"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Samstag, 30. November 2013

Strandgut der Woche

Donnerstag, 28. November 2013

Ein Tolkien - Biopic?

Gerüchte wie diese hat man stets mit einer ordentlichen Dosis an Skepsis zu betrachten, aber wenigstens handelt es sich einmal nicht um irgendwelche zu Neuigkeiten aufgeblähten Nichtigkeiten über Star Wars VII oder Superman vs Batman
Vor einer Woche erschien ein Artikel in der Los Angeles Times, demzufolge Chernin Entertainment (Rise of the Planet of the Apes) und Fox Searchlight die Produktion eines Films über das Leben von J.R.R. Tolkien planen. Das Script soll aus der Feder von David Gleeson stammen, der vor allem für den irischen Indie-Streifen Cowboys and Angels (2003) bekannt ist. Weitere Informationen sind äußerst spärlich gesät. Vor allem weiß man nicht, inwieweit das Tolkien Estate in diese Pläne involviert ist. Angesichts der Tatsache, dass selbiges dafür bekannt ist, mit Argusaugen über Werk und "Ruf" des "Professors" zu wachen, eine wichtige Frage. Das Bisschen, was über den Inhalt des geplanten Streifens bekannt ist, stammt wie so oft von einem ominösen "namenlosen Insider": 
“Tolkien,” as the project is tentatively called, will examine the author’s life, particularly his formative years at Pembroke College and as a soldier in World War I, and how it influenced him and his work, according to a person familiar with the project who was not authorized to talk about it publicly.
Im Prinzip könnte ein Tolkien-Biopic sehr interessant sein, böte sich damit doch die Gelegenheit, einige der persönlichen und gesellschaftlichen Faktoren zu beleuchten, die zur Entstehung des bis heute wohl berühmtesten und einflussreichsten Werkes der Fantasyliteratur führten.
Leider jedoch haben sich fast alle biographischen Filme, die Hollywood in den letzten zwanzig Jahren produziert hat, meiner Meinung nach als oberflächlich und ziemlich enttäuschend erwiesen. Verantwortlich für diesen traurigen Zustand scheinen mir in erster Linie ein mangelndes Verständnis und Interesse für Geschichte und dafür zu sein, wie gesellschaftliche Entwicklungen ihren Ausdruck im Leben individueller Menschen finden. Viele Regisseure und Drehbuchautoren glauben offenbar, dass es bei der Darstellung vergangener Epochen hauptsächlich darauf ankomme, deren Äußeres möglichst perfekt zu kopieren. So bekommen wir im Kino zwar häufig sehr schöne Nachahmungen von Kleidermoden, Assecoires, Architektur, Interieurs, Automodellen usw. der Vergangenheit zu sehen, fast nie jedoch hat man dabei das Gefühl, die Schöpfer dieser Filme hätten ein tieferes Verständnis für den Charakter und die Bedeutung der entsprechenden Ära besessen. Geschichte dient ihnen oftmals nur als bunte Kulisse für persönliche Dramen, die selbst so gut wie nichts mit den allgemeineren gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit zu tun zu haben scheinen. Bei den Biopics führt das dazu, dass diese selten irgendetwas substanzielles zu unserem Verständnis der Bedeutung von Leben und Werk der Persönlichkeiten beitragen, um die es in ihnen geht.
Schlimmer noch – auf eine bloße Ansammlung persönlicher Episoden und Konflikte reduziert, erweist sich das Leben vieler berühmter Männer und Frauen als ziemlich banal und langweilig. Im Falle Tolkiens stellt sich dieses Problem mit besonderer Schärfe. Die LA Times schreibt zwar, er habe "a complicated and colorful life" geführt, aber jeder, der sich ein Bisschen mit der Biographie des "Professors" auskennt, weiß, dass diese Charakterisierung wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat. Humphrey Carpenter beginnt das vierte Kapitel seiner Tolkienbiographie mit folgender, sehr viel treffenderer Schilderung:
Und dann [nach 1925], so könnte man sagen, geschah eigentlich nichts mehr. Tolkien kam wieder nach Oxford, war dort zwanzig Jahre lang Rawlinson- und Bosworth-Professor für Angelsächsisch, wurde dann zum Merton-Professor für Sprache und Literatur gewählt, ließ sich in irgendeinem Oxforder Vorort nieder, wo er die ersten Jahre nach seiner Pensionierung lebte, zog dann in ein Seebad, über das auch nichts zu sagen ist, kehrte nach dem Tod seiner Frau nach Oxford zurück und starb dort im Alter von 81 Jahren eines friedlichen Todes. Es war ein normales, belangloses Leben, gleich dem zahlloser anderer Gelehrter [...] 
Was äußere Ereignisse betrifft, war Tolkiens Leben nach seiner Rückkehr aus dem 1. Weltkrieg einfach nicht besonders spannend.
In intellektueller und künstlerischer Hinsicht spielten sich in den Oxforder Jahren natürlich sehr wohl äußerst interessante Dinge ab. Immerhin trafen im Kreis der Inklings mit Tolkien, C.S. Lewis und Charles Williams drei sehr markante Künstler, Denker und Persönlichkeiten aufeinander. Daneben wäre es ohne Zweifel recht erhellend, einen kurzen Blick auf die damals dominierende Strömung in der englischen Literatur zu werfen, von der diese sich ganz bewusst abzugrenzen versuchten: Den Modernismus eines T.S. Eliot, die "linke", radikale Lyrik eines W.H. Auden oder Stephen Spender. Doch selbst wenn sie sich dem Leben eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin zuwenden, tendieren heutige Biopics dazu, genau diese Themen nicht oder nur äußerst oberflächlich anzusprechen. Wie David Walsh 2003 in seiner Kritik von Christine Jeffs Sylvia geschrieben hat:
It seems reasonable as a first principle that a film about a writer should treat the subject of writing and a film about a specific writer should treat the specific subject of his or her writing. The refusal of the Plath-Hughes estate to grant the filmmakers the rights to Plath’s poetry was certainly an obstacle, but not an insurmountable one. There is still the matter of her themes (the sole reference to which I will discuss below) and the overall content of her poetry, as well as broader questions: what were the thoughts and feelings that went into her work and what were the social and psychological roots of those thoughts and feelings? What did she think about other writers? How did she view poetry and art in the middle of the 20th century? She was a bright woman, an intellectual, she had opinions. The two poets, Plath and Hughes, lived together for seven years. They must have exchanged some ideas, about art, about politics, about love, about something of substance. We hear next to none of them. [...]
Art is too complex or troubling a subject for most modern filmmakers to examine in any depth. Consciously or not, he or she tends to view it in the most limited manner, merely as a career or at best a means of “self-expression.” That art is one of the means – through images, not the axioms or laws of science – by which human beings collectively find their bearings in the world, that the artist is forcefully called upon to probe reality deeply and critically ... these are foreign concepts in the film world today.
Ich finde es darum auch sehr bezeichnend, dass mehrere der Artikel über das geplante Tolkien-Biopic erwähnen, Tolkien sei "a code breaker in waiting during World War II" gewesen oder von der Regierung zum "spy and Nazi codebreaker" ausgebildet worden. Tatsächlich nahm der gute Professor im März 1939 an einem dreitägigen Probekurs der Government Code and Cypher School (GCCS) teil. Doch eine weitergehende Schulung durch den Geheimdienst lehnte er aus unbekannten Gründen ab. Eine interessante Anekdote, aber auch nicht viel mehr. Wenn sich die Verfasser erwähnter Artikel dennoch auf sie gestürzt haben, scheint mir das zu bestätigen, dass viele Leute von einem biographischen Film heutzutage erwarten, er solle ihnen in erster Linie "spannende" oder "spektakuläre" Episoden aus dem Leben der betreffenden Person präsentieren.
Dazu passt recht gut, was der anonyme "Informant" über den angeblichen Inhalt von Gleesons Script zu sagen hat. Zumindest was den Fokus auf die Ereignisse des 1. Weltkriegs betrifft.
Die Schlacht an der Somme im November 1916 – eines der fürchterlichsten Gemetzel des Großen Krieges – war ohne Zweifel ein prägendes Erlebnis in Tolkiens Leben. Sie zu einem der Schwerpunkte eines Biopics zu machen, halte ich dennoch nicht wirklich für wünschenswert.
Zum einen fürchte ich, dass der Grund für diesen Fokus nicht darin bestehen wird, dass man den Einfluss, den die Hölle des Stellungskriegs und des mechanisierten Massenschlachtens auf Tolkiens persönliche und künstlerische Entwicklung gehabt hat, ernsthaft untersuchen will. Der Krieg bietet ganz einfach sehr viel mehr Möglichkeiten für das Inszenieren erwähnter "spektakulärer" Episoden. Und wenn ich auf Tor.com lesen muss, "everyone's darling" Benedict Cumberbatch sei für die Rolle des jungen Tolkien doch vorzüglich geeignet, "[because] we can attest that [he] looks great in WWI regalia", dann fürchte ich, dass es im geekigen Zielpublikum genug Leute gibt, die genau so was serviert bekommen wollen.
Zum anderen habe ich das Gefühl, dass man sich in den letzten Jahren ein Bisschen zu sehr auf den 1. Weltkrieg als das entscheidende Erlebnis in Tolkiens Leben konzentriert hat. Dadurch sind nicht nur frühere, sehr persönliche Erfahrungen, wie die vier Jahre in Sarehole Mill (1896-1900) – dem später zum Auenland idealisierten Dorf in der Nähe von Birmingham  – oder der frühe Tod der Mutter im Jahre 1904, ein wenig in Vergessenheit geraten. Diese Fokussierung hat außerdem dazu geführt, dass man die von äußerst heftigen sozialen Konflikten geprägte Nachkriegszeit als prägenden Faktor völlig aus den Augen verloren hat. Doch gerade sie, in der die traditionelle gesellschaftliche Ordnung in Großbritannien am Rande des Zusammenbruchs zu stehen schien, scheint mir äußerst wichtig zum Verständnis von Tolkiens Entwicklung und Kunst. Ein Thema, auf das ich bei Gelegenheit hoffentlich etwas genauer eingehen werde.
{Ich beabsichtige nach wie vor, meine Reihe über Tolkien und den romantischen Antikapitalismus fortzusetzen und irgendwann auch abzuschließen ...}

