"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Freitag, 21. März 2014

Sofia Samatar und die böse Moderne

Ich hätte nicht gedacht, dass es einmal dazu kommen würde, aber ich fühle mich gedrängt, eine Verteidigung des Steampunk zu schreiben. Dabei stehe ich selbst dem Subgenre mit sehr gemischten Gefühlen gegenüber. Als ein Liebhaber von Jules Verne und altmodischen phantastischen Abenteuerfilmen kann ich nicht leugnen, dass seine Ästhetik mich irgendwie anspricht. Andererseits jedoch werde ich das unangenehme Gefühl nicht los, dass hier sehr oft eine Geschichtsepoche romantisiert wird, die nun wirklich alles andere als romantisch war. Doch wie dem auch sei, das ändert nichts daran, dass ich Sofia Samatars vor knapp einem Monat erschienen Blogeintrag Dreadful Objectivity: Steampunk in Africa für äußerst problematisch halte. Genaugenommen geht es dabei allerdings gar nicht so sehr um ein literarisches Subgenre, als vielmehr um sehr viel allgemeinere politische und weltanschauliche Fragen.

Ich bin das erste Mal vor über zwei Jahren auf Sofia Samatar gestoßen, als ihr veröffentlichtes Oeuvre aus nicht mehr als einer Handvoll Gedichten und Kurzgeschichten sowie einigen Rezensionen für Strange Horizons bestand. Mein erster Eindruck war sehr positiv, und ich nahm sie sogleich in eine Gruppe phantastischer Autorinnen auf, die ich ungefähr zur selben Zeit kennen- und liebengelernt hatte, und zu der u.a. Catherynne M. Valente, Amal El-Mohtar und C.S.E. Cooney gehörten.
Was mich an ihrem Werk angesprochen hatte war zum einen die Sprache – lyrisch, aber nicht so wuchernd und voll "ausgesuchter" Metaphern wie etwa bei Cat Valente –, zum anderen der Umstand, dass sie einen Gutteil ihrer Inspiration aus der Kunst und Kultur der arabisch-islamischen Welt zu beziehen schien, für die ich eine tiefe Faszination hege. So beschäftigt sich z.B. The Hunchback's Mother mit einer Episode aus alf laila wa-laila (Tausendundeine Nacht); in Qasida of the Ferryman versucht Samatar eine klassische arabische Versform ins Englische zu übertragen; in Burnt Lyric setzt sie sich mit der Poesie von Al-Andalus (dem maurischen Spanien) und ihrem Einfluss auf die okzitanische Trobadorlyrik auseinander; die Inspiration für The Sand Diviner stammte aus der Lebensgeschichte des mittelalterlichen Historikers Ibn-Khaldun; und  A Brief History of Nonduality Studies erwuchs aus ihrer Beschäftigung mit Sufiliteratur. Zu all dem finden sich in ihrem Blog sehr interessante Anmerkungen.*
Allerdings war bereits meine erste Begegnung mit Sofia Samatar nicht frei von Irritationen. Das galt insbesondere für ihre Short Story The Nazir. Einerseits gehört die Geschichte von Cynthia, die als Tochter eines britischen Kolonialbeamten im Kairo der Zwischenkriegszeit aufwächst und deren ganzes späteres Leben von der Sehnsucht beherrscht wird, ein einziges Mal das geheimnisvolle Ungeheuer Nazir (arab. "Der Beobachter") erblicken zu dürfen, zu meinen absoluten Favoriten in Samatars Oeuvre. Andererseits scheint mir in ihr so etwas wie die Idee einer "Kollektivschuld" der Weißen für die Verbrechen des Kolonialismus mitzuschwingen. Cynthia leidet offenbar unter der Tatsache, als Kind der europäischen herrschenden Kaste des kolonialen Ägypten angehört zu haben. Das damit verbundene Schuldgefühl verfolgt sie ihr Leben lang. Psychologisch gesehen ist das sicher gut vorstellbar, aber ich habe das beunruhigende Gefühl, die Geschichte wolle den Eindruck vermitteln, Cynthias Selbstquälereien seien irgendwie "gerechtfertigt", und ihre spätere Rebellion und die damit verbundenen politischen Aktivitäten** müssten deshalb irgendwie unehrlich wirken, als seien sie ausschließlich Ausdruck eines "weißen" Schuldkomplexes. Und eine solche Sichtweise halte ich für grundfalsch. Cynthia ist nicht verantwortlich für das kolonialistische System, in das sie hineingeboren wurde.
Vielleicht lese ich da etwas in The Nazir hinein, was gar nicht wirklich in der Geschichte angelegt ist. Vielleicht will uns Samatar in Wahrheit das Gefühl vermitteln, die Tragödie Cynthias bestehe gerade darin, sich nicht von dem zwar verständlichen, aber völlig ungerechtfertigten Schuldgefühl befreien zu können. Ich weiß nicht. All das ist bloß so ein vages Rumoren im Hinterkopf.

