kleinzureden oder die blind dafür sind, dass selbiger einen sehr deutlichen Niederschlag in seinem literarischen Werk gefunden hat. Und ich kann nur zu gut verstehen, warum es für Autorinnen wie Nnedi Okorafor oder Sofia Samatar unangenehm gewesen ist, einen Preis entgegenzunehmen, der die Gestalt einer HPL-Büste besitzt.

Aus diesem Grund halte auch ich die Entscheidung des World Fantasy Commitee für äußerst begrüßenswert. Und das Gejammer der Fanboys für ziemlich erbärmlich ... 

Mittwoch, 11. November 2015

Mein Double Bill zu Halloween (I)

Wie ich in meinem letzten Post erwähnt habe, war es mir aus familiären Gründen unmöglich, Halloween 2015 so zu begehen, wie ich mir das eigentlich gewünscht hätte. Doch ungefähr um zehn Uhr nachts hatte ich dann doch endlich die Gelegenheit, das Licht zu dimmen, mir ein Glas Rotwein einzugießen und mich auf einen kleinen Trip in die gruseligeren Regionen der Filmwelt zu begeben.

Dank meiner wundervollen Twitter-Kumpelin Beth – deren Blog Magical Horror zu besuchen, ich allen Fans des cineastischen Grauens nur wärmstens empfehlen kann – standen mir dabei eine ganze Reihe interessanter Flicks zur Auswahl. Entschieden habe ich mich letztlich für zwei Filme, die zwar keinerlei übernatürliche Elemente enthalten, aber nichtsdestoweniger ziemlich unheimlich und verstörend sind: Alice, Sweet Alice (1976) und Pin (1988).



Für den Großteil seiner Karriere in der Filmindustrie arbeitete Alfred Sole als Produktionsdesigner. Nur viermal nahm er auf dem Regiestuhl Platz, und das Ergebnis dessen ist ein recht kurioses Mini-Ouevre, bestehend aus dem Porno Deep Sleep (1972); Alice, Sweet Alice (1976); dem äußerst bizarr klingenden Tanya's Island (1980), in dem Denise Matthews / Vanity offenbar eine sexuelle Beziehung mit einem Affen eingeht; sowie der Slasher-Parodie Pandemonium (1982) – hierzulande unter dem einfallsreichen Titel Freitag der 713. vermarktet. Das liest sich jetzt vielleicht nicht gerade wie die Filmographie eines verkannten Genies, aber zumindest auf mich übt diese bizarre Mixtur doch einen eigenartigen Reiz aus. Wie Alice, Sweet Alice sehr eindrücklich belegt, besaß Sole ein nicht unbeträchtliches filmerisches Talent, und selbst wenn der Streifen sein einziges wirklich gelungenes Werk sein sollte was die allgemein verbreitete Meinung zu sein scheint –, könnte ich mir doch vorstellen, dass ich mich eines Tages mal auf die Jagd nach seinen anderen Flicks begeben werde.

Die Stadt Paterson in New Jersey war einst das Zentrum der amerikanischen Seidenindustrie und hatte aus diesem Grund vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhundert eine massive Zuwanderung von mehrheitlich aus Italien stammenden Arbeitern & Arbeiterinnen erlebt. Noch Jahrzehnte später existierten deshalb zahlreiche streng katholisch geprägte Gemeinschaften in der Stadt. Dies ist das Milieu, in dem Alice, Sweet Alice – auch bekannt als Communion und Holy Terror – angesiedelt ist. Ein Milieu, das der in Paterson geborene und aufgewachsene "Ex-Katholik" Alfred Sole vermutlich aus eigener Anschauung sehr gut kannte.
Entgegen meiner Gewohnheit werde ich versuchen, meine Zusammenfassung des Plots möglichst spoilerfrei zu halten, auch wenn das die Besprechung des Films naturgemäß etwas erschweren wird. 
Die von ihrem Eheman Dominick ("Dom") getrennt lebende Catherine Spages (Linda Miller) hat zwei Töchter, die neunjährige Karen (Brooke Shields in ihrer ersten Filmrolle) und die zwölfjährige Alice (Paula E. Sheppard). Als Karens Erstkommunion herannaht, schenkt ihr Father Tom (Rudolph Willrich), der sehr eng mit Catherine befreundet ist, ein kleines Kruzifix, das einmal seiner eigenen Mutter gehörte. Das Mädchen ist scheinbar der Liebling aller. Ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester. Alice ist – vorsichtig ausgedrückt – ein "schwieriges" Kind störrisch, aggressiv und immer wieder auf beunruhigende Weise grausam. Offenbar angetrieben von Eifersucht terrorisiert sie Karen bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Doch ihre kleine Schwester ist das nicht das einzige Opfer ihrer Grausamkeiten. Da sind z.B. auch der ziemlich widerliche und monströs übergewichtige Vermieter Mr. Alphonso (Alphonso DeNoble) und Father Toms ältliche Haushälterin Mrs. Tredoni (Mildred Clinton). Immer wieder entzieht sich Alice der Aufsicht der Erwachsenen, steigt in den Keller des Mietshauses hinab, wo sie sich eine Art bizarren "Altar" eingerichtet hat, und legt einen gelben Regenmantel und eine gruselige Plastikmaske an, um in dieser Verkleidung ihre sadistischen "Rachefeldzüge" zu unternehmen {oder sich einfach von der übrigen Welt abzukapseln}.
Als Karen am Tag ihrer Erstkommunion in der Kirche auf grausame Weise ermordet wird, wobei der Killer erwähntes Kruzifix an sich nimmt, und einige Tage später Catherines Schwester Annie DeLorenze (Jane Lowry) von jemandem, der Alice' Verkleidung trägt, mit einem Fleischermesser attackiert und schwer verwundet wird, gerät diese ohnehin nicht eben spannungsfreie Welt völlig aus den Fugen. Ist die zwölfjährige Alice tatsächlich eine psychopathische Killerin? Vieles spricht dafür, aber natürlich wollen dies weder Catherine noch "Dom" (Niles McMaster), der wegen Karens Beerdigung nach Paterson zurückgekehrt ist, wahrhaben ...