Samstag, 23. November 2013

Strandgut der Woche

Freitag, 22. November 2013

Blade Runner – The Aquarelle Edition

Auf diese Idee muss man erst einmal kommen! Wie sähe Ridley Scotts klassische Adaption von Philip K. Dicks Do Androids Dream of Electric Sheep aus, wenn man sie in einen Animationsfilm verwandeln würde – zusammengesetzt aus 12.597 Aquarellzeichnungen? Der schwedische Künstler Anders Ramsell hat genau dies getan. Das Ergebnis, in dem sich eine impressionistisch anmutende Ästhetik à la Monet mit der dystopischen Düsternis von Scotts Vorlage vereinigt, ist faszinierend und gespenstisch:

 

Donnerstag, 21. November 2013

"We have such sights to show you"

Kürzlich habe ich mir seit langem wieder einmal Clive Barkers Hellraiser (1987) angeschaut. Und auch wenn die Cenobiten für mich nach wie vor zu den großartigsten Mitgliedern des Horror-Pantheons gehören, muss ich leider eingestehen, dass der Film selbst nicht mehr den selben aufwühlenden Eindruck auf mich gemacht hat, wie bei unserer ersten Begegnung. Was nicht heißen soll, dass ich nicht erneut meinen Spaß mit ihm gehabt hätte. Aber eben auch nicht viel mehr. Seine visuelle Ästhetik ist nach wie vor sehr beeindruckend und sichert dem Streifen auch weiterhin seinen Status als Genreklassiker, aber um mich wirklich faszinieren zu können, fehlt es ihm an der nötigen Tiefe. Was mich wiederum nicht davon abhalten wird, mir heute Nacht Hellraiser II: Hellbound (1988) zu Gemüte zu führen. Weiter werde ich es jedoch nicht treiben, gilt der Rest der Serie doch allgemein als mäßig bis grottig, und meine eigenen verschwommenen Erinnerungen sind da ungefähr derselben Meinung.
Bisher völlig unbekannt war mir allerdings, dass der Soundtrack für Hellraiser ursprünglich von der legendären Industrial-Band Coil geschaffen werden sollte. Deren Stücke erschienen den Produzenten freilich als zu eigenartig. Was höchst bedauerlich ist, hätte Musik wie diese die verstörende Atmosphäre des Films doch ohne Zweifel noch einmal ordentlich verstärkt:



  1. Hellraiser Theme
  2. The Hellbound Heart
  3. Box Theme
  4. No New World
  5. Attack of the Sennapods
  6. Main Title 

Dienstag, 19. November 2013

Weihnacht mit dem alten Gentleman

Seit einigen Wochen bereits hat sich das Volk der Schoko-Nikoläuse in den Regalen der Supermärkte breitgemacht. Aber sie werden es kaum gewesen sein, die in mir ein ganz klein Bisschen verfrühter Vorweihnachtsstimmung geweckt haben. Eher schon tippe ich da auf die in ihrer Klarheit und Frische winterlich anmutende Luft. Auch wenn das Thermometer noch nicht unter null Grad gefallen ist. Doch was auch immer der Grund gewesen sein mag, auf jedenfall habe ich in den letzten Tagen damit begonnen, ein kleines Adventsprogramm für diesen Blog zusammenzustellen.
Wie passend musste es da wirken, als ich heute dank der wundervollen Julia Morgan auf die Eröffnungssequenz einer geplanten Adaption von H.P. Lovecrafts The Festival stieß. Ist diese Short Story doch so etwas wie eine cthulhuide Weihnachtsgeschichte.
Man kann nur hoffen, dass >Rgunatan< die Arbeit an seinem Film alsbald fortsetzen wird. Die großartige Erzählerstimme und die traumartige Atmosphäre der Animationen versprechen The Festival zu einem echten Leckerbissen für alle Freunde und Freundinnen lovecraftschen Horrors zu machen: 


Sonntag, 17. November 2013

Das Epos vom langen Kampf des Hirsches gegen den Ewigen Hass

Ich gehöre zwar zu denen, die immer mal wieder die ungeheure Dominanz der englischsprachigen Sphäre in der Fantasyliteratur beklagen, doch kann ich von mir selbst nicht behaupten, bereits sonderlich viele Genrebücher aus anderen Sprachkreisen gelesen zu haben. Und Grund hierfür sind sicher nicht nur meine mangelnden Fremdsprachenkenntnisse. Nachdem ich vor einigen  Monaten im Blog der Bibliotheka Phantastika Gerd Rotteneckers Artikel zum 55. Geburtstag der argentinischen Schriftstellerin Liliana Bodoc gelesen hatte, entschied ich mich deshalb, diesem Makel endlich einmal bewusst entgegenzuwirken und mir die 2008/09 bei Suhrkamp erschienene Übersetzung der Saga de los Confines (Grenzländersaga) zuzulegen. Zumal das, was Gerd über sie zu berichten hatte, recht interessant klang. Ich habe es nicht bereut.

