"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Samstag, 29. März 2014

Vampire in Amerika (III): "Grave of the Vampire"

Puh, das war anstrengender als ich gedacht hätte ... Nightmare in Blood ist billig, schludrig inszeniert, aber irgendwie charmant. Grave of the Vampire ist noch billiger, noch schludriger inszeniert und wirklich-wirklich mies. Wenn ich den Film als "erstaunlich brutal" beschrieben habe, so hat man dabei nicht an zerstückelte Körper und Eimer voller Blut zu denken. Vielmehr zeichnet er sich durch einen unangenehmen Vibe von sexueller Gewalt, gepaart mit einem nicht weniger unangenehmen Frauenbild aus. Dass er außerdem verdammt inkompetent konstruiert ist und mit peinlich schlechten Dialogen und ebenso hölzernen Darstellern aufwartet, hilft auch nicht gerade. Der Flick ist nicht eben lang, aber ihn in einem Anlauf ganz anzuschauen, war mir einfach unmöglich. Und das will was heißen ... 
Doch der Reihe nach: Was an John Hayes' 1972 in die Kinos gelangtem und auch unter dem Titel Seed of Terror bekannten Film zu allererst auffällt, ist seine reichlich bizarr anmutende Konstruktion. Das gute erste Drittel besteht aus einer Art Vorgeschichte. Irgendwann in den 50ern verdrücken sich Leslie (Kitty Vallacher) und ihr Liebster während einer Party auf den örtlichen Friedhof, um dort "intim" zu werden. Und weil wir in den 50ern sind, bedeutet das, dass er ihr einen Heiratsantrag macht. Dummerweise erwacht zur gleichen Zeit der ortsansässige Vampir (Michael Pataki) und kriecht aus seinem Sakrophag. Und auch wenn die nebelverhangene Landschaft mit ihren pittoresken Grabsteinen und die nett fette Tarantel, die über die bleiche Hand unseres Untonten krabbelt, an die Atmosphäre eines klassisch-gotischen Horrorfilms der 60er gemahnen, erweist sich unser Blutsauger nicht als der altmodische Aristokrat mit schwarzem Cape und diabolischem Charme, sondern als ein widerliches, bestialisches Monstrum, das ruckzuck den netten Jungen abschlachtet und seine Braut in spe in einem der reichlich vorhandenen offenen Gräber vergewaltigt. So weit, so unappetitlich. Doch wirklich bizarr wird's, wenn wir in der nächsten Szene einen Polizeibeamten präsentiert bekommen, dessen erster Gedanke angesichts dieser Verbrechen ist: Das muss ein Vampir gewesen sein! Moment mal, gehört es nicht zu den ungeschriebenen Gesetzen des Horrorgenres, dass die offiziellen Autoritäten erst einmal nicht an die Existenz des Übernatürlichen glauben und nur mühsam von ihrem Skeptizismus befreit werden können? Doch keine Angst, zehn Minuten später ist unser Möchtegernvampirjäger auch schon tot, und wir bekommen stattdessen erzählt, dass die arme Leslie schwanger ist. Und wie der {gleichfalls alles andere als skeptische} Doktor ihr erzählt: Das, was in ihrem Leib heranwächst "ist nicht lebendig". Unglücklicherweise weigert sie sich, eine Abtreibung vornehmen zu lassen und so kommen wir in den Genuss eines billigen Rosemary's Baby -Plagiats im Schnelldurchlauf, an dessen Ende mit James Eastman (William Smith) endlich unser eigentlicher Held die Bühne betritt.
Fünfunddreißig von neunundachtzig Minuten dieses grausigen Machwerks haben wir zu diesem Zeitpunkt bereits hinter uns, doch die eigentliche Story beginnt erst jetzt. Sprung vorwärts in die 70er Jahre. Unser Vampir hält inzwischen als Professor Lockwood abendliche Vorlesungen über Okkultismus. Warum er dies tut, erfahren wir nicht, aber für einen jahrhundertealten Untoten war so was in den esoterikbegeisterten 70ern vermutlich die Marktlücke. Zu seinen Studenten gehört allerdings auch James, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, seinen Erzeuger und den Vergewaltiger seiner Mutter zur Strecke zu bringen. 
Doch bevor es zum unausweichlichen Endkampf zwischen Papa Vampir und seinem Filius kommt, müssen wir erst einmal erleben, wie Lockwood eine Reihe junger Frauen ermordet. Und hier wird's so richtig unangenehm. Denn alle Opfer erwecken den Eindruck, als wollten sie von dem Untoten "genommen" werden. In Grave of the Vampire sehnen sich Frauen entweder dannach, sich "faszinierenden" Männern zu unterwerfen, oder sie machen auf flirtende "Verführerin" {und haben ihr blutiges Schicksal deshalb vielleicht sogar verdient?!?!?}. Nein, dieser Film macht wirklich keinen Spaß. Wenn freilich Anita (Diane Holden) Lockwood gegenüber erklärt: "I want you to make me a vampire", dann kippt das Ganze endgültig ins Groteske um. Das macht es nicht wirklich besser, hat mich aber doch laut auflachen lassen.
Mir noch mehr über diesen Streifen aus den Fingern zu saugen, halte ich für unnötig. Es sei bloß noch erwähnt, dass das "große Finale" mit einer Séance in Lockwoods Villa anhebt. Das macht zwar überhaupt keinen Sinn, darf jedoch als eine Kopie des Anfangs von Count Yorga gelten. Und der ist zwar beileibe kein Meisterwerk, doch nach dieser Tortur freue ich mich richtig darauf, dem Grafen wieder einen Besuch abzustatten. Ach ja, ganz interessant ist vielleicht auch noch, dass zu John Hayes' Oeuvre neben Grave of the Vampire so wohlklingende Titel wie Sweet Trash (1970), Convicts' Women (1970), Heterosexualis (1973), Mama's Dirty Girls (1974) und Jailbait Babysitter (1978) gehören. Muss ich noch mehr sagen ...?

Strandgut der Woche

Montag, 24. März 2014

Vampire in Amerika (II): "Nightmare in Blood"

So manches erscheint merkwürdig an John Stanleys Nightmare in Blood. Es fällt mir z.B. ziemlich schwer, zu entscheiden, ob dem Film das Label "Horrorkomödie", welches ihm sowohl bei Wikipedia als auch bei IMDB verpasst wird, wirklich gerecht wird. Ohne Zweifel enthält er eine Reihe parodistischer Elemente, doch eigentlich nicht genug, um ihn zu einer echten Komödie zu erklären. Noch sehr viel eigentümlicher finde ich allerdings, dass der Streifen seine Premiere 1978 erlebte, vier Jahre nach Tobe Hoopers The Texas Chainsaw Massacre und ein knappes Jahr vor dem US-Start von George Romeros Dawn of the Dead. Ein Jahrfünft früher hätte er sich vielleicht gar nicht so übel gemacht, doch beim Zeitpunkt seines Erscheinens muss er eigentlich extrem unzeitgemäß gewirkt haben. Ist der Horror, auf den er sich halb ironisch, halb liebevoll bezieht, doch eindeutig nicht der Horror der 70er, sondern der "gotische" Grusel der 60er Jahre.
Das Publikum scheint das freilich nicht gestört zu haben. Schenkt man Wikipedia Glauben, so gehörte der Flick für ein Jahrzehnt zum festen Programm der Autokinos und machte selbst auf dem Videomarkt der 80er noch einen ordentlichen Gewinn. Ganz unverständlich ist das nicht, denn auch wenn Nightmare in Blood ganz sicher kein "guter" Film ist, so besitzt er doch unleugbar einen gewissen Charme.
     


