Als mir vor einigen Tagen über das Forum der Bibliotheka Phantastika die Nachricht zu Ohren kam, dass die schlauen Geldscheffler von Amazon den Versuch starten wollen, nun auch noch aus der Fanfiction Profit zu schlagen, hat mich das weder sonderlich erstaunt noch irgendwie berührt. Im Grunde war es doch nur eine Frage der Zeit, bis man sich daranmachen würde, das weite Feld der Fanfic kommerziell zu beackern. Bisher hatte dem eigentlich nur die Frage des Copyrights entgegengestanden, aber offenbar haben die findigen Leutchen in Seattle jetzt einen Weg gefunden, dieses Problem aus der Welt zu schaffen, ohne damit die Gewinnaussichten für das Unternehmen so weit zu schmälern, dass sich der Coup nicht mehr lohnen würde. Und die Folgen für die Leserschaft? Das Angebot auf dem Indie-Markt wird halt noch ein bisschen weiter anschwellen, doch was soll's? Zu dem ganzen Selfpublishing-Phänomen kann man sicher sehr unterschiedlicher Meinung sein, aber ich wüsste nicht, dass über Amazon veröffentlichte Fanfiction daran irgendetwas grundsätzliches verändern würde. Freilich verfüge ich auch über keinerlei Insidererfahrungen hinsichtlich der Entwicklungen im Verlagswesen und auf dem Buchmarkt. Was ich hier zu formulieren versuche, ist nicht mehr als die Ansicht eines interessierten Beobachters.
Ganz nebenbei rief mir die Neuigkeit aus Seattle aber auch wieder zwei Posts in Erinnerung, die ich kürzlich gelesen hatte, und die beide in den Nachwehen des diesjährigen Tolkien Seminars entstanden sind. Zum einen Marie-Noëlle Biemers quasi offizieller Bericht auf der Website der DTG, zum anderen Frank Weinreichs Essay Im Fluss der Geschichten. Beide enthalten Ideen, die ich ziemlich irritierend und fragwürdig finde.*
Im Fall von Biemer handelt es sich nicht um ihre eigenen Gedanken, sondern um die von Renée Vink, über deren Vortrag auf dem Seminar sie schreibt:
Renée Vinck [sic] führte zunächst in die Welt der Fanfiction ein und erklärte, dass das Phänomen keineswegs ein neues sei: die Aeneas und die meisten Werke Shakespeares könnten z.B. als Fanfiction gesehen werden. J.R.R. Tolkien selbst schrieb neue und veränderte Versionen alter Geschichten, so z.B. Sigurd und Gudrún, “The Homecoming of Beorhtnoth Beorhthelm’s Son” und das demnächst erscheinende The Fall of Arthur. Der Unterschied zwischen moderner Fanfiction und anerkannten Neuerzählungen alter Stoffe ist oft nur ein rechtlicher: die alten Geschichten sind mittlerweile gemeinfrei, während für die meisten durch Fanfiction adaptierten Werke noch Copyright besteht. Dabei ist Harry Potter Fanfiction am populärsten, gefolgt von Twilight und Geschichten aus Mittelerde.
Ich kann nur hoffen, dass Vink diesen einführenden Teil ihrer Ausführungen mit einem ironischen Augenzwinkern vorgetragen hat. Doch selbst dann noch würde ich es als äußerst problematisch empfinden, wenn die Werke von Vergil und Shakespeare mit Fanfiction in einen Topf geworfen werden.
Es ist natürlich richtig, dass es für einen Großteil der Geschichte völlig normal war, dass sich Dichter und Dichterinnen überkommener Stoffe annahmen und diese neu bearbeiteten. Die Mehrheit der mittelhochdeutschen Werke der sog. Staufischen Klassik {Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg} besteht ja sogar aus direkten Übertragungen aus dem Französischen, die sich mal enger mal weniger eng an ihren Vorlagen orientieren. Und auch wenn mit der Geburt der bürgerlichen Gesellschaft Originalität und künstlerischer Individualismus immer mehr an Wert gewannen {und zugleich die Vorstellung des "geistigen Eigentums" entstand}, können wir dieses Phänomen noch bis heute beobachten. Man denke nur an die unzähligen Neubearbeitungen die z.B. der Faust-, der Artus- oder der Nibelungenstoff in den letzten zweihundertfünfzig Jahren erfahren hat. {Oder man werfe, um einmal über den westlich-europäischen Tellerrand hinauszuschauen, einen kurzen Blick auf die im letzten Jahr erschienene Anthologie Breaking the Bow mit Stories, die vom Ramayana inspiriert wurden.}
Doch ist das dasselbe wie Fanfiction? Ganz sicher nicht!