Die Trilogie ist stark von der Kultur und den Mythen der indianischen Ureinwohner Süd- und Mittelamerikas geprägt und erzählt in gewisser Weise eine phantastische Version der Conquista, die hier freilich etwas anders verläuft und endet als ihr historisches Vorbild.
Ort der Handlung sind die "Fruchtbaren Länder", Heimat von vier recht unterschiedlichen Völkern: Dem kriegerischen Jägervolk der Husihuilke; den nomadisierenden "Hirten"; den Ackerbau betreibenden Zitzahay, deren Dörfer sich rund um die heilige Metropole Beleram gruppieren; und den Sonnenherren, deren städtische Hochkultur von einer stolzen und hochmütigen Adelskaste beherrscht wird.
Als die Astronomen von Beleram beunruhigende Vorzeichen entdecken, die auf gewaltige Ereignisse hindeuten, welche das Leben in den "Fruchtbaren Ländern" für immer verändern werden, rufen sie Abgesandte aller Völker in der heiligen Stadt zusammen. Über das Meer  im Osten nähert sich eine aus den "Alten Ländern" kommende Flotte von Schiffen. Handelt es sich um die Rückkehr der friedvollen Borier, die vor langer Zeit schon einmal den Kontinent besuchten, oder steht die prophezeite Ankunft der Soldaten des Misaianes bevor, des Ewigen Hasses, der den Großteil der "Alten Länder" beherrscht? Wie sich sehr schnell herausstellt, sind die schwarzgekleideten Männer, die auf seltsamen "Tieren mit Mähne" reitend die Schiffe verlassen, in der Tat die Gefolgsleute des Misaianes. Und die in Eisen gehüllten Sideresier (1) mit ihren fürchterlichen feuerspuckenden Waffen kennen nur ein Ziel: Unter der Führung des Magiers und "Doktrinators" Drimus (2) die "Fruchtbaren Länder" zu erobern, ihre Bewohner zu versklaven und den ganzen Kontinent der perversen Ordnung ihres Herrn zu unterwerfen. So beginnt der lange Kampf zwischen dem "Hirsch" – der vereinten Streitmacht der "Fruchtbaren Länder" – und dem Ewigen Hass. Ein Krieg, der Jahre dauern und an den unterschiedlichsten Fronten geführt werden wird. Denn dies ist nur die erste Flotte des Misaianes, der mit dem Sonnenherrn Molitzmos außerdem einen heimlichen Verbündeten auf Seiten des "Hirsches" besitzt.

Was den besonderen Reiz der Grenzländersaga ausmacht sind vor allem Sprache und Stil. Natürlich habe ich keine Ahnung, wie genau Übersetzer Matthias Strobel den Ton Liliana Bodocs getroffen hat. Doch gibt es für mich keinen Grund, anzuzweifeln, dass ihm dies sehr gut gelungen ist. Zu Beginn wirkt der Stil vielleicht etwas ungewohnt und spröde, doch nachdem man sich ein wenig eingelesen hat, entfaltet er schon bald seinen ganz eigenen poetischen Zauber. Zwei {miteinander verknüpfte} Charakterzüge möchte ich dabei besonders hervorheben:
Zum einen ist es Bodoc erstaunlich gut gelungen, ihrer Erzählung das Flair einer authentischen mythisch-heldenepischen Dichtung zu verleihen. Dabei spielen solche, dem Leser zuerst einmal vielleicht etwas befremdlich vorkommenden Stilelemente wie die zum Teil sprunghafte Handlungsführung, das mitunter knappe Zusammenfassen eigentlich wichtiger Ereignisse, die wörtliche Wiederholung einzelner Passagen und das Einflechten kleiner Nebenhandlungen, die für das Fortschreiten des Plots im Grunde keine Bedeutung haben und in denen oft Liebesbeziehungen im Zentrum stehen, eine wichtige Rolle. Mehr als einmal fühlte ich mich während des Lesens an Werke wie das ossetische Epos von den Kindern der Sonne erinnert.
Zum anderen vermittelt die Grenzländersaga einen äußerst lebendigen Eindruck von der Weltsicht der Husihuilke. Und das nicht, indem uns deren Religion, Kultur und Lebensphilosophie im Detail dargelegt würde. Vielmehr ist die Erzählung selbst, bis in ihre Sprache hinein, durchtränkt von einer Weltanschauung, die die gesamte Natur als belebt und beseelt wahrnimmt. Anders ausgedrückt: Die Erzählerin der Saga ist selbst eine Bewohnerin der "Fruchtbaren Länder". Sie ist keine handelnde Person. Sie erzählt von Ereignissen, die sich in ferner Vergangenheit abgespielt haben  Doch sie tut dies im Geiste der Menschen, von deren Schicksal und Taten sie berichtet.

Normalerweise reagiere ich äußerst allergisch auf alle Versuche, das idealisierte Bild eines "Naturvolkes" als positive Alternative der ach so bösen europäischen Moderne gegenüberzustellen. Und die Grenzländersaga enthält ohne Zweifel etwas davon. Die Husihuilke und Zitzahay werden uns als Völker präsentiert, die im Einklang mit "der Erde" leben und alle Kreaturen als gleichberechtigt betrachten. Seinen interessantesten Ausdruck findet dies in den schamananhaften Erdzauberern, die ihre Kräfte offenbar aus einer Art "Verschmelzung" mit der Natur gewinnen. Die Sideresier andererseits sind die Vertreter einer als widernatürlich und lebensfeindlich beschriebenen Ordnung.
Überraschenderweise hat mich dies dennoch kaum gestört. Ja, dieses Element ist vorhanden, und es hat mich nicht wirklich gewundert, zu erfahren, dass eine der Inspirationsquellen der Autorin die Schriften Mircea Eliades gewesen sind. Wer sich etwas genauer mit der Materie auskennt, würde vermutlich noch sehr viel deutlichere Spuren des Denkens des erzreaktionären Religionsphilosophen und Eisernen Legionärs in der Erzählung finden können, als mir das möglich gewesen ist. Dies sorgte zwar ab und für kleinere Irritationen, konnte mir das Lesevergnügen aber trotzdem nie ernsthaft vergällen. Grund hierfür ist der authentische Eindruck, den die Grenzländersaga auf mich gemacht hat. Bücher, Filme und andere Kunstwerke, die einen solchen Gegensatz zwischen "Natur" und "Moderne" postulieren, hinterlassen bei mir für gewöhnlich das Gefühl, es mit den Hervorbringungen eines zivilisationsmüden, westlich gebildeten Intellektuellen zu tun zu haben, der sich Versatzstücke aus allen möglichen Kulturen, Religionen und Philosophien der Vergangenheit zusammenklaubt, um die eigene innere Leere zu füllen, was in meinen Augen meist künstlich, oberflächlich und irgendwie ziemlich erbärmlich wirkt.(3) Ganz anders Liliana Bodocs Epos. Hier hatte ich den Eindruck, dem Lebensgefühl und der Weltsicht eines realen, lebendigen Volkes zu begegnen. Natürlich sind die Husihuilke eine Erfindung der Autorin, aber sie wirken nicht wie das romantische Traumprodukt einer Schriftstellerin des 20./21. Jahrhunderts. Sie wirken echt.
Verantwortlich hierfür dürfte – von Bodocs erzählerischem Talent einmal abgesehen – der Umstand sein, dass die Autorin einen Großteil ihrer Inspiration aus authentischen Quellen wie dem Popol Vuh der Quiché-Maya (4) oder den Gedichten des Acolhua-Königs Nezahualcóyotl (1402-1472) (5) bezogen hat.

