"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Samstag, 11. März 2017

Sir Julian der Abtrünnige

So endet auch diese Geschichte. Welche Moral liegt darin? In jener Abtei gab es einen Gelehrten, der behauptete, alles habe einen höheren Sinn, und das Leben sei nur symbolischer Spiegel von Vorgängen einer höheren Ebene. Nichts, behauptete er, sei Zufall. Nichts geschieht ohne irgendeinen Zweck. Doch ich bin blind in dieses Abenteuer hineingetappt und wieder heraus, und ich suchte einzig und allein meine eigene Haut zu retten ... Eine Bedeutung? Ein Zweck? Wenn andere, wie es die Balladen berichten, ins Land der Elfen oder in das der Toten geraten, dann geschieht das aus irgendeinem edlen Beweggrund, um einer bestimmten tiefen Wahrheit teilhaftig zu werden, um einen geliebten Menschen zu retten oder ein Königreich zu erlösen. Bei mir war es niemals so. Meine Lebensgeschichte wird nur armselige Zerstreuung bieten, sollte sie jemals erzählt werden. Sie lässt weder Form noch Ordnung erkennen, keine Richtung und kein Ziel. Keine Schlussfolgerung, keine Moral, keine Antworten. Nur immer neue Fragen.

Darrell Schweitzer, Das Rätsel vom Horn   

Fragte man mich, welches Subgenre der Fantasyliteratur meinem Herzen am nächsten steht, ich würde ohne zu zögern antworten: Die Sword & Sorcery. Und dass obwohl Tolkiens Herr der Ringe und sein Silmarillion von allen Werken der Phantastik auf einer emotional-persönlichen Ebene die wohl wichtigste Rolle in meinem Leben gespielt haben.

Wenn ich mich recht entsinne, ist es der arabisch-amerikanische Schriftsteller Saladin Ahmed gewesen, der die Sword & Sorcery einmal als "blue-collar fantasy" bezeichnete. Und auch wenn man dieser Definition zurecht Helden wie Michael Moorcocks Elric von Melniboné, der ja der letzte Spross einer dekadenten Herrscherdynastie ist, entgegenhalten kann, besitzt das Subgenre doch in der Tat schon von seinen Ursprüngen her ein wenn man so will "proletarisches" Element.
Robert E. Howard schrieb 1935 in einem Brief an Clark Ashton Smith:   
Some mechanism in my sub-consciousness took the dominant characteristics of various prize-fighters, gunmen, bootleggers, oil field bullies, gamblers, and honest workmen I have come in contact with, and combining them all, produced the amalgamation I call Conan the Cimmerian.*
Fritz Leiber wiederum bezeichnete seine Helden Fafhrd und den Grey Mouser einmal als "Kinder der bankrotten dreißiger Jahre", die zugleich "der menschlichen Natur besser entsprechen" würden "als übermenschliche Helden wie Conan", und deren Abenteuer eine "bodenständigere Form der Fantasy" repräsentieren sollten, als die Tolkiens und seiner Epigonen.**
Diese Tradition der Sword & Sorcery als einer Fantasy der plebejischen Underdogs fand seine Fortsetzung u.a. in Steven Brusts Vlad Taltos - Büchern, und wird heute durch Werke wie Scott Lynchs Gentleman Bastards - Serie oder Saladin Ahmeds Throne of the Crescent Moon vertreten.

Meine große Liebe für das Subgenre hat sicher viel mit diesem Aspekt zu tun, doch natürlich bin ich mir bewusst, dass man die Sword & Sorcery nicht auf selbigen reduzieren kann. Und er ist auch nicht der einzige Grund für meine Zuneigung.

