Leider ist die frühe Geschichte der Filmkunst nicht unbedingt ein Feld, in dem ich mich besonders gut auskennen würde, doch dann erspähte ich auf einer von Fritzi mitgelieferten Liste den Namen Lotte Reiniger, und ich wusste, dass ich mein Thema gefunden hatte. Lotte Reiniger ist nicht nur eine Pionierin des Animationsfilms, sondern in meinen Augen eine unsterbliche Titanin der cineastischen Phantastik, deren poetische Scherenschnittfilme einmal mehr beweisen, dass der in unserer CGI-geprägten Ära so beliebt gewordene Pseudo-Naturalismus vielleicht nicht die beste ästhetische Herangehensweise ist, wenn man versuchen will, Märchen und Mythen, Träume und Visionen auf die Leinwand zu übertragen.
Da mir die deutschen Copyright-Gesetze nachwievor äußerst unheimlich sind, kann ich meinen Beitrag leider nicht mit Bildern aus Lotte Reinigers Filmen eröffen. Als Ersatz mag die Anfangsszene aus dem Prinzen Achmed dienen, die ich auf Youtube gefunden habe:
Lotte Reiniger wurde am 2. Juni 1899 in eine gutbürgerliche, aber reformpädagogisch geprägte Berliner Familie hineingeboren. Schon in früher Kindheit zeigte sie ein außergewöhnliches Talent für das Erstellen von Scherenschnitten:
Doch schon bald genügte es ihr nicht mehr, bloß Figuren zu kreieren, sie wollte mit ihnen Geschichten erzählen. Ihre erwachende Leidenschaft für das Theater veband sich mit ihrem Talent zum Scherenschnitt, und so richtete sie sich ein kleines Schattentheater ein, auf dessen Bühne sie u.a. Shakespeare aufführte. Ein erstes größeres Publikum fand sie unter ihren Klassenkameradinnen.
Auch ihre Liebe zum Film entwickelte sich schon sehr früh. Zu ihren ersten großen Favoriten gehörten u.a. die phantastischen Werke von
Georges Méliès, doch als 1913/14 Der Student von Prag und Paul Wegeners erster Golem - Film in die Kinos kamen, war sie so begeistert, dass sie sich diese gleich mehrfach am selben Tag anschaute. Die beiden Filme werden gerne als Beginn des "künstlerischen Films" in Deutschland bezeichnet, aber da ich keine Werke aus der zuvorgehenden Epoche aus eigener Anschauung kenne, bin ich gegenüber solchen Urteilen etwas vorsichtig. Für Lotte Reiniger jedenfalls glichen sie einer Offenbarung, und Wegener wurde zu ihrem großen Idol. Das verstärkte sich noch, als sie 1915 die Gelegenheit
erhielt, einem Vortrag des Schauspielers und Regisseurs zu
lauschen: "Dieser Vortrag, in dem Wegener die
fantastischen Möglichkeiten des Trickfilms hervorhob, entschied meine
Zukunft. Ich war entschlossen, an diesen großen Mann heranzukommen."
Die Gelegenheit dazu eröffnete sich, als Lotte Reiniger 1916 in Max Reinhardts Schauspielschule eintrat und zugleich begann, als Statistin am Deutschen Theater zu arbeiten. Um die Aufmerksamkeit der Schauspieler zu wecken, fertigte sie Schattenrisse von ihnen an. Und natürlich war Wegener dabei ihr bevorzugtes Ziel: "
Ich habe den Mann geradezu bombardiert, aber er war immer wahnsinnig
nett zu mir. Seine Frau musste meine Schattenrisse laufend an ihre
reichen Freunde verkaufen." Wegener erkannte offenbar sehr schnell das besondere Talent Reinigers und wurde zu ihrem Förderer. Sie fertigte Silhouetten für seine beiden Märchenfilme
Rübezahls Hochzeit (1917) und
Der Rattenfänger von Hameln (1918) an, und erhielt beim Dreh des letzteren sogar die Gelegenheit, ihrem Mentor aus der Patsche zu helfen, indem sie mehr oder weniger spontan eine Stop-Motion-Sequenz mit hölzernen Ratten in Szene setzte.
1919 machte Paul Wegener Lotte Reiniger mit dem von Hans Cürlis geleiteten
Institut für Kulturforschung bekannt, zu dessen Mitgliedern eine Reihe von Künstlern gehörten, die es sich u.a. zur Aufgabe gemacht hatten, die Möglichkeiten des Trickfilms auszuloten. Hier erhielt die inzwischen zwanzigjährige Künstlerin erstmals Gelegenheit, einen kurzen Scherenschnittfilm zu drehen –
Das Ornament des verliebten Herzens (1919).