Eine ähnliche, leicht ambivalent Haltung habe ich auch gegenüber Liliana Bodocs Darstellung der Invasion Mittel- und Südamerikas durch die Spanier. Dieser historische Hintergrund verleiht der Grenzländersaga einen Gutteil ihrer Faszination, doch ist er zugleich nicht ganz unproblematisch. Reale historische Ereignisse als Vorbild für ein Fantasyepos zu verwenden, bei dem der klassische Kampf zwischen Gut und Böse im Zentrum steht, birgt die Gefahr, dass wir diese simplistische Sichtweise, die im Rahmen einer "mythischen" Erzählung völlig in Ordnung ist, im Umkehrschluss auf die reale Geschichte übertragen. Und bei einem so blutigen und tragischen Ereignis wie der Conquista ist die Versuchung hierfür sicher besonders groß. Doch käme man damit einem Verständnis der objektiven Bedeutung dieser Ereignisse keinen Schritt näher.
Die Conquista, die Ausplünderung Amerikas und die Versklavung und Ermordung der Ureinwohner waren wichtige Etappen jenes historischen Prozesses, welcher zur Geburt des Kapitalismus führte. Um Karl Marx' berühmte Schilderung der "sogenannten ursprünglichen Akkumulation" zu zitieren:
Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.
Das Kapital betrat die Bühne der Weltgeschichte "von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend." (6) Doch so grausam und abstoßend dieser Prozess auch war, er verkörperte in letzter Konsequenz den geschichtlichen Fortschritt. Ihn einfach bloß als verbrecherisch zu verdammen oder sich zu wünschen, dass Kolumbus nie in Mittelamerika angekommen wäre, halte ich deshalb für sehr kurzsichtig. Im Verlaufe dieser Entwicklung wurden die ökonomischen Grundlagen geschaffen, auf denen sich schließlich die moderne Industrie und die demokratischen Revolutionen entwickeln konnten. Das macht Verbrechen wie die der Conquista natürlich nicht weniger monströs und verachtenswert. Aber es sollte einem doch zeigen, wie inadäquat es wäre, dem Ganzen ein manichäisches Interpretationsschema überzustülpen.

Was die Grenzländersaga letztlich vor dieser Art von Kritik bewahrt, ist der Umstand, dass die Invasion der "Fruchtbaren Länder" trotz zahlreicher Anspielungen auf die historische Realität letztenendes eben nicht die Conquista ist. Die Sideresier mögen auf Pferden reiten und ihre Gemetzel mit Hilfe von Schwertern, Musketen und Kanonen veranstalten, dennoch unterscheiden sie sich in vielem von Cortéz, Pizarro und ihren plündernden Horden. Das wird spätestens dann sehr deutlich, wenn die "Alten Länder" zum Schausplatz eines zweiten Handlungsstranges werden, in dem es um die beginnende Rebellion gegen den Misaianes geht. Denn während Lebensweise und Kultur der Völker der "Fruchtbaren Länder" in zahlreichen Details sehr genau der Realität im präkolumbischen Amerika nachgebildet sind, erinnern die Verhältnisse im Reich des Ewigen Hasses ganz und gar nicht denen im Europa des 15./16. Jahrhunderts.

Für was genau steht der Misaianes?
Ich bin den Verdacht nie ganz losgeworden, dass manches an seiner Gestalt Assoziationen zum Christentum wecken soll. Zwar ist sein Name aus den griechischen Wörtern für "hassen" ("miseo") und "ewig" ("aion") zusammengesetzt, doch erinnert er nicht ein wenig an "Messias"? Auch ist er durch eine Art Jungfrauengeburt auf die Welt gekommen, auch wenn seine Mutter nicht Maria die Magd Gottes, sondern "die Todbringende" (die weibliche Inkarnation des Todes) ist. {Welche nebenbeibemerkt eine wichtige Rolle im zweiten und dritten Band des Epos spielt.} Die Sideresier sprechen von ihm als "dem Herrn", was mich immer wieder an den christlichen Kyrios/Dominus denken ließ. Und Drimus' Titel "Doktrinator" legt nahe, dass die Eroberung der "Fruchtbaren Länder" gleichzeitig als die Verbreitug einer "Lehre" zu verstehen ist.
Denkt man an die wenig rühmliche Rolle, die das Christentum in der Conquista gespielt hat, scheint es nicht gar zu abwegig, eine solche Verbindung herzustellen. Aber selbst wenn Liliana Bodoc dies tatsächlich beabsichtigt haben sollte, verkörpert der Misaianes in erster Linie doch etwas sehr viel allgemeineres: Schrankenlose Tyrannei und absolute Verachtung für das Leben, die Natur und die Würde des Menschen. Die allermeisten seiner Untertanen sind zu bloßen Arbeitssklaven degradiert worden, denen man ihre Individualität und alle wirklich menschlichen Empfindungen geraubt hat. Sein Reich wirkt wie eine Mischung aus totalitärer Dystopie und Tolkiens Mordor. Ganz wie das Schwarze Land ist auch die Region um den Berg des Misaianes eine tote Einöde.

