Matthew David Surridge hat letzte Woche einen äußerst lesenswerten Artikel über Arthur Machens The Great God Pan auf Black Gate veröffentlicht. Im Großen und Ganzen würde ich mich sowohl seiner Interpretation als auch seiner Bewertung des Romans anschließen. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, hatte ich nach der Lektüre allerdings den Eindruck, das Buch sei trotz vieler beeindruckender Passagen als Gesamtkomposition nicht hundertprozentig geglückt. Mein persönlicher Favorit unter den Werken des walisischen Autor ist und bleibt jedenfalls The White People, eine der auf subtile Weise verstörendsten Erzählungen, die ich je gelesen habe. H.P. Lovecraft nannte sie "a masterpiece of fantastic writing, with almost unlimited power in the intimation of potent hideousness and cosmic aberration". Clark Ashton Smith bezeichnete ihren Stil als "exquisite in its degree of perfection".*
Die Geschichte beginnt mit einer nächtlichen Unterhaltung zwischen dem einsiedlerischen Ambrose und seinem Gast Cotgrave über die wahre Natur der Sünde. Verbrechen wie Diebstahl oder Mord seien – so Ambrose – nicht wirklich 'Sünden', auch wenn man sie gemeinhin als solche bezeichne. Die wirkliche Sünde habe nichts mit dem gesellschaftlichen Miteinander der Menschen zu tun, sondern mit ihrer Beziehung zum Übernatürlichen. Sie bestehe in dem Versuch, Zugang zu Sphären des Seins zu erlangen, die dem Menschen für gewöhnlich verschlossen sind. Sie sei eine Art mystische Verzückung. Doch im Gegensatz zum Heiligen, der in seinem transzendenten Streben einen Zustand wiederzuerlangen hoffe, der dem Menschen vor dem Sündenfall natürlich gewesen sei, verlange der wahre Sünder nach etwas, was dem Menschen nicht zustehe. Der Sünde hafte deshalb etwas zutiefst widernatürliches an, so als würden Tiere zu sprechen oder Steine zu wachsen beginnen.
Um zu veranschaulichen, was er mit seinen Ausführungen gemeint habe, leiht Ambrose seinem Gast ein Buch, das die Aufzeichnungen eines namenlosen sechzehnjährigen Mädchens enthält. Diese bilden den Hauptteil von The White People. Der Bericht beginnt mit dem folgenden Absatz, der einen guten Eindruck von dem ebenso eigentümlichen wie faszinierenden Charakter der Erzählung vermittelt:
Das Mädchen erzählt, dass sie schon von frühester Kindheit an Kontakt zu übernatürlichen Wesen gehabt habe. So glaubt sie, sich daran erinnern zu können, dass weiße Gesichter auf sie herabschauten, als sie in der Wiege lag, und in einer fremden Sprache zu ihr redeten. Später sei sie in der Nähe eines Teiches dem 'Weißen Volk' begegnet. Ihr Kindermädchen habe ihr von alten Ritualen erzählt, die vor langer Zeit von den Menschen in dieser Gegend zelebriert worden seien. Auch einige magische Handlungen habe sie von ihr gelernt. Vieles aber habe sie selbst herausgefunden.
Kernstück ihrer Aufzeichnungen ist der Bericht über den 'Weißen Tag'. Beim Umherstreifen durch den Wald gelangt sie in ihr bisher unbekannte Gegenden, die mehr und mehr phantastische Formen annehmen. Sie durchquert dunkle Wälder, in denen geheimnisvolle, schattige Bäche dahinplätschern, gelangt zu einem einem gewaltigen Kreis bizarr geformter Felsbrocken, wandert durch eine raue, zerklüftete Hügellandschaft und entdeckt schließlich in einem verborgenen Wäldchen etwas ungeheuer Wunderbares, dessen genaue Natur sie nicht beschreibt:
Es bleibt die Frage, wie wir das Ganze zu interpretieren haben. Machen gibt uns mit der Rahmenerzählung ein Muster dafür vor. Doch müssen wir uns an dieses Muster halten?