Schon die Eröffnungssquenz wirkt recht eigenwillig. Wir bekommen die Schlussszene aus dem neuesten Film des {fiktiven} Horrordarstellers Malakai (Jerry Walter) zu sehen. Und die ist nicht nur unterirdisch schlecht, sondern stellt auch einen eigentümlichen Mix aus Vampirflick und Mantel- und Degen - Film dar, untermalt von einem völlig unpassenden Soundtrack. Irritierenderweise musste ich dabei spontan an Christan-Jaques Fanfan la Tulipe (1952) denken. Ein wunderbarer Film, aber keiner, den ich normalerweise mit Horror in Verbindung bringen würde ... Dass wir im direkten Anschluss daran miterleben dürfen, wie einer jungen Frau die Kehle aufgeschlitzt wird, macht das Ganze nur noch verwirrender ...
Der eigentliche Plot ist schnell zusammengefasst: Professor Seabrook (Dan Caldwell), sein Kumpel Scotty (John Cochran) und ihre gemeinsame Freundin Cindy (Barrie Youngfellow) sind dabei, die erste San Franciscoer HorrorCon zu organisieren. Hauptattraktion der Veranstaltung soll der Auftritt des exzentrischen Malakai sein, der seine Vampirrolle so ernst zu nehmen scheint, dass er sich auch im Privatleben im Sarg durch die Gegend schippern lässt und äußerst ungehalten reagiert, wenn man in seiner Anwesenheit Kruzifix-Anhänger trägt. Etwas verkompliziert wird die Angelegenheit durch den fanatischen Moralapostel Dr. Unworth (Justin Bishop), der "zum Schutz der Jugend" Proteste gegen diese "abscheuliche Veranstaltung" organisiert. Das eigentliche Problem ist jedoch der Star der Convention, denn {wen wundert's?} bei dem guten Malakai handelt es sich in Wahrheit um einen echten untoten Blutsauger, dem freilich ein jüdischer Nazi- und Vampirjäger (Mark Anger) bereits dicht auf den Fersen ist ...
Ich habe keine Ahnung, wie das amerikanische Fandom Ende der 70er Jahre tatsächlich ausgesehen hat, aber ich finde es doch erstaunlich, dass unsere Horror-Aficionados zwar ausgiebigst die Namen von Bela Lugosi, Lon Chaney Jr, Boris Karloff, Vincent Price und Christopher Lee zitieren, Night of the Living Dead, The Exorcist und Texas Chainsaw Massacre hingegen in dieser Welt nicht zu existieren scheinen. Und warum tragen so viele der jugendlichen Fanboys Planet of the Apes - Masken? Sehr seltsam ...
Ganz neckisch wirkt die Figur des Dr. Unworth, der ganz offensichtlich als Karrikatur des Psychologen Fredric Wertham angelegt ist, dessen berüchtigtem Buch Seduction of the Innocent {im Film heißt Unworths Schmöker Rape of the Young Mind} wir den Comic Code von 1954 und u.a. den Untergang der EC-Horror-Comics verdanken. Auch hier muss man sich allerdings fragen, wie zeitgemäß eine solche Anspielung 1977/78 denn noch gewesen ist. Schließlich war der Code inzwischen deutlich aufgeweicht worden und Horror-Comics konnten wieder an den Zeitungsständen erworben werden. {Berühmtestes Beispiel: Marvels Tomb of Dracula}. Andererseits sollte einige Jahre später in Großbritannien die Video Nasties - Panik ausbrechen. Zensur war also in der Tat kein Thema der Vergangenheit ...
Einen aristokratischen Pseudo-Dracula ins Amerika der 70er Jahre zu schicken, war nichts neues. Dieselbe Idee hatte bereits Count Yorga (1970) zugrundegelegen, Aber während der Vampir sich dort recht erfolgreich in die vom Streben nach esoterischer Selbstfindung beherrschte Mittelklasse hatte einfügen können, verharrt Freund Malakai ganz in der Rolle des "Lugosi"-Draculas mit schwarzem Cape und Glaceé-Handschuhen. Jerry Walter hat offensichtlich riesigen Spaß, den Untoten mit "osteuropäischem" Akzent zu geben, doch immer dann, wenn er die Maske fallen lässt und zum blutgierigen Monster wird, wirkt er eher lächerlich als furchteinflößend. Absicht? Vielleicht. Aber welchen Sinn sollte eine Parodie auf den traditionellen Filmvampir Ende der 70er Jahre noch haben? Das Klischee war ohnehin längst überwunden. Und ganz ähnlich verhält es sich mit den übrigen offensichtlich satirisch gemeinten Elementen des Filmes. Was z.B. habe ich davon zu halten, wenn der Inhaber des örtlichen Comicladens ein mystisch veranlagter, Roben tragender Hippie ist? Witzig wirkt das nicht. Erfreulicherweise erweist sich der eigenwillige Typ am Ende sogar als einer unserer Helden, aber dennoch stellt sich die Frage, was seine Gestalt eigentlich parodieren soll. Gab es im damaligen Fandom tatsächlich Typen, die Comics für eine Art erleuchteter Weisheitsliteratur hielten? Ich kann mir das kaum vorstellen. Aber natürlich bin ich kein Geek im Amerika der 70er Jahre gewesen ...
Nein, als Satire {auf was auch immer} funktioniert Nightmare in Blood wirklich nicht. Und als echter Horrorfilm eigentlich auch nicht. Es ist kein böser Zufall gewesen, dass Regisseur Stanley im Laufe seiner {sehr kurzen} Karriere keinen einzigen weiteren Spielfilm gedreht hat, und so gut wie kein Mitglied seines Ensembles je über irgendwelche Nebenrollen hinausgekommen ist. Man braucht sich ja bloß das schludrig inszenierte "große Finale" im alten Kino anzuschauen, das nun wirklich sehr viel spannender hätte sein müssen, als es letztlich geworden ist ...
Und doch besitzt Nightmare in Blood seinen trashigen Reiz. Kim Newman hat den Film einmal als "slapdash but enthusiastic"* bezeichnet, und tatsächlich atmet er so etwas wie Leidenschaft. Inkompetente Leidenschaft vielleicht, aber dafür ehrliche. Außerdem finde ich es irgendwie nett, dass der Kern unseres Vampirjägertrupps aus einem Juden und einem Schwarzen (Scotty) besteht. Auch habe ich anderswo noch nie gesehen, wie einem Vampir mittels eines Davidssterns Saures gegeben wurde. Allein das macht Nightmare in Blood meiner Meinung nach einen kleinen Abstecher wert ...     


* Kim Newman: Nightmare Movies. A Critical History of the Horror Film, 1968-88. S. 28.

Samstag, 22. März 2014

Vampire in Amerika (I)

