Zu Beginn von H.P. Lovecrafts Traumsuche nach
dem unbekannten Kadath (The Dream-Quest of Unknown Kadath) schaut Protagonist Randolph Carter die Vision einer
strahlenden „Stadt der Schönheit und überirdischen Immanenz“,
die offensichtlich die Utopie eines kultivierten Lebens verkörpern
soll:
Ganz golden und lieblich glänzte sie im Sonnenuntergang, mit Mauern, Tempeln, Kolonnaden und Bogenbrücken aus geädertem Marmor, Fontänen prismatischen Sprühregens in silbernen Bassins auf weiten Plätzen und inmitten duftender Gärten und breiten Straßen, die zwischen köstlichen Bäumen, blütenüberladenen Urnen und glühenden Reihen elfenbeinerner Statuen verliefen, während an schroffen Nordhängen Zeilen roter Dächer und alter, spitzer Giebel emporklommen und kleine grasüberwachsene Pflastersträßchen beherbergten. Sie war ein Fieber der Götter, eine Fanfare himmlischer Trompeten und ein Geschmetter unvergänglicher Zimbeln. Geheimnis umlagerte sie wie Wolken einen sagenhaften unbestiegenen Berg, und als Carter atemlos und erwartungsvoll auf jener Brustwehr mit dem steinernen Geländer ringsum stand, da schwemmten zu ihm herauf Bitternis und Zweifel fast versunkener Erinnerung, der Schmerz über verlorene Dinge und das rasende Bedürfnis, sich wieder dessen zu entsinnen, was einst eine ehrfurchtgebietende und wichtige Stätte gewesen war.
Da die Götter ihm den
Zugang zu diesem Paradies verwehren, macht sich Randolph Carter auf
die Suche nach dem geheimnisvollen Kadath, dem Olymp des
Traumlandes, um seine Bitte den Unsterblichen direkt vorzulegen. Als er nach
vielem hin und her endlich den Gipfel des Berges erreicht hat, wird
ihm dort von dem satanischen Nyarlathotep eröffnet, dass die
wundersame Stadt nichts anderes sei, als „die Summe dessen, was
du in der Jugend geschaut und geliebt hast“. Das Paradies ist
... Neuengland!
Die Pracht von Bostons Hügeldächern und Westfenstern ... das
antike Salem mit seinen brütenden Jahren ... Providence, schmuck und
herrschaftlich auf seinen sieben Hügeln über dem blauen Hafen ...
kühle Täler in Concord, Pflasterstraßen in Portsmouth, dämmerige
Wegbiegungen im ländlichen New Hampshire ... Dies alles, Randolph
Carter, ist deine Stadt; denn du bist es selbst. New England gebar
dich, und in deine Seele goß es eine sanfte Lieblichkeit, die nicht
sterben kann. (1)
Hinter der prachtvollen
Fassade der "Stadt im Sonnenuntergang" verbirgt sich ganz
offensichtlich in erster Linie die Sehnsucht nach der sicheren und
geborgenen Welt der Kindheit, und auf einmal liegt ein Hauch von
Neverland über den lovecraftschen Traumgefilden. Robert M. Price
vertritt in einem Artikel in Nightscapes die interessante
These, die Traumreise sei u.a. von L. Frank Baums The
Wonderful Wizard of Oz inspiriert worden. Die Parallelen mögen
nicht so eindeutig sein, wie Price zu glauben scheint, aber es ist
schon etwas dran an dem Vergleich, der düster-zynischen
Lovecraftianern vermutlich wie eine Beleidigung ihres Meisters
vorkommen muss.
Die Erinnerung an die Welt seiner Kindertage rettet Randolph Carter schließlich davor, vom chaotischen Limbus der Äußeren Götter verschlungen zu werden, und führt ihn glücklich zurück ins heimatliche Boston.
Die Erinnerung an die Welt seiner Kindertage rettet Randolph Carter schließlich davor, vom chaotischen Limbus der Äußeren Götter verschlungen zu werden, und führt ihn glücklich zurück ins heimatliche Boston.
Lovecraft verfasste The Dream-Quest of Unknown Kadath in jener äußersten kreativen Phase seines Lebens, die unmittelbar auf seine Rückkehr von New York nach Providence im Jahr 1926 folgte und über die er 1927 in einem Brief an Clark Ashton Smith schrieb:
What I absolutely must
have - & that is about the only
thing really essential to me - is a general atmosphere exactly like
that of my youth - the same scenes, the same kind of faces &
voices & thoughts & opinions around me - the same type of
sounds & impressions. I did not realise my dependence on these
things till I tried living in New York, but then I was very soon made
to see my essential attachment to them. I discovered that the cosmic
& cosmopolitan element in me is the thinnest of veneers, &
that I am actually - so far as all the deeper emotions & springs
of action are concerned - an extremely localised New Englander of the
most pronounced type. In New York my mental processes were virtually
atrophied for want of contact with the impressions which form their
exclusive nourishment - I was an unassimilated alien there, &
always would have been. Only the return home liberated &
resuscitated my faculties, such as they are. [...] That
ethereal sense of identity with my own native & hereditary soil &
institutions is the one essential condition of intellectual life - &
even of a sense of complete existence & waking reality - which I
cannot do without. Like Antaeus of old, my strength depends on
repeated contact with the soil of the Mother Earth that bore me. (2)
Selbst der in derselben Periode entstandene Silberschlüssel (The Silver Key) – jene Story, in der Lovecraft sein Ideal einer von der Realität losgelösten Kunst am offensten formulierte – ist nur scheinbar eine Geschichte über das Wiederfinden des Traumlandes. In Wirklichkeit geht es auch in ihr hauptsächlich um die Rückkehr in die Heimat. Als Randolph Carter jenen Schlüssel findet, der ihm schließlich das Tor der Träume wieder aufschließen wird, beginnt er nächtliche Visionen zu empfangen,
deren Sinn nicht mißzuverstehen war. Sie riefen ihn über die Jahre zurück und zogen ihn mit dem vereinten Willen aller seiner Vorväter zu einem verborgenen Ursprung. Da wußte er, daß er in die Vergangenheit gehen und sich mit den alten Dingen verschmelzen mußte (3)
Also fährt er zurück
ins heimatliche Neuengland und sucht den alten, inzwischen
verlassenen Familiensitz auf. Und während er nach und nach in die
Welt seiner Kindheit zurückgleitet, eröffnet sich ihm aufs neue der
Pfad ins Land der Träume. Doch das Durchschreiten des Tores wird
nicht mehr beschrieben und zurück bleibt vor allem der Eindruck
einer Heimkehr zu den Wurzeln von Familie und Tradition.
