"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Sonntag, 20. Januar 2013

Von Arkham ins Hinterland

Samstag Abend ... Die Nacht begann über dem verschneiten Herzen des Odenwaldes hereinzubrechen. Zeit, den Sessel zurecht zu rücken, ein kühles Bierchen zu öffnen und sich zu überlegen, mit welchem cineastisch-phantastischen Werk (oder Machwerk) ich mir die nächsten anderthalb Stunden versüßen könnte.
Sollte ich mir zuerst einmal Rocketship XM zu Ende anschauen? – Lieber nicht, den hatte ich nach gut dreißig Minuten abgebrochen, weil der "charmante" Chauvinismus der 50er Jahre irgendwann einfach zu unerträglich geworden war ... Tja, was dann? ... Im Gedenken an Edgar Allan Poes Geburtstag wäre es vielleicht passend, sich wieder einmal einen von Roger Cormans grandiosen Adaptionen der Werke des Meisters des Makabren zu Gemüte zu führen. The Masque of the Red Death möglicherweise oder The Fall of the House of Usher? ... Hmmm ... Doch was erblicke ich da auf einmal inmitten von Jim Moons wunderbarer Gallerie The Lost Art of Movie Posters? Eine 70er-Jahre-Verfilmung von H.P. Lovecrafts The Dunwich Horror?
Mir war nicht ganz unbekannt, dass die klassische Erzählung des Gentlemans von Providence ihren Weg auf die Leinwand gefunden hat. Wenn ich mich recht entsinne, sogar schon mindestens zweimal. Im Allgemeinen jedoch stehe ich filmischen Adaptionen von Lovecrafts Geschichten eher skeptisch gegenüber. Von den großartigen Werken der H.P. Lovecraft Historical Society einmal abgesehen. Ja, ich mag Cormans Charles Dexter Ward - Adaption The Haunted Palace mit Vincent Price. {Die Gestalten der deformierten Dorfbewohner haben ihrerzeit einen bleibenden Eindruck auf meiner jungen Psyche hinterlassen}. Doch darüber hinaus ... Es scheint nicht eben leicht zu sein, das Éch-Pi-Els Fantasie entsprungene Grauen auf Celluloid zu bannen.
Dennoch packte mich auf einmal das unbändige Verlangen, mir Daniel Hallers Flick aus dem Jahre 1970 anzuschauen. {Produzent: Roger Corman. Dem alten Schlockmeister ist einfach nicht zu entkommen!} Auf rottentomatoes erfährt er zwar die einmalig miese Bewertung von sage und schreibe 20% (!!) und rangiert damit sogar noch weit hinter so legendären Gurken wie Troll 2 (42%) oder Bride of the Monster (44%), aber wer verlässt sich schon auf rottentomatoes? Die dort versammelten Kritiker haben schließlich auch einem so grotesken Haufen cineastischen Bullshits wie Revenge of the Sith eine positive Wertung von 80% verpasst.

Wie dem auch sei, die Entscheidung war jedenfalls gefallen ...
                                        ... und die Enttäuschung folgte sozusagen auf dem Fuße.

Was ich bei Youtube auf den ersten Blick für eine vollständige Fassung des Streifens gehalten hatte, entpuppte sich als eine Ansammlung mit katalanischen Untertiteln versehener Schnipsel, die zusammengenommen ungefähr die erste Hälfte des Films ausmachen. Das vorhandene Material wirkt ziemlich interessant. Dean Stockwell als Wilbur Whateley mit Sixties-Schnauzbart ist nicht ohne gruseligen Charme, und einige der Szenen im Anwesen der Hexersippe üben einen nicht unbeträchtlichen psychedelischen Reiz aus. Man wird daran erinnert, dass der Regisseur für das Design der phantastischen Sets von Pit and Pendulum und Fall of the House of Usher verantwortlich war. Außerdem wären da noch die grotesken Traumszenen, in denen sich die Studentin Nancy (Sandra Dee) von einer Horde Horror-Hippies verfolgt sieht.


Verdammt ärgerlich also, dass einem die zweite Hälfte des Flicks vorenthalten wird. Ich werde wohl mal schauen, ob man ihn irgendwo zu einem vertretbaren Preis erwerben kann.