Ich habe eine heftige Abneigung gegen einen derart flapsigen Umgang mit Begriffen und Definitionen. Nicht zuletzt, weil dabei jeder Gedanke an den historischen Kontext, in dem Literatur geschaffen und rezipiert wird, über Bord fliegt. Leute, die so argumentieren, gehen wie selbstverständlich davon aus, dass die Menschen zu allen Zeiten wie sie gedacht, empfunden, gelesen und gearbeitet hätten. Vergils Aeneis aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Vorbild der homerischen Epen als "Fanfiction" zu bezeichnen, macht ebenso wenig Sinn, wie wenn man den Parzival Wolframs von Eschenbach wegen seiner weiten Verbreitung im 13. Jahrhundert einen "Bestseller" nennen würde. Erst wenn Bücher für einen Markt produziert werden, also zu einer Ware geworden sind, können sie auch zu "Bestsellern" werden. Und erst wenn eine spezifische Fankultur existiert, kann auch das Phänomen der "Fanfiction" entstehen. Eine solche aber entwickelte sich meines Wissens nach erstmals in den 1930er Jahren unter amerikanischen SF-Liebhabern.**
Fanfic setzt ein Fandom voraus, zu dem nicht nur die Autoren & Autorinnen, sondern auch ihre Leserschaft gehören. Für Leute, die dieser "Community" nicht angehören, ist sie aus verständlichen Gründen nicht von Interesse. Wer den Herr der Ringe nicht gelesen hat, wird mit Tolkien-Fanfic nichts anfangen können. Denn Fanfiction besteht eben nicht einfach im Aufgreifen und Neubearbeiten bereits vorhandener Stoffe. Ihre Beziehung zur Vorlage ist eine sehr viel engere. Nehmen wir als Gegenbeispiel T.H. Whites Once and Future King und Tankred Dorsts Merlin oder Das wüste Land. Nach Vinks Definition wären beide Werke Malory-Fanfic, doch darf man wohl davon ausgehen, dass nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz ihrer Leser & Leserinnen tatsächlich einmal Le Morte d'Arthur aufgeschlagen hat, und von diesen werden viele vermutlich kaum bis zum Ende durchgehalten haben. Spätestens die erste langwierige Turnierschilderung wird sie abgeschreckt haben. Doch sowohl Whites Romantrilogie als auch Dorsts Theaterstück funktionieren sehr gut auch ohne diese Kenntnis. Selbiges gilt nicht für Fanfiction. Sie setzt nicht nur Vertrautheit mit der Vorlage, sondern auch eine enge emotionale Bindung an sie voraus. Wie der Name ja schon sagt: Es sind Stories von Fans für Fans.
Warum also stellt Renée Vink überhaupt eine so schwer zu verteidigende Behauptung auf? Für den Hauptteil ihres Vortrags spielte sie offenbar überhaupt keine Rolle, ging es in diesem doch offenbar darum zu zeigen, wie sich in Fanfic-Texten mitunter eine kritische Haltung gegenüber Elementen des tolkienschen Werkes manifestiere. Die einzige vernünftige Erklärung scheint mir deshalb zu sein, dass sie die Fanfiction ganz allgemein aufwerten wollte. Niemand kann mehr behaupten, Fanfic sei bloß dilettantisches Geschreibsel, wenn selbst so anerkannte literarische Größen wie Vergil und Shakespeare in Wirklichkeit Fanfic-Autoren waren!
Warum bloß haben Genrefans immer noch diesen tiefverwurzelten Minderwertigkeitskomplex? Warum müssen sie sich immer wieder bestätigen lassen, dass sich das, was ihnen am Herzen liegt, auf dem selben Niveau bewegt wie die "anerkannte", "große" Kultur? Am Ende kommen dabei dann bloß so skurrile Behauptungen heraus, wie Vinks Eingemeindung eines Großteils der Weltliteratur in die Fanfiction. Auf diese Weise erreichen sie genau das Gegenteil von dem, was sie erreichen wollen. Denn jeder der nicht zur "Community" gehört, wird derartige Äußerungen bloß mit Hohngelächter beantworten. Und in diesem speziellen Fall sogar völlig zuercht.