Vieles spricht dafür, dass die Ideen, die der Autor Ambrose in den Mund gelegt hat, seine eigenen waren. Wie sein Einsiedler war auch Machen ein Anhänger des Anglokatholizismus, wenn auch kaum ein orthodoxer Kirchgänger. Seine Faszination für alles Okkulte hatte ihn zeitweilig in die Reihen des berühmten Hermetic Order of the Golden Dawn geführt, dem u.a. auch William Butler Yeats, Algernon Blackwood und Aleister Crowley angehörten. Sein Verständnis von Literatur war ganz von diesem Mystizismus geprägt, wie seine ästhtetische Abhandlung Hieroglyphics zeigt. Wahre Literatur verfolgt seiner Ansicht nach das Ziel, den Leser in einen Zustand der Ekstase zu versetzen, den er als "rapture, beauty, adoration, wonder, awe, mystery, sense of the unknown, desire for the unknown" umschreibt. Dieses quasi mystische Erlebnis soll die Sehnsucht nach dem Jenseitigen, Göttlichen in uns wecken. Hervorgerufen werde es mit Hilfe von Symbolen, die nur dem Eingeweihten wirklich verständlich sind: "[T]o us, initiated, the Symbol will be offered, and we shall take the Sign and adore, beneath the outward and perhaps unlovely accidents, the very Presence and eternal indwelling of God."
Gut möglich, dass The White People tatsächlich als die Schilderung der unheiligen Verkehrung eben dieser Ekstase gedacht war, und dass wir in der Erzählerin wirklich eine werdende Hexe sehen sollen. Doch wenn wir die bewusste Intention des Autors einmal beiseite lassen, eröffnet uns der Text selbst noch eine ganz andere Möglichkeit der Interpretation.
Es fällt nicht schwer, in der Erzählerin ein fantasiebegabtes, sensibles und vor allem sehr sehr einsames Mädchen zu erkennen. Wir erfahren, dass ihre Mutter ein Jahr vor den Ereignissen des 'Weißen Tages' gestorben ist und dass ihr Vater keinerlei Interesse an ihr zeigt. Ihre einzige Bezugsperson scheint das Kindermädchen gewesen zu sein, das jedoch gleichfalls schon seit längerem aus ihrem Leben verschwunden ist. Zu Gleichaltrigen hat sie offenbar überhaupt keinen Kontakt. Unter diesen Umständen erscheint es gut nachvollziehbar, dass sie sich mehr und mehr in eine eigene Fantasiewelt zurückgezogen hat. Das allein würde aber nicht ausreichen, um das Beunruhigende der Geschichte zu erklären. Das Mädchen flieht nicht nur in eine Art Traumwelt. Sie ist dabei, etwas zu entdecken, etwas, was sie nicht versteht und was ihr zugleich Faszination und Angst einflößt. Worum handelt es sich dabei?
Arthur Machen verstand es meisterlich, in seinen Lesern das Gefühl zu wecken, hinter der Oberfläche der Dinge verberge sich etwas unheimliches und zutiefst verdorbenes. In The Great God Pan zumindest sind damit eindeutig eindeutig die Mächte des Triebhaften und vor allem des Sexuellen gemeint. Machen scheint Sexualität – und insbesondere weibliche Sexualität – als etwas Bedrohliches wahrgenommen zu haben, und es ist ironisch, dass der Roman zur Zeit seines Erscheinens als 'skandalös' und 'unmoralisch' galt, obwohl er doch wie kaum ein anderes literarisches Werk die Furcht der viktorianischen Gesellschaft vor dem Sex zum Ausdruck bringt. Ohne Machens ganzes Werk auf dieses eine Thema reduzieren zu wollen, scheint mir in ihm doch auch der Schlüssel zu The White People zu liegen.
Das Mädchen beschreibt die Umstände unter denen sie dem 'Weißen Volk' zum ersten Mal begegnet ist, wie folgt: Ihr Kindermädchen habe sie durch die Felder zu einem 'dunklen und schattigen' Teich getragen. Plötzlich sei da ein großer Mann gewesen, und die beiden seien weggegangen und hätten sie alleine zurückgelassen. Kurz darauf seien aus dem Teich zwei weiße Gestalten – offenbar Mann und Frau – aufgetaucht, hätten gespielt, getanzt und gesungen. Darüber sei sie eingeschlafen, und als ihr Kindermädchen sie später geweckt habe, sei ihr aufgefallen, dass sie der 'weißen Dame' ähnelte.
Ließe sich diese Szene nicht sehr gut so deuten: Das Kindermädchen hatte sich mit ihrem Liebhaber im Wald verabredet. Die beiden lassen das kleine Mädchen allein zurück und verschwinden in den Büschen. Sie schlafen miteinander. Das Kind beobachtet sie dabei, ist verwirrt, verängstigt und fasziniert.