Alice, Sweet Alice besitzt ohne Zweifel eine ganze Phalanx von Vorbildern, aus denen Alfred Sole seine Inspiration bezogen hat. Was die meisten von ihnen angeht, hat der Regisseur das auch nie geleugnet: "... a combination of Hitchcock, The Bad Seed [a 1956 film adapted from Maxwell Anderson's play], and Don't Look Now". Der Film selbst gibt da recht offene Hinweise. So können wir in einer Szene im Hintergrund ein Kinoplakat für Psycho erspähen, und mit Alice' gelbem Regenmantel wird ganz offen auf Nicolas Roegs in Deutschland unter dem Titel Wenn die Gondeln Trauer tragen bekannten Horrorklassiker angespielt. Doch erstaunlicherweise hat Sole stets steif und fest behauptet, das italienische Genre des Giallo sei ihm zu diesem Zeitpunkt noch völlig unbekannt gewesen: "[He] claims, he had never seen any of Dario Argento's films, for example, at the time"* Dabei sind die stilistischen Ähnlichkeiten doch recht augenfällig. Aus gutem Grund wird Alice, Sweet Alice immer mal wieder als einer der "giallo-esquesten" amerikanischen Horrorfilme aller Zeiten bezeichnet. Als direkte Vorbilder werden dabei manchmal Argentos Klassiker Profondo Rosso (1975) und Aldo Lados Chi l'ha vista morire? / Who Saw Her Die? (1972) genannt. Sei dem, wie ihm sei, auf jedenfall denke ich, dass eine gewisse Vertrautheit mit dem Giallo von Vorteil ist, um Soles Film richtig einzuschätzen.