Für manche Autoren & Autorinnen mag Fanfiction der erste Schritt auf ihrem Weg zu echtem Schriftstellertum sein. Doch je weiter sie auf diesem fortschreiten, desto weiter werden sie sich auch von ihr entfernen. Ein gutes Beispiel dafür ist Ramsey Campbell, der seine Karriere mit waschechter Lovecraft-Fanfic begann (The Inhabitant of the Lake), sich dann jedoch mehr und mehr dem Bann des Gentlemans von Providence entzog und dabei zu dem Autor heranreifte, den wir heute kennen und schätzen. Die allermeisten Fanfic-Autoren und -Autorinnen werden jedoch nie diese Entwicklung durchmachen. Und indem man das, was sie schreiben, auf eine Ebene mit "echter" Literatur stellt, tut man ihnen keinen Gefallen. Dann nämlich müssen wir an ihre Werke auch die selben Maßstäbe anlegen wie an "echte" Literatur. Und das wäre meiner Meinung nach für die meisten von ihnen nicht bloß verdammt peinlich, sondern im Grunde auch unfair. Ich würde ja auch die Teilnehmer an einem LARP nicht wie professionelle Schauspieler & Schauspielerinnen beurteilen. Fanfic ist Ausdruck der spielerischen Kreativität innerhalb eines Fandoms. Aber obwohl zweifelsohne eine Beziehung zwischen Spiel und Kunst besteht, sind die beiden doch nicht dasselbe.
Und damit kämen wir zu Frank Weinreichs Essay, der bei mir erst recht einen unguten Nachgeschmack hinterlassen hat, gerade weil er sehr viel substanzieller zu wirken versucht, als obige Bemerkung aus Marie-Noëlle Biemers Post.
Zuerst einmal finde ich es ja sehr erfreulich, dass der gute Frank nach längerer Pause in die Gefilde des phanatstischen Netzes zurückgekehrt zu sein scheint. Auch wenn das vermutlich bedeutet, dass ich in Zukunft an dieser Stelle einige wenig freundliche Anmerkungen zu seinen Ansichten über die Phantastik veröffentlichen werde. Aber ich liebe halt polemische Auseinandersetzungen. Im Fluss der Geschichten wird da nur der erste Streitpunkt sein.
Der Essay beginnt wie folgt:
Das Tolkien-Seminar 2013 ist beendet; eine wieder einmal sehr gelungene Reihe schöner Vorträge rund um das Thema „Adaptionen von Tolkiens Werken“. Für mich hat sich als wesentlicher Eindruck das Gefühl noch einmal deutlich verstärkt, dass wir Menschen in einem unauflöslichen Fluss von Geschichten stehen, gespeist von vielen Erzählerinnen und Erzählern, aus denen manche herausragen, wie Tolkien, die aber alle davon abhängig sind, sich von dem Fluss zu nähren, zu dem sie wiederum beitragen. Letztlich ist es ein Kreislauf der Kreativität.
Der Kosmos der Tolkien-Adaptionen ist so groß, dass es mir eine ganz besondere Freude war, von vielen kenntnisreichen Kolleginnen und Kollegen kundig hindurchgeführt zu werden. Musik, Rollenspiel in allen Facetten, Kino, Fanfiction, Hörspiel und die literarischen Nachfolger wurden behandelt ... und alles lief auf den gemeinsamen Nenner hinaus, dass alle auf der gleichen Reise sind, denselben Fluss befahren. Genau wie Tolkien.
Für meinen Geschmack klingt das zwar ein bisschen arg blumig, aber der Grundgedanke scheint mir zuerst einmal nicht ganz falsch zu sein. Insoweit zumindest, als jeder Erzähler und jede Erzählerin in der Tat Teil einer Tradition ist, von der er oder sie Elemente aufnimmt, um ihr zugleich neue hinzuzufügen. Problematisch wird es für mich, wenn Weinreich beginnt, den Kreis der an diesem Prozess beteiligten immer weiter auszudehnen, bis wir am Ende alle quasi gleichberechtigte Teilnehmer und Teilnehmerinnen am "Kreislauf der Kreativität" sind. Und darauf läuft sein Essay letztlich hinaus.
Was mir daran so heftig missfällt, ist, dass er, um zu diesem Ergebnis zu gelangen, Kreativität und Kunst miteinander gleichsetzt. Und das halte ich für eine völlig falsche Idee, die unser Verständnis von Kunst stark einengt.
Wir alle können kreativ sein, und das ist eine wunderbare Sache. Aber sind wir deshalb auch alle Künstler oder Künstlerinnen?
Um fair zu sein: Diese Behauptung stellt Weinreich nirgends auf, aber er macht doch sehr deutlich, dass für ihn da nur graduelle Unterschiede bestehen:
Um fair zu sein: Diese Behauptung stellt Weinreich nirgends auf, aber er macht doch sehr deutlich, dass für ihn da nur graduelle Unterschiede bestehen:
Eigentlich erzählen wir alle einander immer nur Geschichten. Auch wenn wir malen und musizieren. Auch wenn wir (rollen-)spielen. Selbst wenn wir allein sind (heute vielleicht vor dem Offline-Computerspiel, aber in gewisser Weise seit Jahrhunderten schon, wenn wir lesen) hören und erzählen wir Geschichten [...]