Und damit kommen wir zum letzten wichtigen Punkt. Neben vielem anderen ist die Grenzländersaga nämlich auch als eine Art Gegenentwurf zur klassischen, tolkienesken High Fantasy konzipiert. Liliana Bodoc hat dies in Interviews deutlich zum Ausdruck gebracht:
Frage: Sie werden immer wieder auf J.R.R. Tolkien angesprochen. Lassen sich Ihr Werk und Der Herr der Ringe vergleichen?
Antwort: Tolkiens Epos ist in einer entgegengesetzten Realität verankert, es ist ein europäisches Epos, eurozentrisch und monarchistisch. Sein Werk und meines verkörpern zwei unterschiedliche Weltbilder: Tolkien schreibt aus der Sicht der Mächtigen, ich vom Standpunkt der Unterworfenen.
Oberflächlich betrachtet weist die Grenzländersaga durchaus Parallelen zur tolkiensken Fantasy auf. Schließlich geht es auch in ihr um einen großen Krieg zwischen Gut und Böse, von dessen Ausgang das Schicksal der Welt abhängt. Und der Misaianes ist in vielem ein typischer Dunkler Herrscher nach dem Vorbild des alten Sauron. Dennoch sind die Unterschiede augenfällig.
Ein zentrales Motiv in der Grenzländersaga ist die Spaltung der Magie in die Bruderschaft des Frieds und die Bruderschaft der Freien Luft. Erstere glaubt, dass die Weisen das Recht und die Pflicht hätten, über die übrigen Kreaturen zu deren Bestem zu herrschen. Letztere sieht alle Kreaturen als gleichberechtigt an und glaubt, dass die Weisen Diener und Helfer ihrer Mitgeschöpfe sein sollten.
Die Philosophie des Frieds ist im Grunde auch die Philosophie der tolkienschen Fantasy. Mittelerde steckt voller "natürlicher" Hierarchien, an deren Spitze edle und weise Autoritäten stehen, deren Aufgabe es ist, die ihnen Unterstellten zu leiten und zu beschützen. Merry bringt dies im dritten Band des Herr der Ringe auf den Punkt, wenn er sagt:  
Es ist am besten, wenn man zuerst liebt, was zu lieben einem angemessen ist, nehme ich an: man muss irgendwo beginnen und Wurzeln haben, und der Boden des Auenlandes ist tief. Doch gibt es noch tiefere und höhere Lebewesen; und kein Ohm könnte in Frieden, wie er es nennt, seinen Garten bestellen, wenn sie nicht wären, ob er nun von ihnen weiß oder nicht. (7)
Bei Liliana Bodoc sind es gerade die Magier des Frieds, die sich dem Misaianes unterworfen haben {Drimus ist einer von ihnen}, während die Magier der "Fruchtbaren Länder" aunahmslos der Bruderschaft der Freien Luft angehören.
Interessanterweise allerdings verwirft die Autorin den Fried nicht einfach als "böse". Sie macht zwar deutlich, wie leicht  diese Philosophie zur Legitimation einer tyrannischen Herrschaft und zur Verachtung des "Pöbels" führen kann, doch sie schließt nicht aus, dass es unter ihren Anhängern auch Personen geben könnte, die ihre Pflicht gegenüber den ihnen "anvertrauten" wirklich ernst nehmen. So ist das Hirn hinter der beginnenden Revolte gegen den Misaianes der Magier Zoras, selbst ein Mitglied der Bruderschaft des Frieds. Wohl nicht zufällig spielt bei seinem Plan das Motiv des "Auserwähltseins" eine zentrale Rolle, gehört selbiges doch zum Grundbestand der tolkienesken Fantasy und ist selbst Ausdruck der ihr innewohnenden autoritären Tendenz. Zoras "kreiert" mit seinen Kindern Vara und Aro zwei "Auserwählte", die den Aufstand anführen sollen. Der Verlauf der Rebellion freilich untergräbt schließlich sein ursprüngliches Ziel. Denn statt die Wiedergeburt einer "reinen" Bruderschaft des Frieds herbeizuführen, wendet sich Aro mehr und mehr von den Lehren seines Vaters ab und dem Ideal der Gleichheit zu. Der Kampf für die Freiheit verträgt sich eben nicht mit der Idee einer "allwissenden" Elite.
Auch die Haupthandlung in den "Fruchtbaren Ländern" enthält eine deutliche Kritik an den klassischen Formen der tolkienesken Hight Fantasy. Der Großteil der Streitmacht des "Hirsches" besteht aus den Husihuilke, deren Gesellschaft zwar Autoritätspersonen (die Ältesten, die Erdzauberer, den von den Ältesten eingesetzten Befehlshaber), aber keine strengen Hierarchien kennt. Der Geist, der sie beseelt, ist nicht der des Gehorsams {obwohl in ihrem Heer eine strenge Disziplin herrscht}, sondern der der Soldarität. Ganz anders sieht es beim Volk der Sonnenherren aus, das seit Urzeiten von zwei rivalisierenden Adelshäusern beherrscht wird. Um diese zum Kampf gegen die Siderersier zu vereinen, sorgt die kluge, willensstarke und rücksichtslose Acila dafür, dass ein Thronerbe geboren wird, in dem die beiden Blutlinien zusammenfließen. Damit wird das Motiv der "Rückkehr des Königs" in die Grenzländersaga eingeführt. Doch tritt dabei an die Stelle des edlen und heldenhaften Aragorn der kränkliche Säugling Yocoya-Tzin. Weder er noch die Vertreter der beiden Adelshäuser tragen irgendetwas substanzielles zum Kampf bei. Die Truppen der Sonnenherren werden in Wirklichkeit von "dem Schmied", einem Handwerker und Soldaten, angeführt. Die abschließende Inthronisation Yocoya-Tzins ist darum auch keine Wiederherstellung der guten Ordnung wie Aragorns Thronbesteigung im Herr der Ringe. Das Ritual verdeutlicht vielmehr, dass trotz des Sieges über die Sideresier hier eine auf krasser Ungleichheit basierende Herrschaft erneuert wird. Entsprechend desillusioniert zeigt sich der Husihuilke-Krieger Thungür, der der eigentliche Anführer der Streitmacht des "Hirsches" gewesen war:
[A]ls Husihuilke habe ich gelernt, dass die Erde eins ist. Und dass mit der Freiheit der einen auch die Freiheit der anderen fällt. Trotzdem hat sich etwas in meinem Herzen verändert. Ich habe gesehen, wie die Sonnenherren die Finger zählten, mit denen sie die Krone hielten, während die Krieger, die tapfer gekämpft haben, zusammengedrängt aus der Ferne zuschauen mussten. Es war ein bitterer Tag für mich, und daher sage ich [...]: Wenn Misaianes zurückkehrt, werde ich nur noch für den Süden [die Heimat der Husihuilke] kämpfen, den ich liebe, nur noch im Namen meines Volkes. (8) 
Gerd Rottenecker schreibt, dass all die Qualitäten von Liliana Bodocs Roman nicht ausgereicht hätten, "um aus der Grenzländersaga in Deutschland mehr als einen Achtungserfolg zu machen. Was darauf hindeuten könnte, dass die deutschsprachigen Fantasyleser und -leserinnen mit allzuviel Exotik und zu deutlichen Abweichungen von den üblichen Erzählkonventionen mehrheitlich eben doch nicht so richtig was anfangen können." Dem mag leider so sein.  Doch man soll die Hoffnung ja nicht aufgeben. Und so wäre es sehr erfreulich, wenn sich mit der Zeit doch noch ein paar mehr Leserinnen und Leser für die Grenzländersga begeistern würden. Zumal wir hierzulande ja nicht eben mit einer Unmenge an Fantasybüchern gesegnet sind, die nicht aus dem Englischen stammen und eine Alternative zu den üblichen Konventionen des Genres darstellen.
  

PS: Bei El Arte des Los Confines finden sich reihenweise sehr schöner Illustrationen zu Liliana Bodocs Epos. Wer wissen möchte, wie die Husihuilke-Krieger, die Lulus, Nanahuatli, Kupuka, der Falkenzauberer, der Kauer, Molitzmos, Nakin von den Eulen, Acila, Drimus, Wilkilen, Thungür, Kush oder Dulkancellin aussehen {könnten}, sollte da unbedingt mal reinschauen.


(1)  Von "Sidero" = Eisen, eiserne Waffe, Schwert. Vgl. den Glossar auf der Webseite grenzlaendersaga.de
(2) Die grotesk bucklige Gestalt des Drimus könnte eine Anspielung auf Hérnan Cortéz sein, der angeblich einen vergleichbaren köperlichen Makel besessen haben soll. Vgl. die Darstellung des berüchtigten Conquistadors in Diego Riveras Wandgemälde im Palacio Nacional de Mexico. 
 (3) Ich habe mir selbst vor Zeiten einmal eine Privatreligion aus Brocken muslimisch-sufistischer, hinduistischer und buddhistischer Spiritualität und Philosophie zusammengebraut, spreche da also ein Bisschen aus eigener Erfahrung.
(4) So stammt z.B. der Name "Zabralkan" aus der Legende von den Göttlichen Zwillingen im fünften Kapitel des ersten Teils des Popol Vuh. Wer sich für eine englische Übersetzung des gesamten heiligen Textes interessiert, findet eine solche hier, hier und hier.
(5) Einige der Gedichte Nezahualcóyotls kann man hier im Original (Nahuatl) und in englischer Übersetzung lesen oder sich hier von John Curl vortragen lassen. 
(6) Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 1. S. 779 & 788.
(7) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. III. S. 164f.
(8) Liliana Bodoc: Die Grenzländersaga. Bd. III: Die Tage des Feuers. S. 477. 