Doch da ich nun schon einmal einen {wenn auch brutal unterbrochenen} Trip nach Dunwich unternommen hatte, dachte ich mir, wenn ich schon nichts Definitives über Hallers Streifen erzählen kann, wäre dies vielleicht die richtige Gelegenheit, ein bisschen in meinen alten Lovecraft-Aufzeichnungen herumzuwühlen und etwas über den echten Horror of Dunwich zusammenzubasteln.

Die 1928 geschriebene Geschichte ist wie  The Whisperer in Darkness im Hinterland von Neuengland angesiedelt, und die einführende Passage gehört zum evokativsten, atmosphärisch dichtesten, was Lovecraft je geschrieben hat. Viel zu selten scheint mir darauf hingewiesen zu werden, dass eine seiner größten Stärken in der Schilderung von Landschaften bestand, die unter seiner Feder einen eigenartig beunruhigenden und bedrohlichen Charakter annahmen. Ich kann es mir nicht verkneifen, die Passage in voller Länge zu zitieren:
When a traveller in north central Massachusetts takes the wrong fork at the junction of the Aylesbury pike just beyond Dean’s Corners he comes upon a lonely and curious country. The ground gets higher, and the brier-bordered stone walls press closer and closer against the ruts of the dusty, curving road. The trees of the frequent forest belts seem too large, and the wild weeds, brambles, and grasses attain a luxuriance not often found in settled regions. At the same time the planted fields appear singularly few and barren; while the sparsely scattered houses wear a surprisingly uniform aspect of age, squalor, and dilapidation. Without knowing why, one hesitates to ask directions from the gnarled, solitary figures spied now and then on crumbling doorsteps or on the sloping, rock-strown meadows. Those figures are so silent and furtive that one feels somehow confronted by forbidden things, with which it would be better to have nothing to do. When a rise in the road brings the mountains in view above the deep woods, the feeling of strange uneasiness is increased. The summits are too rounded and symmetrical to give a sense of comfort and naturalness, and sometimes the sky silhouettes with especial clearness the queer circles of tall stone pillars with which most of them are crowned.
Gorges and ravines of problematical depth intersect the way, and the crude wooden bridges always seem of dubious safety. When the road dips again there are stretches of marshland that one instinctively dislikes, and indeed almost fears at evening when unseen whippoorwills chatter and the fireflies come out in abnormal profusion to dance to the raucous, creepily insistent rhythms of stridently piping bull-frogs. The thin, shining line of the Miskatonic’s upper reaches has an oddly serpent-like suggestion as it winds close to the feet of the domed hills among which it rises.
As the hills draw nearer, one heeds their wooded sides more than their stone-crowned tops. Those sides loom up so darkly and precipitously that one wishes they would keep their distance, but there is no road by which to escape them. Across a covered bridge one sees a small village huddled between the stream and the vertical slope of Round Mountain, and wonders at the cluster of rotting gambrel roofs bespeaking an earlier architectural period than that of the neighbouring region. It is not reassuring to see, on a closer glance, that most of the houses are deserted and falling to ruin, and that the broken-steepled church now harbours the one slovenly mercantile establishment of the hamlet. One dreads to trust the tenebrous tunnel of the bridge, yet there is no way to avoid it. Once across, it is hard to prevent the impression of a faint, malign odour about the village street, as of the massed mould and decay of centuries. It is always a relief to get clear of the place, and to follow the narrow road around the base of the hills and across the level country beyond till it rejoins the Aylesbury pike. Afterward one sometimes learns that one has been through Dunwich.
Vergleichbare Schilderungen finden sich auch in The Whisperer in Darkness, und nicht nur hierin verraten beide Erzählungen sehr deutlich den Einfluss des von Lovecraft verehrten Arthur Machen. Dieser hatte in Geschichten wie The Novel of the Black Seal und The Shining Pyramid auf ganz ähnliche Weise das Hügelland seiner walisischen Heimat in eine archaische Welt voll unterirdischer Schrecken verwandelt und zur Kulisse für seine ganz eigene Interpretation der keltischen Feenüberlieferungen gemacht. Hinter den Mythen vom Kleinen Volk verbergen sich bei ihm die Nachkommen der vorkeltischen Bevölkerung Britanniens, die einst vor den Eroberern unter die Erde geflohen sind und dort über die Jahrhunderte hinweg weitergelebt haben  ein primitiver Stamm abgrundtief hässlicher, bösartiger, zwergenhafter Kreaturen, Rückentwicklungen der Evolution.
