Wie ich in meinem letzten Post erwähnt habe, war es mir aus familiären Gründen unmöglich, Halloween 2015 so zu begehen, wie ich mir das eigentlich gewünscht hätte. Doch ungefähr um zehn Uhr nachts hatte ich dann doch endlich die Gelegenheit, das Licht zu dimmen, mir ein Glas Rotwein einzugießen und mich auf einen kleinen Trip in die gruseligeren Regionen der Filmwelt zu begeben.
Dank meiner wundervollen Twitter-Kumpelin Beth – deren Blog Magical Horror zu besuchen, ich allen Fans des cineastischen Grauens nur wärmstens empfehlen kann – standen mir dabei eine ganze Reihe interessanter Flicks zur Auswahl. Entschieden habe ich mich letztlich für zwei Filme, die zwar keinerlei übernatürliche Elemente enthalten, aber nichtsdestoweniger ziemlich unheimlich und verstörend sind: Alice, Sweet Alice (1976) und Pin (1988).
Für den Großteil seiner Karriere in der Filmindustrie arbeitete Alfred Sole als Produktionsdesigner. Nur viermal nahm er auf dem Regiestuhl Platz, und das Ergebnis dessen ist ein recht kurioses Mini-Ouevre, bestehend aus dem Porno Deep Sleep (1972); Alice, Sweet Alice (1976); dem äußerst bizarr klingenden Tanya's Island (1980), in dem Denise Matthews / Vanity offenbar eine sexuelle Beziehung mit einem Affen eingeht; sowie der Slasher-Parodie Pandemonium (1982) – hierzulande unter dem einfallsreichen Titel Freitag der 713. vermarktet. Das liest sich jetzt vielleicht nicht gerade wie die Filmographie eines verkannten Genies, aber zumindest auf mich übt diese bizarre Mixtur doch einen eigenartigen Reiz aus. Wie Alice, Sweet Alice sehr eindrücklich belegt, besaß Sole ein nicht unbeträchtliches filmerisches Talent, und selbst wenn der Streifen sein einziges wirklich gelungenes Werk sein sollte – was die allgemein verbreitete Meinung zu sein scheint –, könnte ich mir doch vorstellen, dass ich mich eines Tages mal auf die Jagd nach seinen anderen Flicks begeben werde.
Die Stadt Paterson in New Jersey war einst das Zentrum der amerikanischen Seidenindustrie und hatte aus diesem Grund vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhundert eine massive Zuwanderung von mehrheitlich aus Italien stammenden Arbeitern & Arbeiterinnen erlebt. Noch Jahrzehnte später existierten deshalb zahlreiche streng katholisch geprägte Gemeinschaften in der Stadt. Dies ist das Milieu, in dem Alice, Sweet Alice – auch bekannt als Communion und Holy Terror – angesiedelt ist. Ein Milieu, das der in Paterson geborene und aufgewachsene "Ex-Katholik" Alfred Sole vermutlich aus eigener Anschauung sehr gut kannte.
Entgegen meiner Gewohnheit werde ich versuchen, meine Zusammenfassung des Plots möglichst spoilerfrei zu halten, auch wenn das die Besprechung des Films naturgemäß etwas erschweren wird.
Die von ihrem Eheman Dominick ("Dom") getrennt lebende Catherine Spages (Linda Miller) hat zwei Töchter, die neunjährige Karen (Brooke Shields in ihrer ersten Filmrolle) und die zwölfjährige Alice (Paula E. Sheppard). Als Karens Erstkommunion herannaht, schenkt ihr Father Tom (Rudolph Willrich), der sehr eng mit Catherine befreundet ist, ein kleines Kruzifix, das einmal seiner eigenen Mutter gehörte. Das Mädchen ist scheinbar der Liebling aller. Ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester. Alice ist – vorsichtig ausgedrückt – ein "schwieriges" Kind – störrisch, aggressiv und immer wieder auf beunruhigende Weise grausam. Offenbar angetrieben von Eifersucht terrorisiert sie Karen bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Doch ihre kleine Schwester ist das nicht das einzige Opfer ihrer Grausamkeiten. Da sind z.B. auch der ziemlich widerliche und monströs übergewichtige Vermieter Mr. Alphonso (Alphonso DeNoble) und Father Toms ältliche Haushälterin Mrs. Tredoni (Mildred Clinton). Immer wieder entzieht sich Alice der Aufsicht der Erwachsenen, steigt in den Keller des Mietshauses hinab, wo sie sich eine Art bizarren "Altar" eingerichtet hat, und legt einen gelben Regenmantel und eine gruselige Plastikmaske an, um in dieser Verkleidung ihre sadistischen "Rachefeldzüge" zu unternehmen {oder sich einfach von der übrigen Welt abzukapseln}.