Es muss 1987 oder '88 gewesen sein, als mir eine Anthologie mit dem Titel Isaac Asimovs Märchenwelt der Fantasy unter die Finger kam. Vor allem eine der Kurzgeschichten, die sie enthielt, hinterließ einen bleibenden Eindruck auf mich. Sie trug den Titel Allerhand Hände und erzählte von einem einhändigen Ritter, der von einem Zaubererkönig eine neue Hand verliehen bekommt, nur um zu erleben, wie sich diese jede Nacht selbstständig macht und unschuldige Menschen ermordet, während der Ritter gezwungen ist, das blutige Treiben hilflos mitanzusehen.
Es sollten beinah zweieinhalb Jahrzehnte vergehen, bis ich durch einen auf Black Gate veröffentlichten Artikel von John R. Fultz erfuhr, dass Divers Hands Teil eines ganzen Zyklus von Geschichten ist, die Darrell Schweitzer in den 70er Jahren über die Abenteuer Sir Julians des Abtrünnigen geschrieben hat und die schließlich in dem Band We Are All Legends gesammelt und als Ganzes veröffentlicht wurden. Eine deutsche Übersetzung von Yoma Cap ist 1996 bei Heyne unter dem Titel Wir sind Legende erschienen.

Die 70er Jahre waren bekanntlich so etwas wie das Goldene Zeitalter der Sword & Sorcery.
L. Sprague de Camp hatte 1966 begonnen, Robert E. Howards Conan-Stories in {räusper - räusper} "überarbeiteter" Fassung bei Lancer Books neu aufzulegen, und ab 1968 wurden außerdem die bis dahin erschienenen Fafhrd & The Grey Mouser - Geschichten bei Ace Books in einer Reihe von Sammelbänden (Swords in the Mist [1968], Swords against Wizardry [1968], Swords and Deviltry [1970], Swords against Death [1970]) erneut herausgegeben.
Der bald darauf einsetzende Boom wurde sicher lange Zeit von De Camps & Lin Carters Conan-Industrie und den zahlreichen "Clonans", die ihr nachzueifern versuchten, dominiert. Doch daneben meldeten sich schon bald auch innovativere Stimmen zu Worte. Um nur einige zu nennen: 1970 betrat mit Darkness Weaves With Many Shadows Karl Edward Wagners Kane die Bühne, auch wenn er seine wahre Größe erst 1973 in Death Angel's Shadow zeigen sollte. 1974 erschien in dem von Gene Day herausgegebenen kanadischen Magazin Dark Fantasy Charles R. Saunders' erste Imaro - Geschichte Mji-ya-Wazimu.*** Und auch der alte Veteran und Namensgeber des Subgenres Fritz Leiber verlieh seinen Fafhrd & The Grey Mouser - Stories manch interessante neue Wendung, vor allem in den 1976/77 erschienenen Gechichten The Frost Monstreme und Rime Isle, in denen er schildert, wie sich seine Helden mit dem Altern auseinandersetzen und danach streben, ihr verantwortungsloses Abenteurerleben hinter sich zu lassen.
Darrell Schweitzers Geschichten um Sir Julian, von denen die ersten beiden – The Veiled Pool of Mistorak und The One Who Spoke With The Owls – 1976 erschienen, dürfen ohne Frage gleichfalls zu dieser Gruppe gezählt werden.