Während The Whisperer in Darkness sich mit einiger Berechtigung als eine Art Verpflanzung dieser Machenschen Feengeschichten auf den amerikanischen Kontinent interpretieren lässt, verhält es sich mit The Dunwich Horror anders. Die oben zitierte Eingangspassage zeigt zwar deutliche Anklänge an den Stil Machens, doch die eigentliche Bedeutung dieses ‘backwater’-Szenarios ist eine andere als in den Geschichten des walisischen Schriftstellers. Lovecraft spart zwar nicht mit Anspielungen auf alte Legenden und das "unheilige" Erbe der indianischen Ureinwohner, aber wichtig ist vor allem das Bild, das er von den Bewohnern des gottverlassenen Fleckchens Dunwich zeichnet. Von ihnen heisst es, sie seien
repellently decadent, having gone far along that path of retrogression so common in many New England backwaters. They have come to form a race by themselves, with the well-defined mental and physical stigmata of degeneracy and inbreeding. The average of their intelligence is woefully low, whilst their annals reek of overt viciousness and of half-hidden murders, incests, and deeds of almost unnamable violence and perversity. The old gentry, representing the two or three armigerous families which came from Salem in 1692, have kept somewhat above the general level of decay; though many branches are sunk into the sordid populace so deeply that only their names remain as a key to the origin they disgrace.
Der Typus des degenerierten Hinterwäldlers taucht mehrfach in Lovecrafts Werk auf, so in Beyond the Wall of Sleep, The Lurking Fear und vielleicht am krassesten in The Picture in the House. (1)
Zum einen spiegelt sich darin wohl die Verachtung des Autors für die ländliche Bevölkerung wider. Bäuerlich geprägte Regionen waren in seinen Augen Überbleibsel der Barbarei, wie sein texanischer Freund Robert E. Howard mehr als einmal zu hören bekam. Darüberhinaus aber sind all die entarteten Primitivlinge, die sich in den Hügeln bei Dunwich (2) oder den Catskillbergen herumtreiben, bloß einmal mehr Verkörperungen des in Lovecrafts Werk allgegenwärtigen Motivs von Degeneration, Fäulnis und Zerfall.
Wie ich in einigen früheren Blogeinträgen (hier und hier) bereits etwas ausführlicher dargelegt habe, sehe ich in diesem Motiv vor allem einen Ausdruck der Furcht Lovecrafts vor dem Niedergang der Zivilisation, die unterhöhlt und zersetzt von Kommerzialismus, Industrie, Kosmopolitismus, "Rassenvermischung", Demokratie und Sozialismus ihrem drohenden Untergang entgegen gehe, woraufhin die dann befreiten animalischen und triebhaften Kräfte in Gestalt des rebellierenden Pöbels eine Orgie der Vernichtung veranstalten würden.
So gesehen finde ich es eigentlich recht passend, dass die Gestalt Wilbur Whateleys in Hallers Film mit der Gegenkultur der 60er Jahre in Verbindung gebracht wird, stellte diese in den Augen der Konservativen doch gleichfalls eine zersetzende Bewegung dar, die die Grundlagen der bürgerlichen Ordnung und Moral zu zerstören drohte. Das sexuelle Motiv, das dabei vor allem durch erwähnte Traumsequenz eingeführt wird,  erweist sich bei näherer Betrachtung gleichfalls als gar nicht so abwegig, wie man vielleicht annehmen könnte.
Eine Analyse des Ekels vor allem Sexuellen, der in vielen von Lovecrafts Geschichten zum Ausdruck kommt, würde einen eigenen kleinen Aufsatz erfordern. So muss es an dieser Stelle genügen festzuhalten, dass im Weltbild des Schriftstellers ein absoluter Gegensatz zwischen dem Animalischen und Körperlichen auf der einen und dem Rationalen und Ästhetischen auf der anderen Seite bestand. Die Verneinung des Sexuellen war für ihn geradezu die Vorbedingung für die Entwicklung von Kultur:
And as for Puritan inhibitions – I admire them more every day. They are attempts to make of life a work of art – to fashion a pattern of beauty in the hog-wallow that is animal existence – and they spring out of that divine hatred for life which marks the deepest and most sensitive soul ... An intellectual Puritan is a fool – almost as much of a fool is an anti-Puritan – but a Puritan in the conduct of life is the only kind of man one may honestly respect. I have no respect or reverence whatever for any person who does not live abstemiously and purely – I can like and tolerate him ... but in my heart I feel him to be my inferior – nearer the abysmal amoeba and the Neanderthal man ... (3)
Es erscheint darum kaum verwunderlich, dass Sex, wenn er überhaupt in Lovecrafts Erzählungen auftaucht, stets als ein Vehikel der Degeneration dargestellt wird, als ein Schritt hin zu Urschleim und Neandertaler.