Sein literarisches Werk wie seine private Korrespondenz lassen keinen Zweifel daran, wie wichtig Heimat und Tradition für den Alten Gentlelman waren. Dennoch sah er in der phantastischen Kunst in erster Linie ein Mittel, die Grenzen des Bekannten zu überschreiten und der als unerträglich empfundenen Realität zu entfliehen. Auch wenn die Sphären, in die vorzustoßen er dabei beabsichtigte, in seinem späteren Oeuvre nicht mehr die farbenfrohen Gefilde der von Lord Dunsanys Dichtungen inspirierten "Traumlande", sondern die kosmischen Abgründe des Cthulhu-Mythos waren. In gewisser Hinsicht wirkt das wie ein Widerspruch. Weshalb verlangte es Lovecraft nach den Weiten des Kosmos, wenn er das Heil doch ohnehin längst im Anblick der grünen Hügel Neuenglands gefunden hatte? Warum schrieb er nicht einfach nur noch lyrische Gedichte über die Schönheit von Rhode Island und Massachusetts?
Zumindest einen Teil der
Antwort finden wir in der 1921 entstandenen Traumland-Geschichte
Iranons Suche (The Quest of Iranon).
Dort wird von einem wandernden Sänger berichtet, der auf der Suche nach seiner feenhaft schönen Heimat Aira von Stadt zu Stadt zieht, ohne je sein Ziel zu erreichen. Er selbst bezeichnet sich als Prinz und Thronerbe von Aira, das er in frühester Kindheit verlassen habe Die beiden wichtigsten Orte, zu denen Iranon auf seiner Wanderung gelangt, sollen offensichtlich zwei Lovecraft besonders verhasste Aspekte der modernen Gesellschaft verkörpern. Da ist zum einen die Granitstadt Teloth mit ihren „düsteren, viereckigen Häusern“, deren Bewohner nur auf Nützlichkeit und praktische Arbeit bedacht sind und für die Schönheit und Poesie bloße Zeitverschwendung darstellen, zum anderen Oonai, die „Stadt der Lauten und Tänze“, ein Ort nie endender sinnloser Orgien und Ausschweifungen, in der die Kunst zu einem reinen "Unterhaltungsartikel" verkommen ist. Und so zieht der scheinbar ewigjunge Iranon weiter durch die Lande, „während er von Aira, Wonne der Vergangenheit und Hoffnung der Zukunft“ singt. Bis er eines Tages einem alten Hirten begegnet, der ihm die Wahrheit über seine Herkunft enthüllt. Es habe nie ein strahlendes Aira gegeben, doch der Alte kann sich an einen Bettlerjungen aus seiner Kindheit erinnern, der sich einbildete, Prinz in einer Stadt dieses Namens gewesen zu sein:
Dort wird von einem wandernden Sänger berichtet, der auf der Suche nach seiner feenhaft schönen Heimat Aira von Stadt zu Stadt zieht, ohne je sein Ziel zu erreichen. Er selbst bezeichnet sich als Prinz und Thronerbe von Aira, das er in frühester Kindheit verlassen habe Die beiden wichtigsten Orte, zu denen Iranon auf seiner Wanderung gelangt, sollen offensichtlich zwei Lovecraft besonders verhasste Aspekte der modernen Gesellschaft verkörpern. Da ist zum einen die Granitstadt Teloth mit ihren „düsteren, viereckigen Häusern“, deren Bewohner nur auf Nützlichkeit und praktische Arbeit bedacht sind und für die Schönheit und Poesie bloße Zeitverschwendung darstellen, zum anderen Oonai, die „Stadt der Lauten und Tänze“, ein Ort nie endender sinnloser Orgien und Ausschweifungen, in der die Kunst zu einem reinen "Unterhaltungsartikel" verkommen ist. Und so zieht der scheinbar ewigjunge Iranon weiter durch die Lande, „während er von Aira, Wonne der Vergangenheit und Hoffnung der Zukunft“ singt. Bis er eines Tages einem alten Hirten begegnet, der ihm die Wahrheit über seine Herkunft enthüllt. Es habe nie ein strahlendes Aira gegeben, doch der Alte kann sich an einen Bettlerjungen aus seiner Kindheit erinnern, der sich einbildete, Prinz in einer Stadt dieses Namens gewesen zu sein:
Und im Zwielicht, als einer nach dem anderen die Sterne hervortraten und der Mond auf die Marsch einen Glanz warf, so wie ihn ein kleiner Junge auf dem Fußboden zittern sieht, während er abends in den Schlaf gewiegt wird, schritt in den tödlichen Treibsand hinein ein sehr alter Mann in zerlumptem Purpur, gekrönt mit welkem Weinlaub, und schaute dabei voraus wie auf die goldenen Kuppeln einer hehren Stadt, wo Träume verstanden werden. In dieser Nacht starb etwas an Jugend und Schönheit in der älteren Welt. (4)
Ohne behaupten zu wollen, The Quest of Iranon sei eine autobiographische Erzählung, dürfte
eines doch feststehen: Im Innersten wusste Lovecraft, dass auch das
Neuengland seiner Träume nur ein Trugbild war
.
.
Er empfand ohne Zweifel
eine tiefe und ehrliche Liebe zur Landschaft Rhode Islands und zu den
Überresten kolonialer Architektur in den Städten Providence und
Newport. In einem Brief an Clark Ashton Smith bezeichnete er sich
einmal als einen „natural-born rustic whose tastes run largely
to green fields & venerable groves“ (5), und tatsächlich streifte
er oft stundenlang durch die Wälder von Quinsnicket nördlich seiner
Heimatstadt, um sich schließlich auf einem großen Felsblock über
dem See niederzulassen – „a favourite haunt of mine“ –
lesend, schreibend oder einfach die Szenerie des neuenglischen
Vorfrühlings genießend:
There were still patches of snow on the shady slopes, & the ice of the ponds was still unmelted; but brooks were running genially & noisily, & a haze of awakening lay upon all the hills & upland meadows. There is a curious magic in a New England spring even before the visual scene takes on beauty. It always makes me regret my lack of poetic powers. (6)Entgegen dem Klischee vom einsiedlerischen Horrorschriftsteller, der nur des nachts bei Kerzenschein schreibt, arbeitete Lovecraft bei gutem Wetter so oft es ging im Freien, „thus drawing some modicum of stimulus from the green loveliness of spring & the winding, archaic lanes of old Providence ......“ (7) In seinen Briefen finden sich mitunter Landschaftsskizzen von geradezu lyrischer Qualität:
Nothing else on earth has power to thrill me as poignantly as an old Rhode-Island upland at sunset, with straggling lines of stone wall, cool woods in the background, & dappled kine with tinkling bells strolling homeward through the green of the grass & the grey of the out-cropping granite ledges. And the little white gables of archaic farmhouses, windows lighting up one by one to match the twilight fireflies by the still meadow pool, are things without which I could not live very long ...... (8)
Doch bezeichnenderweise
spielen die menschlichen Bewohner Rhode Islands in diesem Idyll keine
Rolle, „except as vague & distant decorative elements, to be
classified according to what their dress, physiognomy, & voice
contribute to the general geographical impression.“ Wenn
Lovecraft in einem Brief an James F. Morton die berühmt gewordene
Formulierung „I am Providence“ verwendete, die heute
seinen Grabstein ziert, so bezog sich das nicht auf die reale Stadt
der 20er Jahre, deren Einwohner ihm stets fremd blieben und mit denen
er eigentlich auch gar nichts zu tun haben wollte: „As a matter
of fact, the mental attitude of Providence would probably be
decidedly hostile to me if I tried to mingle in it - but I've never
tried, so far.“ (9)
Das nüchterne und
geschäftstüchtige Yankeetum kann kaum nach seinem Geschmack gewesen
sein, und in einer seiner Erzählungen beklagt er ausdrücklich
„Neuenglands selbstzufriedene Taubheit für die feinen Obertöne
des Lebens“ (10) Die Stadt an der
Narragansett Bay, in der er lebte, war ganz sicher nicht die magische "Stadt im Sonnenuntergang", und das Neuengland, mit dem er sich
identifizierte, blieb bei aller Liebe zu den felsgekrönten Hügeln
und grünen Wäldern von Rhode Island eine mythische Landschaft.