Als Karen am Tag ihrer Erstkommunion in der Kirche auf grausame Weise ermordet wird, wobei der Killer erwähntes Kruzifix an sich nimmt, und einige Tage später Catherines Schwester Annie DeLorenze (Jane Lowry) von jemandem, der Alice' Verkleidung trägt, mit einem Fleischermesser attackiert und schwer verwundet wird, gerät diese ohnehin nicht eben spannungsfreie Welt völlig aus den Fugen. Ist die zwölfjährige Alice tatsächlich eine psychopathische Killerin? Vieles spricht dafür, aber natürlich wollen dies weder Catherine noch "Dom" (Niles McMaster), der wegen Karens Beerdigung nach Paterson zurückgekehrt ist, wahrhaben ...
Alice, Sweet Alice besitzt ohne Zweifel eine ganze Phalanx von Vorbildern, aus denen Alfred Sole seine Inspiration bezogen hat. Was die meisten von ihnen angeht, hat der Regisseur das auch nie geleugnet: "... a combination of Hitchcock, The Bad Seed [a 1956 film adapted from Maxwell Anderson's play], and Don't Look Now". Der Film selbst gibt da recht offene Hinweise. So können wir in einer Szene im Hintergrund ein Kinoplakat für Psycho erspähen, und mit Alice' gelbem Regenmantel wird ganz offen auf Nicolas Roegs in Deutschland unter dem Titel Wenn die Gondeln Trauer tragen bekannten Horrorklassiker angespielt. Doch erstaunlicherweise hat Sole stets steif und fest behauptet, das italienische Genre des Giallo sei ihm zu diesem Zeitpunkt noch völlig unbekannt gewesen: "[He] claims, he had never seen any of Dario Argento's films, for example, at the time"* Dabei sind die stilistischen Ähnlichkeiten doch recht augenfällig. Aus gutem Grund wird Alice, Sweet Alice immer mal wieder als einer der "giallo-esquesten" amerikanischen Horrorfilme aller Zeiten bezeichnet. Als direkte Vorbilder werden dabei manchmal Argentos Klassiker Profondo Rosso (1975) und Aldo Lados Chi l'ha vista morire? / Who Saw Her Die? (1972) genannt. Sei dem, wie ihm sei, auf jedenfall denke ich, dass eine gewisse Vertrautheit mit dem Giallo von Vorteil ist, um Soles Film richtig einzuschätzen.
Was den Film in meinen Augen in den Rang eines kleinen Klassikers erhebt, ist zu erst einmal Alice. Gespielt von der zum Zeitpunkt des Drehs neunzehnjährigen Paula Sheppard, die sechs Jahre später auch in dem berühmt-berüchtigten Kulftfilm Liquid Sky mitwirken würde, besitzt sie eine ungemein verstörende Präsenz, angefangen von jener frühen Szene, in der sie liebevoll-fasziniert ein Herz-Jesu-Bild streichelt – ganz offensichtlich angezogen von der Morbidität des Dargestellten, nicht von dessen religiöser Symbolik – bis hin zu der wirklich gruseligen letzten Einstellung des Films, die einen sicher noch lange verfolgen wird. Sobald sich der Fokus etwas von ihr entfernt, büßt der Streifen merklich an Faszinationskraft ein, doch immer, wenn sie im Zentrum steht, gelingt es Sole auf meisterliche Weise, Szenen von geradezu beklemmender Intensität zu schaffen. Und so erschreckend die Bösartigkeit und Grausamkeit des Mädchens auf den Zuschauer auch wirken müssen, zugleich vermittelt uns der Film ein Gefühl dafür, dass es irgendwelche Gründe geben muss, die sie zu dem gemacht haben, was sie ist. Wenn sie sich in ihr bizarres Refugium im Keller zurückzieht und ihre Verkleidung anlegt, versucht sie ganz offensichtlich der Realität zu entfliehen und eine "andere Person" zu werden. Warum? Auf diese Frage gibt der Film keine eindeutige Antwort.
John Kenneth Muir, Autor des Buches Horror Films of the 1970s, sieht darin eine seiner größten Schwächen. Diesem Urteil kann ich mich ganz und gar nicht anschließen. Ich würde sogar beinah das Gegenteil behaupten wollen. Betrachtet man Alice, Sweet Alice als eine Art amerikanischen Giallo, so wird man eine solche Antwort nämlich gar nicht erst erwarten.
In meinen Augen ist der Giallo kein "realistisches" Genre, er besitzt vielmehr einen leicht surreal-phantastischen Charakter. Ein logischer Plot oder glaubwürdige Charaktermotivationen spielen eine untergeordnete Rolle. Wovon ein Giallo lebt ist in erster Linie seine Atmosphäre. Die besten Vertreter des Genres vermitteln auf sehr eindringliche und faszinierende Weise das Bild einer kranken Welt, in der die Beziehungen zwischen den Menschen zutiefst pervertiert worden sind. Die mörderischen Handlungen, die scheinbar im Zentrum der Geschichte stehen, sind im Grunde nur ein konzentrierter Ausdruck dieser allgemeinen Atmosphäre. Ähnlich verhält es sich auch mit Alice, Sweet Alice. Wir brauchen keine offen formulierte Erklärung, warum das Mädchen eine gestörte Persönlichkeit besitzt. Die Atmosphäre des Films ist Antwort genug.