The Dunwich Horror ist dafür ein besonders interessantes Beispiel, da die Geschichte alle explizit sexuellen Konnotationen ganz bewusst vermeidet. Dabei handelt es sich bei ihr ja um eine Art Adaption der guten alten Teufelsbuhlschaft an den Cthulhu-Mythos:
Lavinia, die Tochter des Dunwicher Hexers Whateley, wird in der Walpurgisnacht ("May-Eve") von Yog-Sothoth geschwängert und bringt zwei Kinder zur Welt. Den humanoiden Wilbur, der nach dem Tod seines Großvaters dessen okkulte Studien fortsetzt mit dem Ziel, den Großen Alten das Tor zu dieser Welt zu öffnen, und eine absolut monströse Kreatur, die in ihrem Äußeren eher dem unirdischen Vater nachschlägt und sich von Blut ernährt.
Ein waschechter ‘pulp-hack’ hätte bei so einem Szenario natürlich nicht mit zweideutigen Anspielungen auf die unappetitlichen Vorgänge der Walpurgisnacht gespart. Lovecraft hingegen bemüht sich nach Kräften, den sexuellen Ausgangspunkt seiner Geschichte möglichst rasch vergessen zu machen. Was sich zwischen Lavinia und dem widerwärtigen Yog-Sothoth abgespielt haben mag, bleibt viel zu nebulös und unwirklich, um die Fantasie des Lesers zu entzünden. Dass Sex auch hier mit Degeneration im Zusammenhang steht – die Whateleys sind dekadente Nachkommen ehemaliger Kleinadeliger und die Vermischung mit Yog-Sothoth ist so etwas wie der krönende Abschluss des jahrhundertelangen Niedergangs ihrer Sippe – scheint deshalb kaum von zentraler Bedeutung zu sein. Dennoch spielt das Thema Sexualität auf einer abstrakteren Ebene meiner Ansicht nach auch hier eine wichtige Rolle.
An dieser Stelle kommt erneut Arthur Machen ins Spiel.  Nicht ohne Grund wohl spielt Lovecraft auf dessen Roman The Great God Pan an. Als Wilbur in der Universitätsbibliothek in Arkham das Necronomicon auszuleihen versucht, macht sich der Bibliothekar Dr. Armitage so seine Gedanken über den merkwürdigen Besucher:
He thought of Wilbur, goatish and ominous, once again, and laughed mockingly at the village rumours of his parentage.
“Inbreeding?” Armitage muttered half-aloud to himself. “Great God, what simpletons! Shew them Arthur Machen’s Great God Pan and they’ll think it a common Dunwich scandal! But what thing – what cursed shapeless influence on or off this three-dimensioned earth  – was Wilbur Whateley’s father? Born on Candlemas  – nine months after May-Eve of 1912, when the talk about the queer earth noises reached clear to Arkham  – What walked on the mountains that May-Night? What Roodmas horror fastened itself on the world in half-human flesh and blood?”

Machens Roman erzählt auf suggestive und zum Teil sehr verstörende Weise von der Furcht der viktorianischen Gesellschaft vor den entfesselten Kräften der Sexualität. Er beginnt mit einer Gehirnoperation, die an einer jungen Frau vorgenommen wird, und die bewirken soll, dass diese die unter der Oberfläche der Welt verborgene Wirklichkeit wahrnehmen kann – jene Naturkräfte, die die Alten in Gestalt des Gottes Pan verehrten und fürchteten. In Folge der Prozedur wird die Frau schwachsinnig, schenkt jedoch neun Monate später einer Tochter das Leben. Im weiteren Verlauf der Erzählung erfahren wir aus den Berichten unterschiedlicher Personen, wie das Mädchen – Helen Vaughan – zu einer wunderschönen, aber irgendwie unheimlichen jungen Frau heranwächst und reihenweise Männer ins Verderben, in Wahnsinn und Selbstmord stürzt. Die ‘fürchterlichen Schandtaten’, zu denen Helen ihre Verehrer verleitet, sind ohne Zweifel sexueller Natur, auch wenn Machen sich dabei ganz bewusst auf verschwommene Andeutugen beschränkt.
