"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Samstag, 9. November 2024

Sonjas letztes Abenteuer

Als ich mich 2022 etwas intensiver mit Richard L. Tierney und seinen Simon of Gitta - Geschichten beschäftigte (1 * 2 * 3), besorgte ich mir in diesem Zusammenhang auch gleich die sechs Red Sonja - Romane, die dieser Anfang der 80er Jahre zusammen mit seinem Kumpel David C. Smith geschrieben hatte. In einem Anlauf durchgelesen habe ich sie freilich nicht. Nur den (nicht wirklich einladenden) Auftakt The Ring of Ikribu (Der Ring von Ikribu) und Band 2 Demon Night (Die Nacht der Dämonen) habe ich mir damals unmittelbar vorgenommen. Ein Jahr später griff ich dann spontan zu When Hell Laughs (Die Hölle lacht) und war angenehm überrascht von der Lektüre. Dieser Eindruck wurde durch Band 4 Endithor's Daughter (Endithors Tochter) noch weiter verstärkt. Der Anfang von Against the Prince of Hell (Der Prinz der Hölle) war dann allerdings ziemlich ernüchternd (milde ausgedrückt) und ich muss gestehen, dass ich das Buch bis heute nicht fertiggelesen habe. Stattdessen nun also Star of Doom (Der Stern des Untergangs).
 
Bei den Heyne-Ausgaben sind die Coverillustrationen von Boris Vallejo aus irgendwelchen Gründen etwas durcheinander geraten. Bei den Ace-Büchern gehörte die hier zu Against the Prince of Hell.
 
Um's gleich vorweg zu sagen, das Buch hat mich mit gemischten Gefühlen zurückgelassen.
 
Die Herangehensweise an die Figur Red Sonja lässt sich grob in zwei Hauptarten unterteilen. Auf der einen Seite steht die eher erdige Variante der umherstreifenden Glücksritterin, die sich ab und an als Söldnerin verdingt, aber eben so gerne in wüsten Schenken Männer unter den Tisch trinkt, um tagsdarauf in irgendwelche Paläste oder Tempel einzusteigen und Könige und Priester um ihre Schätze zu erleichtern. Auf der anderen die eher "mythische", in der Sonja als irgendwie "Auserwählte" erscheint, die sich mit Göttern und Halbgöttern wie dem (leider oft furchtbar langweiligen) "Ersatz - Thulsa Doom / Thoth Amon" Kulan Gath herumschlägt (so vor allem in einem Gutteil der älteren Dynamite - Comics).

Nicht selten findet man natürlich auch Mischformen aus beidem. In den Romanen überwiegt oft die eine oder andere Seite. Und vermutlich wird es niemanden wundern, dass meine klaren Favoriten (Die Hölle lacht und Endithors Tochter) eher der erdigen Variante zuneigen. Auch vermute ich, dass in diesem speziellen Fall die beiden Formen mit den jeweiligen Vorlieben der beiden Autoren parallel gingen. Dabei würde ich David C. Smith eher mit der ersteren identifizieren, hat er in einem Interview mit DMR Books, aus dem ich immer wieder gerne zitiere, "seine" Sonja doch einmal als eine Art Working Class - Heldin beschrieben:  
    
What I am proudest about, regarding the Sonjas, is that I was very aware that we were writing stories about a strong woman character, and I loved that idea. I like strong women; I like intelligent women; those are the types of women who raised me and whom I grew up around, basically country people and working class people, regular folks. They’d been raised during the Great Depression and lived through World War II. My dad and his brothers had fought overseas in wartime. They all knew what the world was made of. This is how I grew up. So I considered Sonja to be the kind of good-looking redhead country woman who could walk into a truck stop, put down as many beers as any guy, beat him at arm wrestling, and kick the ass of any trucker who tried to go too far with her.
Richard L. Tierney seinerseits scheint mir ganz gerne Elemente seiner "düsteren Kosmologie" mit ihren halb cthulhuid, halb gnostisch angehauchten Zügen in die Romane eingeflochten zu haben, wenn auch sicher nie so explizit wie in seinen ureigensten Geschichten um Simon of Gitta oder den Zeitreisenden John Taggart. Dabei wird dann natürlich auch Sonja zu einem "wahren Geist" mit einer besonderen "Bestimmung".

Der Stern des Untergangs beginnt mit einer etwas längeren Vorgeschichte. Irgendwo in den Weiten der Steppe östlich von Brythunien erhebt sich seit Urzeiten eine geheimnisvolle Zikkurat. Als eines Nachts im benachbarten Gebirge ein Meteorit einschlägt, begibt sich eine Gruppe von Zauberern, die in dem gewaltigen Bauwerk leben, unter der Führung ihres Meisters Thotas auf die Suche nach dem "gefallenen Stern". Was sie damit erreichen wollen, bleibt vorerst unklar, aber Bo-ugan, der Hetmann eines der benachbarten Dörfer, hat das deutliche Gefühl, dass hier Böses im Gange ist. Und um das Übel gleich im Keim zu ersticken, organisiert er einen Angriff auf die Zikkurat. Die Attacke wird zwar zurückgeschlagen, doch das Gefecht bildet nur den Auftakt für einen jahrelangen blutigen Konflikt.
Ich fand es recht cool, wie Smith & Tierney beschreiben, wie die zehnjährige Belagerung der Zikkurat das Umland und das Leben der dort ansässigen Menschen von Grund auf verändert. Eine völlig neue Infrastruktur entsteht: Brücken werden geschlagen, ein Ring aus Forts und Außenposten errichtet, Bo-ugans Dorf wächst zu einer kleinen Stadt heran, als immer mehr Krieger und Söldner aus aller Herren Länder herbeiströmen, um die Belagerungsstreitmacht zu verstärken. Die Kämpfe selbst lassen leichte Assoziation zum Grabenkrieg von 1914-18 aufkommen. Unzählige Menschen sterben beim Kampf um ein paar Meter Boden. Ein Ende scheint nicht abzusehen. Was derweil in der Zikkurat geschieht, bleibt nebulös.
 
In dieses Szenario wird nun Red Sonja gestellt. Und gerade dieser Anfangspart hat mir recht gut gefallen, bewegen wir uns dabei doch noch ganz auf "erdigem" Niveau, trotz der offensichtlich überirdischen Bedrohung, die von Thotas und dem "Stern" ausgeht. Aus der Sicht der Söldnerin lernen wir die Routinen von Belagerung und Lagerleben kennen, sehen dabei, wie Sonja sich in dieses Umfeld einfügt, dabei als Frau zwar ohne Zweifel eine Ausnahmeerscheinung ist, von den allermeisten ihrer Kameraden aber dennoch mit Respekt behandelt wird. (Auf den pflichtgemäßen Auftritt einiger typischer herumpöbelnder chauvinistischer Arschlöcher wird zwar nicht verzichtet, doch werden diese eindeutig als unangenehme Ausnahmen dargestellt und wenig später auch schon aus dem Lager geworfen). 
Vor allem aber wird die Figur von Sonjas Kumpel Iatos eingeführt. Als Homosexueller ist der schon etwas ältere Krieger ein vielleicht noch größerer Außenseiter in der Macho-Männer-Gesellschaft der Söldnerhaufen. Er wird als "unabhängiger Geist" beschrieben, "der gleichermaßen Schwertkämpfer und Gelehrter, Tatmensch und Denker" ist. Die Beziehung, die zwischen ihm und Sonja besteht, hat mich an Kapitän Tio aus Die Hölle lacht erinnert, auch wenn sie sicher tiefer geht. Die beiden begegnen sich auf Augenhöhe und pflegen einen angenehm unverkrampften und humorvollen Umgang. Man bekommt sehr schnell das Gefühl, dass sie sich wirklich mögen und sich Gedanken umeinander machen. Leider ähnelt das Schicksal des lebensweisen und zum Philosophieren neigenden Söldners dem des guten Captains, und er verschwindet bereits recht früh aus der Handlung. Wenn auch auf weniger drastische Weise. Ich hätte ihn sehr gerne für das gesamte Abenteuer mit dabei gehabt.
Denn unglücklicherweise verbleibt die Geschichte nur für gut fünfzig Seiten in dieser Umgebung, um dann in eine ziemlich klassische Queste überzugehen. Und damit sind wir wohl gezwungen, uns der Figur des Daron zuzuwenden.
 