Julian, der sich später in Anlehnung an den römischen Kaiser Iulianus Apostata "der Abtrünnige" nennt, wird ganz im Geiste einer Philosophie erzogen, nach der alles in der Welt seinen Platz und seine Ordnung hat – "Gott in seinem Himmel, der Mensch auf Erden, der Teufel drunten". Doch als er – kurz nachdem er zum Ritter geschlagen wurde – während einer Jagd in den Wäldern einer Hexe begegnet, verliert er für immer das Vertrauen in diese universale Ordnung der Dinge. Um die Frau von einem grausamen und ungerechten Schicksal zu erlösen, erklärt er sich bereit, dem Teufel höchstpersönlich entgegenzutreten. Doch als der Satan tatsächlich erscheint, kommt es nicht etwa zu dem verzweifelt-heroischen Kampf, den Julian vielleicht erwartet hatte. Luzifer erklärt dem jungen Ritter vielmehr:
Nun, Ritter Julian, gehörst du mir, aber ich werde dich jetzt nicht mitnehmen. Du wirst auf deine eigene Weise zu mir kommen, zu deiner eigenen Zeit, doch kommen wirst du. Bis dahin, so lautet mein Wille, sollst du leben, die Welt durchwandern und sie in meinem Namen kennenlernen.
Und so wird Sir Julian zu einem fahrenden Ritter der ganz besonderen Art. Rastlos durchstreift er die Welt, die ihm mehr und mehr als ein Tollhaus, als die Schöpfung einer wahnsinnigen Gottheit erscheint. Seine Erlebnisse auf dem Ersten Kreuzzug und vor allem das fürchterliche Massaker, das die Kreuzfahrer nach dem Fall von Jerusalem unter den Bewohnern der Heiligen Stadt anrichten, zerstören die letzten Reste seines Glaubens an Christus. Zugleich bleibt er davon überzeugt, ein Verdammter zu sein, auf den die ewige Höllenpein wartet. Ein Gefühl, das noch verstärkt wird, als er in einem Anfall blinder Wut seinen treuen Knappen erschlägt. Einsam und verzweifelt sucht er nach einer Erlösung jenseits der christlichen Weltordnung von Gott und Teufel. Doch als ihm diese in Form der völligen Hingabe an das metaphysische Nichts angeboten wird, schlägt er sie aus, da der Wunsch zu leben trotz allem zu stark in ihm ist, als dass er sich dem absoluten Nihilismus anheimgeben könnte. Und so bleibt er ein ewig Suchender.

Darrell Schweitzer hat erklärt, seine wichtigste Inspirationsquelle für die Sir Julian - Geschichten sei Ingmar Bergmans grandioser Film Det sjunde inseglet / Das siebente Siegel (1957) gewesen:
The main theme of The Seventh Seal is the silence of God. Why does God not speak to us? If he does not exist, as [Bergman’s] knight suggests, does that mean that life is a meaningless horror? 


Nun gehört Das siebente Siegel zu meinen absoluten Lieblingsfilmen, und so interessant ich Schweitzers Zyklus um den verdammten Sir Julian auch finde, ist es mir doch völlig unmöglich, ihn auch nur annähernd auf dieselbe Stufe zu stellen wie Bergmans Geschichte von dem Ritter, der Schach mit dem Tod spielt. Doch natürlich muss man das auch nicht, um die zweifellos vorhandenen motivischen Ähnlichkeiten anzuerkennen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens in einer scheinbar sinnlosen Welt spielt bei beiden eine zentrale Rolle, auch wenn Schweitzer dabei nie die menschliche Tiefe und poetische Kraft von Bergmans Film erreicht.

Weitere Anregung bezog der Schriftsteller nach eigener Aussage aus C.L. Moores Jirel of Joiry - und Northwest Smith - Stories. Von letzteren habe ich zwar nur Shambleau gelesen, aber gewisse motivische Anklänge an das Werk der großen SFF-Pionierin sind auch für mich durchaus erkennbar. Darüberhinaus jedoch fühlte ich mich bei der Lektüre von Wir sind Legende noch an eine ganz andere Tradition erinnert.