An der Wende von den 60er zu den 70er Jahren zeichnete sich auf beiden Seiten des Atlantiks immer deutlicher das Ende der Ära des klassisch-gotischen Horrorfilms ab. Roman Polanskis Rosemary's Baby und George A. Romeros Night of the Living Dead, die beide 1968 ihre Premiere erlebt hatten, waren die ersten deutlich sichtbaren Anzeichen für diese Veränderung im Genre gewesen. 
So wie Hammer und Amicus in England, sah sich auch American International Pictures gezwungen, eine Strategie zu entwickeln, um diesem Wandel im Publikumsgeschmack zu begegnen. Die erste Idee, auf die man dabei in der altehrwürdigen Schlockschmiede, die u.a. für die phantastischen Poe-Adaptionen Roger Cormans verantwortlich gewesen war, verfiel, war bizarrerweise der Versuch, das Vampirgenre im amerikanischen Horrorfilm wiederzubeleben. In den 60er Jahren hatte in dieser Provinz des klassischen Grusels beinah unangefochten Hammers Christopher Lee geherrscht, und Amerikas bekanntester Blutsauger des Jahrzehnts dürfte vermutlich Grandpa aus den Munsters gewesen sein. Dies sollte sich nun ändern. Zwar war Count Yorga, den AIP 1970 ins Rennen schickte, ursprünglich als Softporno geplant {was man einigen Szenen des Filmes noch ansehen kann}, aber Hauptdarsteller Robert Quarry hatte dafür gesorgt, dass das Ganze schließlich doch zu einem ernsthaften Vampirflick geworden war. Na ja, so ernsthaft wie die Abenteuer eines Dracula-Klons im Kalifornien der Zeit halt sein konnten. {Im Sequel findet sich z.B. eine grandiose Szene, in der sich Yorga die Vampire Lovers im Fernsehen anschaut.} Bei AIP schien man mit dem Ergebnis erst einmal recht zufrieden zu sein, und plante sogar, Quarry als neuen Horrorstar der Firma und Nachfolger von Altmeister Vincent Price aufzubauen. Doch auch wenn der Schauspieler mit The Return of Count Yorga (1971) und Deathmaster (1973) noch zweimal die Gelegenheit erhielt, den Blutsauger zu geben, zeigte sich doch recht bald, dass die Vampirtaktik nicht zu dem gewünschten Erfolg führte. {Wen wundert's?} AIP steckte sein Geld schon bald lieber in den boomenden Blaxploitation-Markt und Projekte wie Martin Scorseses' Boxcar Bertha (1972).
Erstaunlicherweise eröffnete Count Yorga dennoch eine kurzlebige Phase im amerikanischen Horrorfilm, in der sich verschiedene Produktionsfirmen und Filmemacher bemühten, den einst aristokratischen Blutsauger im Amerika der 70er heimisch zu machen. AIP selbst versuchte mit Blacula (1972) und dem Sequel Scream, Blacula, Scream (1973) eine Kreuzung aus Vampirfilm und Blaxploitation zu schaffen. {Aus Sicht eines B-Movie - Produzenten wie Mr. Arkoff naheliegend, oder?} Daneben kam das Publikum alsbald in den Genuss von Filmen wie The Velvet Vampire (1971) aus Roger Cormans neuer Werkstatt New World Pictures, dem erstaunlich brutalen Flick Grave of the Vampire (1972), Carl Kolchaks erstem TV-Abenteuer The Night Strangler (1973) und Richard Blackburns Lemora - A Child's Tale of the Supernatural (1975). Am Ende dieses kurzlebigen Trends standen die groteske "Komödie" Nightmare in Blood (1978) und George Romeros eigenwilliger Eintrag in das Vampirgenre Martin (1978).
In den nächsten zwei Wochen möchte ich einige dieser Filme hier etwas genauer vorstellen. Dabei strebe ich keine vollständige Präsentation des amerikanischen Vampirfilms der 70er Jahre an. Auch werde ich mich nicht an die chronologische Reihenfolge halten. Mal sehen, was bei diesem Projekt rauskommen wird.

       

Strandgut der Woche

Freitag, 21. März 2014

Sofia Samatar und die böse Moderne

Ich hätte nicht gedacht, dass es einmal dazu kommen würde, aber ich fühle mich gedrängt, eine Verteidigung des Steampunk zu schreiben. Dabei stehe ich selbst dem Subgenre mit sehr gemischten Gefühlen gegenüber. Als ein Liebhaber von Jules Verne und altmodischen phantastischen Abenteuerfilmen kann ich nicht leugnen, dass seine Ästhetik mich irgendwie anspricht. Andererseits jedoch werde ich das unangenehme Gefühl nicht los, dass hier sehr oft eine Geschichtsepoche romantisiert wird, die nun wirklich alles andere als romantisch war. Doch wie dem auch sei, das ändert nichts daran, dass ich Sofia Samatars vor knapp einem Monat erschienen Blogeintrag Dreadful Objectivity: Steampunk in Africa für äußerst problematisch halte. Genaugenommen geht es dabei allerdings gar nicht so sehr um ein literarisches Subgenre, als vielmehr um sehr viel allgemeinere politische und weltanschauliche Fragen.

Ich bin das erste Mal vor über zwei Jahren auf Sofia Samatar gestoßen, als ihr veröffentlichtes Oeuvre aus nicht mehr als einer Handvoll Gedichten und Kurzgeschichten sowie einigen Rezensionen für Strange Horizons bestand. Mein erster Eindruck war sehr positiv, und ich nahm sie sogleich in eine Gruppe phantastischer Autorinnen auf, die ich ungefähr zur selben Zeit kennen- und liebengelernt hatte, und zu der u.a. Catherynne M. Valente, Amal El-Mohtar und C.S.E. Cooney gehörten.
Was mich an ihrem Werk angesprochen hatte war zum einen die Sprache – lyrisch, aber nicht so wuchernd und voll "ausgesuchter" Metaphern wie etwa bei Cat Valente –, zum anderen der Umstand, dass sie einen Gutteil ihrer Inspiration aus der Kunst und Kultur der arabisch-islamischen Welt zu beziehen schien, für die ich eine tiefe Faszination hege. So beschäftigt sich z.B. The Hunchback's Mother mit einer Episode aus alf laila wa-laila (Tausendundeine Nacht); in Qasida of the Ferryman versucht Samatar eine klassische arabische Versform ins Englische zu übertragen; in Burnt Lyric setzt sie sich mit der Poesie von Al-Andalus (dem maurischen Spanien) und ihrem Einfluss auf die okzitanische Trobadorlyrik auseinander; die Inspiration für The Sand Diviner stammte aus der Lebensgeschichte des mittelalterlichen Historikers Ibn-Khaldun; und  A Brief History of Nonduality Studies erwuchs aus ihrer Beschäftigung mit Sufiliteratur. Zu all dem finden sich in ihrem Blog sehr interessante Anmerkungen.*
Allerdings war bereits meine erste Begegnung mit Sofia Samatar nicht frei von Irritationen. Das galt insbesondere für ihre Short Story The Nazir. Einerseits gehört die Geschichte von Cynthia, die als Tochter eines britischen Kolonialbeamten im Kairo der Zwischenkriegszeit aufwächst und deren ganzes späteres Leben von der Sehnsucht beherrscht wird, ein einziges Mal das geheimnisvolle Ungeheuer Nazir (arab. "Der Beobachter") erblicken zu dürfen, zu meinen absoluten Favoriten in Samatars Oeuvre. Andererseits scheint mir in ihr so etwas wie die Idee einer "Kollektivschuld" der Weißen für die Verbrechen des Kolonialismus mitzuschwingen. Cynthia leidet offenbar unter der Tatsache, als Kind der europäischen herrschenden Kaste des kolonialen Ägypten angehört zu haben. Das damit verbundene Schuldgefühl verfolgt sie ihr Leben lang. Psychologisch gesehen ist das sicher gut vorstellbar, aber ich habe das beunruhigende Gefühl, die Geschichte wolle den Eindruck vermitteln, Cynthias Selbstquälereien seien irgendwie "gerechtfertigt", und ihre spätere Rebellion und die damit verbundenen politischen Aktivitäten** müssten deshalb irgendwie unehrlich wirken, als seien sie ausschließlich Ausdruck eines "weißen" Schuldkomplexes. Und eine solche Sichtweise halte ich für grundfalsch. Cynthia ist nicht verantwortlich für das kolonialistische System, in das sie hineingeboren wurde.
Vielleicht lese ich da etwas in The Nazir hinein, was gar nicht wirklich in der Geschichte angelegt ist. Vielleicht will uns Samatar in Wahrheit das Gefühl vermitteln, die Tragödie Cynthias bestehe gerade darin, sich nicht von dem zwar verständlichen, aber völlig ungerechtfertigten Schuldgefühl befreien zu können. Ich weiß nicht. All das ist bloß so ein vages Rumoren im Hinterkopf.