Das ist [...] exakt das Gleiche wie das, was Tolkien tat. Er tat es elaborierter und auch ästhetisch wirksamer als es den meisten von uns gegeben ist, aber was das kreative Moment an sich angeht, gibt es keine prinzipiellen Unterschiede zwischen dem unidentifizierbaren Jedermann und den großen Kreativen, die in der Schule gelehrt werden oder deren Werke auf Auktionen für Zigmillionen den Besitzer wechseln.***
Auch wenn dieser Abschnitt sicher einige richtige Gedanken enthält, halte ich es doch für sehr sinnvoll, wenn man eine klare Grenze zwischen kreativen Hobbies und wirklicher Kunst zieht. {Da es in dem Essay um Tolkien und Tolkienrezeption geht, beschränke ich mich im weiteren auf den Themenbereich Literatur.}
Natürlich würde Weinreich nicht leugnen wollen, dass z.B. zwischen einem durchschnittlichen Stück Fanfic und dem Lord of the Rings hinsichtlich der formalen Könnerschaft ein gewaltiger Unterschied besteht. Doch handelt es sich für ihn dabei um einen letztlich sekundären Faktor. Schon hier trennen sich unsere Wege. Wirklich große Literatur zeichnet sich neben vielem anderen durch den Umgang mit Sprache aus. Dabei geht es um mehr als bloß handwerkliches Geschick. Ein großer Schriftsteller oder eine große Schriftstellerin muss ein tiefes Verständnis für die ästhteischen Qualitäten von Sprache besitzen. Diese erhält dabei einen Eigenwert, ist mehr als bloß ein Medium zur Vermittlung eines Inhalts. Und diese sprachästhtische Komponente ist in meinen Augen keine sekundäre Zutat, sondern ein integraler Bestandteil dessen, was Literatur ausmacht.
Doch sehen wir einmal von den mehr formalen Aspekten ab. Stimmt es tatsächlich, dass Literatur aus nichts anderem besteht, als bloß aus dem Erzählen von Geschichten? Ist der entscheidende Punkt nicht vielmehr, was uns – den Lesern und Leserinnen – mit Hilfe dieser Geschichten vermittelt wird? Zeichnet sich große Literatur nicht dadurch aus, dass sie uns die Möglichkeit eröffnet, die Welt und die Menschen aus neuen Blickwinkeln zu betrachten, und uns im Idealfall damit neue Einsichten über dieselben zugänglich zu machen? Dies zumindest in meine Ansicht. Um den sowjetrussischen Literaturkritiker Alexander Woronski – einen der unzähligen Marxisten, die Stalins politischem Völkermord zum Opfer fielen – zu zitieren:
Kunst ist die Erkenntnis des Lebens. Kunst ist kein willkürliches Spiel der Phantasie, der Gefühle, der Stimmungen; Kunst ist nicht Ausdruck rein subjektiver Empfindungen und Erfahrungen des Dichters; Kunst setzt sich nicht das Ziel, vor allem ‘gute Gefühle’ im Leser zu wecken. Die Kunst will ebenso wie die Wissenschaft das Leben erkennen.****
Wie genau die Literatur dieses Ziel erreicht, ist eine komplexe Frage. Weder habe ich dafür eine simple Formel parat, noch glaube ich, dass es eine solche überhaupt gibt. Ich will an dieser Stelle aber auf einen Blogeintrag von Fantasyautor Steven Brust verweisen, der einige sehr interessante Ideen hierzu enthält.
Auch Weinreich macht sich seine Gedanken über den Inhalt und Zweck von Literatur, doch gehen diese in eine völlig andere Richtung. Er glaubt, es gäbe eine verhältnismäßig kleine Anzahl archetypischer Themen, denen stets aufs Neue Ausdruck verliehen werde und auf die man die gesamte Literatur zurückführen könne:
In Diskussionen weise ich in diesem Zusammenhang gerne auf einen Zeitgenossen Goethes hin, den Venezianer Carlo Gozzi, der sagte, dass es nur 36 Motive gäbe, die das Drama darstellten könne. Man mag sich über die genaue Anzahl trefflich streiten können, aber der Kern der Aussage ist völlig richtig, dass es nur eine überschaubare Anzahl von Themen gibt, für die sich der Mensch interessiert.
Das liegt, wie Sie wissen, natürlich daran, dass es nur eine überschaubare Anzahl von Themen gibt, die uns betreffen und eine noch geringere, die uns intellektuell und emotional mitreißen. Und im Bereich der Erzählungen, im Bereich der erfundenen Handlungen und Welten, ist das der alles überragende Grund, warum wir uns mit solchen ‚Lügen’ beschäftigen: Wir wollen gepackt und mitgerissen werden.