Der in der Vorgeschichte noch als reichlich impulsiv und hitzköpfig geschilderte Bo-ugan hat sich in den Jahren der Belagerung offenbar zu einem ebenso fähigen wie umsichtigen und auf seine Art bescheidenen Anführer gewandelt. Als er von der Anwesenheit Sonjas in seiner Truppe erfährt, lässt er sie deshalb umgehend zu sich rufen. Völlig unprätenziös und ohne irgendwelche "Generalsallüren" bittet er die erfahrene Kriegerin um ihren Rat. Tief frustriert davon, immer mehr Soldaten in einen scheinbar sinnlosen Tod zu schicken, sucht er nach einer Möglichkeit, den Krieg mit einem entscheidenden Manöver endlich siegreich beenden zu können. Doch auch Sonja fällt auf die Schnelle keine erfolgversprechende neue Taktik ein. Dafür meldet sich ihr Begleiter Daron zu Wort: Er hätte vielleicht eine Idee, wie dies zu bewerkstelligen wäre. Den genauen Inhalt seines Planes will er jedoch nicht offenlegen. Stattdessen bittet er darum, sich zusammen mit Sonja (und einem weiteren Begleiter) für einige Zeit von der Truppe entfernen zu dürfen, um die mysteriöse "Unterstützung", die ihm vorschwebt, zu organisieren. Bo-ugan willigt ein. Alsbald beginnt damit der Questen-Teil des Romans.
 
Anfangs erfahren wir wenig genaueres über Daron. Der junge Mann hat sich schon vor einiger Zeit mit Sonja zusammengetan und die beiden verbindet offensichtlich ein freundschaftliches Band. Auch scheint es sich bei ihm um einen zu finsteren Grübeleien neigenden Charakter zu handeln. Der Grund dafür wird schnell ersichtlich, nachdem man sich auf die gemeinsame Suche begeben hat. Daron ist der Sohn eines "nicht ganz menschlichen" Magiers, dem er in seinem bewussten Leben jedoch nie begegnet ist. In ihm schlummert deshalb ein magisches Erbe, das er selbst nicht wirklich versteht und das ihn beunruhigt. Sein (ehrlich gesagt ziemlich schwammiger) Plan ist es, nunmehr seinen -- nach allem, was er weiß -- äußerst mächtigen Vater zu suchen. Ob es ihm dabei tatsächlich darum geht, Hilfe für Bo-ugan und die Belagerer zu organisieren, oder ihn eher persönliche Motive antreiben bleibt zweideutig.
 
Bei allem abenteuerlichen Drumherum bildet die Beziehung zwischen Sonja und Daron doch das Herzstück des Romans. Und reden wir nicht lange drum herum: natürlich entwickeln die beiden sehr schnell romantische Gefühle füreinander. Aber keine Angst, es gibt immer noch genug gruselige Sumpfmonster, böse Hexen, dämonische Zauberer, herumwankende Zombies und epische Schlachten. Und wenn ich ehrlich sein soll, so ist dies hier von allem mir bekannten "romantischen Subplots" um Red Sonja aus der Ära vor Gail Simones "Befreiung" der Figur die angenehmste. Oder doch zumindest die am wenigsten unangenehme oder nervige.    
Grund dafür ist vor allem, dass Smith & Tierney für diesen ihren letzten Roman das ganze Ding mit dem "Keuschheitsgelübde" ("Ich gebe mich nur dem Mann hin, der mich im Kampf besiegt hat") kommentarlos über Bord geworfen haben. Was schon recht erstaunlich ist, sollten die Bücher doch ohne Zweifel an die Popularität der 70er Jahre - Comics von Roy Thomas, Clair/Clara Noto & Frank Thorne anknüpfen. Aber Ace Books hatte ihnen ziemliche große Freiheiten im Umgang mit der Figur eingeräumt. Schon in Die Hölle lacht war dabei der Chainmail Bikini (beinah wortwörtlich) über Bord gegangen. Den trug Sonja in den frühen 80ern freilich auch in den Comics wenn überhaupt nur noch selten. Dieser zweite massive Eingriff in die "Lore" ist da schon sehr viel radikaler, und es wundert mich ehrlich gesagt, dass die Autoren damit durchgekommen sind. Meines Wissens nach sind sie damit die einzigen, die etwas derartiges vor Gail Simone gewagt hätten. Wie dem auch sei, auf jeden Fall kommt es dank dessen nicht zur Wiederholung solcher Cringe-Szenen wie des Zweikampfs zwischen Sonja und Olin in Der Ring des Ikribu.
Natürlich ist das Ganze trotzdem eine alles andere als unkomplizierte Beziehung, die nicht mit einem "Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage" abschließt. Zum einen ist da Darons Zauberererbe und sein (vor allem anfangs) mitunter etwas fragwürdiges Benehmen, die es Sonja nicht gerade einfach machen, ihm ganz zu vertrauen und sich ihm zu öffnen. Doch zudem ist die Kriegerin auch in dieser abgewandelten Variante eine Person, die vor gar zu intimen Beziehungen erst einmal zurückschreckt. Dies wird allerdings nicht mit irgendeinem "Eid" begründet, sondern rein psychologisch mit den grausamen Erfahrungen erklärt, die sie in ihrer Vergangenheit machen musste. In diesem Zusammenhang wird zwar auch in Stern des Untergangs ihre Vergewaltigung erwähnt (diesen Teil der "traditionellen" Origin Story sind Smith & Tierney also nicht losgeworden), doch wenigstens erscheint sie dabei nicht als das alles definierende Ereignis von Sonjas Leben, das aus der "unschuldigen" jungen Frau die "starke" Kämpferin gemacht habe, wie dies unglücklicherweise vor gar nicht so langer Zeit noch einmal in The Ballad of the Red Goddess von Roy Thomas und Esteban Maroto geschehen ist.* Die Art, in der die Vergewaltigung erwähnt wird (und sie wird in der Tat nur erwähnt), macht sie vielmehr zu einem Teil all der Gewalt und Grausamkeit, die den Blick unserer Heldin auf die Welt geprägt haben. Die Gefahr, die daraus erwächst, charakterisiert Iatos am Anfang der Geschichte in einem Gespräch mit seiner Freundin so:
Was ist, wenn du Schläge erwartest und statt dessen als nächstes Musik hörst? Wenn du Schläge erwartest, reagierst du auf Musik vielleicht so wie auf einen Schlag. Wessen Schuld ist das? Wenn du unter Feinden aufgewachsen bist, hältst du jeden für einen Feind. Wenn du daran gewöhnt bist, ein Messer zum Töten zu verwenden, wie kannst du dir dann beibringen, dass es auch zum Brotschneiden verwendet werden kann -- oder um ein wundervolles Kunstwerk aus einem Stück Holz zu schnitzen?
Sonjas Einzelgängerinnentum, die Schwierigkeiten, die sie damit hat, sich anderen Menschen zu öffnen und Bindungen einzugehen, erhält damit zumindest eine psychologisch plausible Begründung. Und wir sollen Stern des Untergangs wohl auch als eine Erzählung darüber lesen, wie es ihr unter viel Mühen erstmals gelingt, diese Isolation aufzubrechen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Geschichte in dieser Form gebraucht hätte, aber das ist mehr eine persönliche Geschmacksfrage.
 