Im August 2012 versuchte Sofia Samatar in einem Blogeintrag zu umreißen, warum sie sich als Schriftstellerin der Phantastik zugewandt hat. Zu den von ihr angeführten Gründen gehören u.a.:
1) It puts you in touch with dreams and the unconscious. It can free up your language in certain ways. It can be beautiful. There’s a connection here with fantasy’s ability to express a sense of reality as shifting, untrustworthy, infused with the supernatural, or absurd.
Und 2) It provides an opportunity to think outside a particular, dominant cultural framework, one that is Western, heterosexual, white, college-educated and male. Fantasy has associations with folklore: with stories for women, children and the people in the flash of the ethnographer’s camera bulb. That makes it a fertile field for writers interested in reclaiming stories and types of narration that have been lost or suppressed.
Nun bin zwar auch ich der Ansicht, dass phantastische Kunst das Potential besitzt, überkommene Denkmuster aufzubrechen und einen frischen und ungewohnten Blick auf die Welt und den Menschen zu eröffnen. Doch wie der zweite Punkt sehr deutlich zeigt, ist Sofia Samatar wie die meisten Vertreter und Vertreterinnen der "linken", angloamerikanischen SFF-Gemeinde offensichtlich sehr stark von den Ideen der Identitätspolitik beeinflusst, der ich selbst äußerst kritisch gegenüberstehe.
Im Detail kann ich auf diese Frage jetzt zwar nicht eingehen, verweise jedoch gerne noch einmal auf Jonas Kyratzes' Statement of Principles, dem ich mich 100%ig anschließe. Auf jedenfall halte ich es für sehr fragwürdig, wenn man die "vorherrschenden kulturellen Rahmenbedingungen" als "westlich", "weiß", "heterosexuell" und "männlich" charakterisiert {als gäbe es eine mehr oder weniger einheitliche "westlich-weiß-heterosexuell-männliche" Kultur}, dabei jedoch völlig außer Acht lässt, dass die Gesellschaft, in der wir leben, vor allem eine Klassengesellschaft ist, was meiner Ansicht nach unsere Kultur in viel höherem Maße geprägt hat als irgendwelche anderen Kriterien. Und bürgerliche Ideologie kann ebensogut in "nicht-westlichem", "farbigem", "homosexuellem" und "weiblichem" Gewand auftreten, wie in den traditionell vorherrschenden Erscheinungsformen. Das wird uns tagtäglich in allen nur erdenklichen Medien sehr eindrücklich vorexerziert.

Ich gehöre nicht zu denen, die Kunstwerke nach den weltanschaulichen Überzeugungen ihrer Schöpferinnen und Schöpfer beurteilen. Aber genausowenig denke ich, das selbige keinen Einfluss auf ihre Werke hätten.
Von Sofia Samatars Debütroman A Stranger in Olondria, der in diesem Jahr für den Nebula Award nominiert wurde, habe ich nur die ersten sechs Kapitel gelesen, die man sich auf der entsprechende Website des Verlags runterladen kann. Es war eine wunderbare Lektüre, und bei nächster sich bietender Gelegenheit werde ich mir das Buch ganz sicher zulegen. Besonders angesprochen hat mich die Art, in der die Autorin sinnliche Eindrücke {Gerüche, Geschmäcker, Klänge} hervorhebt. Zugleich jedoch wurde ich beim Lesen  das beunruhigende Gefühl nicht los, der Roman könne sich in eine Richtung entwickeln, die mir ganz und gar nicht gefallen würde.
Samatars Protagonist Jevick stammt aus einem quasi-kolonialen Milieu. Als junger Mann wendet er sich von der Kultur seiner Heimat ab, die er als primitv und irrational empfindet, und verschreibt sich ganz der Kultur der "Metropole" Olondria. Dort angekommen muss er jedoch sehr bald feststellen, dass die meisten Bewohner der Stadt in ihm nachwievor den "Fremden" sehen, ganz gleich, wie sehr er sich auch anzugleichen versucht.
Hier eröffnet sich zweifellos eine sehr interessante und komplexe Thematik, und ich traue es Samatar ohne weiteres zu, diese in eine ebenso lebendige Geschichte zu kleiden.  Doch wird sich in dieser ganz sicher manches von ihren eigenen Ideen über Kultur und Kolonialismus wiederfinden. Wie könnte es anders sein? Auch wenn ich keinesfalls erwarte, dass sich A Stranger in Olondria am Ende als eine Art postkolonialistisches Lehrstück entpuppen wird. Dazu ist Samatar viel zu sehr Künstlerin. Dennoch bereitet mir diese Aussicht ein leichtes Bauchgrimmen, und warum dies so ist, lässt sich am Besten anhand des eingangs erwähnten Aufsatzes Dreadful Objectivity erläutern.

Der Blogeintrag beginnt mit einigen Gedanken zu Virtuoso, einem Webcomic von Jon Murger und Christa Brennan. Nun habe ich diesen zwar nicht gelesen {was ich bei Gelegenheit vielleicht mal nachholen sollte}, aber wenigstens einen von Samatars kritischen Anmerkungen kann ich sehr gut nachvollziehen. Die Protagonistin heißt Jnembi Osse,
and immediately I want to know what that name is, what it means, and where it's from, and I pray that it's not made up, and my mind rushes back to my African Linguistics class in search of the consonant cluster "jn." I just want so much for it to be real, and I'm terrified that it's not. And there would be no reason to be terrified over a webcomic we don't even have, except that these things are not isolated problems. The haphazard sprinkling of decorative "African-ness" over things is a regular practice
In Afrika angesiedelte phantastische Geschichten sollten sich in der Tat möglichst an realen Kulturen {inklusive deren Sprachen} orientieren, d.h. auf ernsthafter Recherche basieren, andernfalls ist der Weg nicht weit zu Exotismus und Klischee. Freilich weiß ich nicht, ob z.B. Charles R. Saunders' Sword & Sorcery - Klassiker Imaro und Dossouye, die ich sehr schätze, diesem Kriterium 100%ig gerecht werden. Ich will hier deshalb keine unumstößlichen Gesetze dekretieren.
Kann ich mit diesem Punkt in Samatars Artikel also durchaus sympathisieren, so gilt dies leider ganz und gar nicht für all das, was dann folgt. Sehr schnell stellt sich heraus, dass die Autorin dem Steampunk deshalb so kritisch gegenübersteht, weil er die "Moderne" rehabilitiere. Und die "Moderne" ist offensichtlich ihr großer Buhmann, die Inkarnation des Bösen. Wir alle sollten froh sein, dass wir sie {angeblich} hinter uns gelassen haben, und da kommt der Steampunk einher und versucht uns dazu zu verführen, wieder "modern" zu werden:
This got me thinking about the intensely modern spirit of steampunk--modern in the textbook sense of "Western Europe in the 19th and early 20th centuries." Steampunk, it seems to me, seeks to allow us to be joyfully modern again, to embrace Western modernity's positive aspects, to believe in our DIY ability to make things, and to make things better.
Noch deutlicher wird sie in einer ihrer Antworten in der Kommentarspalte zu ihrem Artikel:
I wonder if you could tell a story that did not celebrate progress (even a story about the Haitian Revolution, which is a great modern/anti-modern example), and have it still be steampunk. If you could tell a completely grim story that ended in despair and death, and have it be steampunk. If you could tell a story in which the triumph of technology, real or fantastical, did nothing but ruin lives, and have it be steampunk.
Lassen wir die Frage, wie die Haitianische Revolution einzuschätzen ist, einmal beiseite.*** Was mich wirklich irritiert, ist, warum irgendjemand eine Geschichte schreiben sollte, in der der Triumph der Technik zu nichts anderem führt als zu Elend und Zerstörung. Und warum eine solche Story irgendwie "fortschrittlicher" oder der geschichtlichen Wahrheit näher sein sollte, als das andere Extrem: die kritiklose Verherrlichung der Industriellen Revolution, wie wir sie in einer Reihe von Steampunkbüchern wohl wirklich antreffen.