Samstag, 16. November 2013

Strandgut der Woche

Samstag, 9. November 2013

Halloween mit der Addams Family

In meiner Kindheit war mir Halloween nur deshalb ein Begriff, weil die G.I.s das Fest alljährlich auf der Burg Frankenstein in der Nähe von Darmstadt feierten, und man munkelte, dass es dabei ziemlich wild hergehen solle. Ob die Geschichten über durch die Gegend rollende blutige Schweinsköpfe der Wahrheit entsprochen haben oder bloß Urban Legends waren, habe ich nie herausgefunden. 

Inzwischen hat sich das Fest erfreulicherweise auch außerhalb amerikanischer Enklaven in deutschen Landen auszubreiten begonnen, was wieder einmal beweist, wie klasse "cultural appropriation" sein kann. Im Herzen des Odenwaldes freilich hat sich die Herrschaft von Jack O'Lantern bisher offenbar noch nicht so recht durchsetzen können. Außer dem vereinzelten Kürbis im Vorgarten fanden sich Ende Oktober kaum Anzeichen dafür, dass die Hohe Nacht der Hexen und Gespenster herannahte. So bestand für mich auch nicht die Möglichkeit, Halloween auf etwas sozialere Art zu feiern. Was also sollte ich tun? Die klassische Variante wäre natürlich gewesen, mir einfach ein paar geliebte alte Horrorflicks anzuschauen. Aber irgendwie stand mir danach nicht der Sinn. Mich verlangte es nach etwas Aufmuterndem. Also machte ich es mir an All Hallows' Eve schließlich mit einer Flasche Rotwein und einer Packung Haribo-Vampire gemütlich und startete einen kleinen Addams Family - Marathon.


Ende der 30er Jahre der Feder von Cartoonist Charles Addams entsprungen, fristeten die Mitglieder des Clans jahrzehntelang eine namenlose Existenz, bis sie 1964 den Sprung von den Seiten des New Yorker auf die Mattscheibe vollzogen. Für Morticia (Carolyn Jones), Gomez (John Astin), Wednesday (Lisa Loring), Pugsley (Ken Weatherwax), Onkel Fester (Jackie Coogan), Grandmama (Blossom Rock), Butler Lurch (Ted Cassidy) und "Thing" war dies darum beinah so etwas wie eine zweite Geburt. Was zuvor eine mehr oder minder disparate Gruppe von Figuren gewesen war, wurde zu einem festen Ensemble.
Neben Charles Addams, der die einzelnen Charaktere in ihren Grundzügen entwickelte, war es vor allem Produzent Nat Perrin, der für den ganz eigenen Charme der Addams Family sorgte. Der eng mit Groucho Marx befreundete Perrin hatte als Drehbuchschreiber u.a. an Duck Soup (Die Marx Brothers im Krieg; 1933), The Big Store (Die Marx Brothers im Kaufhaus; 1941) und Song of the Thin Man (dem sechsten und letzten Nick & Nora - Film; 1947) mitgewirkt. Und obwohl er im Vorspann nicht als Autor genannt wird, waren die meisten Dialoge in der Serie Produkte seines Gehirns.

Was die Addams Family neben ihren Exzentrizitäten und ihrem sympathischen Hang zum Makabren so liebenswert macht, lässt sich am besten zeigen, indem man sie mit ihren "direkten Rivalen", den zur selben Zeit auf einem Konkurrenzsender ausgestrahlten Munsters vergleicht.


Beide Serien mischten das Format der Familien-Sitcom mit Elementen aus der Welt des Horrors. Doch trotz einiger oberflächlicher Ähnlichkeiten, unterscheiden sie sich im Kern sehr deutlich voneinander.

Die Munsters sind nicht ganz ohne ihren eigenen Charme, aber neben der neckischen Grundidee – aus dem Ensemble der alten Universal-Ungeheuer* eine amerikanische Kleinfamilie zu machen – wird man nur wenig echten Witz oder Originalität in der Serie finden können. Völlig falsch läge man überdies, wollte man in ihr eine Satire auf die normale Familien-Sitcom der Zeit sehen. Sie hält sich vielmehr sehr eng an deren Konventionen, und ihr Grundkonzept macht sie dabei noch ganz besonders konformistisch. Die Munsters nämlich sind eine Einwandererfamilie, die in den Vereinigten Staaten heimisch werden will. Ihr Äußereres und einige ihrer Gepflogenheiten (so etwa schmückt Lily die Wohnung regelmäßig mit Spinnenweben), führen zwar immer wieder zu allerlei humorvollen Verwicklungen, sie selbst aber verfolgen das erklärte Ziel, eine ganz normale amerikanische Familie zu sein. Was nichts anderes bedeutet, als dass die damals üblichen kleinbürgerlichen Wertvorstellungen das leuchtende Ideal abgeben, dem sie nacheifern. So z.B. ist Herman ein geradezu "vorbildlicher" Arbeiter, fleißig und voller Dankbarkeit gegenüber seinem Chef. Und natürlich herrscht in der Familie selbst ganz die klassische Rollenverteilung. Lily mag sich mitunter als klüger erweisen als ihr etwas "langsamer" Eheman, aber es kommt kein Zweifel darüber auf, dass er Oberhaupt und Ernährer der Familie ist, während sie die Rolle des liebevollen und ergebenen Eheweibs spielt. Das Intro zur ersten Staffel illustriert sehr schön den gänzlich konventionellen Charakter der Serie.