Zugleich lernte sie hier ihren späteren Ehemann, den Kunsthistoriker und Filmemacher Carl Koch, kennen. Die beiden ergänzten sich perfekt – während sie über eine blühende Fantasie und ein hochentwickeltes ästhetisches Feingefühl verfügte, besaß er ein großes Talent für die technischen Fragen. So entwickelte er z.B. für
Die Abenteuer des Prinzen Achmed eine Vorform der Multiplankamera.
Lotte Reiniger kam über das Institut aber auch in Kontakt mit einer Reihe von Künstlern der filmerischen Avantgarde, so u.a. mit Hans Richter und Walter Ruttmann. Die kürzlich in Tübingen gezeigte Ausstellung
Animation und Avantgarde hat offenbar versucht, ästhetische Verbindungslinien zwischen Reinigers Kunst und nicht nur dem filmischen Expressionismus Wegeners, sondern auch der Bewegung des "Absoluten Films" zu ziehen, zu dessen wichtigsten Vertretern Ruttmann gehörte. Ich bin mir da ehrlich gesagt nicht so sicher. Ruttmann sollte am
Prinzen Achmed mitwirken, und es gibt einige Sequenzen in dem Film, die deutlich seine künstlerische Handschrift verraten. Man braucht bloß seinen abstrakten Kurzfilm
Lichtspiel Opus I (1921) mit der Eröffnungsszene des
Achmed oder der finalen Geisterschlacht vergleichen. Doch so weit es mir meine leider unvollständige Kenntnis von Lotte Reinigers späterem Werk erlaubt, darüber ein Urteil abzugeben, tauchen vergleichbar abstrakte Effekte nie wieder bei ihr auf. Was wir im
Prinzen Achmed sehen ist das Produkt einer Zusammenarbeit zweier sehr unterschiedlicher künstlerischer Talente, von denen sich keines durch das andere merklich beeinflussen ließ. Reinigers eigener Stil scheint mir wenig Ähnlichkeiten mit den avantgardistischen Experimenten eines Richter, Viking Eggeling oder Ruttmann aufzuweisen.
Wie dem auch sei, als Lotte Reiniger 1923 zusammen mit Carl Koch, Walter Ruttmann, Berthold Bartosch, Alexander Kardan und Walter Türck mit der Arbeit an
Die Abenteuer des Prinzen Achmed begann, war dies auf jedenfall der Start eines wahrhaft abenteuerlichen Projektes. Die bloße Idee, einen Trickfilm von Spielfilmlänge kreieren zu wollen, war zu dieser Zeit ein absolutes Novum. Ermöglicht wurde dieses Projekt durch den Bankier Louis Hagen, dessen Bewunderung für Reinigers Kunst so groß war, dass er sich bereit erklärte, die Produktion des
Prinzen Achmed zu fianzieren und der kleinen Künstlergruppe ein Umfeld zu schaffen, in dem sie ungestört arbeiten konnten. Er richtete auf seinem eigenen Anwesen ein kleines Studio ein, in dem Lotte Reiniger zusammen mit ihren Miarbeitern in den nächsten drei Jahren ein Kunstwerk erschaffen würden, wie es die Welt bisher noch nicht gesehen hatte.
Hagens Mäzenatentum erlaubte es ihnen, unabhängig von allen Beschränkungen der Filmindustrie und frei von allen finanziellen Erwägungen zu arbeiten. Wie Reiniger selbst es später beschrieben hat: "
Wir waren damals Hippies, zwar nicht so bunt angezogen und mit langen Haaren, aber wir standen außerhalb der Industrie." Was nicht bedeutet, dass die Arbeit am
Prinzen Achmed einfach gewesen wäre. Einmal ganz davon abgesehen, dass der Dreh eines Scherenschnittfilms stets einen gewaltigen Arbeitsaufwand und unendlich viel Geduld erfordert -- angefangen bei der Anfertigung der aus Pappe & Blei geschnittenen Silhouetten und der aus unterschiedlichen Lagen von Pauspapier kreierten Hintergründe, bis hin zur minutiösen Realisierung der Bewegungsabläufe bei 24 Aufnahmen pro Sekunde --, mussten Lotte Reiniger und ihre Crew auch ständig experimentelles Neuland betreten. Erschwerend kam hinzu, dass das Studio aufgrund seiner geringen Höhe für ihre Arbeit eher ungeeignet war. Reiniger war deshalb gezwungen, während der Drehs ständig eine kniende Haltung einzunehmen, während sie die winzigen Bewegungen ihrer Silhouetten ausführte. Bert Brecht, den Reiniger und Koch während dieser Zeit kennenlernten, sprach mit gutem Grund von einem "
fast asiatischen Fleiß", der für die Fertigstellung des
Prinzen Achmed nötig gewesen sei.