Im August 2012 versuchte Sofia Samatar in einem Blogeintrag zu umreißen, warum sie sich als Schriftstellerin der Phantastik zugewandt hat. Zu den von ihr angeführten Gründen gehören u.a.:
1) It puts you in touch with dreams and the unconscious. It can free up your language in certain ways. It can be beautiful. There’s a connection here with fantasy’s ability to express a sense of reality as shifting, untrustworthy, infused with the supernatural, or absurd.
Und 2) It provides an opportunity to think outside a particular, dominant cultural framework, one that is Western, heterosexual, white, college-educated and male. Fantasy has associations with folklore: with stories for women, children and the people in the flash of the ethnographer’s camera bulb. That makes it a fertile field for writers interested in reclaiming stories and types of narration that have been lost or suppressed.
Nun bin zwar auch ich der Ansicht, dass phantastische Kunst das Potential besitzt, überkommene Denkmuster aufzubrechen und einen frischen und ungewohnten Blick auf die Welt und den Menschen zu eröffnen. Doch wie der zweite Punkt sehr deutlich zeigt, ist Sofia Samatar wie die meisten Vertreter und Vertreterinnen der "linken", angloamerikanischen SFF-Gemeinde offensichtlich sehr stark von den Ideen der Identitätspolitik beeinflusst, der ich selbst äußerst kritisch gegenüberstehe.
Im Detail kann ich auf diese Frage jetzt zwar nicht eingehen, verweise jedoch gerne noch einmal auf Jonas Kyratzes' Statement of Principles, dem ich mich 100%ig anschließe. Auf jedenfall halte ich es für sehr fragwürdig, wenn man die "vorherrschenden kulturellen Rahmenbedingungen" als "westlich", "weiß", "heterosexuell" und "männlich" charakterisiert {als gäbe es eine mehr oder weniger einheitliche "westlich-weiß-heterosexuell-männliche" Kultur}, dabei jedoch völlig außer Acht lässt, dass die Gesellschaft, in der wir leben, vor allem eine Klassengesellschaft ist, was meiner Ansicht nach unsere Kultur in viel höherem Maße geprägt hat als irgendwelche anderen Kriterien. Und bürgerliche Ideologie kann ebensogut in "nicht-westlichem", "farbigem", "homosexuellem" und "weiblichem" Gewand auftreten, wie in den traditionell vorherrschenden Erscheinungsformen. Das wird uns tagtäglich in allen nur erdenklichen Medien sehr eindrücklich vorexerziert.

Ich gehöre nicht zu denen, die Kunstwerke nach den weltanschaulichen Überzeugungen ihrer Schöpferinnen und Schöpfer beurteilen. Aber genausowenig denke ich, das selbige keinen Einfluss auf ihre Werke hätten.
Von Sofia Samatars Debütroman A Stranger in Olondria, der in diesem Jahr für den Nebula Award nominiert wurde, habe ich nur die ersten sechs Kapitel gelesen, die man sich auf der entsprechende Website des Verlags runterladen kann. Es war eine wunderbare Lektüre, und bei nächster sich bietender Gelegenheit werde ich mir das Buch ganz sicher zulegen. Besonders angesprochen hat mich die Art, in der die Autorin sinnliche Eindrücke {Gerüche, Geschmäcker, Klänge} hervorhebt. Zugleich jedoch wurde ich beim Lesen  das beunruhigende Gefühl nicht los, der Roman könne sich in eine Richtung entwickeln, die mir ganz und gar nicht gefallen würde.
Samatars Protagonist Jevick stammt aus einem quasi-kolonialen Milieu. Als junger Mann wendet er sich von der Kultur seiner Heimat ab, die er als primitv und irrational empfindet, und verschreibt sich ganz der Kultur der "Metropole" Olondria. Dort angekommen muss er jedoch sehr bald feststellen, dass die meisten Bewohner der Stadt in ihm nachwievor den "Fremden" sehen, ganz gleich, wie sehr er sich auch anzugleichen versucht.
Hier eröffnet sich zweifellos eine sehr interessante und komplexe Thematik, und ich traue es Samatar ohne weiteres zu, diese in eine ebenso lebendige Geschichte zu kleiden.  Doch wird sich in dieser ganz sicher manches von ihren eigenen Ideen über Kultur und Kolonialismus wiederfinden. Wie könnte es anders sein? Auch wenn ich keinesfalls erwarte, dass sich A Stranger in Olondria am Ende als eine Art postkolonialistisches Lehrstück entpuppen wird. Dazu ist Samatar viel zu sehr Künstlerin. Dennoch bereitet mir diese Aussicht ein leichtes Bauchgrimmen, und warum dies so ist, lässt sich am Besten anhand des eingangs erwähnten Aufsatzes Dreadful Objectivity erläutern.