Nicht zufällig steht das fiktive Arkham im Zentrum vieler seiner
Erzählungen und keine reale Stadt wie Boston oder Providence. (11)
Ist Lovecrafts Neuengland
in gewisser Hinsicht also nicht weniger irreal als das Traumland, so
unterscheidet es sich doch sehr deutlich durch seine provinziellen
Dimensionen von den unendlichen Weiten der Meere, Wüsten und
Dschungel, die Randolph Carter auf seiner Wanderung zum Kadath
durchqueren muss. Und während Basil Eltons Fahrt auf dem Weißen
Schiff (The White Ship) diesen möglichst weit von der einsamen Insel mit dem
North-Point-Leuchtfeuer wegführen sollte, „das vor mir mein Vater
und mein Großvater hüteten" (12), steht die neuenglische
Heimat für das Verwurzeltsein in Tradition und Familie. Und zwar
nicht so sehr in der real existierenden Familie, als vielmehr in der
langen Reihe verehrungswürdiger Ahnen:
My Providence!
What airy hosts
Turn still thy
gilded vanes;
What winds of elf
that with grey ghosts
People thine
ancient lanes!
The chimes of
evening as of old
Above thy valleys
sound,
While thy stern
fathers 'neath the mould
Make blest thy
sacred ground. (13)
Aber auch hier stellen
sich gewisse Probleme ein, wenn wir versuchen, Idee und Wirklichkeit
miteinander in Einklang zu bringen
Lovecraft entstammte
einer sehr alten Familie. Die mütterliche Linie der Phillipses ließ
sich beinahe bis zur Mayflower, der väterliche Name der
Lovecrafts bis ins England des 15. Jahrhunderts zurückverfolgen. Für
jemanden, der sich so viel aus Abstammung machte, war das sicher
Grund genug für einen ausgeprägten Ahnenstolz. Doch Sippschaft und
Blutlinie sollten ja vor allem als Vermittler der Tradition
fungieren, die Lovecraft als den einzig sicheren Halt inmitten einer
chaotischen Welt betrachtete:
Now what gives one person or race or age relative painlessness &
contentment often disagrees sharply on the psychological side from
what gives these same boons to another person or race or age.
Therefore ‘good’ is a relative & variable quality, depending
on ancestry, chronology, geography, nationality, & individual
temperament. Amidst this variability there is only one anchor of
fixity which we can seize upon as the working pseudo-standard of
‘values’ which we need in order to feel settled & contented –
& that anchor is tradition, the potent emotional legacy
bequeathed to us by the massed experience of our ancestors,
individual or national, biological or cultural. Tradition means
nothing cosmically, but it means everything locally &
pragmatically because we have nothing else to shield us from a
devastating sense of ‘lostness’ in endless time & space. (14)
Wie alle "kosmischen"
Argumentationen des alten Gentleman dürfen wir auch diese nicht einfach so hinnehmen wie
sie dasteht. Lovecrafts ohne Zweifel sehr starkes Gefühl der
Verlorenheit hatte wohl in erster Linie nur wenig mit der Endlosigkeit von Zeit und Raum zu
tun. Wenn er der Tradition einen so hohen Stellenwert einräumte,
dann nicht, weil sie uns vor dem "kosmischen Grauen" bewahrt,
sondern weil sie ihm das einzige Bollwerk gegen eine
gesellschaftliche Entwicklung zu sein schien, von der er glaubte,
dass sie in den Untergang der Zivilisation münden werde: Der Zerfall
der überkommenen sozialen Ordnung; Aufruhr und Anarchie; die
Entfesselung der animalischen Triebe; der rasende Cthulhu ... davor
soll das Festhalten an der Tradition uns bewahren. In diesem Punkt
flossen Lovecrafts moralischer und kultureller Konservatismus mit
seinem Ahnenkult und seinem Rassismus in eins:
No settled & homogeneous nation ought (a) to admit enough of a
decidedly alien race-stock to bring about an actual alteration in the
dominant ethnic composition, or (b) tolerate the dilution of the
culture-stream with emotional & intellectual elements alien to
the original cultural impulse. Both of these perils lead to the most
undesirable results - i.e.,the metamorphosis of the population away
from the original institutions, & the twisting of the institutions away from the original people.....all these things
being aspects of one underlying & disastrous condition - the
destruction of cultural stability, & the creation of a hopeless
disparity between a social group & the institutions under which
it lives. (15)
Die Entfremdung der
Bevölkerung von den Institutionen des Staates ... .Ganz wie zu
Zeiten von The Street fürchtete Lovecraft vor allem immer
noch eines – Die Revolution. (16) Und mit dem Ausbruch der
Weltwirtschaftskrise 1929 sollte diese Furcht ständig neue Nahrung
bekommen.
Aber wenn er von der
Rückbindung an die Tradition als einzigem Schutz vor einem drohenden
Zerfall der gesellschaftlichen Ordnung sprach, an welche Tradition
genau dachte er dann eigentlich?
Vordergründig betrachtet
fußte sein Konservatismus auf den rückständigen Idealen und
Wertvorstellungen der landbesitzenden Gentry, deren Spross er war.
Wie diese aussahen, bekam Noch-Ehefrau Sonia zu spüren, als sie 1926 – das Paar lebte bereits seit gut einem Jahr getrennt – vorschlug,
gleichfalls nach Providence zu ziehen und dort ein eigenes Geschäft
zu eröffnen. HPL und seine Tanten machten ihr sehr
schnell klar, dass sie es mit ihrem sozialen Status nicht vereinbaren
könnten, wenn die Gattin eines Lovecraft – zu allem Überfluss auch
noch eine Jüdin – sich als selbstständige Geschäftsfrau in der
Heimatstadt der Sippe niederlassen würde. Dies hätte ihrem
gesellschaftlichen Ansehen geschadet! Das versetzte der Ehe endgültig
den Todesstoß, auch wenn es erst drei Jahre später zur
rechtskräftigen Scheidung kommen sollte. Wer die bürgerliche
Gesellschaft Neuenglands im beginnenden 20. Jahrhundert genauer
kennen lernen will, der sollte Edith Wartons großartigen Roman House of
Mirth lesen. Was sich ihm oder ihr dabei zeigt, wird kaum
geeignet sein, Sympathien zu wecken.