Karl Edward Wagner nannte einmal als eines der wichtigsten Vorbilder für seinen Kane die "gothic novel" des frühen 19. Jahrhunderts und vor allem Maturins Melmoth the Wanderer. Auch Schweitzers Beitrag zur Sword & Sorcery scheint mir Anklänge an diese dunkle Spielart der Romantik aufzuweisen. Zu Beginn ist Sir Julian zwar kein unsterblicher Wanderer. Vielmehr spielt seine Furcht vor dem Tod – oder vielmehr. vor der dann auf ihn wartenden Höllenqual – eine wichtige Rolle zum Verständnis seines Charakters. Doch mit der Zeit verwandelt er sich mehr und mehr in eine Art Ahasver, der für alle Ewigkeit durch die Welt streift, ohne je Frieden oder Erlösung zu finden. Im Epilog des Zyklus L'envoi begegnet er schließlich Bedivere, Gawain und Galahad, die sich auch nach Jahrhunderten immer noch auf der Suche nach dem Heiligen Gral befinden, und realisiert:
Ich glaube, wir alle haben unsere Verbindung zur Zeit verloren. Die Geschichte zieht an uns vorüber, und wie Korken werden wir vom Sturm der Jahre umhergetrieben, ohne jemals eine Küste erreichen zu können ... Wir sind alle zu Legenden geworden ...   
Dazu passt sehr schön, dass Sir Julians Abenteuer gegen Ende des Zyklus immer stärker phantasmagorische Züge annehmen. Mehr und mehr fallen die Barrieren zwischen unserer Welt, der Welt der Träume und irgendwelchen fremdartigen Dimensionen. In mehr als einer Geschichte erklärt Julian, dass er nicht länger wisse, ob er die Ereignisse, von denen er berichtet, im Wach- oder im Traumzustand erlebt hat.  
   
Ein weiteres Motiv, das sich durch We Are All Legends zieht, ist der Gegensatz von Christentum und Heidentum, wobei ersteres in eher negativem Licht erscheint. Dabei bilden vor allem zwei Geschichten ein interessantes motivisches Paar. In der relativ früh im Zyklus angesiedelten Story The One Who Spoke With The Owls erschlägt Julian im Auftrag einiger Dorfbewohner eine "Hexe", die sich als eine Art heidnische Schutzgöttin entpuppt und deren Tod ein bis dahin blühendes Tal in eine tote Wüstenei verwandelt., In der vorletzten Erzählung Midnight, Moonlight and the Secret of the Sea befreit Julian erst zufällig zwölf von Merlin gebannte "Hexen" und macht sich anschließend auf eine Queste gegen ein mysteriöses Böses, um den leidenden Ritter Gottfried zu erlösen – eine Amfortasfigur, die zudem mit dem Ersten Kreuzzug und dem Fall von Jerusalem verbunden wird.**** Im Verlauf der Queste zeigt es sich, dass auch diese "Hexen" in Wahrheit heidnische Nymphen oder Naiaden sind, die in einer bizarren Szene gemeinsam mit Julian Poseidon wieder zum Leben erwecken und damit ein "neues Zeitalter" einleiten. In gewisser Hinsicht macht Julian hier wieder gut, was er in The One Who Spoke With The Owls verbrochen hatte. Doch bezeichnenderweise gelangt er selbst nicht in den Genuss der Befreiung, die das neue Zeitalter verspricht, sondern bleibt am Ende einmal mehr einsam und verloren am Strand des Meeres zurück.

Alles in allem ist We Are All Legends / Wir sind Legende ein faszinierender und eigenwilliger Beitrag zur Sword & Sorcery, den ich allen Freunden & Freundinnen des Subgenres nur wärmstens ans Herz legen kann.


* Zit. nach: Mark Finn: Blood & Thunder. The Life & Art of Robert E. Howard. S. 172.
** Zit. nach: Hardy Kettlitz & Christian Hoffmann: Fritz Leiber. Schöpfer dunkler Lande und unrühmlicher Helden. S. 5ff. 
*** Wie es dazu kam, erzählt Saunders selbst auf seinem Blog.
**** Der Name Gottfried lässt einen natürlich sofort an Gottfried von Bouillon denken. Seine Geschichte scheint mir außerdem auf Torquato Tassos Epos Gerusalemme liberata anzuspielen. Darrell Schweitzer bedient sich in We Are All Legends immer wieder im Fundus der mittelalterlichen Literatur – Dante, Sir Gawain and the Green Knight, Malory, die altnordische Tradition des Rätselwettstreits usw.

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