Allerdings finden sich die anfang beschriebenen zwei Herangehensweisen auch in der Darstellung der Beziehung zwischen Sonja und Daron. Die beiden sind nicht einfach bloß zwei Menschen, die sich ineinander verlieben, sondern zwei "wahre Seelen", die über Äonen miteinander verbunden sind und sich im Ablauf unzähliger Wiedergeburten immer wieder finden und verlieren. Für diese Offenbarung ist der alte Magier Ban-Itos verantwortlich, den sie im Laufe ihrer Queste befreien und der sich ihnen im Kampf gegen Thotas anschließt. Diese mystische Überhöhung einer zwischenmenschlichen Beziehung trägt recht deutlich die Handschrift von Richard L. Tierney. Ganz genauso verfährt er in seinen Simon of Gitta - Geschichten. Dort hatte mich das nicht groß gestört, aber hier wirkt es auf mich irgendwie so, als werde damit der Beziehung etwas von ihrer Menschlichkeit entzogen. 
 
Je länger die Geschichte dauert, desto mehr überwiegt jene Sichtweise, die in Sonja nicht einfach eine Abenteurerin, sondern eine "Heldin mit Bestimmung" sieht. Zu diesem Zweck wird sogar die mysteriöse "Göttererscheinung" ("Mann-Frau-Wesen-Gott-Göttin-Geschick") aus Roy Thomas' ursprünglicher "Origin Story" The Day of the Sword erneut heraufbeschworen. Deren wahre Natur war in den alten Comics meines Wissens nach nie hundertprozentig geklärt worden. Hier nun wird sie von Ban-Itos als eine Manifestation von Sonjas eigenem "wahren/metaphysischen Ich" interpretiert. Das finde ich zwar minimal befriedigender als den Göttinnenschmus, der zu Beginn der Dynamite - Ära eine Zeit lang populär werden sollte, aber ich hätte auf diese Art mystischer Zutaten auch gut verzichten können.
 
Ebenfalls auf Tierney zurückgehen dürfte die wahre Natur des "Sterns", die einmal mehr von Ban-Itos enthüllt wird. Der vermeintliche Meteorit ist in Wirklichkeit ein Ajar-Alazwat, "eine der Kreaturen der Alten Götter, die die Kraft aller leidenden Lebewesen anziehen und sie ihren Herren weiterleiten". Das ist ein direkter Bezug auf Tierneys "düstere Kosmologie", wie sie besonders ausführlich in der Simon of Gitta - Geschichte The Throne of Achamoth beschrieben wird, in der der Held während einer Astralreise die unterschiedlichen Planetensphären durchwandert und dabei die in den Himmelskörpern hausenden "Archonten" beobachtet, böse "Untergötter", deren Aufgabe es ist, die durch Leid und Schmerz freigesetzten Energien der Erdbewohner aufzufangen und an die "Primal Gods" (die "Lords of Pain") weiterzuleiten, die sich von ihnen ernähren. Dieser kosmologische Hintergrund spielt in Der Stern des Untergangs freilich keine zentrale Rolle. Der Ajar-Alazwat erscheint hier im Grunde als eine Art cthulhuider Großer Alter, den Thotas in seiner Hybris an sich zu ketten versucht hat, um seine Macht auszunutzen. Mit verheerenden Folgen für alle Beteiligten (und potenziell die gesamte Welt).
 
Wie inzwischen wohl deutlich erkennbar sein sollte, besteht Ban-Itos' Aufgabe vor allem darin, den Experten fürs Mystische und Infodumper Extraordinaire zu geben. Natürlich sorgt er während des finalen Sturms auf die Zikkurat außerdem für zusätzliche magische Firepower. Doch zwischendurch (und vor allem am Ende) schlüpft er darüberhinaus in die Rolle eines väterlichen Freundes für Sonja. Es hätte mir deutlich besser gefallen, wenn die entsprechenden Gespräche (mit der nötigen Anpassung) zwischen Sonja und Iatos stattgefunden hätten. Nicht nur weil ich den schwulen Söldner mag, sondern mehr noch weil deren Beziehung stärker freundschaftlich-ebenbürtig auf mich gewirkt hat. Es gibt zwar ein paar Szenen, die das Gravitätische der Ban-Itos - Figur etwas auflockern, aber irgendwie bleibt er halt doch der archetypische "alte Weise".
 
Nicht unerwähnt bleiben darf außerdem die etwas problematische Gestalt des Urrim. Der junge Soldat ist aufgrund einer schweren Kopfverletzung "schwachsinnig" geworden. Warum Daron ihn unbedingt auf die Queste mitschleppen will, ist Sonja anfangs nicht klar, doch entwickelt sie schon bald starke Beschützerinneninstinkte gegenüber ihrem oft hilflosen und furchterfüllten Reisegefährten. Doch als man die Wohnstatt der Sumpfhexe Osylla, einer alten Bekannten von Darons Vater, erreicht, wird der äußerst makabre Grund für Urrims Anwesenheit sehr schnell klar. Daron ahnte schon im Voraus, dass es zur Vollendung der Queste möglicherweise ein Menschenopfer brauchen werde. Und Urrims Leben sei doch in seinem jetzigen Zustand ohnehin "wertlos", seine Ermordung geradezu ein "Akt der Erlösung"! An der Stelle musste ich denn doch heftig schlucken, ist das doch gruselig nah an Euthanasie und dem Gerede von "nicht lebenswertem Leben"!
Nun ist Sonja zwar angemessen entsetzt von diesem Vorhaben und würde eher die Klinge mit ihrem Gefährten kreuzen als diese Opferung zuzulassen. Auch ist Osylla eindeutig als "böse" gekennzeichnet und Daron befindet sich zu diesem Zeitpunkt möglicherweise noch unter dem Einfluss seines semi-dämonischen "Zauberererbes". Nichts spricht dafür, dass es sich bei der Ermordung Urrims um etwas anderes als eine finstere Tat handelt. Dennoch lässt unsere Heldin das grausige Ritual schließlich geschehen, nachdem sie eine Art "göttliche Vision" erhalten hat. Und an einer späteren Stelle in der Erzählung wird ziemlich klar angedeutet, dass Urrims Seele tatsächlich Befreiung erlangt hat. 
Alles in allem ein etwas unangenehmes Storyelement. Oder doch zumindest eines, das man meiner Ansicht nach etwas anders hätte handhaben müssen. Man hätte vielleicht etwas interessantes daraus machen können, doch nur, wenn die aus pragmatischen Motiven vollbrachte Bluttat andere Konsequenzen für unsere Protagonist*innen nach sich gezogen hätte. Zumindest auf psychologischer Ebene.
 
Wie also lautet mein Fazit zu Der Stern des Untergangs? Meine persönlichen Favoriten bleiben ganz ohne Frage Die Hölle lacht und Endithors Tochter, daran hat sich nichts geändert. Ich mag Red Sonja halt vor allem als die Glücksritterin mit dem rebellischen Geist. Und die bekommen wir hier höchstens am Anfang kurz zu sehen. Dennoch enthält der Roman sicher die eine oder andere packende Szene oder interessante Idee. Und ich denke, man wird Smith & Tierney zugute halten müssen, dass der Romance-Teil zumindest nicht unangenehm oder cringe-worthy ist. Würde ich das Buch noch einmal lesen? Vermutlich nicht. Aber die kleine Saga um den She-Devil hätte auch einen sehr viel schlechteren Abschluss finden können.
 
 
 
BTW: In nicht ganz zwei Wochen wird nach Jahrzehnten tatsächlich ein neuer Red Sonja - Roman erscheinen. Von niemand anderem geschrieben als von Gail Simone, die damit (so weit ich weiß) ihr Roman-Debüt ablegt! Auch wenn ich sehr gespannt darauf bin, steht allerdings noch nicht fest, ob ich mir die Hardcover-Version von Red Sonja: Consumed besorgen oder doch lieber auf das Softcover warten werde.
     
 
 
                

* Ich halte Rape-Revenge-Stories zwar nicht für grundsätzlich inakzeptabel, aber gerade in der Heroic Fantasy ist dieser Trope inflationär oft verwendet worden. Und wie Jessica Amanda Salmonson schon 1979 in ihrer bahnbrechenden Anthologie Amazons! geschrieben hat: "Ich persönlich finde den Gedanken, dass man Frauen erst einmal vergewaltigen muss, damit sie die Wandlung vom 'Opfer' zur 'Kämpferin' vollziehen können, nicht gerade einnehmend."