Der Blogeintrag beginnt mit einigen Gedanken zu Virtuoso, einem Webcomic von Jon Murger und Christa Brennan. Nun habe ich diesen zwar nicht gelesen {was ich bei Gelegenheit vielleicht mal nachholen sollte}, aber wenigstens einen von Samatars kritischen Anmerkungen kann ich sehr gut nachvollziehen. Die Protagonistin heißt Jnembi Osse,
and immediately I want to know what that name is, what it means, and where it's from, and I pray that it's not made up, and my mind rushes back to my African Linguistics class in search of the consonant cluster "jn." I just want so much for it to be real, and I'm terrified that it's not. And there would be no reason to be terrified over a webcomic we don't even have, except that these things are not isolated problems. The haphazard sprinkling of decorative "African-ness" over things is a regular practice
In Afrika angesiedelte phantastische Geschichten sollten sich in der Tat möglichst an realen Kulturen {inklusive deren Sprachen} orientieren, d.h. auf ernsthafter Recherche basieren, andernfalls ist der Weg nicht weit zu Exotismus und Klischee. Freilich weiß ich nicht, ob z.B. Charles R. Saunders' Sword & Sorcery - Klassiker Imaro und Dossouye, die ich sehr schätze, diesem Kriterium 100%ig gerecht werden. Ich will hier deshalb keine unumstößlichen Gesetze dekretieren.
Kann ich mit diesem Punkt in Samatars Artikel also durchaus sympathisieren, so gilt dies leider ganz und gar nicht für all das, was dann folgt. Sehr schnell stellt sich heraus, dass die Autorin dem Steampunk deshalb so kritisch gegenübersteht, weil er die "Moderne" rehabilitiere. Und die "Moderne" ist offensichtlich ihr großer Buhmann, die Inkarnation des Bösen. Wir alle sollten froh sein, dass wir sie {angeblich} hinter uns gelassen haben, und da kommt der Steampunk einher und versucht uns dazu zu verführen, wieder "modern" zu werden:
This got me thinking about the intensely modern spirit of steampunk--modern in the textbook sense of "Western Europe in the 19th and early 20th centuries." Steampunk, it seems to me, seeks to allow us to be joyfully modern again, to embrace Western modernity's positive aspects, to believe in our DIY ability to make things, and to make things better.
Noch deutlicher wird sie in einer ihrer Antworten in der Kommentarspalte zu ihrem Artikel:
I wonder if you could tell a story that did not celebrate progress (even a story about the Haitian Revolution, which is a great modern/anti-modern example), and have it still be steampunk. If you could tell a completely grim story that ended in despair and death, and have it be steampunk. If you could tell a story in which the triumph of technology, real or fantastical, did nothing but ruin lives, and have it be steampunk.
Lassen wir die Frage, wie die Haitianische Revolution einzuschätzen ist, einmal beiseite.*** Was mich wirklich irritiert, ist, warum irgendjemand eine Geschichte schreiben sollte, in der der Triumph der Technik zu nichts anderem führt als zu Elend und Zerstörung. Und warum eine solche Story irgendwie "fortschrittlicher" oder der geschichtlichen Wahrheit näher sein sollte, als das andere Extrem: die kritiklose Verherrlichung der Industriellen Revolution, wie wir sie in einer Reihe von Steampunkbüchern wohl wirklich antreffen.