Völlig anders die Addams Family! Sich in die Gesellschaft einzufügen, würde ihren Mitgliedern nicht einmal im Traum einfallen. Zwar halten sie ihr eigenes Verhalten für völlig normal und können sich nicht vorstellen, dass irgendjemand das anders sehen könnte, doch bedeutet das nicht, dass sie glauben würden, alle Welt sei wie sie. Ihr Abscheu vor allem, was das konventionelle Amerika der Zeit verkörpert, ist vielmehr äußerst pointiert. Als Pugsley Interesse an Baseball entwickelt und sogar den Pfadfindern beitreten will, kommt dies für Morticia und Gomez einer Katastrophe gleich. Es gilt die Familienehre zu verteidigen! Und sie ruhen nicht eher, als bis ihr Sohn zu seiner Vorliebe für Dynamit und zu Edgar Allan Poe als Gutenachtlektüre zurückgekehrt ist.
Nun ließe sich einwenden, dass die Addams Family aufgrund ihres Reichtums anders als die Munsters nicht gezwungen ist, sich in die Gesellschaft zu intigrieren. Gomez ist zwar ausgebildeter Strafverteidiger, geht seinem Beruf jedoch so gut wie nach. {Was kein Wunder ist, hat er doch noch keinen einzigen Fall gewonnen.} Geld ist dennoch in unerschöpflichen Mengen vorhanden. Wenn die Munsters zur Arbeiterklasse gehören, so sind die Addamses exzentrische "Aristokraten". Doch im Grunde wäre es reichlich absurd, an Serien wie diese "sozialrealistische" Maßstäbe anlegen zu wollen. Die Addams Family steht ganz einfach außerhalb der Gesellschaft. Niemand geht irgendeiner Arbeit nach. Pugsley und Wednesday besuchen nicht einmal eine Schule. {Wie auch sollten Morticia und Gomez ihre Kinder einer Institution anvertrauen, die sie dazu zwingen würde, solch schreckliche Bücher zu lesen wie Grimms Märchen, in denen arme alte Hexen in Backöfen verbrannt werden?!**} Die Addamses sind die ultimativen Außenseiter. Doch interessanterweise erscheinen die Vertreter der "Normalität", die ab und an ihr bizarres "Paralleluniversum" betreten {nur um es bald mit arg zerrütteten Nerven fluchtartig wieder zu verlassen}, meist sehr viel weniger sympathisch als unser liebenswerter Clan der makabren Exzentriker.
Und das verleiht der Serie im Gegensatz zu den Munsters eine echt subversive Note. Die Satire auf das kleinbürgerliche Amerika der 60er Jahre geht zugegebenermaßen nicht besonders weit. Der besondere Charme der Addams Family liegt woanders: In ihrer Sympathie für ein selbstbewusstes Außenseitertum, das sich nicht den herrschenden Konventionen unterwirft, und dabei nicht nur menschlicher, sondern auch sehr viel glücklicher wirkt als die "normale" Gesellschaft. Wie könnte man eine Serie nicht lieben, die folgenden Wortwechsel enthält?
Grandmama: I rememeber the first time I voted - 1906.
Uncle Fester: Nay Mama, you know there was no woman suffrage in 1906.
Grandmama: That didn't stop me.
Uncle Fester: A real Addam! ***
Auch die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Familie legen Zeugnis vom nonkonformistischen Charakter der Addamses ab. Im Großen und Ganzen sind natürlich auch sie eine bürgerliche Kleinfamilie mit der entsprechenden Rollenverteilung, aber vom spießigen Mief, der die Munsters umgibt, ist hier nur wenig zu spüren. Dafür sind allerlei kleine Details verantwortlich. Wenn Gomez z.B. ein "ernstes Gespräch" mit Pugsley führen will {weil dieser plötzlich mit Pfadfinderuniform vor dem Spiegel posiert}, so spielt sich das keineswegs als klassisches "Vater-Sohn-Gespräch" ab. Er behandelt ihn vielmehr beinah wie einen Gleichgestellten. Als "väterliche Autoritätsfigur" wäre Gomez in der Tat auch reichlich ungeeignet, legt er selbst doch immer wieder eine geradezu kindliche Begeisterungsfähigkeit an den Tag. {Sein Lieblingshobby ist es, Modelleisenbahnen in die Luft zu sprengen.} Für einen "Patriarchen" ein ziemlich unangmessenes Verhalten.
Am sympathischsten aber ist meiner Ansicht nach die Beziehung zwischen ihm und seiner Frau. Herman und Lily Munster sind das "ideale Ehepaar". Gomez und Morticia hingegen sind ein Liebespaar, das nebenbei auch noch verheiratet ist. Leidenschaft und Sinnlichkeit dominieren ihre Beziehung. Obwohl sie die {liebevollen} Eltern zweier Kinder sind, herrscht zwischen ihnen nach wie vor die erotische Spannung, die man eigentlich eher zwischen zwei Frischverliebten erwarten würde. Das verstößt nicht nur gegen die puritanischen Regeln der Zeit, es verleiht ihrer Beziehung auch eine beneidenswerte Lebendigkeit und Verspieltheit. Eine der schönsten Verkörperungen dessen ist es, wenn die beiden zum Spaß ein kleines Fechtduell veranstalten. Und Morticia weiß die Klinge ebenso geschickt zu führen wie ihr Gatte.

Gut möglich, dass ich mehr in die Addams Family hineininterpretiere, als sich in der Serie tatsächlich findet. Doch wenn dem so sein sollte, will ich das gar nicht wissen. Dazu mag ich den verschrobenen Clan viel zu sehr. Ich denke, ich werde mir in näherer Zukunft einmal wieder alle Episoden der Serie zu Gemüte führen. Und wer weiß, vielleicht bekomme ich ja sogar Lust, mich anschließend Barry Sonnenfelds Kinofilmen aus den frühen 90ern zuzuwenden. Meine Erinnerung an die ist mehr als nur ein bisschen verschwommen ...

* Da die Munsters von Universal Television produziert wurden, war es möglich, für Herman das ikonische Design des Boris Karloff - Monsters zu verwenden, während z.B. Hammer Film Productions bei ihren Frankenstein-Filmen gezwungen waren, dem Ungeheuer ein deutlich anderes Aussehen zu verleihen. 
** Zumal Morticias Vorfahren aus Salem stammten ...
*** S01E04: Gomez the Politician.  

Strandgut der Woche

Sonntag, 3. November 2013

Von monströsen Spinnengöttern und stilistischen Mixturen

Letzte Nacht hatte ich mal wieder Besuch von einem guten alten Bekannten – Schlaflosigkeit. Ein lästiger Geselle, aber was soll man machen? Nachdem ich keine Lust mehr hatte, mich noch länger sinnlos im Bett hin- und herzuwälzen, raffte ich mich auf, um mir irgendeine nette Ablenkung in den frühen Morgenstunden zu verschaffen. Nach einigem sinnlosen Rumgesurfe, stieß ich schließlich in der Lovecraft eZine auf den italienischen Horrorfilm The Spider Labyrinth (Il nido del ragno [Das Nest der Spinne]):


Gianfranco Giagnis Kindodebüt aus dem Jahre 1988 erzählt eine denkbar einfache Geschichte. Der junge amerikanische Professor Alan Whitmore (Roland Wybenga) reist nach Budapest, um seinen Kollegen Professor Roth zu Besuchen. Beide arbeiten im Rahmen eines internationalen Projektes an der Erforschung eines jahrtausendealten religiösen Kultes. In der ungarischen Hauptstadt angekommen begegnet unser Held Roths Assistentin Genevieve Weiss (Paola Rinaldi) und wird im Hotel der mysteriösen Mrs. Kuhn (Stéphane Audran) einquartiert. Roth allerdings wird noch am selben Tag ermordet, konnte Whitmore zuvor aber noch ein uraltes Votivtäfelchen mit einer geheimnisvollen Inschrift zukommen lassen. Es dauert nicht lange, da ist auch das Leben unseres Helden in höchster Gefahr. Oder vielleicht weniger sein Leben, als vielmehr seine Seele. Denn die Anhänger eines monströsen Spinnengottes sehen es überhaupt nicht gern, wenn man den Namen ihrer Gottheit der Welt bekannt machten will. Eher schon steht ihnen der Sinn danach, die Herrschaft über selbige zu übernehmen.
Das klingt nun nicht gerade nach der originellsten aller Gruselgeschichten, doch ich denke, dass vor allem Liebhaber & Liebhaberinnen des klassischen italienischen Horrorfilms Il nido del ragno zumindest interessant finden werden. Ein vergessenes Genrejuwel ist der Streifen in meinen Augen allerdings nicht, auch wenn manche da anderer Meinung zu sein scheinen.