Donnerstag, 3. Oktober 2024

Valerie und ihre Woche der Wunder (2)

Im ersten Teil dieses Beitrags war es hauptsächlich darum gegangen, in Abgrenzung zu der verbreiteten verklärten Vorstellung der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918-1938) als einer blühenden Demokratie ein etwas kritischeres Bild von der sozialen und politischen Realität zu zeichnen, in deren Kontext sich die Avantgarde der 20er und 30er Jahre entwickelte, zu deren führenden Vertretern Vítězslav Nezval, der Autor von  Valerie a týden divů, gehörte. Nun werden wir uns den künstlerischen Strömungen selbst zuwenden.  

(2)

Ohne die relativ liberale Atmosphäre von Masaryks Republik hätte sich die tschechoslowakische Avantgarde wohl nicht (oder nicht so) entwickeln können. Aber sie war ganz sicher nicht einfach deren kulturelle Begleitmusik, affirmativer Ausdruck ihres sozialen Wesens. Ich glaube, es war der trotzkistische Filmkritiker David Walsh, der in Bezug auf die kulturelle Blüte der Weimarer Republik einmal von einem "Ausdruck des Versprechens einer nicht stattgefundenen Revolution" gesprochen hat. Was ich recht treffend fand. Und was sich mit der nötigen Akzentverschiebung meiner Meinung nach auch auf die Situation in der Tschechoslowakei übertragen lässt.

Womit ich selbstverständlich nicht gesagt haben will, dass alle bedeutenden Künstler*innen der Zeit bewusste politische Revolutionäre gewesen wären. Karel Čapek etwa war ein persönlicher Freund Masaryks, und der Präsident war regelmäßiger Besucher der Pátečníci ("Freitagsrunde"), bei der sich eine ausgewählte Gruppe von Intellektuellen in der Wohnung des Schriftstellers versammelte. Als Publizist wird Čapek manchmal sogar zur sog. "Hrad" ("Burg") gezählt. Dennoch wird man ein Werk wie den famosen Krieg mit den Molchen schwerlich als bürgerlich-affirmativ bezeichnen können. Und wenn er sich 1924 gedrängt fühlte, einen Artikel mit dem Titel Warum ich kein Kommunist bin zu veröffentlichen, dann wohl auch, weil in den kulturellen Kreisen, zu denen er gehörte, starke Sympathien für den Kommunismus existierten.
 
Das furchtbare Gemetzel des Ersten Weltkriegs hatte die tiefe Unmenschlichkeit und innere Fäulnis der herrschenden Ordnung auf denkbar drastische Weise bloßgelegt. Wie es Rosa Luxemburg 1916 am Beginn ihrer "Junius"-Broschüre ausgedrückt hatte:
Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit –, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.
Die Welt, die aus diesem Blutbad hervorgegangen war, konnte unmöglich eine bloße Wiederbelebung der Vorkriegsgesellschaft sein. Und das nicht nur wegen des Zusammenbruchs der K.u.K. - Monarchie. Rückblickend schrieb Karel Teige 1928 in seinem Manifest des Poetismus:
Die ersten Jahre nach dem Weltkrieg, als wir in einer von Grund auf veränderten, von den schwarzen Jahren des Blutvergießens entsetzten, schmerzlich zerrütteten Welt lebten, in den Tagen ständiger Tragödien, in den Tagen politischer und sozialer Erschütterungen, in der zerfleischenden Unsicherheit der Zukunft, in der elektro-dramatischen Spannung der globalen Atmosphäre, in der die Alarmschreie der wirtschaftlichen und kulturellen Krisen und der sozialen Erdbeben, die Drohungen der Revolutionen vor den Toren der Welt tönten, -- diese ersten Jahre nach dem Krieg stellten uns vor ganz neue Verhältnisse und Wirklichkeiten, mitten in eine Welt, die der Welt, in der die vorige Generation gelebt, gearbeitet hatte und alt geworden war, überhaupt nicht ähnlich sah. (1)
Für viele Künstler*innen gerade der jungen Generation war die bürgerliche Republik keine adäquate Antwort auf diese Herausforderungen. Denn repräsentierte und verteidigte sie nicht dasselbe Gesellschaftssystem, das Europa für vier Jahre in ein blutiges Schlachtfeld verwandelt hatte? Zwei Tage nach der Unabhängigkeitserklärung vom 18. Oktober 1918 schrieb der siebzehnjährige Teige in sein Tagebuch:
After all not even the form of the state has been decided yet -- it’s not yet clear, though it almost is, that we’ll have a republic. Obviously I don’t want anything to do with any sort of monarchy. I would betray and undermine that just as I did the previous, hated Austria. But any sort of non-socialist republic is also unacceptable. A republic without socialism is truly no better than despotism. (2)
In ihren Augen brauchte es eine sehr viel fundamentalere Umwälzung. Nicht mehr und nicht weniger als die Errichtung einer neuen Welt. Ähnlich wie die jungen Radikalen auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie blickten viele von ihnen voller Hoffnung und Begeisterung auf das revolutionäre Russland, schien man dort doch dabei zu sein, den Grundstein für eine solche zu legen.
Licht in diesen zerrrütteten Tagen ist die Morgendämmerung der sozialen Revolution. Lenin. Sowjetrussland. Die Dritte Internationale. Sozialismus, das Versprechen neuer Lebensformen. Der rohe Geruch des Umbruchs und der Gärung eröffnet dem schöpferischen Geist neue Perspektiven. (3)
Der Ruf nach einer neuen, "proletarischen" Kultur wurde für viele zur Losung der Stunde. Ihr vielleicht bedeutendster früher Verfechter war der Dichter, Übersetzer und Kritiker Stanislav Kostka Neumann. Ehemals Anarchist und als Herausgeber der Magazine Červen und Kmen ein wichtiger Wegbereiter des Modernismus in der Tschechopslowakei (4), forderte er nun eine parteiliche und leicht zugängliche Kunst im Dienste der Revolution. Im August 1921 wurde unter seiner Mitwirkung eine tschechoslowakische Version des Proletkult gegründet. Wie eng sich diese an ihrem sowjetischen Vorbild orientierte, entzieht sich meiner Kenntnis. (5)
Marta Filipová schreibt über die Ziele der Organisation, die nur einige Jahre Bestand haben sollte:

Neumann’s articles “Proletkult,” published in Červen in September, and “Proletářská kultura” (Proletarian Culture) outlined its main aims. These were: the education of culturally neglected people, and the removal of cultural divides between different classes. The means by which this should be achieved were identifed by Neumann and the Proletkult committee as a foundation of various workers clubs, schools, and universities to engage workers in science, physical education, art, and general education. (6)

Wie groß die Rolle war, die der Begriff der "proletarischen Kultur" auch über kommunistische Kreise hinaus in den Debatten der Zeit spielte, zeigt sich darin, dass Karel Čapek ihm 1925 einen ausführlichen Artikel widmete. Freilich erteilte er darin nicht nur Neumanns Bemühungen, sondern implizit auch denen der linken Avantgarde eine Absage.
 
Anfangs positionierte sich auch die 1920 in Prag gegründete Künstlergruppe Devětsil ("Pestwurz") unter dem Banner der "proletarischen Kultur", vielleicht am deutlichsten repräsentiert von dem jungen Dichter Jiří Wolker. Doch schon sehr bald entwickelte Karel Teige, von Beginn an der führende Theoretiker des Zirkels, eine sehr eigene Interpretation dieses Begriffs, was dann in kürzester Zeit zum völligen Bruch mit ihm führen und Devětsil zum Zentrum der tschechoslowakischen Avantgarde machen sollte. Sein Ende 1922 im zweiten Almanach (Revoluční sborník) der Gruppe veröffentlicher Essay Nové umění proletářské (Neue proletarische Kunst) dokumentiert die Übergangsphase sehr schön.
 