Die Problematik beginnt für mich bereits mit der Begrifflichkeit. In meinen Augen ist der Begriff "Moderne" gänzlich ungeeignet, wenn es darum gehen soll, zu verstehen, was sich im 19. und 20. Jahrhundert abgespielt hat. Er umfasst so unterschiedliche Elemente wie die Philosophie der Aufklärung, die Bürger- und Menschenrechte, die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften, Technik und Industrialisierung, den bürokratischen Nationalstaat, den voll entfalteten Kapitalismus, Imperialismus & Kolonialismus, Sozialismus & Marxismus etc. Unbestritten existieren enge Zusammenhänge zwischen diesen Phänomenen, doch indem man sie allesamt unter dem Begriff "Moderne" zusammenfasst, verschleiert man die Natur dieser Beziehungen eher, als dass man sie erhellen würde.
Samatar selbst verwendet die Formulierung "project of modernity", welche sehr schön verdeutlicht, dass diesem Begriff ein idealistisches Geschichtsverständnis zugrundeliegt. Was sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem in Europa und Amerika abgespielt hat, sei demnach im Kern die Umsetzung einer bestimmten Idee gewesen. Genauer gesagt, der Überzeugung, dass wir Menschen kraft unserer Vernunft und der ihr entsprungenen Wissenschaft & Technik in der Lage wären, uns die Natur zu unterwerfen und die Welt nach unseren Wünschen zum Besseren umzugestalten.
Eine solche Betrachtungsweise der "Moderne" stellt für mich nicht bloß die realen kausalen Zusammenhänge auf den Kopf, sie macht es uns auch unmöglich, den widersprüchlichen Charakter aufzudecken, der jeder kulturellen Entwicklung seit der Entstehung von Klassengesellschaften eigen ist. Um Leo Trotzkis Essay Culture and Socialism zu zitieren:
[C]ulture grows out of man's struggle with nature for existence, for the improvements of living conditions, for the increase of his power. But it is on this basis that classes grow as well. In the process of adapting to nature, in the struggle with its hostile forces, human society develops into a complex class organization. It is the class structure of society which most decisively determines the content and form of human history, i.e., its material relations and their ideological reflections. By saying this, we are also saying that historical culture has a class character. [...] But does this then mean that we are against all culture of the past?
Natürlich nicht! Beinah alle bisherige Kultur ist das Produkt von Klassengesellschaften, und sie trägt sehr deutlich die Spuren ihrer Herkunft. Zugleich jedoch ist sie Ausdruck des Bestrebens der Menschheit, sich mehr und mehr von den Fesseln zu befreien, die ihr von der Natur angelegt wurden. Der "triumph of large machines", dem Sofia Samatar so ablehnend gegenübersteht, ist ein sehr schönes Beispiel für diesen widersprüchlichen Charakter der historischen Entwicklung.
Ohne Zweifel bedeutete die Industrielle Revolution für unzählige Menschen in erster Linie physisches und psychisches Elend. Aber war daran die Maschine an sich schuld? Nein! Schuld war das Wirtschaftssystem, in dessen Rahmen sich diese Umwälzung vollzog und notwendigerweise vollziehen musste. Für sich genommen ist die "Maschine" eine Befreierin. Nur durch sie ist es möglich, die gesellschaftliche Produktivität auf ein Niveau anzuheben, das die materielle Grundlage für eine Ordnung abgeben könnte, in der echte Freiheit und Gleichheit herrschen und jeder Mensch die Möglichkeit haben wird, seine individuellen Talente voll zu entfalten.
Noch leben wir nicht in einer solchen Gesellschaft,. aber selbst heute könnte niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat und sein Gehirn zu benutzen versteht, die immens positiven Auswirkungen der Industriellen Revolution leugnen können. Es sei denn, er oder sie würde es vorziehen, unter feudalen Herrschaftsverhältnissen zu leben und mit 30-40 Jahren zu sterben.  

Sofia Samatars Artikel beruht auf postmodernen Ideen, womit ich weniger eine spezifische philosophische Schule {da kenn ich mich im Detail zu wenig aus}, als vielmehr eine allgemeine Weltanschauung meine. Sie glaubt ganz offensichtlich, die "Moderne" sei eigentlich bereits überwunden, und der böse Steampunk wolle uns in sie zurückführen.
Das wirft die Frage auf, inwieweit man tatsächlich behaupten könne, dass wir heute nicht mehr in der "Moderne" leben? Wer dies glaubt, kann unmöglich die materiellen Grundlagen unserer Gesellschaft oder das ökonomische System meinen. Ganz offensichtlich basiert die Weltwirtschaft immer noch auf den Errungenschaften der Industriellen Revolution und ist kapitalistisch organisiert. Die Veränderungen können also ausschließlich ideologischer Natur sein.

Aus gutem Grund spielt der Begriff "Fortschritt" eine so wichtige, und durchweg negativ konnotierte Rolle in Samatars Ausführungen. Sie charakterisiert ihn als "westlich" und verbindet ihn mit den zerstörerischen Auswirkungen des Imperialismus auf die alten Gesellschaften Afrikas.
Selbstverständlich spricht nichts gegen eine kritische Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsgedanken, wie er in der Zeit der Aufklärung formuliert wurde. Seine klassisch-liberale Form, die eine kontinuierliche, stets aufsteigende Entwicklung postuliert hatte, ist spätestens durch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts ganz sicher gründlich widerlegt worden. Doch gibt es daneben auch andere Formen dieses Konzeptes. Marxistisch betrachtet etwa bedeutet Fortschritt zuerst einmal die Entfaltung der Produktivkräfte und damit die Steigerung der Produktivität menschlicher Arbeitskraft, was der Menschheit erlaubt, sich mehr und mehr von ihrer Unterwerfung unter die Naturkräfte zu befreien und zugleich eine immer reichere und komplexere Kultur zu entwickeln. Dieser Prozess verläuft keineswegs kontinuierlich, sondern ist vielmehr durch heftige Widersprüche gekennzeichnet, wozu sowohl zeitweilige Rückschläge als auch radikale Sprünge und Umbrüche gehören. Auch bedeutet der Fortschritt in der Entfaltung der Produktivkräfte nicht automatisch auch einen moralischen Fortschritt. Solange sich dieser Prozess im Rahmen einer auf Klassengegensätzen und Ausbeutung basierenden Ordnung vollzieht, wäre es naiv, anzunehmen, dass er automatisch zu mehr Freiheit und Gleichheit führen würde. Allerdings hätten z.B. die Ideen von politischer Gleichheit, Demokratie und allgemeinen Menschenrechten nicht anders als auf Grundlage des sich entfaltenden Kapitalismus entstehen können. So gesehen beinhaltet der ökonomisch-technische also sehr wohl auch einen politischen und moralischen Fortschritt. Oder genauer gesagt: Er macht diesen überhaupt erst möglich.
Was die Beziehung zwischen Fortschrittsidee und Imperialismus betrifft, um den es Samatar hauptsächlich geht, so stimmt es natürlich, dass die Kolonialmächte die Unterwerfung und Ausbeutung der Völker Afrikas, Asiens und Ozeaniens damit legitimierten, dass sie dazu berufen seien, den "Primitiven" die Segnungen einer "fortschrittlichen" Zivilisation zu bringen. Dennoch ist der Imperialismus kein Kind des Fortschrittsgedankens, sondern das notwendige Produkt der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung. Einmal mehr zeigt sich hier, dass Samatars Gedankengängen ein extrem idealistisches Geschichtsverständnis zugrundeliegt. Statt die realen ökonomischen Triebkräfte des Kolonialismus zu attackieren, beschäftigt sie sich ausschließlich mit dessen historisch bedingter ideologischer Ummäntelung.