Die Problematik beginnt für mich bereits mit der Begrifflichkeit. In meinen Augen ist der Begriff "Moderne" gänzlich ungeeignet, wenn es darum gehen soll, zu verstehen, was sich im 19. und 20. Jahrhundert abgespielt hat. Er umfasst so unterschiedliche Elemente wie die Philosophie der Aufklärung, die Bürger- und Menschenrechte, die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften, Technik und Industrialisierung, den bürokratischen Nationalstaat, den voll entfalteten Kapitalismus, Imperialismus & Kolonialismus, Sozialismus & Marxismus etc. Unbestritten existieren enge Zusammenhänge zwischen diesen Phänomenen, doch indem man sie allesamt unter dem Begriff "Moderne" zusammenfasst, verschleiert man die Natur dieser Beziehungen eher, als dass man sie erhellen würde.
Samatar selbst verwendet die Formulierung "project of modernity", welche sehr schön verdeutlicht, dass diesem Begriff ein idealistisches Geschichtsverständnis zugrundeliegt. Was sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem in Europa und Amerika abgespielt hat, sei demnach im Kern die Umsetzung einer bestimmten Idee gewesen. Genauer gesagt, der Überzeugung, dass wir Menschen kraft unserer Vernunft und der ihr entsprungenen Wissenschaft & Technik in der Lage wären, uns die Natur zu unterwerfen und die Welt nach unseren Wünschen zum Besseren umzugestalten.
Eine solche Betrachtungsweise der "Moderne" stellt für mich nicht bloß die realen kausalen Zusammenhänge auf den Kopf, sie macht es uns auch unmöglich, den widersprüchlichen Charakter aufzudecken, der jeder kulturellen Entwicklung seit der Entstehung von Klassengesellschaften eigen ist. Um Leo Trotzkis Essay Culture and Socialism zu zitieren:
[C]ulture grows out of man's struggle with nature for existence, for the improvements of living conditions, for the increase of his power. But it is on this basis that classes grow as well. In the process of adapting to nature, in the struggle with its hostile forces, human society develops into a complex class organization. It is the class structure of society which most decisively determines the content and form of human history, i.e., its material relations and their ideological reflections. By saying this, we are also saying that historical culture has a class character. [...] But does this then mean that we are against all culture of the past?
Natürlich nicht! Beinah alle bisherige Kultur ist das Produkt von Klassengesellschaften, und sie trägt sehr deutlich die Spuren ihrer Herkunft. Zugleich jedoch ist sie Ausdruck des Bestrebens der Menschheit, sich mehr und mehr von den Fesseln zu befreien, die ihr von der Natur angelegt wurden. Der "triumph of large machines", dem Sofia Samatar so ablehnend gegenübersteht, ist ein sehr schönes Beispiel für diesen widersprüchlichen Charakter der historischen Entwicklung.
Ohne Zweifel bedeutete die Industrielle Revolution für unzählige Menschen in erster Linie physisches und psychisches Elend. Aber war daran die Maschine an sich schuld? Nein! Schuld war das Wirtschaftssystem, in dessen Rahmen sich diese Umwälzung vollzog und notwendigerweise vollziehen musste. Für sich genommen ist die "Maschine" eine Befreierin. Nur durch sie ist es möglich, die gesellschaftliche Produktivität auf ein Niveau anzuheben, das die materielle Grundlage für eine Ordnung abgeben könnte, in der echte Freiheit und Gleichheit herrschen und jeder Mensch die Möglichkeit haben wird, seine individuellen Talente voll zu entfalten.
Noch leben wir nicht in einer solchen Gesellschaft,. aber selbst heute könnte niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat und sein Gehirn zu benutzen versteht, die immens positiven Auswirkungen der Industriellen Revolution leugnen können. Es sei denn, er oder sie würde es vorziehen, unter feudalen Herrschaftsverhältnissen zu leben und mit 30-40 Jahren zu sterben.  

Sofia Samatars Artikel beruht auf postmodernen Ideen, womit ich weniger eine spezifische philosophische Schule {da kenn ich mich im Detail zu wenig aus}, als vielmehr eine allgemeine Weltanschauung meine. Sie glaubt ganz offensichtlich, die "Moderne" sei eigentlich bereits überwunden, und der böse Steampunk wolle uns in sie zurückführen.
Das wirft die Frage auf, inwieweit man tatsächlich behaupten könne, dass wir heute nicht mehr in der "Moderne" leben? Wer dies glaubt, kann unmöglich die materiellen Grundlagen unserer Gesellschaft oder das ökonomische System meinen. Ganz offensichtlich basiert die Weltwirtschaft immer noch auf den Errungenschaften der Industriellen Revolution und ist kapitalistisch organisiert. Die Veränderungen können also ausschließlich ideologischer Natur sein.