Als der Film schließlich doch vollendet war, stellte sich ein weiteres, völlig anders geartetes Problem ein. Es fand sich kein Kino, das ihn hätte aufführen wollen. Am Ende war man gezwungen, eine Art "private" Premiere in der Berliner
Volksbühne auf die Beine zu stellen, an der Wolfgang Ziller, der die Musik für den
Prinzen Achmed komponiert hatte, als Orchesterleiter arbeitete. Brecht nutzte seine Verbindungen zu Presse und Kulturwelt, um die Werbetrommel zu rühren, und so fand sich trotz allem ein beachtliches Publikum für die Uraufführung ein, die zu einem grandiosen Erfolg werden sollte In Lotte Reinigers eigenen Worten: "
The cinema was bursting
at the seams, Fritz Lang was in the audience. I'd never seen
anything like it. They clapped at every effect, after every
scene." Dennoch fand die offizielle Premiere schließlich nicht in Deutschland, sondern in Paris statt. Bei diesem Anlass lernte Lotte Reiniger Jean Renoir kennen, mit dem sie schon bald eine innige Freundschaft verbinden sollte.
Ich verzichte darauf, die Handlung von
Die Abenteuer des Prinzen Achmed im Detail nachzuzeichnen, da Jo Gabriel dies in ihrem Beitrag bereits getan hat. Der Film ist ein magisches Meisterwerk voller Poesie und Schönheit. Wie alle Werke Lotte Reinigers ist er erfüllt von einer tiefen, leidenschaftlichen Liebe für das Märchenhafte und das Phantastische. Er eröffnet uns den Blick in eine Welt voller exotischer Wunder und Abenteuer, einer Welt des Grazilen wie des Grotesken -- wobei letzteres keineswegs immer gleichbedeutend mit dem Bösen ist, wie die Gestalt der monströsen Hexe beweist, die zum guten Ausgang der Geschichte letztenendes mehr beiträgt als unser Held Achmed. Und wie beeindruckend ist es dabei zu erleben, welch ungeheure Ausdruckskraft Lotte Reinigers Silhouetten allein durch ihre Bewegungen besitzen. Aus gutem Grund bezeichnete die Künstlerin das gründliche Studium der Bewegungen von Menschen und Tieren als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Kunst des Scherenschnittfilms. Dabei habe sie stets versucht, diese nicht nur äußerlich zu studieren, sondern nach Möglichkeit mit dem eigenen Körper nachzuempfinden. Wie sie Jahrzehnte später in einem Interview in der ihr eigenen humorvollen Art erzählte:
Mir ist es passiert, dass ich im Zoologischen Garten einen
Strauß-Vogel nachmachen wollte, plötzlich hinter mir ein furchtbares
Gelächter hörte, die dachten, die Olle ist jetzt ganz verrückt
geworden. Ich versuche, die Bewegung zu erfassen, nicht wahr, auch bei
Tieren ... alles ... Man muss wissen, warum das so ist. Man muss
möglichst am eigenen Körper zu imitieren versuchen, das ist bei Tieren
manchmal sehr schwer.
Es ist dieses tiefe Verständnis für Körperlichkeit und Bewegung, das nicht nur dem
Prinzen Achmed, sondern allen Filmen Lotte Reinigers jene Sinnlichkeit verleiht, die sie trotz der Reduktion der Figuren auf "bloße" Silhouetten besitzen.
Nach Fertigstellung des
Prinzen Achmed erwog Lotte Reiniger
übrigens
, sich in Zusammenarbeit mit Bert Brecht an einer Adaption von Kafkas
Die Verwandlung zu versuchen. Es ist faszinierend, sich auszumalen, wie eine solche wohl ausgesehen hätte, und man fragt sich unwillkürlich, ob sich ihr Stil angesichts des doch sehr anders gearteten Quellenmaterials wohl merklich gewandelt hätte. Nun ja, wir werden es nie erfahren.