Aber – so möchte man
ausrufen – dieser ordinäre Snobismus verarmter Kleinstadt-Gentlefolks
kann doch unmöglich den ganzen Inhalt von Lovecrafts strahlender
Vision der "Stadt im Sonnenuntergang" ausgemacht haben! Natürlich
nicht. Doch an diesem Punkt setzen die inneren Widersprüche seines
Traditionalismus ein.
Lovecraft liebte und
verehrte das achtzehnte Jahrhundert, jene Ära „der Schönheit,
Rationalität und geistigen Weite“ (17), doch meinte er damit in
erster Linie das englische, nicht das amerikanische achtzehnte
Jahrhundert. Was weiter nicht verwunderlich ist, denn seine
Begeisterung speiste sich hauptsächlich aus der Literatur jener
Epoche, und die Kolonien brachten niemanden hervor, der einem Pope,
Swift, Johnson, Addison, Defoe oder Sterne hätte das Wasser reichen
können. Mit einem verhältnismäßig gut entwickelten
Bildungssystem, einem lebendigen Pressewesen und nicht zuletzt
natürlich mit der Revolution schuf das 18. Jahrhundert zwar die
Grundlagen, doch von einer wirklich eigenständigen amerikanische
Literatur von Rang kann erst mit dem Auftreten James Fenimore Coopers
und Washington Irvings die Rede sein. Und so verschmolz in Lovecrafts
Phantasie auf ganz eigenartige Weise der nostalgische Blick auf
Neuengland mit einem verklärten Bild des alten England. Über seine
Liebe zu Providence schrieb er einmal: „I have a very real
affection for the old town with its ancient steeples & belfries,
hills & corners, courts & lanes, all reminding me of that
18th century & that Old England which I love so well.“ (18) Für ihn bildete das
vermutlich keinen Widerspruch, verkörperten doch sowohl Neuengland
als auch der englische Klassizismus die Tugenden der angelsächsischen
Rasse. Doch es ist schon bemerkenswert, dass jemand, der so oft seine
Verwurzelung im Mutterboden Rhode Islands betonte und im Kampf gegen
den Kosmopolitismus der Moderne darauf beharrte, dass Kunst „at
bottom exceedingly nativistic & nationalistic“ (19) sei, sich selbst in
erster Linie als Erbe einer geistigen und literarischen Tradition
verstand, die nicht in Providence oder Boston, sondern im fernen
London beheimatet gewesen war. Mehr noch – der von ihm angebetete
Klassizismus war Ausdruck einer höfisch-aristokratischen
Gesellschaft gewesen, wie es sie in dieser Form in Amerika nie
gegeben hattte. Um sich klarzumachen, wie fremd diese angebliche "Tradition" dem Geist Amerikas in Wirklichkeit war, reicht es
aus, sich Alexander Popes geistreich-witziges Versepos The Rape of
the Lock anzuschauen – zu recht eines der berühmtesten Werke des
englischen Klassizismus: Losgelöst von der höfisch-mondänen
Londoner Gesellschaft adeliger Müßiggänger mit ihrer strengen
Etikette und ihren sinnlosen Vergnügungen, die Pope in seinem
Gedicht zugleich verspottet und verherrlicht, wäre diese
meisterhafte Satire überhaupt nicht denkbar. Und nun stelle man sich
daneben das puritanische Neuengland mit seinen biederen,
gottesfürchtigen und geschäftstüchtigen Kaufleuten und
Handwerksmeistern vor. Ein größerer Gegensatz lässt sich kaum
denken. Die Gentry und die in die Kolonien ausgewanderten Teile des
englischen Kleinadels mögen auf ihren Landsitzen versucht haben, den
Lebensstil und die Kultur der königlichen Metropole nachzuahmen,
doch das war nie mehr als eine blutarme Kopie und hatte ganz sicher
zu keiner Zeit den Charakter Neuenglands entscheidend geprägt.
.
Wäre es Lovecraft
tatsächlich um die traditionellen Wurzeln der neuenglischen Kultur
gegangen, so hätte er sich viel eher auf die puritanische Theokratie
zurückbesinnen müssen, die im 17. Jahrhundert in Massachusetts
geherrscht hatte – auf jene Despotie der Tugend also, deren
selbstgerechte Grausamkeit und gottesfürchtige Heuchelei Nathaniel
Hawthorne in seinem berühmten Scarlet Letter auf
so eindrucksvolle Weise beschrieben hat, und deren grausigstes
Produkt der Hexenwahn von Salem im Jahre 1692 gewesen war. Statt auf Pope und
Johnson hätte er sich dann auf Cotton Mather berufen müssen.
Dessen Name taucht tatsächlich mehrfach in seinen Geschichten auf, doch glich Lovecrafts Meinung über das literarische Talent des bekannten Predigers, Chronisten und Hexenjägers wohl der seines exzentrischen Malers Richard Pickman, der über die „albernen ‘Magnalia [Christi Americana]’“ und die „hirnrissigen ‘Wunder der Unsichtbaren Welt’“ (20) spottet. Nein – mit dem Regime der gestrengen Gottesmänner konnte er nichts anfangen, und er hasste und verachtete das „dunkle puritanische Zeitalter, das voll von verborgenem Grauen und Hexengeflüster“ (21) war, auch wenn er dessen Einfluss auf die Entwicklung der amerikanischen Horrorliteratur und vor allem auf Hawthornes unheimliche Erzählungen anerkannte. (22)
Dessen Name taucht tatsächlich mehrfach in seinen Geschichten auf, doch glich Lovecrafts Meinung über das literarische Talent des bekannten Predigers, Chronisten und Hexenjägers wohl der seines exzentrischen Malers Richard Pickman, der über die „albernen ‘Magnalia [Christi Americana]’“ und die „hirnrissigen ‘Wunder der Unsichtbaren Welt’“ (20) spottet. Nein – mit dem Regime der gestrengen Gottesmänner konnte er nichts anfangen, und er hasste und verachtete das „dunkle puritanische Zeitalter, das voll von verborgenem Grauen und Hexengeflüster“ (21) war, auch wenn er dessen Einfluss auf die Entwicklung der amerikanischen Horrorliteratur und vor allem auf Hawthornes unheimliche Erzählungen anerkannte. (22)
Doch auch seine Liebe zum
aufgeklärten 18. Jahrhundert verrät eine ausgesprochen einseitige
und verkürzte Sicht dieser Epoche. Schätzte er am Klassizismus die
formale Strenge, die gemessene Würde und den feinen Witz, so war ihm
dessen optimistischer Humanismus vollkommen fremd. Und so erstarrte
seine Begeisterung für Dichter wie Dryden und Pope in der sterilen
Forderung nach ‘metrical regularity’. (23) In A Reminescence ofDr. Samuel Johnson bekundete er seine Verehrung für Voltaire,
und dass der Autor des Candide nach seinem Geschmack gewesen
ist, kann man sich in der Tat gut vorstellen. Auch Jonathan Swifts
ätzendem Zynismus fühlte er sich sicher sehr nahe . Doch war dies
nicht die vorherrschende Geisteshaltung des 18. Jahrhunderts, weder
unter den klassischen Dichtern noch unter den aufklärerischen.