Revoluční sborník Devětsil

Ganz wie S. K. Neumann beruft auch Teige sich auf Anatoli Lunatscharskis Die kulturellen Aufgaben der Arbeiterklasse. Doch die Schrift des bolschewistischen Volkskommissars für Kultur ist sehr allgemein gehalten und gibt kaum Anhaltspunkte dafür, wie die "proletarische" Kunst in Form und Inhalt ausschauen solle. Neumann sah in ihr beinah ausschließlich eine Form der Agitation. Alle ästhetischen Belange hätten dabei gegenüber der Nützlichkeit im revolutionären Kampf zurückzustehen: 
A poem is not a slogan, but if our proletarian poems cannot be as simple, clear, and effective as our slogans, then to the devil with all poetry, to the devil with all art, and let us become good orators for the proletariat rather than good poets for the petite bourgeosie (7)
Teige leugnet nicht die Bedeutung einer solchen Agit-Kunst. Aber er räumt ihr nur einen sehr untergeordneten Platz in seinem Konzept der "proletarischen Kultur" ein.  Sie mit den Karrikaturen und Satiren aus der Ära der Französischen Revolution vergleichend, sieht er in ihr den Ausdruck der unmittelbaren Umbruchszeit. Als solche besitzt sie ihre Berechtigung und er überlässt sie bereitwillig dem Proletkult. Nicht ohne nebenbei ein paar abfällige Bemerkungen über "didaktische, lesebuchhafte kommunistische Sprüche" zu machen, "die in ihrer Formimpotenz und Naivität an ähnliche tendenziöse und dilettantische patriotische Geschichten aus den Zeiten der nationalen Wiedergeburt erinnern." Doch dann erklärt er:
Wir sagen, dass diese Tendenz nicht das wesentliche Kennzeichen des Ganzen der proletarischen Kunst ist, sondern nur ein charakteristischer Zug eines einzigen Zweigs davon.
Teige stellt der "proletarischen Kultur" eine sehr viel größere Aufgabe. Mit ihr sollte es zu einer harmonischen Vereinigung von Kunst und gesellschaftlichem Leben kommen. Die Entwicklung des Kapitalismus habe das zwischen den beiden bestehende Band zerrissen. Die Atomisierung der Gesellschaft und der permanente Konkurrenzkampf, die ihn auszeichnen, machen die Entstehung eines kollektiven Ideals unmöglich, an dem die Kunst sich orientieren könnte. Dies habe mehrere negative Auswirkungen. Zum einen könne sich deshalb kein allumfassender künstlerischer Stil herausbilden, wie ihn frühere Epochen (die Gotik etwa) gekannt hätten:
Die wirtschaftlichen Bedingungen des 19. Jahrhunderts führen die Gesellschaft zum Individualismus, zu jener kriminellen ideologischen Anarchie des Lebens, die den Stil unmöglich macht, das ursprüngliche kollektive Pathos der Empire-zeit auflöst und mit der Stildegeneration die unbarmherzige Pest des historisierenden Eklektizismus in der Architektur verbreitet, die aus den Straßen und Städten ein fertiges Museum abschreckender Beispiele macht.
Zum anderen führe dies zu einer immer stärkeren Isolation der Künstler*innen, die sich aus völlig nachvollziehbaren Gründen gedrängt fühlten, sich selbst und ihr Schaffen im Gegensatz zu der sie umgebenden Gesellschaft zu positionieren. "Denn die bourgeoise Gesellschaft, unästhetisch in ihrem Wesen, gab der Kunst keine positiven Impulse". Alle bisherigen Versuche der Kunst, sich aus dieser Lage zu befreien, hätten in Sackgassen geendet und das Problem eher noch verschärft. Sei es die Hinwendung zum Historismus oder einer romantisch verklärten Vergangenheit. Sei es das formale Experimentieren der sich immer rascher ablösenden Avantgarde-Strömungen des beginnenden 20. Jahrhunderts (Expressionismus, Kubismus, Futurismus). Ihren vielleicht extremsten Ausdruck habe das Dilemma im Symbolismus gefunden, als die Kunst sich selbst zum Produkt metaphysischer, "göttlicher" Kräfte erklärte.
Die Kunst hat vergessen, dass sie für den Zuschauer, für die Welt, für den Menschen auf der Welt ist: weil sie aus dem Leben ausgeschieden wurde, außerhalb der Welt stand, glaubte sie über dem Leben und über der Welt zu stehen
Wenn Teige von der "Tendenziosität" als einem der Hauptmerkmale der "proletarischen" Kunst spricht, meint er damit weniger eine politische Ausrichtung als vielmehr die Überwindung dieser Isolation. Die Kunst soll nicht länger abseits der Welt in eingebildeter Selbstgenügsamkeit verharren, sondern erneut zum Ausdruck eines kollektiven Lebensgefühls werden. Dieses Ziel kann sie freilich nicht aus eigener Kraft realisieren. So wie sie auch nicht aus eigenem Verschulden in ihre aktuelle Lage geraten ist. Erst eine revolutionäre Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird die Grundlage schaffen, auf der sich eine solche neue Kunst in voller Kraft entfalten und schließlich zu einem kollektiven "Stil"; einer "sozialistischen Gotik", heranwachsen kann. Für den Moment kann es nur darum gehen, all jene Tendenzen zu unterstützen, deren Entwicklung zumindest in diese Richtung weist.
 
Ähnlich allumfassende Visionen waren auch dem sowjetischen Proletkult nicht fremd. Schon gar nicht seinem eigentlichen spiritus rector Alexander Bogdanow, dessen philosophische und kulturtheoretische Schriften in der Tschechoslowakei jedoch anscheinend wenig oder gar nicht rezipiert wurden. Was Teiges Sicht allerdings deutlich von vielen vergleichbaren Konzepten unterscheidet, ist die Art, in der er in diesem Kontext an die existierende Populärkultur herangeht. Wenn die neue Kunst im besten Sinne "volkstümlich" sein soll, scheint es angeraten, sich einmal umzuschauen, wovon das Proletariat sich denn tatsächlich angesprochen fühlt, worin seine wirklichen Wünsche und Bedürfnisse bestehen.
Die Erfordernisse, mit denen heute der proletarische Leser und Zuschauer an die Kunst herantreten, liegen klar zutage. Es ist offenbar nicht nur Sehnsucht nach kämpferischen Fanfaren, sondern auch der Wunsch nach einer verständlichen und fesselnden Kunst. Indianer-, Buffalo-Bill-, Nick Carter-, sentimentale Romane, im Kino ein amerikanisches Serial oder eine groteske Chaplinade, die Komödie des Liebhabertheaters, die Jongleure im Varieté, wandernde Sänger, Kunstreiterinnen und Zirkusclowns, das Volksfest, der sonntägliche Fußballkampf, das ist fast alles, womit das Proletariat in seiner überwältigenden Mehrheit kulturell lebt.
Was andere Kritiker als "Schund" oder "Afterkunst" abtaten, ist für Teige wichtiges Anschauungsmaterial, aus dem die neue Kunst so manche Inspiration beziehen könnte. Er leugnet zwar nicht, dass es sich bei den "Dreigroschenheften" oft um "literarische Fabrikarbeit" handelt, aber das sei noch lange kein Grund, "moralisierend" und naserümpfend auf sie herabzuschauen. Denn es gäbe gute Gründe, warum das proletarische Publikum sie in vielen Fällen wohlmeinenden Sozialromanen oder "politisch korrekter" Parteiliteratur vorziehe. Sie sprechen "unsere glühende Sehnsucht nach einem tätigen, vollen, aktiven Leben" an. Hier gelte es anzuknüpfen:
Nicht Erzählungen über das Leben in Not, nicht Bilder von Schächten und Werkstätten, sondern von tropischen, fernen Landschaften. Gedichte eines freien und aktiven Lebens, die dem Arbeiter nicht niederschmetternde Wirklichkeiten näherbringen, sondern Wirklichkeiten und Visionen, die begeistern und stärken! Der Schreiberling der sittenschildernden kommunistischen Kalendergeschichten kann keinen Erfolg erwarten und erregt niemanden: nur die pathetische Geste des Redners, das Ereignis auf der Kinoleinwand, eine Begebenheit aus der unbekannten großartigen Welt, die dereinst eines unserer Heimatländer sein wird, kann das Herz des Proletariers erobern.    
Für Teige ist das kein "Eskapismus" im negativen Sinn, sondern Ausdruck des Verlangens nach einem freien und wahrhaft menschlichen Dasein. Natürlich setzt er die populäre Unterhaltungsliteratur nicht einfach mit "proletarischer" Kunst gleich. Aber er entdeckt in ihr Elemente, die es aufzugreifen und weiterzuentwickeln gelte. Und er sieht darin eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe:
[E]in Gedicht über die Spiegelung der Mondsichel im sehnsüchtigen See oder über das Brüllen des Industrieviertels und den stolzen Flug eines Zweideckers kann man leichter schreiben als einen guten Abenteuerroman, der mit allen schönen Eigenschaften der proskribierten Sensationsliteratur und der anerkannten Literatur auf kulturellem Niveau ausgerüstet wäre.  
[D]eshalb kann die Lehre, die die junge Literatur aus dem Buffalo-Bill-Roman und aus dem Kino davonträgt, ergiebiger und wirksamer sein als jene, die sie sich bei Goethe oder Vrchlický holt. [...] Denn hier sind sie dem Menschen und dem Leben näher. (8)
Im gleichfalls im zweiten Almanach abgedruckten Aufsatz Umění dnes a zítra (Die Kunst von heute und morgen) zählt Teige die Detektiv- und Abenteuergeschichten offenbar zusammen mit so unterschiedlichen Phänomenen des modernen städtischen Lebens wie Kino, Dance-hall, Jazz und Reklameschildern zu den Ausdrucksformen einer "neuen Schönheit" -- sie sind ihm allesamt "faces of modern beauty, this many-headed hydra of modernity and revolution" (9) Von hier führt ein direkter Weg zum späteren Poetismus, wie wir noch sehen werden.
  