Symbole christlich-katholischer Religiosität – Kruzifixe, Jesusbilder, Marienstatuetten etc. – sind schier allgegenwärtig, und oft sind sie in einer Art gefilmt, die den Eindruck erweckt, als ragten sie wie irgendwelche monströsen Götzenbilder über der Welt der Menschen auf, welche gezwungen sind, in ihrem Schatten zu leben. Es ist nicht verwunderlich, dass der Film von kirchlicher Seite heftig bekämpft wurde und scheinbar sogar zu Alfred Soles Exkommunikation führte. Doch scheint mir der religionskritische Aspekt des Streifens oft falsch interpretiert zu werden. So als seien die Morde selbst unmittelbar religiös motiviert, als ginge es der Mörderin {oder dem Mörder?} darum, vermeintliche "Sünder" zu bestrafen. {John Kenneth Muir zieht sogar David Finchers Seven (1995) zum Vergleich heran, was ich aus mehr als einem Grund für völlig verfehlt halte.} Da ich nicht gar zur weit in Spoilerterritorium vorstoßen will, kann ich nicht genau erklären, warum ich diese Interpretation für falsch halte. Kurz gesagt: Die "religiös-moralischen" Argumente scheinen mir eher eine Art Selbstrechtfertigung für Handlungen zu sein, die in Wirklichkeit von einer tiefen – zum Teil, aber nicht ausschließlich sexuellen – Frustration angetrieben werden. Diese selbst ist allerdings aufs engste mit dem katholischen Charakter des Milieus verknüpft, in dem die handelnden Personen leben. Ein Milieu, das es ihnen oftmals nicht erlaubt, ihren wahren Gefühlen und Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Beziehung zwischen Catherine und Father Tom. Zwischen den beiden herrscht eine unbezweifelbare erotische Spannung, die jedoch nie offen thematisiert wird. Die Auswirkungen der repressiven katholischen Moral werden noch zusätzlich dadurch verkompliziert, dass sich die von ihr beherrschte Welt in einem Zustand des Übergangs befindet. Die Geschichte spielt in den frühen 60er Jahren, einer Zeit, in der sich selbst der reaktionäre Dinosaurier Katholische Kirche allmählich und zaghaft der Moderne gegenüber zu öffnen begann. Father Tom ist ganz offensichtlich der Vertreter einer neuen, liberaleren Generation. So bereitet ihm z.B. die Tatsache, das Catherine und "Dom" getrennt leben {vielleicht sogar geschieden sind?} keinerlei Probleme. Und auch die Szenen, in denen wir die Gemeinde in der Kirche versammelt sehen, weisen auf subtile Art auf diesen Übergang hin. Viele der Frauen und Mädchen halten während der Messe ihr Haar in alter katholischer Tradition mit Kopftüchern oder Schleiern bedeckt. Doch nicht mehr alle. Nun mag man vielleicht einwenden, dass diese zaghafte Liberalisierung doch ohne Frage etwas gutes gewesen sei, wie könne sie die psychische Lage der Menschen, die in diesem Milieu leben, verschlimmern? Ganz einfach – man stelle sich einmal vor, man habe sein ganzes Leben einer Ideologie gewidmet, die von einem verlangt, die eigenen Bedürfnisse unbarmherzig zu unterdrücken, nur um am Ende erleben zu müssen, wie die offiziellen Vertreter dieser Ideologie selbst an ihrer Vollkommenheit zu zweifeln beginnen, und der Glaube, dem man alles geopfert hat, einem schließlich so erscheinen muss, wie der greise Monsignore, der in Father Toms Haus lebt: Einst von allen respektiert, nun bloß noch ein debiler, sabbender Greis.
Es ließe sich sicher noch sehr viel mehr über Alice, Sweet Alice sagen. Über die großartige Komposition einzelner Szenen, die atmosphärischen Sets, die an mehreren Stellen eingeflochtene Thematik von Pädophilie und Kindesmissbrauch, die Musik usw. usf. Doch ich will es für den Moment dabei belassen und zum Abschluss bloß noch einmal allen Freundinnen & Freunden des filmischen Grauens wärmstens ans Herz legen, sich dieses kleine Juwel des amerikanischen Horrorkinos bei Gelegenheit einmal anzuschauen. Sie werden es ganz sicher nicht bereuen.
* David Boyt & R.Barton Palmer (Hg.): After Hitchcock. Influence, Imitation, and Intertextuality. S. 196.
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