Es sind Geschichten von Liebe und Freundschaft, von Feindschaft und Hass, von Treue und Verrat, von Opferbereitschaft und Feigheit, von Unterdrückung und Rebellion, von Rettung und Verlust, von Verdammnis und Erlösung, vom Guten und vom Bösen, die das bewirken und die man sich in immer neuen Zusammenstellungen seit den Lagerfeuern der Frühzeit erzählt.
Was zuallererst auffällt, ist der universelle Anspruch, mit dem Weinreich hier auftritt. Er behauptet, sein Konzept gelte unterschiedslos für alle Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturräumen. Selbst die Jäger und Sammlerinnen der Steinzeit hätten sich in ihren Erzählungen bereits ausschließlich mit diesen archetypischen Themen beschäftigt!
Warum seine Ausführungen auf den ersten Blick dennoch nicht völlig absurd wirken, liegt daran, dass es tatsächlich einige, wenn man so will, universale Themen gibt. Deren Wurzeln liegen zum einen in unserer biologischen Beschaffenheit als Homo sapiens: Wir alle sind sterblich, und darum haben sich Menschen immer schon mit dem Tod beschäftigt. Uns allen wohnt der Sexualtrieb inne, darum sind Erotik und "Liebe" von frühester Zeit an Gegenstände der Kunst usw. Zum anderen in dem Umstand, dass Menschen immer in Gemeinschaften gelebt haben: Also gibt es Erzählungen über Kameradschaft und "Freundschaft" usw.
Doch selbst wenn wir uns auf diese "universalen" Themen beschränken, wäre es völlig falsch, behaupten zu wollen, seit grauer Vorzeit habe man über sie stets die selben Geschichten "in immer neuen Zusammenstellungen" erzählt. Zwar gibt es in der Tat Topoi, die sich zum Teil über Jahrtausende zurückverfolgen lassen, doch die Geschichten, die mit ihrer Hilfe erzählt werden, sind mehr als bloße Varianten des immergleichen Themas. Die Sicht der Menschen auf so scheinbar universale Motive wie den Tod oder die Liebe verändert sich durch die Geschichte ganz gewaltig. Man braucht bloß einmal ein Liebesgedicht Ovids, ein Minnelied Walthers von der Vogelweide und einige Verse aus Heinrich Heines Buch der Lieder nebeneinanderzustellen. Hinzu kommen kulturelle und soziale Faktoren. Geschichten über "Treue und Verrat", die in einem feudalen Kontext erzählt werden, besitzen z.B. einen völlig anderen Inhalt als vergleichbare Geschichten aus bürgerlich-individualistischen Zeiten. Auch dann noch gibt es häufig einen "universalen" Kern {andernfalls würden uns die größten Werke der Vergangenheit nicht länger emotional berühren können}, doch dieser ist für gewöhnlich von Elementen umgeben, die uns längst völlig fremd geworden sind und die uns deshalb nicht länger unmittelbar anzusprechen vermögen.
Einige der von Weinreich selbst angeführten, angeblich "universalen" Themen verraten recht deutlich ihre historische Bedingtheit. Da hätten wir z.B. "Unterdrückung und Rebellion". Nun ist zwar anzunehmen, dass es seit der Entstehung von Klassengesellschaften auch Geschichten gegeben hat, die dem Hass der Unterdrückten und ihrer Sehnsucht nach Freiheit Ausdruck verliehen. Doch haben sich diese aus verständlichen Gründen praktisch nie erhalten. Es würde mich z.B. brennend interessieren, wo Weinreich dieses "universale" Thema in der antiken und mittelalterlichen Literatur dargestellt sieht. Abgesehen von einigen vereinzelten Ausnahmen, wie z.B. den spätmittelalterlichen Balladen um Robin Hood, wird er da kaum etwas vorbringen können. Was zugleich beweist, dass dieses Thema eben gerade nicht alle Menschen anspricht. Der Feudaladel des Mittelalters wollte logischerweise keine Geschichten über rebellierende Bauern vorgetragen bekommen. Und "Verdammnis und Erlösung"? Geschichten dieses Inhalts setzen nicht nur ein allgemein religiöses Bewusstsein voraus {und werden in der säkularisierten Moderne darum immer seltener}, sie erfordern als Hintergrund sogar ein recht spezifisches Religionssystem, das genau diese Kategorien kennt.