In den ersten Jahren seines dichterischen Schaffens hatte Vítězslav Nezval abseits von irgendwelchen Künstlergruppen gestanden. Das galt auch für den Devětsil während seiner "Proletkult-Phase", trotz einer persönlichen Freundschaft mit Jiří Wolker. Ob sich daraus auch eine Abneigung Nezvals gegen die Agit-Kunst ableiten lässt, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Allerdings schreibt er in seinen Memoiren:
Die offizielle junge Literatur der zwanziger Jahre, die sich schlecht oder recht an Stanislav Kostka Neumann anschloss, ließ mich gleichgültig. Mir missfiel der flatternde, halb freie, halb willkürlich gereimte und fast immer rhetorische Vers. (10)
Peter Zusi schreibt in The Integrity of the Avant-Garde: "When Nezval first arrived in Prague he had strong reservations about Devětsil and what he assumed was their dogmatic Marxism and dour concern for the plight of the workers." (11) Eigenen Angaben zufolge war der Dichter zu diesem Zeitpunkt noch glühender Verehrer der anarchistischen Lehren Prjotr Kropotkins.
Es war ein glücklicher Zufall, dass die erste Veranstaltung des Devětsil, zu der er sich im April 1922 von einem Bekannten mitschleppen ließ, genau mit der ästhetischen Wende der Gruppe zusammenfiel:  
Ich weiß nicht mehr, wer mich zu der Veranstaltung mitnahm, vielleicht Zdeněk Kalista, sicher aber jemand, dem daran lag, dass mehr Feinde als Freunde des Devětsil an der Veranstaltung teilnahmen, und der mich schon im voraus bearbeitete, um mich dagegen einzunehmen [...] Wie war ich überrascht, als anstelle reformistischer Phrasen über die Arbeiterschaft, über Schwielen, anstelle von Krokodilstränen über die Not der Armen, der Arbeiter in einer neuen Schönheit erstrahlte, in der Schönheit eines Menschen, dem es bestimmt ist zu siegen und eine neue, lichte Welt aufzubauen. Anstelle jämmerlichen Klagens über die Leiden der Armen erstrahlte vor meinen Augen der schöne und ausgeglichene Träger der Klasse, der sich in der Welt noch nicht von der Schönheit der kindlichen Vorstellungen verabschiedet hat, in der Welt der Volksvergnügungen. Denn auch ich liebte die volkstümliche Exotik der Zirkusse und Lunaparks, denn auch ich liebte Chaplin mehr als die Ibsenschen Dramen, denn auch ich spürte, dass eine Theaterkunst von sozial düsterer Art, wie sie manchen Redakteuren der Zeitung Právo lidu behagte, eine Totengräberkunst war, und ich spürte, dass die neue Kunst frohgemut voranschreiten, dass sie explodieren würde [...] (12)

Wenig später kam es zu einem ersten längeren Treffen Nezvals mit Teige. Nachdem er ihm sein Gedicht Der wundersame Zauberer vorgetragen hatte, war Teige sofort Feuer und Flamme, dasselbe in den zweiten Almanach aufzunehmen. Es dauerte nicht lange, und Nezval war nicht bloß festes Mitglied des Devětsil, sondern spielte zusammen mit Teige auch eine zentrale Rolle bei der weiteren Ausarbeitung der ästhetischen Positionen der Gruppe. Doch dazu später mehr.

In jüngerer Vergangenheit ist verschiedentlich versucht worden, die Avantgarden der 20er und 30er Jahre gerade in Osteuropa einer nationalistischen Ideologie und Mythenbildung dienstbar zu machen. (13) Um so wichtiger scheint es mir, deren internationalistischen Charakter zu betonen.
Für alle Versuche, eine "nationale Volkskultur" zu schaffen, hatte Teige nichts als Spott und Verachtung übrig. Wie er 1921 voll beißender Ironie schrieb:

Folk art [lidové umění]? Ah, yes, our glorious national costumes, which we say the whole world should envy! The regional costumes of Moravia and Slovácko, reveling in reds and a multitude of colors, the essential yield of the artistic labors of the Czechoslovak people! What a feast for the eyes to see national and Slavic flags unfurled and garnishing the facades of tall buildings, otherwise gray and sullen. And at every festive opportunity the wide avenues overflow with gallant lads and fine lasses, for it is customary to display the national consciousness and Hussite nature of our tribe by donning slovácký national dress! (14)

Zusammen mit Jaroslaw Seifert hatte Teige im Sommer 1922 Paris besucht und dabei die Bekanntschaft von Künstlern wie Le Corbusier, Amédée Ozenfant, Fernand Léger, Yvan Goll, Constantin Brâncuși und Man Ray gemacht. Diese Begegnungen stärkten ohne Zweifel seine Überzeugung, Teil einer internationalen Bewegung zu sein. Der zweite Almanach des Devětsil enthielt u.a. auch einen Auszug aus Ilja Ehrenburgs Und sie bewegt sich doch! Von dem russischen Schriftsteller übernahm Teige nicht nur den Slogan "Die neue Kunst hört auf, Kunst zu sein", er teilte auch dessen kosmopolitische Sichtweise:

Die neue Kunst überwindet unwahrscheinliche Hindernisse, sie ist allenthalben von den schäumenden Krämern Europas umgeben, gleichwohl fließt sie in einen internationalen Strom zusammen (...) 
Es kommt die neue Kunst -- sie organisiert das Leben. 
Es gibt sie in allen Ländern. Sie ist international.
Die brüderliche Verbindung zwischen diesen  Wegbereitern ist nicht zufällig. Es handelt sich hier um keinen strategischen Kunstgriff. All diese Versuche beruhen auf einer grundlegenden Überzeugung: der lange Tag hat ein Ende, die Menschheit ist zu einer neuen Kultur herangereift, zu einer neuen Organisation. Die Völker wachsen über die Grenzen hinaus, die sie bisher getrennt haben. Der Akademismus mag französischer oder deutscher Couleur sein. Die junge Kunst ist tot, wenn sie an den Staatsgrenzen halt macht. (15)
Der russische Autor war später auch der (in Nezvals Worten) "erste weltbekannte Schriftsteller, der Prag besuchte und der zu uns gehörte". Der Ehrenburg, der bei diesem Anlass mit den Devětsil-Avantgardisten im Kaffeehaus Julis zusammenhockte, war freilich noch der Ehrenburg des prachtvoll grotesken und respektlosen "Schelmenromans" Julio Jurenito (16), dessen damalige Sichtweise Nezval so beschreibt: "Er verteidigte die Weltkultur, insbesondere die moderne, in ihrer Gesamtheit, ohne Rücksicht auf seine eigenen Anschauungen." (17) Dass derselbe Ehrenburg ein paar Jahre später zu einem giftigen Verleumder des Surrealismus und servilen Speichellecker Stalins werden sollte, gehört zu den bitteren Ironien, die einem allenthalben bei der Beschäftigung mit dieser Ära begegnen.
 