Aus gutem Grund spielt der Begriff "Fortschritt" eine so wichtige, und durchweg negativ konnotierte Rolle in Samatars Ausführungen. Sie charakterisiert ihn als "westlich" und verbindet ihn mit den zerstörerischen Auswirkungen des Imperialismus auf die alten Gesellschaften Afrikas.
Selbstverständlich spricht nichts gegen eine kritische Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsgedanken, wie er in der Zeit der Aufklärung formuliert wurde. Seine klassisch-liberale Form, die eine kontinuierliche, stets aufsteigende Entwicklung postuliert hatte, ist spätestens durch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts ganz sicher gründlich widerlegt worden. Doch gibt es daneben auch andere Formen dieses Konzeptes. Marxistisch betrachtet etwa bedeutet Fortschritt zuerst einmal die Entfaltung der Produktivkräfte und damit die Steigerung der Produktivität menschlicher Arbeitskraft, was der Menschheit erlaubt, sich mehr und mehr von ihrer Unterwerfung unter die Naturkräfte zu befreien und zugleich eine immer reichere und komplexere Kultur zu entwickeln. Dieser Prozess verläuft keineswegs kontinuierlich, sondern ist vielmehr durch heftige Widersprüche gekennzeichnet, wozu sowohl zeitweilige Rückschläge als auch radikale Sprünge und Umbrüche gehören. Auch bedeutet der Fortschritt in der Entfaltung der Produktivkräfte nicht automatisch auch einen moralischen Fortschritt. Solange sich dieser Prozess im Rahmen einer auf Klassengegensätzen und Ausbeutung basierenden Ordnung vollzieht, wäre es naiv, anzunehmen, dass er automatisch zu mehr Freiheit und Gleichheit führen würde. Allerdings hätten z.B. die Ideen von politischer Gleichheit, Demokratie und allgemeinen Menschenrechten nicht anders als auf Grundlage des sich entfaltenden Kapitalismus entstehen können. So gesehen beinhaltet der ökonomisch-technische also sehr wohl auch einen politischen und moralischen Fortschritt. Oder genauer gesagt: Er macht diesen überhaupt erst möglich.
Was die Beziehung zwischen Fortschrittsidee und Imperialismus betrifft, um den es Samatar hauptsächlich geht, so stimmt es natürlich, dass die Kolonialmächte die Unterwerfung und Ausbeutung der Völker Afrikas, Asiens und Ozeaniens damit legitimierten, dass sie dazu berufen seien, den "Primitiven" die Segnungen einer "fortschrittlichen" Zivilisation zu bringen. Dennoch ist der Imperialismus kein Kind des Fortschrittsgedankens, sondern das notwendige Produkt der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung. Einmal mehr zeigt sich hier, dass Samatars Gedankengängen ein extrem idealistisches Geschichtsverständnis zugrundeliegt. Statt die realen ökonomischen Triebkräfte des Kolonialismus zu attackieren, beschäftigt sie sich ausschließlich mit dessen historisch bedingter ideologischer Ummäntelung.