Nun sind ganz sicher weder Wilbur noch sein monströser Bruder in dem gleichen Sinne wie Helen Vaughan Verkörperungen von Sinnlichkeit und Sexualität. An ihnen ist nichts verführerisches, sie sind einfach bloß widerwärtig. Und doch lässt sich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihnen und Machens ‘Heldin’ ausmachen – abgesehen davon, dass sie alle drei keinen menschlichen Vater haben. Der gehirnchirurgische Eingriff am Anfang von The Great God Pan ist ja tatsächlich erfolgreich. Die junge Frau sieht die wahre Beschaffenheit der Welt, sie wirft einen Blick auf die unmenschlichen Kräfte, die die Natur beherrschen, und diese Erkenntnis raubt ihr den Verstand. Betrachtet man den weiteren Verlauf der Geschichte, so wird deutlich, dass Machen den Sexualtrieb zu den bedrohlichsten dieser Kräfte zählt. Trotz all des magischen Brimboriums – Walpurgisnacht, Beschwörungsformeln, Opfer – ließe sich die Begegnung Lavinias mit Yog-Sothoth auf dem Sentinel Hill durchaus mit der Hirnoperation vergleichen. In beiden Fällen findet eine Konfrontation mit der fürchterlichen Wahrheit statt, die sich hinter der scheinbar so geordneten Welt verbirgt. Und wie Machens Gott Pan repräsentieren auch Lovecrafts Große Alte die ungezügelte Macht des Triebhaften. Zumindest ist das ein Aspekt ihres Wesens. Als Produkte dieses Zusammentreffens verkörpern sowohl Helen Vaughan als auch Lavinias Kinder das Eindringen dieser zerstörerischen Gewalten in die Welt der Menschen.
 Dies wird vielleicht noch etwas deutlicher, wenn man sich die Gegenspieler der Whateley-Sippe anschaut. The Dunwich Horror ist die einzige Lovecraft-Geschichte, in der es so etwas wie einen klassischen Kampf ‘Gut gegen Böse’ gibt. Um so wichtiger ist, wer hier die Rolle der Verteidiger der Menschheit übernimmt. Als Dozenten der Miskatonic-Universität sind Dr. Armitage, Prof. Rice und Dr. Morgan exemplarische Vertreter jener vernunftorientierten und gebildeten Elite, die Lovecraft in seinen politischen und sozialen Reflexionen stets dem triebhaften Mob entgegenstellt. Wilbur Whateley hingegen zeichnet sich durch seine "mixed occult erudition and general illiteracy" aus. Anders als etwa bei Clark Ashton Smith sind Zauberer bei Lovecraft meist keine kultivierten Aristokraten, die in Schlössern leben, sondern primitive Hinterwälder, die bevorzugt in halb eingestürzten Häusern oder vermoderten Katen hausen und sich mit viel Dreck und schimmligen Büchern umgeben.
In seinem Buch The Philosophy of H. P. Lovecraft vertritt Timo Airakinsen die These, in The Dunwich Horror gehe es um "a cultural struggle between the familial, fecund and religious Whateleys and the clinical, bureaucratic and rigid academics of Miskatonic" (4) Gegen diese Interpretation ließe sich manches einwenden. So bilden die Whateleys zwar tatsächlich eine Sippe, doch der Umstand, dass Wilbur offenbar seine eigene Mutter tötet und auch seine Großmutter einen "unexplained death by violence" gefunden hat , spricht nicht eben für ihren Familiensinn. Und was das angeblich ‘klinische’ Leben der Akademiker betrifft, so hat Dr. Armitage eine Frau – für einen lovecraftschen Helden beinah eine kleine Sensation. Trotzdem denke ich, dass Airakinsens Ansatz gar nicht so falsch ist. Die dizipliniert arbeitenden, in geordneten Verhältnissen lebenden Intellektuellen aus Arkham sind tatsächlich die Repräsetanten der Zivilisation, denen in den Whateleys das Produkt von Degeneration und Barbarei gegenübersteht. Dunwich gleicht in vielerlei Hinsicht Innsmouth. Die heruntergekommenen Bewohner des Dorfes leiden zwar selbst unter dem Treiben der monströsen Kreatur, doch ihr verrottetes Gemeinwesen, in dem alle Regeln von Anstand, Gesetz und Moral zerbrochen sind, ist der Misthaufen, auf dem dieses Ungetüm herangewachsen ist.