Stärker noch als im zweiten Almanach fand der Internationalismus des Devětsil seinen Ausdruck im wenig später veröffentlichten Sammelband Život ("Leben"). Schon das Titelblatt war zweisprachig (tschechisch / französisch) gestaltet und die Liste der "Mitwirkenden" umfasste u.a. Alexander Archipenko, Tsuguharu Foujita, Man Ray, Modigliani, Ossip Zadkine, Frank Llloyd Wright, Charlie Chaplin, Douglas Fairbanks und Mary Pickford. Was in den meisten Fällen freilich nur bedeutete, dass Fotos ihrer Werke (oder ihrer selbst) in dem Band abgedruckt waren. Mit eigenen Essays waren u.a. Le Corbusier, Ozenfant und erneut Ilja Ehrenburg vertreten. Aus Nezvals Feder stammte das Theaterstück Depeše na kolečkách (Depesche auf Rädern), das er Karel Teige widmete -- "Prag II, Černá 12a, Europa". Europa, nicht Tschechoslowakei! (18) In Design, Layout und Typographie war der Band, der sich als "Feier der neuen Schönheit" verstand, ganz einer avantgardistischen Ästhetik verpflichtet.
 
In mindestens einem Punkt divergierte Teige allerdings sehr deutlich von Leuten wie Ehrenburg. In Neue proletarische Kunst kritisierte er heftig den "zerstörerischen, verblendeten Irrsinn" und die "technische Megalomanie" des (italienischen) Futurismus, in dem er die künstlerische Widerspiegelung der imperialistischen Epoche sah:
Die Kunst, hingerissen von der uneingeschränkten Bewunderung für die äußere Erscheinung der Welt, sang in Bildern, die von der kommerziellen und mechanischen Zivilisation des Allerweltsamerikanismus bereitgestellt wurden, das Lob der Gegenwart, d.h. bewusst oder unbewusst, das Lob des heranreifenden Kapitalismus und Kolonialismus, die den Krieg vorbereiteten. (19)
Der Weltkrieg habe dem auf blutige Weise den Boden entzogen. 
Doch nun gab es auch in der sowjetischen Avantgarde durchaus Strömungen, die einer reichlich kritiklosen Verherrlichung der "Maschine" frönten und zu einem gewissen Gigantismus neigten. Folgerichtig begegnete Teige auch diesen mit gehöriger Skepsis. In Život fand das seinen Ausdruck u.a. in folgendem Vergleich zwischen dem Eiffelturm und Tatlins berühmtem Entwurf eines Monuments für die Dritte Internationale:
The Eiffel Tower, an excellent constructive work, was built for the World Exhibition; it is conceived as a lookout-tower and amusement enterprise of its own type, and certainly it faithfully answers to its task. As a whole it is beautiful, if we overlook the bad taste of the time in some of its details. But why does Tatlin construct a memorial to the Third International with the most varied official halls in the form of a tower? It is a blind imitation and craze for “the machine age,” which thoughtlessly transplants certain accomplishments into a setting in which they have neither place nor purpose. (20)
Das mag verwundern, sollte Karel Teige doch schon bald zu einem der prominentesten (manche würden wohl auch sagen: dogmatischsten) Vertreter des europäischen Konstruktivismus werden. Dennoch ist der Bruch hier nicht gar so groß. Denn auch wenn sich im Zuge dessen seine Einstellung zum "Maschinenzeitalter" natürlich etwas verändern würde, verfiel er dabei nie in eine blinde Anbetung. Was sich vor allem in seinem Bemühen zeigte, mit Poetismus und Konstruktivismus zwei extreme (und auf den ersten Blick gegensätzliche) Pole der Avantgarde dialektisch zu vereinigen.         
 
Doch darauf werden wir im nächsten Teil zurückkommen, in dem wir dann (endlich) nicht nur den Poetismus selbst etwas genauer unter die Lupe nehmen, sondern auch die weitere Entwicklung hin zum Surrealismus nachskizzieren wollen.     
 


(1) Karel Teige: Manifest des Poetismus. In: Ders.: Liquidierung der >Kunst<. Analysen, Manifeste. S. 71.

(2) Zit. nach: Peter Zusi: The Integrity of the Avant-Garde. Karel Teige and the Biography of an Ambition. S. 16.

(3) Karel Teige: Manifest des Poetismus. In: Ders.: Liquidierung der >Kunst<. Analysen, Manifeste. S. 71.

(4) Er veröffentlichte u.a. 1919 Karel Čapeks Übersetzung von Guillaume Apollinaires Zone, die einen tiefgreifenden Einfluss auf die Dichter der Avantgarde hatte, sowie 1921 mit  Milena Jesenskás Übersetzung von Der Heizer die erste tschechische Übertragung einer Kafka-Geschichte.

(5) Im Anschluss an den zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale im August 1920 war in Moskau ein internationales Büro des Proletkult unter Leitung von Anatoli Lunatscharski gegründet worden. Ob dies den Anstoß zur tschechoslowakischen Gründung gegeben hat, weiß ich leider nicht. Für eine ausführlichere Behandlung der sowjetischen Proletkult-Bewegung vgl.: Lynn Mally: Culture of the Future. The Proletkult Movement in Revolutionary Russia.

(6) Marta Filipová: Modernity, History, and Politics in Czech Art. S. 93. 

(7)  Stanislav Kostka Neumann: Umění v sociální revoluci (Art in the Social Revolution; 1923). Zit. nach: Peter A. Zusi: Tendentious Modernism: Karel Teige's Path to Functionalism. S. 3.

(8) Karel Teige: Neue proletarische Kunst. In: Ders.: Liquidierung der >Kunst<. Analysen, Manifeste. S. 20f.; 23f.; 37; 38f.; 39; 39f.

(9) Zit. nach: Derek Sayer: Prague, Capital of the Twentieth Century. A Surrealist History. S. 199.

(10) Vítězslav Nezval: Aus meinem Leben. S. 27.

(11) Peter Zusi: The Integrity of the Avant-Garde. Karel Teige and the Biography of an Ambition. S. 22f.

(12) Vítězslav Nezval: Aus meinem Leben. S. 111. Právo lidu ("Volksrecht") war die Tageszeitung der Sozialdemokratischen Partei, vergleichbar mit dem deutschen Vorwärts.

(13) So etwa in einigen der Beiträge zu der Ausstellung In the Eye of the Storm -- Modernismen in der Ukraine.

(14) Karel Teige: Nové umění a lidová tvorba (The New Art and Popular Artistic Production; 1921). Zit. nach: Peter A. Zusi: Tendentious Modernism: Karel Teige's Path to Functionalism. S. 9.

(15) Ilja Ehrenburg: Und sie bewegt sich doch! S. 31; 35.

(16) Der volle Titel lautet: Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito und seiner Jünger: Monsieur Delhaye, Karl Schmidt, Mister Cool, Alexei Tischin, Ercole Bambucci, Ilja Ehrenburg und des Negers Ayscha in den Tagen des Friedens, des Krieges und der Revolution in Paris, Mexiko, Rom, am Senegal, in Kineschma, Moskau und an anderen Orten, ebenso verschiedene Urteile des Meisters über Pfeifen, über den Tod, über die Liebe, über die Freiheit, über das Schachspiel, das Volk der Juden, Konstruktionen und einige andere Dinge.