Wenn man einmal beginnt, die Erzählung unter diesem Blickwinkel zu betrachten, fällt einem auf, welch große Rolle die Themen 'Paar' und 'Liebschaft' bei den Ereignissen des 'Weißen Tages' spielen. Immer wieder greift die Erzählerin auf die Geschichten zurück, die ihr von ihrem Kindermädchen erzählt wurden, um zu interpretieren, was ihr in der fremdartigen und phantastischen Landschaft,. in die sich verirrt hat, widerfährt. In fast allen spielen Paare eine zentrale Rolle, sei es, dass ein Mädchen offenbar zur Braut des Teufels wird, ein Jäger zur Geliebten einer Fee, oder eine Hexe sich einen unmenschlichen Liebhaber herbeizaubert, um dessentwillen sie ihre menschlichen Bewerber ermordet. Aber das Motiv findet sich nicht nur in den Märchen. Kurz bevor sie den 'geheimen Wald' erreicht, durchquert die Erzählerin eine Hügellandschaft, in dessen Oberfläche sie zwei riesenhafte Gestalten zu erkennen glaubt: einen Mann und eine Frau, die sie als Adam und Eva bezeichnet, "and only those who know the story understand what they mean".
Arno Schmidt hätte an dieser Stelle vermutlich Freuds Traumdeutung hervorgeholt und für jedes landschaftliche Detail im Bericht des Mädchens nach einer angemessenen sexuellen Aufschlüsselung gesucht. Zu solch akribischer Arbeit fehlt mir die nötige Muße. Auch stehe ich dem guten Sigmund im Allgemeinen sehr viel kritischer gegenüber als Meister Arno. Dennoch könnte ich mir gut vorstellen, dass ein derartiges Unternehmen zu recht interessanten Ergebnissen führen würde. Ich begnüge mich mit einigen eher offensichtlichen Indizien.
Der erste wichtige Ort, an den das Mädchen auf ihrer Wanderung gelangt, ist der Steinkreis. Hier erlebt sie eine Art mystische Verzückung und die Landschaft nimmt für sie zum ersten Mal eindeutig 'verwandelte' und 'belebte' Formen an. Im Zentrum dieses Kreises aber erhebt sich ein einzelner Stehender Stein. Ließe sich ein eindeutigeres Phallussymbol finden? Das brunnenartige Loch, in das das Mädchen später hineinkriecht und das sie an ein Märchen erinnert, in dem eine junge Frau in eben einem solchen Schacht zur Buhlin des Teufels wird, wäre dann das entsprechende Vaginasymbol. Über die auffällig zahlreichen schattigen Bäche hätte der gute Doktor Freud vielleicht auch etwas zu sagen gehabt, mir erscheint in diesem Zusammenhang vor allem eine Szene bedeutungsvoll. Von einer heftigen Gier nach dem Wasser gepackt, beginnt die Erzählerin plötzlich 'wie ein Tier' – ohne Zuhilfenahme ihrer Hände also – aus einem der Bäche zu trinken und hat dabei das Gefühl, dass sie von einer in den Wassern verborgenen Nymphe geküsst werde. Triebhaftigkeit, 'Animalität', sinnlicher Genuss, Erotik – all dies verbindet sich in dieser kleinen Szene.