Wenn die postmoderne "Linke" den Fortschrittsgedanken über Bord geworfen hat, so ist dies im Grunde nur ein Ausdruck dessen, was Jean-François Lyotard als "das Ende der großen Erzählungen" bezeichnet hat. Und die "Erzählung", um die es dem Guru des Postmodernismus dabei vor allem gegangen war, war der Marxismus gewesen.
Betrachtet man sich die historischen Rahmenbedingungen, unter denen sich diese Philosophie entwickelt hat, so fällt es nicht schwer, ihren sozialen Inhalt zu ergünden. Der Postmodernismus entfaltete sich in Reaktion auf das Scheitern der revolutionären Bestrebungen der 60er und frühen 70er Jahre. Er war in vielem Ausdruck eines Gefühls der Niedergeschlagenheit und Machtlosigkeit in den Reihen der radikalen Intelligenzija. Doch war das nur die eine Seite der Medaille. Den ehrlichen und tief empfundenen Pessimismus eines Arthur Schopenhauer etwa findet man nicht in dieser Philosophie. Vielmehr enthält sie unverkennbar ein Gefühl des "Befreitseins". Und wovon "befreit" fühlten sich viele der "linken" Intellektuellen der späten 70er und der 80er Jahre? Ganz einfach – von der selbstauferlegten Verpflichtung, sich mit der Masse der arbeitenden Bevölkerung zu solidarisieren und gegen den Kapitalismus zu kämpfen. {Das galt in besonders hohem Maße für Frankreich, das eigentliche Geburtsland des Postmodernismus.}
Das "Ende der großen Erzählungen" bedeutete das Ende jeden Versuches, die Gesellschaft in ihrer Totalität zu verstehen; die Auflösung der "Wahrheit" in unzählige subjektive "Narrationen" und "Diskurse"; und damit auch das Ende jedes Bemühens, die existierende Ordnung in ihrer Gesamtheit zu bekämpfen und zu überwinden. Die Vorstellung, die Menschheit sei in der Lage, eine von Ausbeutung und Unterdrückung freie, auf sozialer Gleichheit und Solidarität basierende Gesellschaft zu errichten, wurde zu einem Ausdruck des nun endlich überwundenen irrigen "Fortschrittsglaubens" erklärt und ad acta gelegt.
Im Kern ist der Postmodernismus und die aus ihm erwachsene Philosophie der Identitätspolitik eine Strategie der "radikalen" Mittelklasseintelektuellen, sich mit dem herrschenden System auszusöhnen und zugleich für sich Nischen im akademischen und kulturellen Betrieb zu schaffen, in denen es sich recht angenehm leben lässt, wobei man zugleich auch noch das moralisch erhebende Gefühl genießen kann, Fürsprecher unterdrückter und marginalisierter Gruppen zu sein.

Damit will ich keineswegs gesagt haben, dass es sich bei den Anhängern der Identitätspolitik ausnahmslos {oder auch nur in ihrer Mehrheit} um egoistische Heuchler handeln würde, denen es in Wahrheit nur um ihre materiellen Privilegien ginge. Das Verführerische an dieser politischen Philosophie ist es ja gerade, dass sie die idealistischen Bestrebungen von Menschen anzusprechen vermag, die ernsthaft wünschen, gegen die Ungerechtigkeiten der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung vorzugehen.
So bin ich überzeugt davon, dass Sofia Samatar von einem ehrlichen Abscheu vor dem Kolonialismus und seinen kulturellen Ausdrucksformen beseelt ist. Das Problem ist, dass ihre Weltanschauung einer realen Überwindung des Imperialismus im Wege steht. Denn selbiger ist nicht Teil einer vergangenen Epoche (der "Moderne"), sondern eine aktuelle Realität. Er basiert nicht auf irgendwelchen Ideen (dem "westlichen Fortschrittsgedanken"), sondern auf materiellen Grundlagen. Er besteht in erster Linie nicht aus kulturellen Phänomenen, sondern aus ökonomischen Ausbeutungs- und politischen Abhängigkeitsverhältnissen. Um ihn zu überwinden, müsste der Kapitalismus überwunden werden. Und dies wäre nur auf der von der industriellen Entwicklung der letzten Jahrhunderte gelegten Basis möglich. 
Samatars Überzeugungen verweisen jedoch in die genau entgegengesetzte Richtung. Ihre Aversion gegen den "Triumph der großen Maschine" führt sie beinah zwangsläufig zu einer Idealisierung vormoderner Gesellschaftsformen.  Sie schreibt über den Inhalt von Virtuoso:
Jnembi Osse's job is making guns. She subverts the system by making something else: a printing press.
Steampunk expands, becomes "diverse," but what sort of diversity is this? Guns and writing.
Die Erfindung von Gewehr und Druckerpresse stellte einen objektiven Fortschritt in der Entwicklung der Menschheitskultur dar, unabhängig davon, wo sie zum ersten Mal gemacht wurde. Samatar kann dies nicht so sehen, da ja bereits die Idee "Fortschritt" für sie ein "westliches" Konstrukt ist. Wenn eine Steampunk-Geschichte die Erfindung dieser Kulturgüter nach Afrika verlegt, ist das für sie darum nichts anderes als "colonial mimicry".**** Echte "Diversität" würde für sie offenbar voraussetzen, dass wir den bloßen Gedanken, Technik sei etwas positives, verwerfen. Im Umkehrschluss fordert sie uns auf, die "ökologischen" und unspezifizierten "anderen" Vorzüge vormoderner schwarzafrikanischer Gesellschaften mit ihrer geringen Bevölkerungsdichte {und ihrer extrem primitiven Technologie} schätzen zu lernen.*****