Einige der von Weinreich selbst angeführten, angeblich "universalen" Themen verraten recht deutlich ihre historische Bedingtheit. Da hätten wir z.B. "Unterdrückung und Rebellion". Nun ist zwar anzunehmen, dass es seit der Entstehung von Klassengesellschaften auch Geschichten gegeben hat, die dem Hass der Unterdrückten und ihrer Sehnsucht nach Freiheit Ausdruck verliehen. Doch haben sich diese aus verständlichen Gründen praktisch nie erhalten. Es würde mich z.B. brennend interessieren, wo Weinreich dieses "universale" Thema in der antiken und mittelalterlichen Literatur dargestellt sieht. Abgesehen von einigen vereinzelten Ausnahmen, wie z.B. den spätmittelalterlichen Balladen um Robin Hood, wird er da kaum etwas vorbringen können. Was zugleich beweist, dass dieses Thema eben gerade nicht alle Menschen anspricht. Der Feudaladel des Mittelalters wollte logischerweise keine Geschichten über rebellierende Bauern vorgetragen bekommen. Und "Verdammnis und Erlösung"? Geschichten dieses Inhalts setzen nicht nur ein allgemein religiöses Bewusstsein voraus {und werden in der säkularisierten Moderne darum immer seltener}, sie erfordern als Hintergrund sogar ein recht spezifisches Religionssystem, das genau diese Kategorien kennt.
Sind also bereits die "universalen" Themen in vielerlei Hinsicht historischen Wandlungen unterworfen, so entstehen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung außerdem immer wieder neue Themen {während alte absterben und verschwinden}. Wie sollte es auch anders sein? Die Gesellschaft verändert sich und mit ihr verändern sich auch die Menschen. Kunst als eine Form der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit spiegelt dies wider. Ist das nicht eigentlich selbstevident?
Warum beharrt Weinreich dennoch mit solcher Verve darauf, dass es nur eine "überschaubare Anzahl von Themen" gäbe, die uns "betreffen" und interessieren? Themen, die zudem auch noch einen überhistorischen, quasi ewigen Charakter besitzen sollen? Ich würde behaupten, der Grund hierfür liegt in seinem Menschenbild, und damit verbunden in seiner Vorstellung von Kunst. Möglich, dass ich damit falsch liege, aber es scheint mir ziemlich offensichtlich, dass er in seinen Überlegungen von der Existenz einer unveränderlichen menschlichen Natur ausgeht. In allen wirklich wichtigen Punkten unterscheiden wir uns seiner Meinung nach nicht von unseren Vorfahren aus der Steinzeit, weshalb uns auch die gleichen Typen von Geschichten ansprechen. Die Geschichten selbst dienen nicht der Auseinandersetzung mit der Welt, die uns umgibt, sondern sind Ausdruck eben jener menschlichen Natur. Darum lassen sie sich auf eine Handvoll von Archetypen reduzieren.
Das erklärt vielleicht auch den merkwürdigen Umstand, dass Weinreich in einem Essay, der in gewisser Weise der Verteidigung des Adaptierens gewidmet ist, kein einziges Mal das Argument anbringt, dass es weniger darauf ankomme, ob ein Autor die Stoffe und Motive, mit denen er arbeitet, selbst erfunden oder von jemand anderem übernommen hat, als vielmehr darauf, was er mit ihnen anstellt. Tolkien etwa bediente sich recht ungeniert im Fundus von Mythos, Sage und Heldenepik, doch benutzte er die von dort entlehnten Versatzstücke zur Schaffung eines literarischen Werkes, das im Kern der Auseinandersetzung mit der Welt, in der er lebte, entsprungen war. Wäre dem nicht so, und hätte er bloß versucht, eine Art Pastiche älterer Literaturformen zu schaffen, der Lord of the Rings wäre heute ebenso vergessen wie z.B. Fouqués Held des Nordens.
Es ist diese im Grunde extrem konservative, von Jungschem Geist durchhauchte und quasi religiöse Weltsicht, mit der Weinreich an die Literatur – und vor allem an die Phantastik – herangeht, die mir bei der Lektüre seiner Essays regelmäßig übel aufstößt.***** Wie gesagt, bei Gelegenheit werde ich mich damit vielleicht einmal etwas eingehender beschäftigen. Welche Funktion die "Archetypen-Theorie" im Zusammenhang von Im Fluss der Geschichten eigentlich genau erfüllen soll, ist mir nicht ganz klar. Ich vermute jedoch, dass der Autor damit seine Behauptung untermauern will, dass wir alle, sobald wir uns kreativ betätigen, im Grunde das gleiche machen wie die "echten" Künstler und Künstlerinnen. Denn auch diese verleihen ja immer bloß den "ewigen" und "universalen" Themen neue Gestalt: "Uns berührt allemal das Gleiche und deshalb erzählen wir uns das Gleiche, vertonen es oder bannen es auf Leinwand oder fixieren es in Skulptur."