Philosophen
Worin Lovecraft den
Denkern der Auflärung tatsächlich nahestand, war seine kompromisslose Feindschaft
gegen den religiösen Aberglauben. Und in diesem Bereich war es auch,
dass er zumindest einmal versuchte, ihrem Vorbild praktisch
nachzueifern und seinen Beitrag zu leisten in „humanity’s
age-long struggle for emancipation from the ignoble chains of
superstition“. (24) Auslöser hierfür war
interessanterweise die Bekanntschaft mit Harry Houdini. Der
weltberühmte Zauberkünstler hatte es sich seit Anfang der 20er
Jahre zur Aufgabe gemacht, spiritistische Medien und andere mystische
Scharlatane zu entlarven, wobei ihm seine beträchtliche
Berufserfahrung als Illusionist zugute kam. In seinen Bühnenshows
führte er z.B. regelmäßig die Tricks vor, mit denen das bekannte
Bostoner "Medium" Mina Crandon ihre leichtgläubigen "Kunden"
hinters Licht führte. Nachdem Lovecraft für Houdini die Story
Gefangen bei den Pharaonen (Under the Pyramids) geschrieben hatte, schlug ihm der
Magier eine Zusammenarbeit im Kampf gegen den Aberglauben vor. HPL verfasste einen Artikel für Houdini, in dem er die
Absurdität der Astrologie wissenschaftlich darlegte, und man kam
überein, gemeinsam eine antiokkultistische Aufklärungsschrift unter
dem Titel The Cancer of Superstition herauszugeben. Leider
starb der große Magier, bevor das Projekt ernsthaft in Angriff
genommen werden konnte.
Aber von dieser
sympathischen Episode einmal abgesehen, lässt sich Lovecraft
schwerlich als "Aufklärer" charakterisieren. Zwar feierte er das
18. Jahrhundert als Ära der Rationalität, doch war sein
Vernunftbegriff anders als der der großen Denker der Aufklärung
passiv und "asozial". Sein Ideal des Wissenschaftlers und
Philosophen war das eines „selfish individualist who gratifies
the personal human instinct of cosmic curiosity for its own sake.“
Jeder Gedanke an den gesellschaftlichen Nutzen seiner Forschung müsse
ihm fremd sein, andernfalls sei er bloß ein primitiver Utilitarist.
Seine Vorbilder waren dabei die vorsokratischen Naturphilosophen wie
Thales, Heraklit, Demokrit, Leukippos, Pythagoras oder Empedokles.
Für den „satyr-faced pragmatist“ Sokrates und vor allem
für den „unctuous windbag“ Platon hatte er
hingegen nichts als Verachtung übrig, denn der erstere hatte sich
hauptsächlich für moralische, der letztere gar für soziale und
politische Fragen interessiert. In seiner Politeia (Der
Staat) und den Nomoi (Die Gesetze) hatte Platon ja
sogar das Ideal eines „collectivist state“ entworfen, und
mit solchem Unsinn können sich natürlich nur marxistische Spießer
und „moustacheletted little Chestertons“ abgeben, aber
keine wahren Philosophen. (25)
Das sahen die
aufklärerischen Denker des 18. Jahrhunderts freilich ganz anders.
Für sie war die Vernunft nicht nur ein Werkzeug, um die Geheimnisse
der Natur zu ergründen, sondern auch die Richtschnur, nach der die
menschliche Gesellschaft eingerichtet werden sollte. Zwischen Politik
und Wissenschaft existierte für sie keine unüberwindliche Barriere.
Oft genug fand sich beides sogar in ein und derselben Person
vereinigt. Und wer würde sich da wohl
besser als Beispiel eignen, als ausgerechnet einer der größten
Söhne Neuenglands: der in Boston geborene und aufgewachsene Benjamin
Franklin – Autodidakt, Schriftsteller, Naturforscher, Erfinder,
revolutionärer Politiker und Diplomat; außergewöhnlicher Vertreter
eines einmaligen Momentes im Drama der Weltgeschichte, als der
Kleinbürger einmal mit vollem Recht die Rolle des Helden
spielen durfte?
Und damit kommen wir zum
wichtigsten Punkt – Lovecrafts erklärter Feindschaft gegen die
Amerikanische Revolution.
Zugespitzt ausgedrückt bedeutete das: Er verehrte das rationale Denken des 18. Jahrhunderts, aber er verabscheute dessen praktische Konsequenzen. Denn die großen bürgerlichen Revolutionen in Amerika und Frankreich waren ja die legitimen Sprösslinge der Aufklärung gewesen. Und die fortschrittlichen Zeitgenossen des Unabhängigkeitskriegs hatten das auch genau so gesehen. In englischen liberalen Zirkeln wie der berühmten Lunar Society, zu deren Mitgliedern solch illustre Persönlichkeiten wie der Arzt und Naturforscher Erasmus Darwin – der Großvater von Charles Darwin –, der Chemiker Joseph Priestley und der Erfinder und Ingenieur James Watt gehörten, sympathisierten viele mit der Sache der Amerikaner, die sich gegen "ihren" König George erhoben hatten. Sicher – der alte Samuel Johnson polemisierte heftig gegen die „zealots of anarchy“ (26) und forderte deren rücksichtslose Unterwerfung, doch selbst Edmund Burke, der während der Französischen Revolution zum bedeutendsten Wortführer der Konservativen werden sollte, bekundete bei den Debatten im Unterhaus seine Sympathie für die "Rebellen". Und mit Tom Paine, diesem großartigen Plebejer unter den Aufklärern, war einer der hervorragendsten Geister des damaligen England sogar aktiv an beiden Revolutionen beteiligt. Ihm begegnen wir sowohl in Washingtons Feldlager als auch im Französischen Nationalkonvent. Common Sense und The American Crisis machten ihn zu einem der einflussreichsten Pamphletisten des Unabhängigkeitskrieges. Eine Ausgabe von The Crisis schließt mit den Sätzen:
Zugespitzt ausgedrückt bedeutete das: Er verehrte das rationale Denken des 18. Jahrhunderts, aber er verabscheute dessen praktische Konsequenzen. Denn die großen bürgerlichen Revolutionen in Amerika und Frankreich waren ja die legitimen Sprösslinge der Aufklärung gewesen. Und die fortschrittlichen Zeitgenossen des Unabhängigkeitskriegs hatten das auch genau so gesehen. In englischen liberalen Zirkeln wie der berühmten Lunar Society, zu deren Mitgliedern solch illustre Persönlichkeiten wie der Arzt und Naturforscher Erasmus Darwin – der Großvater von Charles Darwin –, der Chemiker Joseph Priestley und der Erfinder und Ingenieur James Watt gehörten, sympathisierten viele mit der Sache der Amerikaner, die sich gegen "ihren" König George erhoben hatten. Sicher – der alte Samuel Johnson polemisierte heftig gegen die „zealots of anarchy“ (26) und forderte deren rücksichtslose Unterwerfung, doch selbst Edmund Burke, der während der Französischen Revolution zum bedeutendsten Wortführer der Konservativen werden sollte, bekundete bei den Debatten im Unterhaus seine Sympathie für die "Rebellen". Und mit Tom Paine, diesem großartigen Plebejer unter den Aufklärern, war einer der hervorragendsten Geister des damaligen England sogar aktiv an beiden Revolutionen beteiligt. Ihm begegnen wir sowohl in Washingtons Feldlager als auch im Französischen Nationalkonvent. Common Sense und The American Crisis machten ihn zu einem der einflussreichsten Pamphletisten des Unabhängigkeitskrieges. Eine Ausgabe von The Crisis schließt mit den Sätzen:
[I]t may be remarked, that men who study any universal science, the principles of which are universally known, or admitted, and applied without distinction to the common benefit of all countries, obtain thereby a larger share of philanthropy than those who only study national arts and improvements. Natural philosophy, mathematics and astronomy, carry the mind from the country to the creation, and give it a fitness suited to the extent. It was not Newton's honor, neither could it be his pride, that he was an Englishman, but that he was a philosopher, the heavens had liberated him from the prejudices of an island, and science had expanded his soul as boundless as his studies. (27)
Für die besten Vertreter
der Aufklärung existierte ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen
dem universalen Charakter der Wissenschaft, der Überwindung
nationaler und religiöser Vorurteile, dem Ideal des Weltbürgertums
und dem Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. Wie Christiaan Huygens
schon ein Jahrhundert zuvor gesagt hatte: Die Welt ist mein
Vaterland, die Wissenschaft meine Religion.