Dass die Whateley-Brut im Gegensatz zu den kopflastigen Akademikern das Sinnenverhaftete und Triebhafte verkörpert, zeigt sich vielleicht am deutlichsten in ihrem Aussehen. Von Wilbur heisst es: "He was, however, exceedingly ugly despite his appearance of brilliancy; there being something almost goatish or animalistic about his thick lips, large-pored, yellowish skin, coarse crinkly hair, and oddly elongated ears." Da mag man noch an die klassischen Bilder von Satyr und Teufel denken. Doch über das, was sich unter seiner Kleidung verbirgt, bekommen wir später zu lesen:
Below the waist, though, it was the worst; for here all human resemblance left off and sheer phantasy began. The skin was thickly covered with coarse black fur, and from the abdomen a score of long greenish-grey tentacles with red sucking mouths protruded limply. Their arrangement was odd, and seemed to follow the symmetries of some cosmic geometry unknown to earth or the solar system. On each of the hips, deep set in a kind of pinkish, ciliated orbit, was what seemed to be a rudimentary eye; whilst in lieu of a tail there depended a kind of trunk or feeler with purple annular markings, and with many evidences of being an undeveloped mouth or throat.
Ist es gar zu freudianisch, bei schmatzenden Tentakeln, die aus dem Unterleib einer Kreatur heraushängen, an Sexuelles zu denken? Und erwecken die zahllosen Münder nicht zugleich die Vorstellung von Schmecken, Besabbern und Verschlingen und damit von primtiver Sinnenhaftigkeit? Natürlich ist das keine bewusste Symbolik. Doch vergessen wir nicht, dass Lovecraft die Inspiration für seine Monstren nicht selten aus seinen Träumen bezog. Nicht zufällig wohl stellt er der Erzählung ein Zitat aus Charles Lambs Essay Wiches and Other Night-Fears voran, in dem sich der englische Romantiker u.a. mit den Alpträumen seiner Kindheit beschäftigt:
Gorgons, and Hydras, and Chimaeras – dire stories of Celaeno and the Harpies – may reproduce themselves in the brain of superstition – but they were there before. They are transcripts, types – the archetypes are in us, and eternal. How else should the recital of that which we know in a waking sense to be false come to affect us at all?
Wir dürfen also wohl davon ausgehen, dass Wilbur Whateley mehr ist als ein besonders groteskes Ungetüm.
Lavinias zweites Kind zeichnet sich im Gegensatz zu der wenigstens noch ansatzweise humanoiden Gestalt seines Bruders vor allem durch seine Formlosigkeit aus.Wie einer der Dorfbewohner bei seinem Anblick ausruft: "nothin’ solid abaout it – all like jelly, an’ made o’ sep’rit wrigglin’ ropes pushed clost together".  Die Auflösung jeder festen Struktur ist in Lovecrafts ‘Phänomenologie des Grauens’ das Endprodukt des Verfalls. Seine fürchterlichsten Ungeheuer sind stets gallertartig. Doch zumindest verfügt das Monstrum über "ten or twenty maouths or trunks a-stickin’ aout all along the sides, big as stovepipes, an’ all a-tossin’ an’ openin’ an’ shuttin’". Genau in diesem interessanten Detail besteht also Familienähnlichkeit mit Wilbur. Von Intelligenz hingegen ist nichts zu spüren. Die groteske Kreatur, die nach Einschätzung ihres Bruders nicht viel "earth brain" besitzt, scheint nur einen Antrieb zu kennen: Das Verlangen nach Nahrung. Wenn Wilbur einen verschlagenen Eindruck macht, so ist dafür sein menschliches Erbteil verantwortlich. Sein Zwilling wirkt einfach nur monströs.