Recht spannend liest sich allein schon die Liste der Leute, die an der Entwicklung des Drehbuchs beteiligt waren. Neben dem mir unbekannten Gianfranco Manfredi liefern sich da drei recht markante Namen ein Stelldichein. 
Da hätten wir zuerst einmal Tonino Cervi, der gleichzeitig einer der Produzenten des Flicks war. Der 2002 verstorbene Cervi ist eine nicht unbedeutende Figur in der Geschichte des italienischen Kinos gewesen. In den 50ern & 60ern produzierte er u.a. Mauro Bologninis La notte brava (Wir von der Straße; 1959), Florestano Vancinis La lunga notte del '43 (Die lange Nacht von 43; 1960), Boccaccio 70 (1962) – einen Film, der Episoden von Mario Monicelli, Federico Fellini, Luchino Visconti & Vittorio De Sica enthält –, Bernardo Bertoluccis Debüt La commare secca (1962) und Michelangelo Antonionis Il deserto rosso (Rote Wüste; 1964). Gegen Ende der 60er Jahre nahm seine Karriere dann eine eigenartige Wendung und er wandte sich den wüsten {aber vermutlich kommerziell erfolgversprechenderen*} Gefilden des B-Movies zu. So produzierte er in den 70ern u.a. zwei Nunsploitation-Flicks von Domenico Paolella, für die er auch die Drehbücher geschrieben hatte. Zugleich versuchte er sich als Regisseur, u.a. mit der Peyrefitte-Adaption Ritratto di borghesia in nero (Die nackte Bourgeoisie; 1977).
Als nächster wäre Riccardo Aragno zu nennen, am bekanntesten vielleicht durch seine lange Freundschaft mit Stanley Kubrick, dessen Filme er für den italienischen Markt bearbeitete.
Der vierte im Bunde schließlich ist Cesare Frugoni, der als Drehbuchautor das italienische Kinopublikum seit den 70ern mit Werken wie La montagna del dio cannibale (Die weiße Göttin der Kannibalen), L'isola degli uomini pesce (Die Insel der neuen Monster), Il fiume del grande caimano (Der Fluss der Monsterkrokodile) und Vai alla grande (Die flotten Teens von Rimini) beglückt hat. Interessanterweise arbeitete er aber auch am Drehbuch für Cervis Ritratto di borghesia in nero mit.
Eine faszinierende Combo, das wird man zugeben müssen. Allerdings könnte The Spider Labyrinth ein klassisches Beispiel dafür sein, dass zuviele Köche oft genug den Brei verderben. Doch bevor wir uns der Kritik des Streifens zuwenden, rasch noch ein paar Worte über den Regisseur.
Mir war Gianfranco Giagni bisher kein Begriff, und das wenige, was man bei Wikipedia über ihn findet, hat mich kaum schlauer gemacht. Er begann seine Karriere mit dem Filmen von Musikvideos, schuf später u.a. eine TV-Adaption von Monteverdis Oper Orfeo und scheint hauptsächlich für seine Dokumentarfilme bekannt zu sein, unter denen Rosabella, la storia italiana di Orson Welles hervorsticht, in dem er sich anscheinend mit Welles' Arbeit an Othello und Don Quixote auseinandersetzt. Warum er sich für sein Kinodebüt dem Horrorgenre zugewandt hat, lässt sich daraus nicht ableiten.

Allerdings glaube ich nicht, dass es Giagni in erster Linie darum ging, dem breiten Publikumsgeschmack zu schmeicheln. Er wollte mit Il nido del ragno ganz offensichtlich an die Tradition des klassischen italienischen Giallos und Horrorfilms anknüpfen. Und "anknüpfen" ist noch milde ausgedrückt. Einige Sequenzen wirken beinah wie Plagiate der alten Meisterwerke von Dario Argento (vor allem Suspiria [1977]). Dem beigefügt sind einige Motive aus völlig anderen Traditionszusammenhängen. So habe selbst ich in meinem übermüdeten Zustand die "Anspielungen" auf Robert Siodmaks The Spiral Staircase (1945) und Carol Reeds The Third Man (1949) mitbekommen. Von literarischer Seite wurde dem Ganzen dann außerdem noch eine kleine Prise Lovecraft hinzugemischt. Nicht der schlechteste Mix, und doch bin ich nicht völlig zufrieden damit.
Der Film ist immer dann am Besten, wenn er den Argento-Ton besonders gut nachahmt. Höhepunkt ist dabei ganz ohne Zweifel die Sequenz, in der das Zimmermädchen Maria (Claudia Muzi) ermordet wird. Hier gewinnt der Streifen in bester Argento-Manier eine zugleich unwirklich-alptraumhafte und düster-poetische Qualität. Und Giagni versteht die Kunstgriffe des Meisters {Farben, Kameraführung, die Verwandlung des Hotels in eine phantasmagorische Traumwelt voller wehender Vorhänge und museal anmutender Interieurs, die Beimischung erotischer Elemente etc.} in der Tat sehr kompetent zu kopieren. Einzig störend hat auf mich dabei gewirkt, dass an einer Stelle wieder einmal das inzwischen arg überstrapazierte Psycho-Motiv nachgeahmt wird. Eine vergleichbare atmosphärische Intensität erreicht der Film nur noch einmal im Finale, wenn die gruselige Gottheit des Kultes ihren großen Auftritt hat – eine in ihren symbolischen Implikationen sehr verstörende Erscheinung. Daneben finden sich hier und da noch einige im besten Sinne gruselige Details – so etwa der kleine Junge auf der quietschenden Schaukel im Hof von Professor Roths Haus oder einige der Szenen in der Kanalisation.
Doch leider hält Il nido del ragno dieses Niveau nicht über längere Strecken. Da wären zuerst einmal einige Szenen, die zwar gleichfalls die unheimliche Atmosphäre der Klassiker nachzuahmen versuchen, dabei jedoch vollständig scheitern. Wenn z.B. sämtliche Gäste des Hotels nacheinander aufstehen und den Speisesaal verlassen, während Whitmore, Ms. Weiss und Mrs. Kuhn sich unterhalten, wirkt dies eher irritierend als verstörend, da die Szene nichts von der traumhaften Qualität besitzt, die dieses Verhalten unheimlich  erscheinen lassen könnte. Noch schlimmer jedoch ist, dass man bei einigen Sequenzen das Gefühl bekommt, der Regisseur sei sich nicht ganz sicher gewesen, in welchem Stil er seine Geschichte eigentlich erzählen wollte. Am deutlichsten zeigt sich dies, wenn man zwei Morde, die relativ kurz hintereinander geschehen, miteinander vergleicht. Der Mord an Maria ist wie gesagt als surrealer Alptraum in Szene gesetzt worden. Doch wenn wenig später ein Antiquitätenhändler ins Jenseits befördert wird, geschieht dies im Stil eines billigen Monsterflicks. Urplötzlich verzichtet Giagni auf jede Form der Stilisierung. Und die von dem Spinnengott besessene Mörderin, deren fratzenhaftes Gesicht eben noch so wirkte, als sei es einem Alptraum entsprungen, hinterlässt nun einen eher lächerlichen Eindruck

Es ist diese eigentümliche und schwer erklärliche stilistische Mixtur, die es mir unmöglich macht, The Spider Labyrinth zu einem wirklich gelungenen Film zu erklären. Dennoch würde ich allen Freunden und Freundinnen eines leicht surrealen Horrors empfehlen, sich den Flick einmal anzuschauen. Falls er wirklich so unbekannt sein sollte, wie meine kurze Netzrecherche nahelegt, denke ich, dass er es verdient hat, diesem Schattendasein entrissen zu werden.


* Was gar nicht abwertend gemeint ist. Tonino Cervi hatte zwischen 1955 und 1961 sage und schreibe vier Produktionsgesellschaften gegründet, und war jedesmal pleite gegangen. Man kann ihm nicht vorwerfen, dass er sein Schiff endlich in sicherere Gewässer lenken wollte.

Samstag, 2. November 2013

Strandgut der Woche