Aber es kommt noch
schlimmer für Lovecraft. – Ausgerechnet sein heißgeliebtes
Neuengland war ja die Wiege der Revolution gewesen: Die Bostoner Tea
Party, die Schlacht von Lexington und Concord, Bunker Hill ... Das
sind neuenglische Traditionen! Boston war für Amerika was Paris
für Frankreich und Petrograd für Russland – die Hauptstadt der
Revolution. Hier wurde 1772 unter Leitung von Samuel Adams, dem
genialen Führer, Agitator und Organisator der Volksbewegung, das
erste Korrespondenzkomitee gegründet, Vorbild jener revolutionären
Machtorgane, die schon bald überall in Massachusetts entstanden. Die
Revolutionsarmee, deren Oberkommando George Washington im Juni 1775
übernahm, bestand zum größten Teil aus neuenglischen Milizionären.
Rhode Islands Schiffsbauer, Kauffahrer und Seeleute schufen die
Continental Navy, die unter dem Kommando von Esek Hopkins den Kampf
gegen die Schiffe Seiner Majestät aufnahm.
Und auch damit noch nicht genug. – Nirgendwo anders als in Lovecrafts Heimatstadt Providence waren 1772 die ersten Schüsse im Kampf gegen den König gefallen: Am 9. Juni war in der Nähe der Stadt bei Pawtuxet der britische Schoner Gaspee auf Grund gelaufen. Sein Auftrag war es gewesen, amerikanische Schiffe in der Narragansett Bay nach Schmuggelgut zu durchsuchen und die verhassten Abgaben einzutreiben. Unter der Führung von Captain Abraham Whipple, der sich bereits im englisch-französischen Krieg von 1759/60 einen Namen als Freibeuter gemacht hatte, enterte am Morgen des 10. Juni eine Gruppe von Mitgliedern der Sons of Liberty – jener plebejischen Revolutionäre, die man die Sansculotten Amerikas genannt hat – die Gaspee. Nach einem kurzen Kampf mit der Mannschaft wurde der Schoner in Brand gesteckt und versenkt. Der Zwischenfall rief eine heftige Reaktion seitens der Krone hervor, was mit dazu beitrug, dass der Konflikt zwischen König und Kolonien 1774 mit der Schlacht von Lexington und Concord in einen offenen Krieg umschlug.
Und auch damit noch nicht genug. – Nirgendwo anders als in Lovecrafts Heimatstadt Providence waren 1772 die ersten Schüsse im Kampf gegen den König gefallen: Am 9. Juni war in der Nähe der Stadt bei Pawtuxet der britische Schoner Gaspee auf Grund gelaufen. Sein Auftrag war es gewesen, amerikanische Schiffe in der Narragansett Bay nach Schmuggelgut zu durchsuchen und die verhassten Abgaben einzutreiben. Unter der Führung von Captain Abraham Whipple, der sich bereits im englisch-französischen Krieg von 1759/60 einen Namen als Freibeuter gemacht hatte, enterte am Morgen des 10. Juni eine Gruppe von Mitgliedern der Sons of Liberty – jener plebejischen Revolutionäre, die man die Sansculotten Amerikas genannt hat – die Gaspee. Nach einem kurzen Kampf mit der Mannschaft wurde der Schoner in Brand gesteckt und versenkt. Der Zwischenfall rief eine heftige Reaktion seitens der Krone hervor, was mit dazu beitrug, dass der Konflikt zwischen König und Kolonien 1774 mit der Schlacht von Lexington und Concord in einen offenen Krieg umschlug.
Ironischerweise war
Lovecraft über seinen Großvater Whipple van Buren Philipps mit
Captain Abraham verwandt. Und trotz seiner ablehnenden Haltung
gegenüber der Revolution war er offenbar stolz auf die
Verwandtschaft mit dem legendären Haudegen, der während des
Unabhängigkeitskrieges mit seinem Schiff Providence manch
wagemutigen Streich gegen die Briten geführt hatte. Der Kapitän
taucht in zwei seiner nostalgischen Erzählungen auf: In Das
gemiedene Haus (The Shunned House) von 1924 und in Der Fall Charles Dexter Ward
(The Case of Charles Dexter Ward) von 1927. In letzterer spielt er sogar eine führende Rolle bei
der Ausräucherung des teuflischen Alchimisten Joseph Curwen. Die
Aktion, mit der sich Abraham in die Annalen der Revolution
eingetragen hat, wird dort freilich so beschrieben: „Kaum
mehr als zwölf Monate danach führte Kapitän Whipple den
Pöbelhaufen an, der das Zollschiff Gaspee in Brand steckte,
und in dieser ruchlosen Tat könnte man den Versuch erblicken,
bedrückende Erinnerungen [an das, was er in Curwens Laboratorium
gesehen hat,] auszulöschen.“ (28)
Hier zeigt sich sehr
schön die Zwiespältigkeit des lovecraftschen Traditionalismus.
Einerseits beharrte HPL auf einem unbedingten Festhalten
an der Tradition, die er als „the massed experience of our
ancestors, individual or national, biological or cultural“
definierte. Andererseits war ihm ein wichtiger Teil dessen, was die
nationalen Traditionen der Vereinigten Staaten ausmacht, völlig
zuwider. Denn ohne mich hier auf eine langwierige Diskussion über
die Frage einlassen zu wollen, was eine "Nation" eigentlich genau
sein soll, dürfte doch kaum angezweifelt werden können, dass die
Grundlagen für die Existenz der amerikanischen Nation in der Revolution gelegt wurden. Ein deutscher Nationalist kann sich
problemlos auf "die Tradition" berufen, ohne dass dabei jemand an
Robert Blum, Gustav Struve oder Friedrich Hecker denken müsste. Das
demokratische Erbe des Bürgertums ist hierzulande unbedeutend und
schwach. Doch ein Amerikaner, der die nationale Vergangenheit
beschwört und dabei Washington, Franklin und Jefferson außen vor
lässt?