Wenn die postmoderne "Linke" den Fortschrittsgedanken über Bord geworfen hat, so ist dies im Grunde nur ein Ausdruck dessen, was Jean-François Lyotard als "das Ende der großen Erzählungen" bezeichnet hat. Und die "Erzählung", um die es dem Guru des Postmodernismus dabei vor allem gegangen war, war der Marxismus gewesen.
Betrachtet man sich die historischen Rahmenbedingungen, unter denen sich diese Philosophie entwickelt hat, so fällt es nicht schwer, ihren sozialen Inhalt zu ergünden. Der Postmodernismus entfaltete sich in Reaktion auf das Scheitern der revolutionären Bestrebungen der 60er und frühen 70er Jahre. Er war in vielem Ausdruck eines Gefühls der Niedergeschlagenheit und Machtlosigkeit in den Reihen der radikalen Intelligenzija. Doch war das nur die eine Seite der Medaille. Den ehrlichen und tief empfundenen Pessimismus eines Arthur Schopenhauer etwa findet man nicht in dieser Philosophie. Vielmehr enthält sie unverkennbar ein Gefühl des "Befreitseins". Und wovon "befreit" fühlten sich viele der "linken" Intellektuellen der späten 70er und der 80er Jahre? Ganz einfach – von der selbstauferlegten Verpflichtung, sich mit der Masse der arbeitenden Bevölkerung zu solidarisieren und gegen den Kapitalismus zu kämpfen. {Das galt in besonders hohem Maße für Frankreich, das eigentliche Geburtsland des Postmodernismus.}
Das "Ende der großen Erzählungen" bedeutete das Ende jeden Versuches, die Gesellschaft in ihrer Totalität zu verstehen; die Auflösung der "Wahrheit" in unzählige subjektive "Narrationen" und "Diskurse"; und damit auch das Ende jedes Bemühens, die existierende Ordnung in ihrer Gesamtheit zu bekämpfen und zu überwinden. Die Vorstellung, die Menschheit sei in der Lage, eine von Ausbeutung und Unterdrückung freie, auf sozialer Gleichheit und Solidarität basierende Gesellschaft zu errichten, wurde zu einem Ausdruck des nun endlich überwundenen irrigen "Fortschrittsglaubens" erklärt und ad acta gelegt.
Im Kern ist der Postmodernismus und die aus ihm erwachsene Philosophie der Identitätspolitik eine Strategie der "radikalen" Mittelklasseintelektuellen, sich mit dem herrschenden System auszusöhnen und zugleich für sich Nischen im akademischen und kulturellen Betrieb zu schaffen, in denen es sich recht angenehm leben lässt, wobei man zugleich auch noch das moralisch erhebende Gefühl genießen kann, Fürsprecher unterdrückter und marginalisierter Gruppen zu sein.

Damit will ich keineswegs gesagt haben, dass es sich bei den Anhängern der Identitätspolitik ausnahmslos {oder auch nur in ihrer Mehrheit} um egoistische Heuchler handeln würde, denen es in Wahrheit nur um ihre materiellen Privilegien ginge. Das Verführerische an dieser politischen Philosophie ist es ja gerade, dass sie die idealistischen Bestrebungen von Menschen anzusprechen vermag, die ernsthaft wünschen, gegen die Ungerechtigkeiten der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung vorzugehen.
So bin ich überzeugt davon, dass Sofia Samatar von einem ehrlichen Abscheu vor dem Kolonialismus und seinen kulturellen Ausdrucksformen beseelt ist. Das Problem ist, dass ihre Weltanschauung einer realen Überwindung des Imperialismus im Wege steht. Denn selbiger ist nicht Teil einer vergangenen Epoche (der "Moderne"), sondern eine aktuelle Realität. Er basiert nicht auf irgendwelchen Ideen (dem "westlichen Fortschrittsgedanken"), sondern auf materiellen Grundlagen. Er besteht in erster Linie nicht aus kulturellen Phänomenen, sondern aus ökonomischen Ausbeutungs- und politischen Abhängigkeitsverhältnissen. Um ihn zu überwinden, müsste der Kapitalismus überwunden werden. Und dies wäre nur auf der von der industriellen Entwicklung der letzten Jahrhunderte gelegten Basis möglich. 
Samatars Überzeugungen verweisen jedoch in die genau entgegengesetzte Richtung. Ihre Aversion gegen den "Triumph der großen Maschine" führt sie beinah zwangsläufig zu einer Idealisierung vormoderner Gesellschaftsformen.  Sie schreibt über den Inhalt von Virtuoso:
Jnembi Osse's job is making guns. She subverts the system by making something else: a printing press.
Steampunk expands, becomes "diverse," but what sort of diversity is this? Guns and writing.
Die Erfindung von Gewehr und Druckerpresse stellte einen objektiven Fortschritt in der Entwicklung der Menschheitskultur dar, unabhängig davon, wo sie zum ersten Mal gemacht wurde. Samatar kann dies nicht so sehen, da ja bereits die Idee "Fortschritt" für sie ein "westliches" Konstrukt ist. Wenn eine Steampunk-Geschichte die Erfindung dieser Kulturgüter nach Afrika verlegt, ist das für sie darum nichts anderes als "colonial mimicry".**** Echte "Diversität" würde für sie offenbar voraussetzen, dass wir den bloßen Gedanken, Technik sei etwas positives, verwerfen. Im Umkehrschluss fordert sie uns auf, die "ökologischen" und unspezifizierten "anderen" Vorzüge vormoderner schwarzafrikanischer Gesellschaften mit ihrer geringen Bevölkerungsdichte {und ihrer extrem primitiven Technologie} schätzen zu lernen.*****

Doch es ist nicht allein diese Technikfeindlichkeit und die postmoderne Diffamierung des Fortschrittsbegriffs, die Sofia Samatars Artikel für mich so problematisch machen. Hinzu kommt der anti-universalistische Geist; das für Anhängerinnen der Identitätspolitik so typische Beharren auf äußerst dubiosen Vorstellungen von kultureller "Reinheit" und "Authentizität"; das Einteilen von Ideen, Techniken und Kulturgütern nach "westlich" und "nicht-westlich" {in diesem Falle "afrikanisch"}; das Zementieren von Grenzen statt dem Niederreißen von Grenzen. Ich kann in diesem Bestreben, die Menschheit in festgefügte, einander entgegengesetzte Gruppen aufzuteilen, nichts wirklich positives erkennen. Was wir heute brauchen ist genau das Gegenteil: Eine globale, internationalistische Perspektive.
  


* Vgl. vor allem: The Sand Diviner, Writing a Qasida in English & Obsessed with the Kharja Controversy.
 ** "She has drunk ouzo and water. She has planted a bomb in a public garden. She has bathed nude in the Arno. She has marched and shouted. She has been jailed."
*** Als Einführung in dieses äußerst spannende Kapitel der Geschichte möchte ich am Rande aber doch C.L.R. James' Klassiker The Black Jacobins empfehlen.
**** Weder Schießpulver noch Buchdruck sind "westliche" Erfindungen, aber das tut hier nichts zur Sache. Erstaunlich finde ich allerdings, dass Samatars Formulierung den Eindruck erweckt, sie halte auch die Schrift für "unafrikanisch". Dabei existierten im vorkolonialen Afrika sehr wohl eine Reihe von Schriftkulturen. 
***** Nicht, dass es im vorkolonialen Schwarzafrika keine anderen Gesellschaftsformen gegeben hätte. Doch diese sind Samatar aufgrund ihrer hierarchischen, staatlich-zentralisierten Herrschaftsstrukturen offenbar bereits irgendwie suspekt.