Doch zu betrüblich ist das nicht, schuf sie in den folgenden fünf Jahrzehnten doch eine ganze Reihe kürzerer märchenhaft-phantastischer Werke, die in stilistischer Hinsicht eine direkte Fortführung dessen darstellen, was wir im
Prinzen Achmed sehen können, ohne dass dabei je ein Gefühl von Stagnation oder Redundanz aufkommen würde. Lotte Reiniger bleibt sich selbst treu und verzaubert uns gerade deshalb eins ums andere Mal mit ihren poetischen kleinen Märchen und Geschichten.
Was nicht heißen soll, dass es überhaupt keine ästhetischen Weiterentwicklungen in ihrem Werk geben würde. Die vielleicht wichtigste kam im Zusammenhang mit dem Aufblühen des Tonfilms, was es Lotte Reiniger erlaubte, eine noch innigere Verbindung zwischen Animation und Musik herzustellen. Ein Element, das ihr schon immer sehr am Herzen gelegen hatte. In diffiziler Kleinarbeit wurde der Bewegungsablauf der Silhouetten nun dem Rhythmus und allgemeinen Verlauf der den Film begleitenden Musik angepasst. Werke wie
Carmen (1933) oder der ungeheuer charmante
Papageno (1935) sind in gewisser Hinsicht filmische Interpretationen der Kompositionen Bizets und Mozarts. Die Bewegungen der Schattenfiguren gewinnen dabei eine nachgerade tänzerische Qualität.
Zu einer weiteren Veränderung kam es Mitte der 50er Jahre, als Lotte Reiniger begann, die Möglichkeiten des Farbfilms zu erkunden. Sei es in Gestalt vielfarbiger Kulissen, vor denen sich ihre schwarzen Silhouetten nunmehr bewegen, wie z.B. in
Jack and the Beanstalk (1955)
, The Star of Bethlehem (1956) oder
Aucassin and Nicolette (1975). Sei es im Experimentieren mit farbigen Figuren wie in
The Frog Prince (1961).
Doch kehren wir zum Abschluss noch einmal zum Biographischen zurück. Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 begannen Lotte Reiniger und ihr Mann schon bald, sich nach Möglichkeiten umzuschauen, um ins Ausland überzusiedeln. Als öffentlich bekannter Antifaschist war Carl Koch besonders gefährdet, und mit Jean Renoirs Hilfe gelang es ihm schließlich, nach Frankreich zu gehen, wo er als Renoirs Assistent arbeitete, u.a. beim Dreh von
La Grande Illusion (1937). Für Lotte Reiniger stellte sich die Lage etwas anders dar. Nicht dass sie irgendwelche Sympathien für das Naziregime besessen hätte -- ganz im Gegenteil --, doch ihre Filme wurden zumindest von Teilen der Parteiführung durchaus geschätzt. Sie erklärte sich bereit, mit
Das rollende Rad einen Propagandafilm über Autobahnbau und Automobilindustrie zu drehen, und der BDM (
Bund Deutscher Mädel) buhlte um ihre Mitarbeit. Schließlich war es vor allem das Schickasl ihrer jüdischen Freunde, welches Lotte Reiniger endgültig davon überzeugte, dem Dritten Reich den Rücken zu kehren. 1936 verließ sie Berlin, "
weil mir diese
Hitler-Veranstaltung nicht passte und weil ich sehr viele jüdische
Freunde hatte, die ich nun nicht mehr Freunde nennen durfte; und das
ging mir gegen den Strich." Doch wie ihrem Mann gelang es auch ihr, lediglich Arbeitsvisa für England oder Frankreich zu erhalten, so das eine dauerhafte Auswanderung unmöglich blieb. Während eines Aufenthaltes in Paris entwickelte und realisierte sie u.a. eine Schattentheater-Szene für Renoirs Film
La Marseillaise (1938). 1939 gingen sie und Carl dann mit dem Freund nach Italien, wo Renoir mit den Dreharbeiten an
Tosca begann, dessen Fertigstellung er jedoch nicht überwachen konnte, da er nach dem Überfall der Nazis auf Frankreich in die Heimat zurückkehren musste. Koch übernahm die Leitung, unterstützt von Luchino Visconti. 1944 kehrten Lotte Reiniger und Carl Koch dann doch nach Berlin zurück, um Lottes sterbender Mutter Beistand zu leisten.
Nach dem Ende des Krieges blieben sie noch einige Jahre in Deutschland, bis sie 1949 endgültig nach England übersiedelteten. Dort würde Lotte Reiniger in den 50er Jahren im Auftrag der BBC einige ihrer bezauerndsten Märchenfilme kreieren, wie z.B. die Hauff-Adaption
Caliph Stork /
Kalif Storch (1954) oder die Andersen-Adaption
Thumbelina / Däumelinchen (1955).