Yog-Sothoth und seine Artgenossen dürften ihm in dieser Hinsicht gleichen, sie sind triebgesteuerte Bestien und keine schlauen Verführer. Das Verbrechen der Whateleys besteht darin, dass sie diesen Kräften des Geistlos-Animalischen einen Zugang zu unserer Welt öffnen wollen: "the beings those Whateleys were so fond of – the beings they were going to let in tangibly to wipe out the human race and drag the earth off to some nameless place for some nameless purpose." Nach der Vernichtung der Menschheit sollen nur noch Kreaturen wie Lavinias zweites Kind gemeinsam mit den Großen Alten die Welt bevölkern.
Warum der alte Whateley die abscheulichen Wesen ‘von draußen’ bei ihrem Vorhaben unterstützt, ist eigentlich nicht recht nachzuvollziehen, denn auf einer vom Menschen ‘gereinigten’ Erde, wie Wilbur es nennt, wäre natürlich auch für solche wie ihn kein Platz mehr. Zwar ist mehrmals in der Erzählung von antiken Goldmünzen die Rede, mit denen der Hexer seine Rechnungen begleicht und deren Herkunft niemand zu nennen weiß, und wir dürfen wohl davon ausgehen, dass die Großen Alten ihm den Fundort dieses Schatzes verraten haben. Aber reicht das aus, um sein ganzes Leben dem Ziel der Ausrottung der Menschheit zu widmen und dafür auch die eigene Tochter zu opfern?
Denselben scheinbaren Haken weisen viele von Lovecrafts Geschichten auf. Es gibt einfach kein glaubwürdiges Motiv, warum irgendjemand die hirnlosen Götter des Cthulhu-Mythos bei ihrem zerstörerischen Werk unterstützen sollte. Diese Kreaturen scheinen wenig geeignet, einem die Vorteile zu verschaffen, die man sich für gewöhnlich von einem Pakt mit dem Teufel verspricht. Unter den Großen Alten wird man keinen Mephisto und keinen Samiel finden.
Doch die Frage ist letztlich falsch gestellt. Lovecrafts Geschichten gehorchen einer anderen Logik. Ein Mann wie Whateley will Yog-Sothoth nicht deshalb ein Tor in unsere Welt öffnen, weil er sich dadurch irgendeinen Gewinn verspricht, sondern weil die Großen Alten in Reimform das verkörpern, was ihn selbst auszeichnet. Ganz Dunwich steht für den Zerfall aller überkommenen Ordnung und Moral. Die Whateleys sind ein besonders reines Produkt dieses krankhaften Milieus. Lavinias monströse Kinder stehen am Ende einer Entwicklung, die nicht erst mit dem alten Hexenmeister begonnen hat. Der selbstzerstörerische Zug im Handeln des alten Whateley ist aber nicht nur auf diese eher abstrakte Weise folgerichtig, er ist selbst Ausdruck der Dekadenz. Wer die Ordnung der Gesellschaft zerstören will, der arbeitet – ob bewusst oder unbewusst – auf die allgemeine Vernichtung hin, denn er will die animalischen Urgewalten im Menschen entfesseln. Dem Triumph der Anarchie aber werden auch auch die Anarchisten zum Opfer fallen.
So zumindest sah es der selbsternannte Aristokrat Howard Phillips Lovecraft.


(1) Ein weiteres Beispiel wären die degenerierten Bewohner des Dorfes Chorazin [eine Anspielung auf M.R. James’ Count Magnus] in The Diary of Alonzo Typer, allerdings bin ich mir nicht sicher, wie groß der Anteil HPLs an der 1935 entstandenen Geschichte ist, die als eine Kooperation zwischen ihm und William Lumley gilt.
(2) Wikipedia zufolge stellt Dunwich nach Lovecrafts eigenen Angaben "a vague echo of the decadent Massachusetts countryside around Springfield –  say Wilbraham, Monson and Hampden" dar.
(3) H. P. Lovecraft: Selected Letters. Bd. I. S. 315. Vgl.: contrasoma.com/writing/lovecraft.html
(4) Zit. nach: Bruce Lord: The Genetics of Horror: Sex and Racism in H. P. Lovecraft’s Fiction.

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