Samstag, 15. März 2014

"Star Wars" - Bullshit - News der besonderen Art

Ein Artikel über Star Wars VII, der mit den Worten beginnt "Sources say ...". {Welche Quellen genau steht da natürlich nicht.} – Eigentlich Grund genug, gar nicht erst weiterzulesen. 

Gibt es derzeit irgendetwas Anödenderes in den phantastisch-geekig-cineastischen Gefilden des Netzes als irgendwelche Bullshit-News über JJ Abrams' kommenden Beitrag zum Universum der Sternenkrieger? Wer nimmt all diesen Blödsinn über "Insider-Informationen", angebliche Casting-Listen und ähnlichen Scheiß eigentlich noch ernst? Wozu werden diese nichtssagenden und peinlichen Beispiele von angeblichem "Netz-Journalismus" runtergetippt? Ist das irgendeine postmoderne Form von Humor, die ich nicht kapiere, weil ich dafür inzwischen zu alt bin? Oder ist das Fandom tatsächlich ein hirnloser Mob, der begeistert alles verschlingt, was mit dem Label seines Lieblingsfranchises versehen wurde? Ich möchte das eigentlich lieber nicht glauben ...

Wie dem auch sei, diesen Artikel des Hollywood Reporter finde ich trotzdem ganz interessant. Zwar ist mir im Grunde völlig egal, wer in Star Wars VII zuguterletzt tatsächlich mitwirken wird, aber das Gerücht, Lupita Nyongo'o könne die Rolle einer Nachfahrin von Obi-Wan Kenobi übernehmen, finde ich aus völlig anderen Gründen dennoch recht faszinierend.
Schon lange vor den kürzlich zelebrierten Oscar-Verleihungen hatte die offiziöse Kritikergemeinde 12 Years a Slave zu einem modernen "Klassiker" erklärt. Meine Ansicht über Steve McQueens Film ist zwar eine sehr viel weniger positive, doch das tut hier nichts zur Sache. Was Nyongo'o angeht, bedeutete dies jedenfalls, dass sie in Hollywood zu einer äußerst gefragten Schauspielerin geworden war. So gesehen wäre es nicht gar so erstaunlich, wenn sich Abrams um ihre Mitarbeit an Star Wars VII bemühen würde. Doch fällt es mir schwer, den Verdacht loszuwerden, dass dem Projekt damit auch ein "progressiveres" Antlitz verliehen werden soll. Ist 12 Years a Slave doch vor allem in liberalen, dem offiziellen "Antirassismus" huldigenden Kreisen besonders gut angekommen. Aber würde Lupita Nyongo'o in einer Hauptrolle Star Wars VII tatsächlich zu einer "demokratischeren" Geschichte machen?
Kurz gesagt: Nein! Sicher wäre es erfreulich, wenn wir in kommenden Star Wars - Flicks mehr farbige Protagonisten und weniger rassistische Stereotypen als in George Lucas'  Filmen zu sehen bekommen würden. Aber leider liegt dem ganzen Star Wars - Universum nun einmal ein gänzlich undemokratisches Konzept zu Grunde. Die Jedi sind waschechte Aristokraten mit allem was dazu gehört. Sie stammen aus besonders bevorzugten Blutlinien und verfügen über Kräfte, von denen der simple Pöbel bloß träumen kann. Sie sind eine Kreuzung aus Weltraum-Samurais, Zen-Mönchen und X-Men. Ihre bloße Existenz macht es unmöglich, Star Wars zu einer Geschichte mit "egalitären" Werten umzuschreiben. Und dabei ist es völlig egal, welche Hautfarbe diese von "der Macht" auserwählten Aristos haben. Nur blinde Jünger & Jüngerinnen der modischen Identitätspolitik könnten glauben, dass die positive Darstellung eines hierarchischen Systems dadurch akzeptabler würde, dass wir in den führenden Rängen ein paar mehr Schwarze und Frauen zu sehen bekommen. Mit wirklich demokratischen Idealen hat das nichts, aber auch gar nichts gemein.

Ich kann bloß noch einmal wiederholen, Star Wars hätte mit Return of the Jedi enden sollen!

Strandgut der Woche

Montag, 10. März 2014

To Boldly Go Where Everyone Has Gone Before?

Ich lausche in letzter Zeit mit großem Vergnügen regelmäßig dem Podcast Trekabout von Eric Brasure und Richard Goodness, in dem wir die abenteuerliche Reise eines Trekkies und eines Uneingeweihten durch sämtliche Star Trek - Serien und - Filme miterleben dürfen. Das hat mich u.a. dazu gebracht, mir nach langer Zeit wieder einmal ein paar Gedanken über das Franchise und seine mögliche Zukunft zu machen.

Meine einstmals sehr intensive Beziehung zu Star Trek ging irgendwann während der ersten Staffel von Enterprise in die Brüche. {Womit ich vermutlich nicht der einzige bin.} Und auch wenn ich mir später immer mal wieder einzelne Episoden von TOS und TNG angeschaut habe, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, war ich am weiteren Schicksal des Franchises im Grunde nicht mehr sonderlich interessiert. Wie ich hier schon ein paar mal habe anklingen lassen, war ich mehr oder weniger überzeugt davon, dass Star Trek am Ende seiner Entwicklung angekommen und jeder mögliche Wiederbelebungsversuch hoffnungslos war. Die Kinofilme von JJ Abrams {vor allem Into Darkness} bestärkten mich nur weiter in dieser Überzeugung.
Trekabout {und insbesondere Eric Brasures Gespräch mit Trekkie Feminist Jarrah Hodge} hat mich zwar nicht von meinem Skeptizismus geheilt, mir aber doch nahegebracht, dass die Idee einer weiteren Serie etwas durchaus reizvolles an sich haben könnte. Mit anderen Worten, ich bin nicht mehr sooo sicher, dass das Potential des Franchises völlig ausgeschöpft ist.
Aufgrund dieses vorsichtigen Sinneswandels erwachte in mir auch das Interesse an dem, was sich nach 2005 {dem Ende von Enterprise} im Franchise so getan hat. Und damit meine ich jetzt nicht die JJ Abrams - Filme, sondern in erster Linie die vielfältigen Fanproduktionen, die so durchs Netz geistern, vor allem Star Trek Renegades.
Hier versucht man einen via Kickstarter & Indiegogo finanzierten Pilotfilm für eine neue Serie auf die Beine zu stellen. An dem Projekt beteiligt sind eine Reihe alter Trek-Veteranen wie Walter Koenig ("Chekov"), Robert Picardo (Voyagers "Doctor") und Tim Russ ("Tuvok"). Letzterer wird auch die Regie übernehmen. Ein Gutteil des Teams hat bereits bei der Produktion des Fanfilms Of Gods and Men (2006-08) zusammengearbeitet. Was jedoch nicht unbedingt als ein gutes Zeichen gelten kann, ist der Streifen {den man sich hier anschauen kann} in vielerlei Hinsicht doch eine echte Katastrophe. Doch dazu ein andermal vielleicht mehr. Was mir wirklich Bauchschmerzen bereitet, ist, dass Star Trek mit Renegades offenbar tief in Grim & Gritty - Territorium vorstoßen soll, was die Produzenten des Films mit Slogans wie "To boldly go where no Trek has gone before" und "This is not your grandfather's Star Trek" als eine nachgerade revolutionäre Idee zu verkaufen versuchen.





Doch ganz gleich, wie emphatisch Tim Russ dies auch als den logischen nächsten Schritt in der Entwicklung des Franchises anpreisen mag, ich bezweifle, dass ich eine Trek-Serie sehen will, die von ihren Machern in spe so beschrieben wird: "Renegades will be a departure from previous Treks – delving into the dark side of the human psyche, pushing our heroes to their limits, forcing them to carry out actions that they never would have as Starfleet officers. The rules have changed, and they realize they might be the last hope to save the Federation."
Ist dies wirklich die Richtung, in der sich Star Trek weiterentwickeln sollte? Und besteht überhaupt eine realistische Chance für die Wiederbelebung des Franchises, wenn von dieser Position ausgegangen wird?