Was den Film in meinen Augen in den Rang eines kleinen Klassikers erhebt, ist zu erst einmal Alice. Gespielt von der zum Zeitpunkt des Drehs neunzehnjährigen Paula Sheppard, die sechs Jahre später auch in dem berühmt-berüchtigten Kulftfilm Liquid Sky mitwirken würde, besitzt sie eine ungemein verstörende Präsenz, angefangen von jener frühen Szene, in der sie liebevoll-fasziniert ein Herz-Jesu-Bild streichelt ganz offensichtlich angezogen von der Morbidität des Dargestellten, nicht von dessen religiöser Symbolik bis hin zu der wirklich gruseligen letzten Einstellung des Films, die einen sicher noch lange verfolgen wird. Sobald sich der Fokus etwas von ihr entfernt, büßt der Streifen merklich an Faszinationskraft ein, doch immer, wenn sie im Zentrum steht, gelingt es Sole auf meisterliche Weise, Szenen von geradezu beklemmender Intensität zu schaffen. Und so erschreckend die Bösartigkeit und Grausamkeit des Mädchens auf den Zuschauer auch wirken müssen, zugleich vermittelt uns der Film ein Gefühl dafür, dass es irgendwelche Gründe geben muss, die sie zu dem gemacht haben, was sie ist. Wenn sie sich in ihr bizarres Refugium im Keller zurückzieht und ihre Verkleidung anlegt, versucht sie ganz offensichtlich der Realität zu entfliehen und eine "andere Person" zu werden. Warum? Auf diese Frage gibt der Film keine eindeutige Antwort.
John Kenneth Muir, Autor des Buches Horror Films of the 1970s, sieht darin eine seiner größten Schwächen. Diesem Urteil kann ich mich ganz und gar nicht anschließen. Ich würde sogar beinah das Gegenteil behaupten wollen. Betrachtet man Alice, Sweet Alice als eine Art amerikanischen Giallo, so wird man eine solche Antwort nämlich gar nicht erst erwarten. 
In meinen Augen ist der Giallo kein "realistisches" Genre, er besitzt vielmehr einen leicht surreal-phantastischen Charakter. Ein logischer Plot oder glaubwürdige Charaktermotivationen spielen eine untergeordnete Rolle. Wovon ein Giallo lebt ist in erster Linie seine Atmosphäre. Die besten Vertreter des Genres vermitteln auf sehr eindringliche und faszinierende Weise das Bild einer kranken Welt, in der die Beziehungen zwischen den Menschen zutiefst pervertiert worden sind. Die mörderischen Handlungen, die scheinbar im Zentrum der Geschichte stehen, sind im Grunde nur ein konzentrierter Ausdruck dieser allgemeinen Atmosphäre. Ähnlich verhält es sich auch mit Alice, Sweet Alice. Wir brauchen keine offen formulierte Erklärung, warum das Mädchen eine gestörte Persönlichkeit besitzt. Die Atmosphäre des Films ist Antwort genug.
Symbole christlich-katholischer Religiosität – Kruzifixe, Jesusbilder, Marienstatuetten etc. sind schier allgegenwärtig, und oft sind sie in einer Art gefilmt, die den Eindruck erweckt, als ragten sie wie irgendwelche monströsen Götzenbilder über der Welt der Menschen auf, welche gezwungen sind, in ihrem Schatten zu leben. Es ist nicht verwunderlich, dass der Film von kirchlicher Seite heftig bekämpft wurde und scheinbar sogar zu Alfred Soles Exkommunikation führte. Doch scheint mir der religionskritische Aspekt des Streifens oft falsch interpretiert zu werden. So als seien die Morde selbst unmittelbar religiös motiviert, als ginge es der Mörderin {oder dem Mörder?} darum, vermeintliche "Sünder" zu bestrafen. {John Kenneth Muir zieht sogar David Finchers Seven (1995) zum Vergleich heran, was ich aus mehr als einem Grund für völlig verfehlt halte.} Da ich nicht gar zur weit in Spoilerterritorium vorstoßen will, kann ich nicht genau erklären, warum ich diese Interpretation für falsch halte. Kurz gesagt: Die "religiös-moralischen" Argumente scheinen mir eher eine Art Selbstrechtfertigung für Handlungen zu sein, die in Wirklichkeit von einer tiefen – zum Teil, aber nicht ausschließlich sexuellen – Frustration angetrieben werden. Diese selbst ist allerdings aufs engste mit dem katholischen Charakter des Milieus verknüpft, in dem die handelnden Personen leben. Ein Milieu, das es ihnen oftmals nicht erlaubt, ihren wahren Gefühlen und Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Beziehung zwischen Catherine und Father Tom. Zwischen den beiden herrscht eine unbezweifelbare erotische Spannung, die jedoch nie offen thematisiert wird. Die Auswirkungen der repressiven katholischen Moral werden noch zusätzlich dadurch verkompliziert, dass sich die von ihr beherrschte Welt in einem Zustand des Übergangs befindet. Die Geschichte spielt in den frühen 60er Jahren, einer Zeit, in der sich selbst der reaktionäre Dinosaurier Katholische Kirche allmählich und zaghaft der Moderne gegenüber zu öffnen begann. Father Tom ist ganz offensichtlich der Vertreter einer neuen, liberaleren Generation. So bereitet ihm z.B. die Tatsache, das Catherine  und "Dom" getrennt leben {vielleicht sogar geschieden sind?} keinerlei Probleme. Und auch die Szenen, in denen wir die Gemeinde in der Kirche versammelt sehen, weisen auf subtile Art auf diesen Übergang hin. Viele der Frauen und Mädchen halten während der Messe ihr Haar in alter katholischer Tradition mit Kopftüchern oder Schleiern bedeckt. Doch nicht mehr alle. Nun mag man vielleicht einwenden, dass diese zaghafte Liberalisierung doch ohne Frage etwas gutes gewesen sei, wie könne sie die psychische Lage der Menschen, die in diesem Milieu leben, verschlimmern? Ganz einfach man stelle sich einmal vor, man habe sein ganzes Leben einer Ideologie gewidmet, die von einem verlangt, die eigenen Bedürfnisse unbarmherzig zu unterdrücken, nur um am Ende erleben zu müssen, wie die offiziellen Vertreter dieser Ideologie selbst an ihrer Vollkommenheit zu zweifeln beginnen, und der Glaube, dem man alles geopfert hat, einem schließlich so erscheinen muss, wie der greise Monsignore, der in Father Toms Haus lebt: Einst von allen respektiert, nun bloß noch ein debiler, sabbender Greis.

Es ließe sich sicher noch sehr viel mehr über Alice, Sweet Alice sagen. Über die großartige Komposition einzelner Szenen, die atmosphärischen Sets, die an mehreren Stellen eingeflochtene Thematik von Pädophilie und Kindesmissbrauch, die Musik usw. usf. Doch ich will es für den Moment dabei belassen und zum Abschluss bloß noch einmal allen Freundinnen & Freunden des filmischen Grauens wärmstens ans Herz legen, sich dieses kleine Juwel des amerikanischen Horrorkinos bei Gelegenheit einmal anzuschauen. Sie werden es ganz sicher nicht bereuen.  


* David Boyt & R.Barton Palmer (Hg.): After Hitchcock. Influence, Imitation, and Intertextuality. S. 196.