Darüber hinaus ist die als Selbstverständlichkeit vorgetragene These von der "überschaubaren Anzahl von Themen" aber auch Auftakt zu folgender Passage, von der mir nicht ganz klar ist, was sie eigentlich aussagen soll:
Das erklärt vielleicht auch den merkwürdigen Umstand, dass Weinreich in einem Essay, der in gewisser Weise der Verteidigung des Adaptierens gewidmet ist, kein einziges Mal das Argument anbringt, dass es weniger darauf ankomme, ob ein Autor die Stoffe und Motive, mit denen er arbeitet, selbst erfunden oder von jemand anderem übernommen hat, als vielmehr darauf, was er mit ihnen anstellt. Tolkien etwa bediente sich recht ungeniert im Fundus von Mythos, Sage und Heldenepik, doch benutzte er die von dort entlehnten Versatzstücke zur Schaffung eines literarischen Werkes, das im Kern der Auseinandersetzung mit der Welt, in der er lebte, entsprungen war. Wäre dem nicht so, und hätte er bloß versucht, eine Art Pastiche älterer Literaturformen zu schaffen, der Lord of the Rings wäre heute ebenso vergessen wie z.B. Fouqués Held des Nordens.
Es ist diese im Grunde extrem konservative, von Jungschem Geist durchhauchte und quasi religiöse Weltsicht, mit der Weinreich an die Literatur – und vor allem an die Phantastik – herangeht, die mir bei der Lektüre seiner Essays regelmäßig übel aufstößt.***** Wie gesagt, bei Gelegenheit werde ich mich damit vielleicht einmal etwas eingehender beschäftigen. Welche Funktion die "Archetypen-Theorie" im Zusammenhang von Im Fluss der Geschichten eigentlich genau erfüllen soll, ist mir nicht ganz klar. Ich vermute jedoch, dass der Autor damit seine Behauptung untermauern will, dass wir alle, sobald wir uns kreativ betätigen, im Grunde das gleiche machen wie die "echten" Künstler und Künstlerinnen. Denn auch diese verleihen ja immer bloß den "ewigen" und "universalen" Themen neue Gestalt: "Uns berührt allemal das Gleiche und deshalb erzählen wir uns das Gleiche, vertonen es oder bannen es auf Leinwand oder fixieren es in Skulptur."
Darüber hinaus ist die als Selbstverständlichkeit vorgetragene These von der "überschaubaren Anzahl von Themen" aber auch Auftakt zu folgender Passage, von der mir nicht ganz klar ist, was sie eigentlich aussagen soll:
Einst, vor der Romantik ab dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, waren es die Erzählung und ihr Inhalt, die im Mittelpunkt standen, und weniger ihre Urheber, auch wenn ein flotter altgriechischer oder frühneuzeitlicher Tragödien- und Komödienschreiber schon zum Star auf der Agora und im Theater aufsteigen konnte. Seine Geschichten fanden jedoch größere Beachtung als er, und das ist auch in Zeiten der Verehrung alter und neuer Dichtergrößen heute nicht so anders. Das hat Thomas Fornet-Ponse in seinem Vortrag zu recht schön hervorgehoben. Ehre wem Ehre gebührt: Aber die fruchtbare Auseinandersetzung findet mit dem Stoff statt, während andere Schwerpunkte oft nicht viel mehr als eitle Schaumschlägereien sind.
Topic first, möchte man sagen [...]
Was genau habe ich mir unter diesen "anderen Schwerpunkten" vorzustellen, bei denen es sich in Weinreichs Augen meist bloß um "eitle Schaumschlägerei" handelt?
Richtig ist, dass das Werk wichtiger ist als sein Schöpfer {was man nicht mit der modischen "Tod des Autors"-Theorie verwechseln darf}. Handelt es sich also vielleicht einfach bloß um einen kleinen Hieb gegen den Tolkien-Kult der Fangemeinde? Das wäre durchaus begrüßenswert. Doch ist das wirklich alles, was der gute Frank hier sagen will? Ich bin mir nicht sicher ... Auf jedenfall schließt sich an diesen Abschnitt eine Kritik des Geniekults an, die in folgender eigentümlicher Aussage gipfelt:
Die Romantik war Zeit ihres Wirkens auf der Suche nach dem Genius, von dem sie sich Befreiung aus dem Jammertal der Realität versprach. Meine vielleicht noch etwas vage und eventuell unzureichend durchdachte Vermutung ist, dass dieser Genius wir alle sind. Wir sind uns dann letztlich alle doch als biologische Einheiten wie auch als potenziell spirituelle Entitäten einfach zu ähnlich, um allzu große Unterschiede zwischen uns belegen zu können.