Doch es ist nicht allein diese Technikfeindlichkeit und die postmoderne Diffamierung des Fortschrittsbegriffs, die Sofia Samatars Artikel für mich so problematisch machen. Hinzu kommt der anti-universalistische Geist; das für Anhängerinnen der Identitätspolitik so typische Beharren auf äußerst dubiosen Vorstellungen von kultureller "Reinheit" und "Authentizität"; das Einteilen von Ideen, Techniken und Kulturgütern nach "westlich" und "nicht-westlich" {in diesem Falle "afrikanisch"}; das Zementieren von Grenzen statt dem Niederreißen von Grenzen. Ich kann in diesem Bestreben, die Menschheit in festgefügte, einander entgegengesetzte Gruppen aufzuteilen, nichts wirklich positives erkennen. Was wir heute brauchen ist genau das Gegenteil: Eine globale, internationalistische Perspektive.
  


* Vgl. vor allem: The Sand Diviner, Writing a Qasida in English & Obsessed with the Kharja Controversy.
 ** "She has drunk ouzo and water. She has planted a bomb in a public garden. She has bathed nude in the Arno. She has marched and shouted. She has been jailed."
*** Als Einführung in dieses äußerst spannende Kapitel der Geschichte möchte ich am Rande aber doch C.L.R. James' Klassiker The Black Jacobins empfehlen.
**** Weder Schießpulver noch Buchdruck sind "westliche" Erfindungen, aber das tut hier nichts zur Sache. Erstaunlich finde ich allerdings, dass Samatars Formulierung den Eindruck erweckt, sie halte auch die Schrift für "unafrikanisch". Dabei existierten im vorkolonialen Afrika sehr wohl eine Reihe von Schriftkulturen. 
***** Nicht, dass es im vorkolonialen Schwarzafrika keine anderen Gesellschaftsformen gegeben hätte. Doch diese sind Samatar aufgrund ihrer hierarchischen, staatlich-zentralisierten Herrschaftsstrukturen offenbar bereits irgendwie suspekt.

4 Kommentare:

  1. Volle Zustimmung. Mich erfüllt es z.B. mit zunehmender Sorge, wie sehr Idpol inzwischen den Diskurs im SFF-Fandom bestimmt, wie zuletzt an dem "Jonathan Ross - Hugo Host" Debakel zu sehen war.

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  2. Hallo, Placet, schön mal wieder was von dir zu hören!
    In meinen Augen ist diese Entwicklung eine zweischneidige Angelegenheit.
    Einerseits sympathisiere ich mit einer ganzen Reihe der in diesem Zusammenhang vorgebrachten Punkte. Ich begrüße es aus vollem Herzen, wenn in der SFF vermehrt auf die überkommenen Geschlechterklischees verzichtet wird, eine größere ethnische Vielfalt herrscht, homosexuelle Charaktere präsentiert werden, die keine bloßen "Quoten"-Schwule/Lesben sind etc.pp.
    Andererseits halte ich die Idpol selbst für falsch und letztlich kontraproduktiv. Auch gefällt es mir nicht, wenn Kunstwerke mehr oder weniger ausschließlich danach beurteilt werden, ob sie den PC-Standards entsprechen, d.h. ob genug Vertreter dieser oder jener Gruppe in ihr vorkommen. Vor allem dann nicht, wenn dabei alle übrigen Kriterien {Qualität; eigentliche Aussage des Buchs/Films usw.} ignoriert werden. Ich konnte z.B. bloß den Kopf schütteln, als mir einmal ein Artikel über "The Time Machine" unter die Augen kam, der die Klassenfrage als mehr oder weniger unwichtig abtat {dabei steht die doch ohne Frage im Zentrum von Wells' Roman!}, und sich stattdessen lang und breit über die Themen Rassenkonflikt & Rassismus ausließ, gestützt auf äußerst wackelige Argumente.
    Etwas unheimlich finde ich auch den Ton, in dem viele "Debatten" in diesem Zusammenhang inzwischen geführt werden. Da war das Jonathan Ross - Debakel wirklich ein gutes Beispiel. Wie vielleicht den meisten Nicht-Briten war mir der gute Mann zuvor nicht bekannt gewesen. Ein informiertes Urteil darüber, ob er als Gastgeber für den "Hugo" geeignet gewesen wäre, kann ich deshalb nicht abgeben. Doch die Art, in der via Twitter auf ihn eingedroschen wurde, war wirklich peinlich & unappetitlich. Im Laufe seiner Karriere wird Ross ganz sicher den einen oder anderen geschmacklosen Witz gerissen haben, aber muss man ihn deshalb gleich als sexistisches, rassistisches, homophobes Monster beschimpfen? Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Neil Gaiman mit ihm befreundet wäre, wenn er tatsächlich solch ein Arschloch wäre.