Andererseits bewies
Lovecraft mit seiner Einstellung aber auch eine bemerkenswerte
Konsequenz. Die amerikanische Rechte besteht, wie Sinclair Lewis es
einmal sehr hübsch formuliert hat, für gewöhnlich aus Leuten, „who spend
one half their waking hours boasting of being descended from the
seditious American colonists of 1776, and the other and more ardent
half in attacking all contemporaries who believe in precisely the
principles for which those ancestors struggled.“ (29) Lovecraft war da
ehrlicher. Insoweit das Neuengland seiner Träume überhaupt
mehr war als ein romantisches Wolkenkuckucksheim, besaß es sein
Vorbild in der Gesellschaft und Kultur der landbesitzenden Gentry des
18. Jahrhunderts. Und eben diese Welt war in der Revolution
untergegangen.
Denn anders als der patriotische Mythos von der "Einheit aller Amerikaner" und der "unrevolutionären Revolution" bis heute zu suggerieren versucht, war der Unabhängigkeitskrieg nicht nur ein Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft, sondern zugleich ein erbitterter Bürgerkrieg. Ein Großteil der alten Elite Neuenglands gehörte während der Revolution zu den Tories, d.h. zur Partei des Königs, und als der britische General Howe im März 1776 Boston evakuierte, begleiteten ihn über tausend Vertreter der alten Aristokratie. Gerade in Neuengland trug die Bewegung einen ausgesprochen plebejischen Charakter. Wie Samuel Adams und die Bostoner Revolutionäre es formulierten, bildeten “the two venerable orders of men styled Mechanicks [Handwerker & Lohnarbeiter] and Husbandmen [Farmer] the strength of every community.” (30) Washington war anfangs gar nicht glücklich über den "gleichmacherischen" Geist der neuenglischen Milizen, an deren Spitze er sich 1775 gestellt sah. Als die Regierung von Massachusetts 1778 ca. dreihundert führende Tories in die Verbannung schickte, gehörten Vertreter fast aller angesehenen und mächtigen Familien der alten Gentry zur Gruppe der "Verräter".
Lovecrafts Feindschaft gegen die "Rebellen" war also nicht bloß Ausdruck seines exzentrischen Royalismus. Wie so oft spielten auch hier seine panische Angst vor und seine Verachtung für den "Pöbel" eine zentrale Rolle. Was ihn am Unabhängigkeitskrieg abstieß, waren vermutlich nicht der Gentleman Washington und vielleicht nicht einmal der republikanische Pflanzer Jefferson, sondern die Handwerker, Tagelöhner und kleinen Ladenbesitzer Neuenglands, die die Villen der Tories stürmten und die königstreuen Aristokraten teerten und federten; die Plebejer, die der Gentry die Kontrolle über die Gemeindeversammlungen entrissen und eine demokratische Selbstverwaltung aufzurichten versuchten.
Denn anders als der patriotische Mythos von der "Einheit aller Amerikaner" und der "unrevolutionären Revolution" bis heute zu suggerieren versucht, war der Unabhängigkeitskrieg nicht nur ein Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft, sondern zugleich ein erbitterter Bürgerkrieg. Ein Großteil der alten Elite Neuenglands gehörte während der Revolution zu den Tories, d.h. zur Partei des Königs, und als der britische General Howe im März 1776 Boston evakuierte, begleiteten ihn über tausend Vertreter der alten Aristokratie. Gerade in Neuengland trug die Bewegung einen ausgesprochen plebejischen Charakter. Wie Samuel Adams und die Bostoner Revolutionäre es formulierten, bildeten “the two venerable orders of men styled Mechanicks [Handwerker & Lohnarbeiter] and Husbandmen [Farmer] the strength of every community.” (30) Washington war anfangs gar nicht glücklich über den "gleichmacherischen" Geist der neuenglischen Milizen, an deren Spitze er sich 1775 gestellt sah. Als die Regierung von Massachusetts 1778 ca. dreihundert führende Tories in die Verbannung schickte, gehörten Vertreter fast aller angesehenen und mächtigen Familien der alten Gentry zur Gruppe der "Verräter".
Lovecrafts Feindschaft gegen die "Rebellen" war also nicht bloß Ausdruck seines exzentrischen Royalismus. Wie so oft spielten auch hier seine panische Angst vor und seine Verachtung für den "Pöbel" eine zentrale Rolle. Was ihn am Unabhängigkeitskrieg abstieß, waren vermutlich nicht der Gentleman Washington und vielleicht nicht einmal der republikanische Pflanzer Jefferson, sondern die Handwerker, Tagelöhner und kleinen Ladenbesitzer Neuenglands, die die Villen der Tories stürmten und die königstreuen Aristokraten teerten und federten; die Plebejer, die der Gentry die Kontrolle über die Gemeindeversammlungen entrissen und eine demokratische Selbstverwaltung aufzurichten versuchten.
Gerade unter sogenannten "radikalen" Intellektuellen ist es heutzutage Mode, den progressiven Charakter der Amerikanischen Revolution herunterzuspielen oder sogar ganz zu leugnen. Tatsächlich waren die nationalen Führer der Bewegung in ihrer Mehrheit keine Anhänger der radikalen Demokratie und in den einzelnen Bundesstaaten blieb das Wahlrecht auch weiterhin an den Besitz gebunden, trotz des lautstarken Protestes der plebejischen Massen, die soviel zum Sieg über George III. beigetragen hatten. Plebejische Aufstände gegen die neue Elite wie Shays Revolte in Massachusetts oder die sog. Whiskey-Rebellion wurden von der Führung um George Washington mit Waffengewalt niedergeschlagen. Es sollten noch mehrere Jahrzehnte vergehen, bis sich das allgemeine Wahlrecht (für weiße Männer) durchsetzen konnte, und in Rhode Island würde dazu sogar die erneute Androhung eines bewaffneten Aufstands nötig sein. Vor allem aber gelang es der ersten bürgerlichen Revolution Amerikas nicht, die Sklaverei abzuschaffen. Dr. Johnsons sarkastische Bemerkung, dass „we hear the loudest yelps for liberty among the drivers of negroes“ (31), war ja nicht ganz unbegründet. Auf ihrer Grundlage sollte schon bald das Monstrum des "Baumwoll-Imperiums" heranwachsen, dessen Herrscher für lange Zeit die amerikanische Politik dominieren würden. Zum Sturz der Pflanzeroligarchie würde es eine zweite Revolution brauchen. Und wieder würde Neuengland seinen Beitrag leisten, etwa in Gestalt des aus Vermont stammenden Thaddeus Stevens, des grimmigen Führers der radikalen Republikaner während des Bürgerkriegs und der Reconstruction. Doch trotz dieser Einschränkungen bleibt die fortschrittliche Bedeutung des Unabhängigkeitskriegs eine unleugbare Tatsache. Die USA besitzen revolutionäre Traditionen, die es verdient haben, dass man sich an sie erinnert. Doch waren das nicht die Traditionen, die Lovecraft im Sinn hatte.