Auf Weinreichs meiner Meinung nach einseitiges und letztlich falsches Bild der Romantik werde ich vielleicht ein andermal näher eingehen. Im Moment frage ich mich bloß einmal mehr: Was will er hier genau sagen? Wir sind alle "der Genius"? Was bitte schön soll das heißen? Ich bin ehrlich verwirrt, glaube jedoch, dass es sich dabei letztlich nur um einen besonders pompös klingenden Versuch handelt, den Unterschied zwischen Kunst und allen möglichen mehr oder weniger kreativen Freizeitbeschäftigungen einzuebnen: Indem ich an einem LARP teilnehme oder eine dilettantische Fanfic-Story verfasse, zeige ich damit, dass ich Teil des "Genius" bin! Darauf kann ich bloß erwiedern: NEIN! So sympathisch mir diese und andere kreative Tätigkeiten auch sind, sie sind nicht dasselbe wie Kunst! Indem wir hier die Unterschiede verwischen, tun wir weder der Kunst noch der Fankultur einen Gefallen!
PS: "Beiträge seitens Tolkien adaptierender Menschen schaffen oftmals auch Verbindungen zwischen dem Original und den hinzugefügten Dingen, die ursprünglich gar nicht bestanden. Später werden diese Verbindungen dann aber als organisch wahrgenommen, so dass man glaubt, sie gehörten schon immer dazu. Tobias Escher hat das in seinem Vortrag sehr eindrücklich an dem Beispiel verdeutlicht, wie stark mittlerweile Folkmusik und Mittelerde zusammengehören (zusammen zu gehören scheinen?), ohne dass jene ursprünglich irgendetwas mit Mittelerde zu tun hatte." Dieser Abschnitt aus Frank Weinreichs Essay hat mir einmal mehr vor Augen geführt, dass ich zwar ein großer Tolkienfan, aber kein Teil des Fandoms bin. Die Verbindung zwischen Folkmusik und Mittelerde erscheint mir nämlich keineswegs "organisch". Natürlich weiß ich, dass es Fantasy-Folkbands gibt, aber um ehrlich zu sein, erscheint mir die Beziehung zwischen Warhammer und Heavy Metal "organischer" als die zwischen Folk und dem Lord of the Rings ...
PPS: Ganz gleich, was ich über Weinreichs Essay denke, die Bilder von Jay Johnstone sind in der Tat faszinierend ...
* Nur so am Rande: Wenn Frau Biemer berichtet, Martin Sternberg habe in seinem Vortrag über "adaptiertes Heldentum in Peter Jacksons Herr der Ringe-Verfilmung" Gladiator, 300 und Last Samurai als Belege dafür angeführt, "dass das klassische Heldentum auch heute noch unverfälscht dargestellt werden" könne, kann ich nur die Augen verdrehen. Gladiator ist ein leidlich unterhaltsamer Actionblockbuster, 300 ein prätentiöses, faschistoides Machwerk und Last Samurai ein besonders peinliches Beispiel für ignorante Geschichtsklitterung. Keiner der drei Streifen hat meiner Meinung nach irgendetwas mit "klassischem Heldentum" zu tun. Aber vielleicht verstehe ich diesen Begriff auch einfach falsch.
** Ich habe allerdings auch schon mal gehört, das erste echte Fandom habe sich um Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes - Geschichten entwickelt. Leider weiß ich darüber nichts näheres, versuche mir jedoch gerade viktorianische Gentlemen beim Cosplaying als Holmes, Watson, Lestrade oder Moriarty vorzustellen ...
*** Ich habe die Reihenfolge, in der die beiden Passagen in dem Essay auftauchen, umgedreht, glaube jedoch nicht, dass ich damit Weinreichs Argumentation verfälsche.
**** Alexander Woronski: Die Kunst als Erkenntnis des Lebens und die Gegenwart. In: Ders.: Die Kunst, die Welt zu sehen. S. 122.
***** Was das religiöse Element angeht, so findet sich dazu in Im Fluss der Geschichten eine leicht bizarr anmutende Formulierung: Weinreich erklärt, wir Menschen seien alle "potenziell spirituelle Entitäten". Was soll das bedeuten? Müssen wir uns unsere "Seele" erst erarbeiten? Das wäre zumindest mal eine originelle Vorstellung.
*** Ich habe die Reihenfolge, in der die beiden Passagen in dem Essay auftauchen, umgedreht, glaube jedoch nicht, dass ich damit Weinreichs Argumentation verfälsche.
**** Alexander Woronski: Die Kunst als Erkenntnis des Lebens und die Gegenwart. In: Ders.: Die Kunst, die Welt zu sehen. S. 122.
***** Was das religiöse Element angeht, so findet sich dazu in Im Fluss der Geschichten eine leicht bizarr anmutende Formulierung: Weinreich erklärt, wir Menschen seien alle "potenziell spirituelle Entitäten". Was soll das bedeuten? Müssen wir uns unsere "Seele" erst erarbeiten? Das wäre zumindest mal eine originelle Vorstellung.
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