Was also ist das 'Wunderbare' und 'Fremdartige', das das Mädchen in dem 'geheimen Wald' entdeckt, und was sie so tief erschüttert? Ist es gar zu weit hergeholt, darin ein Symbol für die Sexualität, ihre Sexualität zu sehen? Ambrose berichtet am Ende, es habe sich um eine weiße Marmorstatue aus römischer Zeit gehandelt. Wen sie dargestellt habe, sagt er nicht, aber in The Great God Pan steht die heidnische Antike für Sinnlichkeit, Sexualität und Verdorbenheit. Wir dürfen wohl annehmen, dass es sich hier ähnlich verhält.**
Kurz und gut – ich denke, dass man The White People als die Geschichte einer einsamen und vernachlässigten Heranwachsenden interpretieren kann, die dabei ist, ihre eigene Sexualität zu entdecken und dies als zugleich verwirrend, furchteinflößend und schön empfindet. Dazu würde auch passen, dass die Erzählerin sich ganz am Ende mit der 'weißen Lady' zu identifizieren scheint:
Die Geschichte beginnt mit einer nächtlichen Unterhaltung zwischen dem einsiedlerischen Ambrose und seinem Gast Cotgrave über die wahre Natur der Sünde. Verbrechen wie Diebstahl oder Mord seien – so Ambrose – nicht wirklich 'Sünden', auch wenn man sie gemeinhin als solche bezeichne. Die wirkliche Sünde habe nichts mit dem gesellschaftlichen Miteinander der Menschen zu tun, sondern mit ihrer Beziehung zum Übernatürlichen. Sie bestehe in dem Versuch, Zugang zu Sphären des Seins zu erlangen, die dem Menschen für gewöhnlich verschlossen sind. Sie sei eine Art mystische Verzückung. Doch im Gegensatz zum Heiligen, der in seinem transzendenten Streben einen Zustand wiederzuerlangen hoffe, der dem Menschen vor dem Sündenfall natürlich gewesen sei, verlange der wahre Sünder nach etwas, was dem Menschen nicht zustehe. Der Sünde hafte deshalb etwas zutiefst widernatürliches an, so als würden Tiere zu sprechen oder Steine zu wachsen beginnen.
Um zu veranschaulichen, was er mit seinen Ausführungen gemeint habe, leiht Ambrose seinem Gast ein Buch, das die Aufzeichnungen eines namenlosen sechzehnjährigen Mädchens enthält. Diese bilden den Hauptteil von The White People. Der Bericht beginnt mit dem folgenden Absatz, der einen guten Eindruck von dem ebenso eigentümlichen wie faszinierenden Charakter der Erzählung vermittelt:
I found this book (the manuscript began) in a drawer in the old bureau that stands on the landing. It was a very rainy day and I could not go out, so in the afternoon I got a candle and rummaged in the bureau. Nearly all the drawers were full of old dresses, but one of the small ones looked empty, and I found this book hidden right at the back. I wanted a book like this, so I took it to write in. It is full of secrets. I have a great many other books of secrets I have written, hidden in a safe place, and I am going to write here many of the old secrets and some new ones; but there are some I shall not put down at all. I must not write down the real names of the days and months which I found out a year ago, nor the way to make the Aklo letters, or the Chian language, or the great beautiful Circles, nor the Mao Games, nor the chief songs. I may write something about all these things but not the way to do them, for peculiar reasons. And I must not say who the Nymphs are, or the Dôls, or Jeelo, or what voolas mean. All these are most secret secrets, and I am glad when I remember what they are, and how many wonderful languages I know, but there are some things that I call the secrets of the secrets of the secrets that I dare not think of unless I am quite alone, and then I shut my eyes, and put my hands over them and whisper the word, and the Alala comes. I only do this at night in my room or in certain woods that I know, but I must not describe them, as they are secret woods. Then there are the Ceremonies, which are all of them important, but some are more delightful than others – there are the White Ceremonies, and the Green Ceremonies, and the Scarlet Ceremonies. The Scarlet Ceremonies are the best, but there is only one place where they can be performed properly, though there is a very nice imitation which I have done in other places. Besides these, I have the dances, and the Comedy, and I have done the Comedy sometimes when the others were looking, and they didn't understand anything about it. I was very little when I first knew about these things.Wir werden im Folgenden nie erfahren, worum es sich bei den erwähnten Zeremonien und anderen geheimnisvollen Dingen handelt. Überhaupt fällt es schwer zu sagen, was genau wir im Laufe der Erzählung erfahren. Das hängt völlig davon ab, wie wir den Text interpretieren.
Das Mädchen erzählt, dass sie schon von frühester Kindheit an Kontakt zu übernatürlichen Wesen gehabt habe. So glaubt sie, sich daran erinnern zu können, dass weiße Gesichter auf sie herabschauten, als sie in der Wiege lag, und in einer fremden Sprache zu ihr redeten. Später sei sie in der Nähe eines Teiches dem 'Weißen Volk' begegnet. Ihr Kindermädchen habe ihr von alten Ritualen erzählt, die vor langer Zeit von den Menschen in dieser Gegend zelebriert worden seien. Auch einige magische Handlungen habe sie von ihr gelernt. Vieles aber habe sie selbst herausgefunden.