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  3. Hallo, lese stets mit, auch wenn ich wenig sage.
    Hinter dem noblen Anliegen, die Genres weiterzuentwickeln, verstecken sich leider einige, die ihre ganz eigenen Vorstellungen von gut und böse allen anderen aufdrücken wollen. Wölfe im Schafspelz, die durch diese Vorgehensweise Einfluß gewinnen. Es ist sehr deprimierend zu sehen, was für gute Leute da zur Unterstützung verleitet werden.
    Der Ton der "Debatten" mag sich auch so erklären, dass einige der Diskuttanten Konzepten wie dem "tone" Argument anängen, somit für sich einen Freifahrtsschein in Anspruch nehmen, so beleidigend zu sein wie sie wollen, solange die "gute Sache" hochgehalten wird. Das und andere "Konzepte" immunisieren gegen Kritik, was typisch für ein geschlossenes Glaubenssystem ist.
    Das Ausblenden sozialer Gegensätze, die dem IDPOL eigen ist, hast du ja schon dargelegt. Da muß ich doch an das Bullshit-Bingo für Will Shetterly denken (stolz von ihm angenommen, zum Verdruß seiner Gegner).. :) Vielleicht sollte ich sein eues "Social Justice Warrior" ebook erwerben.
    Sehr unterhaltsame Videos von Gaiman und Ross als Host einer Comic Con sind im Netz zu finden. Schade für den Hugo kann man nur sagen. ..

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  4. Da kann ich nicht widersprechen, auch wenn ich glaube, dass die allermeisten Vertreter & Vertrerinnen des Idpol tatsächlich an der Überwindung existierender Formen von Ungerechtigkeit, Diskriminierung usw. interessiert sind. Einige von ihnen scheinen es allerdings auch sehr zu genießen, sich als moralisch überlegene Ankläger und Richter aufspielen zu können.
    Mit dem "Ton" meinte ich nicht nur den Hang einiger dieser Leute zu wüsten Pöbeleien {das "argument of tone" finde ich ja immer noch seeehr bizarr}, sondern auch die Tendenz, vermeintlich "politische" Debatten zu persönlichen Attacken gegen einzelne Individuen zu machen. Statt Ideen zu kritisieren und sich dabei rationaler Argumente zu bedienen, werden die betreffenden Personen einfach als Rassisten, Sexisten etc. beschimpft. Sie werden nicht als die Vertreter einer {vermeintlich} schlechten Politik, sondern als schlechte Menschen gesehen. Aber diese Form des "Diskurses" ist wohl eine logische Folge der Philosophie der Identitätspolitik (die Idee des "Privilegs", "The Personal is Political", das Primat "persönlicher Befindlichkeiten" etc.)
    Was den guten Will Shetterly angeht, so sympathisiere ich im Großen und Ganzen mit ihm, auch wenn ich sicher nicht in allem mit dem übereinstimme, was er so schreibt. Leider jedoch besitzt er mMn nicht selten die Tendenz, sich in gewisser Hinsicht ähnlich zu verhalten wie die, die er kritisiert. Ich habe den Eindruck, dass die Ereignisse von "Racefail" ihn sehr tief getroffen haben {was ich gut verstehen kann}, und dass seine Kritik der "Social Justice Warrior" deswegen manchmal die Gestalt einer persönlichen Vendetta annimmt. Auch schießt er in seiner kompromisslosen Verteidigung der Meinungsfreiheit in meinen Augen manchmal über das Ziel hinaus. So habe ich z.B. kein Problem damit, dass Elizabeth Moon 2011 von der WisCon ausgeladen wurde. Ich halte es in diesen Fragen eher mit Steven Brust.

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