Es mag verquer klingen,
aber die beiden wichtigsten Wurzeln der neuenglischen Kultur – der
Puritanismus und die Revolution – waren Lovecraft zutiefst verhasst.
Beinahe ebenso fremd war ihm das kulturelle Erbe seiner Heimat. Die
literarische Blütezeit Neuenglands im zweiten Drittel des 19.
Jahrhunderts war zugleich Produkt des noch nicht völlig
abgestorbenen Geistes des Unabhängigkeitskrieges und Ausdruck jener
neuen gesellschaftlichen Entwicklung, die schließlich in der
Zweiten Revolution gipfeln sollte. Kein Wunder, dass Lovecraft mit
den Transzendentalisten um Ralph Waldo Emerson und Henry David
Thoreau, ihrem romantischen Individualismus, Nonkonformismus und
Utopismus, nichts anfangen konnte. Erstaunlich, dass er zumindest die
Bedeutung Nathaniel Hawthornes anerkannte, obwohl auch dieser ihm in
Denken und Empfinden sehr fern stand. HPL hielt es da
mehr mit Poe, der alles, was mit Neuengland zu tun hatte, gehasst und
sich in seiner Kurzgeschichte Wer kann sich retten vor des
Teufels Wetten? (Never Bet the Devil Your Head) aufs
ergötzlichste über den Moralismus und die metaphysischen
Spekulationen der Dichter und Denker von Concord lustig gemacht
hatte. Aber selbst für Poe gilt, was Edmund Wilson einmal
geschrieben hat: „[F]or all his Tory views, [he] is
post-Revolutionary American in his challenging, defiant temper, his
alert and curious mind.“ (32)
Das alles verlieh
Lovecrafts Traditionalismus einen höchst eigentümlichen Charakter.
Denn unglücklicherweise hatte sein Goldenes Zeitalter der
wappentragenden Squire mit ihren gepuderten Perücken, die heroische
Zweizeiler à la Pope dichteten, kaum bleibende Spuren in der
amerikanischen Kultur hinterlassen. Wenn man einmal von den Kuppeln
und Walmdächern der georgianischen Architektur absieht, die darum
auch in jeder zweiten seiner Erzählungen aufzutauchen scheinen. Es gab nichts
lebendiges, woran er bei seiner Suche nach der guten alten Zeit hätte
anknüpfen können. Dadurch erhielt sein Konservatismus einen
ausgesprochen weltfremden, beinahe morbiden Zug. So als sei es ihm
darum gegangen, einen längst vermoderten Leichnam zu galvanisieren.
Und es spricht einiges dafür, dass er sich dieses Dilemmas sehr wohl
bewusst war.
Besonders eindrückliche Beispiele dafür sind seine beiden Erzählungen Das Grab (The Tomb) und The Case of Charles Dexter Ward, mit denen ich mich in meinem nächsten Artikel auseinandersetzen werden. Dann werde ich auch die angekündigte Besprechung von Dan O'Bannons Film The Resurrected nachliefern.
Besonders eindrückliche Beispiele dafür sind seine beiden Erzählungen Das Grab (The Tomb) und The Case of Charles Dexter Ward, mit denen ich mich in meinem nächsten Artikel auseinandersetzen werden. Dann werde ich auch die angekündigte Besprechung von Dan O'Bannons Film The Resurrected nachliefern.
(1) H. P. Lovecraft: Die
Traumsuche nach dem unbekannten Kadath. In: Ders.: Die Katzen
von Ulthar. S. 25; 135f.
(3) H. P. Lovecraft: Der Silberschlüssel.
In: Ders.: Die Katzen von Ulthar. S. 151.
(4) H. P. Lovecraft: Iranons Suche. In:
Ders.: In der Gruft und andere makabere Geschichten. S. 92-99.
(10) H. P. Lovecraft: Das Unnennbare. In:
Ders.: In der Gruft und andere makabere Geschichten. S. 108.
(11) Arkham ist zwar nach dem Vorbild
von Salem, dem Schauplatz der berüchtigten Hexenprozesse von 1692,
gezeichnet, doch darf man deshalb Lovecrafts fiktive Stadt am ebenso
fiktiven Miskatonic nicht einfach mit dem realen Ort in Massachusetts
gleichsetzen.
(12) H. P. Lovecraft: Das Weiße Schiff. In:
Ders.: Die Katzen von Ulthar. S. 11.
(13) H. P. Lovecraft: Providence. V. 33-40.
(14) H. P. Lovecraft: Selected
Letters. Bd. II. S. 356f. Zit. nach: S.T. Joshi: H. P.Lovecraft.
(15) H. P. Lovecraft: Selected
Letters. Bd. IV. S. 249. Zit. nach: S.T. Joshi: H. P.
Lovecraft.
(16) Über diese Thematik habe ich mich hier bereits einmal etwas ausführlicher ausgelassen.
(16) Über diese Thematik habe ich mich hier bereits einmal etwas ausführlicher ausgelassen.
(17) H. P. Lovecraft: Literatur der Angst. S.
78.
(20) H. P. Lovecraft: Pickmans Modell. In:
Ders.: Cthulhu Geistergeschichten. S. 21.
(21) H. P. Lovecraft: Literatur der
Angst. S. 78.
(22) In Das Bild im Haus (The Picture in the House) versuchte
er auch selbst, die puritanischen Traditionen Neuenglands als
Hintergrund für eine Horrorgeschichte zu benutzen. Die 1920
entstandene Geschichte steht darin jedoch ziemlich alleine da.
(23) So der Titel eines 1915
veröffentlichten Essays, in dem HPL gegen die freien Rhythmen der
‘Radikalen’ polemisiert. Fairerweise muss allerdings hinzugefügt
werden, dass er trotz seiner bleibenden Verehrung für Pope et.al. in
späteren Jahren Romantiker wie Keats und Shelley sowie den frühen
Algernon Swinburne und W. B. Yeats für die größten Lyriker der
englischen Sprache hielt.
(24) H. P. Lovecraft: MerlinusRedivivus. In: The Conservative, IV, 1 [Juli 1918].
(25) H. P. Lovecraft: Selected
Letters. Bd. III. S. 299. Zit. nach: S.T. Joshi: H. P.
Lovecraft.
(26) Samuel Johnson: Taxation No Tyranny.
(27) Thomas Paine: The American Crisis. [März
1780].
(28) H. P. Lovecraft: Der Fall Charles Dexter
Ward. S. 75.
(29) Sinclair Lewis: It Can’t Happen Here.
Kap. 1.
(30) Solemn League and Covenant des
Bostoner Comitee of Correspondence von 1774. Zit. nach:
Harry Frankel: Sam Adams and the American Revolution. §12.
(31) Samuel Johnson: Taxation No Tyranny.
(32) Edmund Wilson: A Dissenting
Opinion on Kafka. In: Ders.: Classics and Commercials. ALiterary Chroncile of the Forties. S. 391.
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