An dieser Stelle scheint es mir notwendig, kurz darzulegen, wie ich die bisherige Entwicklung des Franchises sehe.
The Original Series (1966-69) zeichnete sich durch einen vielleicht etwas naiv wirkenden, aber doch sehr sympathischen Optimismus aus, wie er für die 60er Jahre typisch gewesen sein mag. Die Serie macht sich kaum Gedanken darüber, wie die Gesellschaft der Föderation organisiert ist, aber sie vermittelt das Gefühl, dass wir Menschen das Potential besitzen, über uns hinauszuwachsen, und dass Fortschritt, Neugier und Toleranz die Werte sind, an denen wir uns orientieren sollten.
Mit The Next Generation (1987-94) verstärkte sich dieses utopische Moment noch einmal sehr deutlich. Auch wenn Roddenberry nie versucht hat, im Detail zu beschreiben, wie seine ideale Gesellschaft aufgebaut ist und funktioniert, gibt es doch genug Anzeichen dafür, dass wir in ihr eine quasisozialistische Post-Scarcity-Society sehen sollen. Von allen Trek-Serien steht TNG meinem Herzen am nächsten, was nicht bedeutet, dass ich die Mängel nicht sehen würde.Und damit meine ich nicht bloß die zum Teil unterirdischen Episoden, mit denen uns vor allem die ersten beiden Staffeln beglücken. TNGs utopische Vision ist letztenendes zu simplistisch, zu wenig durchdacht, etwas steril und beinah ein Bisschen spießig. Roddenberrys ausdrückliche Anweisung, dass es keine ernsthaften Konflikte unter den Crew-Mitgliedern geben dürfe, war bloß ein besonders augenfälliges Anzeichen für diese konzeptuelle Schwäche, die auch eine einschränkende Wirkung auf die Möglichkeiten des Geschichtenerzählens ausüben musste.
Eine Kurskorrektur war nötig, und Deep Space Nine (1993-99) vollzog sie. Objektiv betrachtet die wohl beste der Serien, stellt DS9 in vielerlei Hinsicht eine Art Dekonstruktion des alten Konzepts von Star Trek dar. Das Positive daran war, dass dem Franchise damit etwas mehr echtes Leben eingehaucht wurde. Zugleich jedoch hinterließ der historische Kontext, in dem sich diese Entwicklung vollzog, sehr deutliche und wenig erfreuliche Spuren in der Serie. Star Trek war immer auch Ausdruck des gerade vorherrschenden Denkens in der "liberalen" amerikanischen Mittelklasse gewesen. Und in diesem Milieu vollzog sich zu Beginn der 90er Jahre ein massiver Rechtsruck. Nach dem Untergang der Sowjetunion liefen ehemalige "Linke" scharenweise ins Lager der herrschenden Elite über. Am deutlichsten zeigte sich dies vielleicht im Zusammenhang mit dem sog. "humanitären Interventionismus", wie er zum ersten Mal in Somalia und dann in Jugoslawien praktiziert wurde. Einstige Pazifisten und "Antiimperialisten" gerierten sich dabei nicht selten als die blutdürstigsten Kriegstreiber. DS9 ist sehr deutlich ein Produkt dieser Zeit. Brutal gesagt ist die Serie in vielem Ausdruck eines Kniefalls der "liberalen" Intelligenzija vor Militarismus, Markt und Religion.
Dem folgte mit Voyager (1995-2001) der wenig durchdachte Versuch, in gewisser Weise in die Welt von TNG zurückzukehren. Zwar halte ich die Serie nicht für soooo schlecht, wie oft behauptet wird, aber sie demonstriert doch sehr eindringlich, dass eine simple Rückkehr in altgewohnte Gefilde keine lebensfähige Option darstellte. Es hatte gute Gründe für die Entstehung von DS9 gegeben. Diese ganz einfach zu ignorieren, musste Konsequenzen nach sich ziehen. Und so zeichnet sich Voyager vor allem durch immer deutlichere Anzeichen innerer Erschöpfung aus. Alle Versuche, diesem Trend  mit Hilfe eines massiven Einsatzes von Borg-Kuben und einer sexy Drone in silbernem Catsuit entgegenzuwirken, waren von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Und dann kam Enterprise (2001-05) ... Oh Mann, was soll ich dazu sagen?! Ich habe nicht viel mehr als ein gutes Viertel der Serie gesehen, aber nichts, was ich über sie gehört oder gelesen habe, lässt mich denken, dass mein Eindruck verfehlt gewesen wäre: Enterprise stellt in jeder nur erdenklichen Hinsicht einen massiven Rückschritt dar, und der frühe Tod der Serie war wohlverdient.

War damit zugleich auch das endgültige Urteil über das Franchise gefällt? Hatten Voyager und Enterprise gemeinsam bewiesen, dass es sich nicht mehr weiterentwickeln konnte? – Vieles spricht in meinen Augen dafür, dass dies tatsächlich der Fall gewesen ist. Auch wenn mich das keineswegs glücklich stimmt, bin ich doch nach wie vor ein großer Fan von Star Trek. Halte ich den möglichen Versuch einer Wiederbelebung in jedem Fall für aussichtslos? – Nein! Aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass unter den momentan vorherrschenden kulturellen, intellektuellen und politischen Verhältnissen die dafür nötigen Voraussetzungen geschaffen werden könnten. Star Trek hätte in meinen Augen nur dann eine Zukunft, wenn das Franchise einerseits zum humanistischen Optimismus seiner Ursprünge zurückkehren und andererseits die Lehren aus TNG und DS9 ziehen und seine utopische Vision einer besseren Zukunft realistischer, komplexer, kritischer und lebendiger gestalten würde, als dies in der Ära Gene Roddenberrys möglich gewesen war.

Das Renegades - Projekt schlägt jedoch leider eine völlig andere Richtung ein.
Ehrlich gesagt, kann ich nicht recht verstehen, was in den Köpfen seiner Initiatoren vor sich gegangen ist. Welchen Sinn macht es, versuchen zu wollen, Star Trek nach dem Vorbild des düster-misanthropen Pseudorealismus à la Battlestar Galactica umzugestalten? Damit würde man alles über Bord werfen, was die Individualität des Franchises ausmacht. Heraus käme nichts originelles, wie Tim Russ und sein Team scheinbar glauben, sondern bloß die blasse Kopie eines nicht mehr sonderlich neuen Modells. Von Fragen der Vermarktung abgesehen, gibt es keinen vernünftigen Grund, warum man dieses Produkt unter dem Label "Star Trek" verkaufen sollte.
All das wäre nicht halb so frustrierend, wenn es sich bei den Machern von Renegades um irgendwelche Studiobosse und Auftragsschreiber handeln würde, die nichts innerlich mit dem Franchise verbindet und die bloß den Vorgaben ihrer Marktforscher folgen. Das für mich erschütternde an dem Projekt ist, dass ich es nicht als die Schöpfung seelenloser Profitjäger abtun kann. Eine nicht unbedeutende Anzahl von Trekkies wünscht sich offensichtlich in der Tat, dass ihr Lieblings-Franchise genau diesen Weg einschlagen sollte. Immerhin zeichnet sich auch die Welt der scheinbar recht erfolgreichen Fan-Serie Hidden Frontier vor allem durch nicht enden wollende kriegerische Auseinandersetzungen und andere wenig optimistische Züge aus. Diese Entwicklung stimmt mich nicht nur traurig, sie dämpft auch massiv meine ohnehin nicht großen Hoffnungen auf eine Wiedergeburt von Star Trek, die mitzuerleben sich lohnen würde.