Kernstück ihrer Aufzeichnungen ist der Bericht über den 'Weißen Tag'. Beim Umherstreifen durch den Wald gelangt sie in ihr bisher unbekannte Gegenden, die mehr und mehr phantastische Formen annehmen. Sie durchquert dunkle Wälder, in denen geheimnisvolle, schattige Bäche dahinplätschern, gelangt zu einem einem gewaltigen Kreis bizarr geformter Felsbrocken, wandert durch eine raue, zerklüftete Hügellandschaft und entdeckt schließlich in einem verborgenen Wäldchen etwas ungeheuer Wunderbares, dessen genaue Natur sie nicht beschreibt:
And there I saw the most wonderful sight I have ever seen, but it was only for a minute, as I ran away directly, and crept out of the wood by the passage I had come by, and ran and ran as fast as ever I could, because I was afraid, what I had seen was so wonderful and so strange and beautiful.Das Unheimliche an all dem ist nicht, was dem Mädchen auf seiner Wanderung zustößt, sondern vielmehr die Art, in der sie ihre Umgebung wahrnimmt und beschreibt. Auf diese Weise wird die im Grunde ziemlich ereignislose Entdeckungsfahrt einer Vierzehnjährigen zu einer Reise in eine phantastische, fremdartige und irgendwie beunruhigende Welt. In diesen Passagen zeigt Machen seine ganze literarische Meisterschaft.
Es bleibt die Frage, wie wir das Ganze zu interpretieren haben. Machen gibt uns mit der Rahmenerzählung ein Muster dafür vor. Doch müssen wir uns an dieses Muster halten?
Vieles spricht dafür, dass die Ideen, die der Autor Ambrose in den Mund gelegt hat, seine eigenen waren. Wie sein Einsiedler war auch Machen ein Anhänger des Anglokatholizismus, wenn auch kaum ein orthodoxer Kirchgänger. Seine Faszination für alles Okkulte hatte ihn zeitweilig in die Reihen des berühmten Hermetic Order of the Golden Dawn geführt, dem u.a. auch William Butler Yeats, Algernon Blackwood und Aleister Crowley angehörten. Sein Verständnis von Literatur war ganz von diesem Mystizismus geprägt, wie seine ästhtetische Abhandlung Hieroglyphics zeigt. Wahre Literatur verfolgt seiner Ansicht nach das Ziel, den Leser in einen Zustand der Ekstase zu versetzen, den er als "rapture, beauty, adoration, wonder, awe, mystery, sense of the unknown, desire for the unknown" umschreibt. Dieses quasi mystische Erlebnis soll die Sehnsucht nach dem Jenseitigen, Göttlichen in uns wecken. Hervorgerufen werde es mit Hilfe von Symbolen, die nur dem Eingeweihten wirklich verständlich sind: "[T]o us, initiated, the Symbol will be offered, and we shall take the Sign and adore, beneath the outward and perhaps unlovely accidents, the very Presence and eternal indwelling of God."
Gut möglich, dass The White People tatsächlich als die Schilderung der unheiligen Verkehrung eben dieser Ekstase gedacht war, und dass wir in der Erzählerin wirklich eine werdende Hexe sehen sollen. Doch wenn wir die bewusste Intention des Autors einmal beiseite lassen, eröffnet uns der Text selbst noch eine ganz andere Möglichkeit der Interpretation.
Es fällt nicht schwer, in der Erzählerin ein fantasiebegabtes, sensibles und vor allem sehr sehr einsames Mädchen zu erkennen. Wir erfahren, dass ihre Mutter ein Jahr vor den Ereignissen des 'Weißen Tages' gestorben ist und dass ihr Vater keinerlei Interesse an ihr zeigt. Ihre einzige Bezugsperson scheint das Kindermädchen gewesen zu sein, das jedoch gleichfalls schon seit längerem aus ihrem Leben verschwunden ist. Zu Gleichaltrigen hat sie offenbar überhaupt keinen Kontakt. Unter diesen Umständen erscheint es gut nachvollziehbar, dass sie sich mehr und mehr in eine eigene Fantasiewelt zurückgezogen hat. Das allein würde aber nicht ausreichen, um das Beunruhigende der Geschichte zu erklären. Das Mädchen flieht nicht nur in eine Art Traumwelt. Sie ist dabei, etwas zu entdecken, etwas, was sie nicht versteht und was ihr zugleich Faszination und Angst einflößt. Worum handelt es sich dabei?
Arthur Machen verstand es meisterlich, in seinen Lesern das Gefühl zu wecken, hinter der Oberfläche der Dinge verberge sich etwas unheimliches und zutiefst verdorbenes. In The Great God Pan zumindest sind damit eindeutig eindeutig die Mächte des Triebhaften und vor allem des Sexuellen gemeint. Machen scheint Sexualität – und insbesondere weibliche Sexualität – als etwas Bedrohliches wahrgenommen zu haben, und es ist ironisch, dass der Roman zur Zeit seines Erscheinens als 'skandalös' und 'unmoralisch' galt, obwohl er doch wie kaum ein anderes literarisches Werk die Furcht der viktorianischen Gesellschaft vor dem Sex zum Ausdruck bringt. Ohne Machens ganzes Werk auf dieses eine Thema reduzieren zu wollen, scheint mir in ihm doch auch der Schlüssel zu The White People zu liegen.
Das Mädchen beschreibt die Umstände unter denen sie dem 'Weißen Volk' zum ersten Mal begegnet ist, wie folgt: Ihr Kindermädchen habe sie durch die Felder zu einem 'dunklen und schattigen' Teich getragen. Plötzlich sei da ein großer Mann gewesen, und die beiden seien weggegangen und hätten sie alleine zurückgelassen. Kurz darauf seien aus dem Teich zwei weiße Gestalten – offenbar Mann und Frau – aufgetaucht, hätten gespielt, getanzt und gesungen. Darüber sei sie eingeschlafen, und als ihr Kindermädchen sie später geweckt habe, sei ihr aufgefallen, dass sie der 'weißen Dame' ähnelte.
Ließe sich diese Szene nicht sehr gut so deuten: Das Kindermädchen hatte sich mit ihrem Liebhaber im Wald verabredet. Die beiden lassen das kleine Mädchen allein zurück und verschwinden in den Büschen. Sie schlafen miteinander. Das Kind beobachtet sie dabei, ist verwirrt, verängstigt und fasziniert.
Wenn man einmal beginnt, die Erzählung unter diesem Blickwinkel zu betrachten, fällt einem auf, welch große Rolle die Themen 'Paar' und 'Liebschaft' bei den Ereignissen des 'Weißen Tages' spielen. Immer wieder greift die Erzählerin auf die Geschichten zurück, die ihr von ihrem Kindermädchen erzählt wurden, um zu interpretieren, was ihr in der fremdartigen und phantastischen Landschaft,. in die sich verirrt hat, widerfährt. In fast allen spielen Paare eine zentrale Rolle, sei es, dass ein Mädchen offenbar zur Braut des Teufels wird, ein Jäger zur Geliebten einer Fee, oder eine Hexe sich einen unmenschlichen Liebhaber herbeizaubert, um dessentwillen sie ihre menschlichen Bewerber ermordet. Aber das Motiv findet sich nicht nur in den Märchen. Kurz bevor sie den 'geheimen Wald' erreicht, durchquert die Erzählerin eine Hügellandschaft, in dessen Oberfläche sie zwei riesenhafte Gestalten zu erkennen glaubt: einen Mann und eine Frau, die sie als Adam und Eva bezeichnet, "and only those who know the story understand what they mean".
Arno Schmidt hätte an dieser Stelle vermutlich Freuds Traumdeutung hervorgeholt und für jedes landschaftliche Detail im Bericht des Mädchens nach einer angemessenen sexuellen Aufschlüsselung gesucht. Zu solch akribischer Arbeit fehlt mir die nötige Muße. Auch stehe ich dem guten Sigmund im Allgemeinen sehr viel kritischer gegenüber als Meister Arno. Dennoch könnte ich mir gut vorstellen, dass ein derartiges Unternehmen zu recht interessanten Ergebnissen führen würde. Ich begnüge mich mit einigen eher offensichtlichen Indizien.
Der erste wichtige Ort, an den das Mädchen auf ihrer Wanderung gelangt, ist der Steinkreis. Hier erlebt sie eine Art mystische Verzückung und die Landschaft nimmt für sie zum ersten Mal eindeutig 'verwandelte' und 'belebte' Formen an. Im Zentrum dieses Kreises aber erhebt sich ein einzelner Stehender Stein. Ließe sich ein eindeutigeres Phallussymbol finden? Das brunnenartige Loch, in das das Mädchen später hineinkriecht und das sie an ein Märchen erinnert, in dem eine junge Frau in eben einem solchen Schacht zur Buhlin des Teufels wird, wäre dann das entsprechende Vaginasymbol. Über die auffällig zahlreichen schattigen Bäche hätte der gute Doktor Freud vielleicht auch etwas zu sagen gehabt, mir erscheint in diesem Zusammenhang vor allem eine Szene bedeutungsvoll. Von einer heftigen Gier nach dem Wasser gepackt, beginnt die Erzählerin plötzlich 'wie ein Tier' – ohne Zuhilfenahme ihrer Hände also – aus einem der Bäche zu trinken und hat dabei das Gefühl, dass sie von einer in den Wassern verborgenen Nymphe geküsst werde. Triebhaftigkeit, 'Animalität', sinnlicher Genuss, Erotik – all dies verbindet sich in dieser kleinen Szene.
Was also ist das 'Wunderbare' und 'Fremdartige', das das Mädchen in dem 'geheimen Wald' entdeckt, und was sie so tief erschüttert? Ist es gar zu weit hergeholt, darin ein Symbol für die Sexualität, ihre Sexualität zu sehen? Ambrose berichtet am Ende, es habe sich um eine weiße Marmorstatue aus römischer Zeit gehandelt. Wen sie dargestellt habe, sagt er nicht, aber in The Great God Pan steht die heidnische Antike für Sinnlichkeit, Sexualität und Verdorbenheit. Wir dürfen wohl annehmen, dass es sich hier ähnlich verhält.**
Kurz und gut – ich denke, dass man The White People als die Geschichte einer einsamen und vernachlässigten Heranwachsenden interpretieren kann, die dabei ist, ihre eigene Sexualität zu entdecken und dies als zugleich verwirrend, furchteinflößend und schön empfindet. Dazu würde auch passen, dass die Erzählerin sich ganz am Ende mit der 'weißen Lady' zu identifizieren scheint:
I went a second time to the secret place. It was at the deep brimming well, and when I was standing on the moss I bent over and looked in, and then I knew who the white lady was that I had seen come out of the water in the wood long ago when I was quite little. And I trembled all over, because that told me other things. Then I remembered how sometime after I had seen the white people in the wood, nurse asked me more about them, and I told her all over again, and she listened, and said nothing for a long, long time, and at last she said, "You will see her again." So I understood what had happened and what was to happen. And I understood about the nymphs; how I might meet them in all kinds of places, and they would always help me, and I must always look for them, and find them in all sorts of strange shapes and appearances. And without the nymphs I could never have found the secret, and without them none of the other things could happen. Nurse had told me all about them long ago, but she called them by another name, and I did not know what she meant, or what her tales of them were about, only that they were very queer. And there were two kinds, the bright and the dark, and both were very lovely and very wonderful, and some people saw only one kind, and some only the other, but some saw them both. But usually the dark appeared first, and the bright ones came afterwards, and there were extraordinary tales about them. It was a day or two after I had come home from the secret place that I first really knew the nymphs. Nurse had shown me how to call them, and I had tried, but I did not know what she meant, and so I thought it was all nonsense. But I made up my mind I would try again, so I went to the wood where the pool was, where I saw the white people, and I tried again. The dark nymph, Alanna, came, and she turned the pool of water into a pool of fire. . . .Mancher findet das vielleicht an den Haaren herbeigezogen, aber ich sehe in dieser Schlusspassage des Berichtes die symbolische Schilderung eines sexuellen Erwachens.
Wohl gemerkt will ich nicht behaupten, Arthur Machen habe seine Erzählung bewusst konzipiert als Geschichte über ein pubertierendes Mädchen, das seine eigene Sexualität entdeckt. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass dies ganz und gar nicht sein Anliegen war. Aber manchmal führt halt das Unterbewusstsein des Autors die Feder. Und wie The White People zeigt, können dabei wahre Meisterwerke entstehen.
* Brief an H.P. Lovecraft (~ 27. Januar 1931). In: David E. Schultz & Scott Connors (Hg.): Selected Letters of Clark Ashton Smith. S. 145.
** Nebenbei bemerkt lässt sich eine von Clark Ashton Smiths Averoigne-Stories – The Disinterment of Venus – in diesem Zusammenhang sehr gut als eine humorvolle Absage an Arthur Machens neurotische, religiös verbrämte Sexfeindlichkeit lesen.
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