(17) Vítězslav Nezval: Aus meinem Leben. S. 216f.  

(18) In seinen 1957/58 geschriebenen Memoiren versuchte Nezval diesen Internationalismus und Kosmopolitismus der Avantgarde im Rückblick zu relativieren und kleinzureden: "Wir waren viel mehr national, als wir dachten oder wünschten." (Aus meinem Leben; S. 149.) Grund dafür dürfte vor allem die Rehabilitierung des Nationalismus durch die Stalinisten gewesen sein, die im Zuge des 2. Weltkriegs in der Tschechoslowakei die Form einer Wiederbelebung panslawistischer Ideen angenommen hatte. Derweil war der "wurzellose Kosmopolitismus" zu einer der verwerflichsten Verfehlungen im stalinistischen Sündenregister erklärt worden, wobei nicht selten antisemitische Untertöne mitschwangen.

(19) Karel Teige: Neue proletarische Kunst. In: Ders.: Liquidierung der >Kunst<. Analysen, Manifeste. S. 21; 28 

(20) Zit. nach: Derek Sayer: Prague, Capital of the Twentieth Century. A Surrealist History. S. 208.

Dienstag, 27. August 2024

Valerie und ihre Woche der Wunder (1)

Wann genau ich zum ersten Mal Jaromil Jireš's Film Valerie a týden divů (Valerie and Her Week of Wonders) gesehen habe, weiß ich nicht mehr, aber es liegt sicher deutlich mehr als fünf Jahre zurück. Jedenfalls schlug mich der surrealistisch anmutende tschechoslowakische "Märchenfilm" aus dem Jahr 1970 umgehend in seinen Bann und er erhielt sofort einen besonderen Platz in meinem Pantheon der "anderen" Fantasyfilme. Auch fühlte ich mich bei der Sichtung an Company of Wolves (1984) von Neil Jordan & Angela Carter sowie an Lemora: A Child's Tale of the Supernatural (1972) von Richard Blackburn erinnert, benutzen doch alle drei die Stilmittel des Unheimlichen und Phantastischen, um das sexuelle Erwachen eines jungen Mädchens darzustellen. 
 
 
Schon damals hatte ich begonnen, einen Blogbeitrag über Valerie zu schreiben, doch wie manch andere auch blieb er schließlich unvollendet liegen, ohne dass es dafür irgendwelche speziellen Gründe gegeben hätte. Als ich mich vor ein paar Monaten daranmachte, dieses Projekt endlich erneut anzugehen, zeigte sich sehr schnell, dass das Ganze weit über eine bloße Filmbesprechung hinauswuchern würde. Weshalb ich mich letztenendes auch dazu entschlossen habe, den Beitrag in (voraussichtlich) vier Teile aufzusplitten. Auch wenn dabei immer die Gefahr besteht, dass die Fertigstellung und Veröffentlichung des Ganzen sich über Monate hinziehen kann. 
 
Das Drehbuch von Ester Krumbachová und Jaromil Jireš basiert auf dem gleichnamigen, 1935 geschriebenen (aber erst 1945 veröffentlichten) Roman von Vítězslav Nezval. Nezval war einer der führenden Vertreter der tschechoslowakischen Avantgarde der 20er und 30er Jahre. Als er Valerie schrieb, war er Mitglied der Surrealistischen Gruppe, doch war dies nur eine Etappe auf einem langen Entwicklungsweg. Zusammen mit Karel Teige war er in den 20ern vor allem einer der führenden Köpfe der Künstlergruppe Devětsil ("Pestwurz") und der mit ihr verbundenen Strömung des Poetismus gewesen.
 
Schon lange bevor ich mir schließlich eine englische Übersetzung von Valerie a týden divů besorgte (eine deutschsprachige scheint es nicht zu geben.*), war klar, dass ich da in ein sehr tiefes Kaninchenloch gestolpert war. 
Ich hatte immer schon ein Faible für die Avantgarde-Strömungen der Zwischenkriegszeit. In all ihrer Komplexität, Vielgestaltigkeit, teilweise auch Widersprüchlichkeit waren sie Produkt einer Ära heftigster gesellschaftlicher Kämpfe und Umbrüche, als Revolution keine ferne Zukunftsperspektive, sondern eine aktuelle Realität war, und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft kein utopischer Traum, sondern eine unmittelbar bevorstehende Aufgabe zu sein schien. Jede erneute Beschäftigung mit ihnen weckt zugleich Faszination und Frustration in mir. Da ist einerseits die beeindruckende und inspirierende Weite und Leidenschaftlichkeit der Vision. Doch andererseits muss man jedesmal miterleben, wie diese schließlich an der zwiefachen Gewalt von Faschismus und Stalinismus zerbricht. 
Diese historische Tragik fand ihren Ausdruck auch in den persönlichen Biographien von Nezval und Teige. Während ersterer sein Leben als stalinistischer Kulturappartschik beendete, wurde letzterer, als "degenerierter Trotzkist" gebrandmarkt, zum Opfer einer wüsten Hetzkampagne und erlag schließlich -- isoliert, aber ungebrochen -- 1951 einem Herzinfarkt. 
 
Allerdings hatte ich mich bislang noch nie so richtig mit der tschechoslowakischen Kulturwelt der 20er und 30er Jahre beschäftigt. Wenn man von der Lektüre des Braven Soldaten Schwejk von Jaroslav Hašek und einiger Werke von Karel Čapek wie R.U.R. (Rossumovi Univerzální Roboti) und Der Krieg mit den Molchen einmal absieht. (1) Und auch wenn Gruppen wie Devětsil in ihrem Selbstverständnis und zum Teil auch in ihrer Formensprache und Ideologie internationalistisch ausgerichtet waren, mit zahlreichen Verbindungen und Parallelen zu Strömungen wie dem Dadaismus, Konstruktivismus und Surrealismus, besaßen sie doch ihre eigene individuelle Prägung. Was zwar einerseits bedeutet, dass ich während meiner Recherche viele spannende Neuentdeckungen machen konnte, andererseits aber auch, dass mein Verständnis notwendigerweise sehr bruchstückhaft geblieben ist. Das möge man bei der Lektüre dieses Essays bitte immer im Hinterkopf behalten.
 
(1)
 
Um eine künstlerische Strömung zu verstehen und richtig einzuordnen, ist es stets nötig, ihre Entstehung und Entwicklung im gesellschaftlichen Kontext ihrer Zeit zu betrachten. Denn ganz gleich wie bewusst das den Beteiligten sein mag, sie ist doch immer eine Reaktion auf die soziale Wirklichkeit. Bevor wir uns Devětsil und den Poetismus etwas genauer anschauen, wollen wir deshalb zuerst einmal versuchen, uns ein Bild vom Charakter der Tschechoslowakei der 20er und 30er Jahre zu machen.   
 
Die Ära der ersten Tschechoslowakischen Republik (1918-38) unter Tomáš Masaryk und Edvard Beneš wird oft als eine Blütezeit liberaler Demokratie verherrlicht. Dieses verklärte Bild entstand nicht erst im Rückblick und in Reaktion auf das stalinistische Regime, das mit dem Staatsstreich von 1948 etabliert wurde und 1989/90 fiel,  sondern war auch unter Zeitgenossen durchaus verbreitet. Als Beispiel mag der leicht hagiographisch anmutende Ton dienen, den Klaus Mann 1937 im Zusammenhang mit einem privaten Präsidentenempfang auf dem Hradschin anschlug. In seinem Artikel Eine Stunde mit Beneš verklärt er dessen Vorgänger und Mentor Masaryk zum "Staatsmann-Philosophen" und schreibt:
Glücklich die wenigen, die bevorzugten Länder, wo die Verantwortung über das Schicksal der Gesellschaft in die Hände eines  geistigen Menschen gelegt ist:  wo Macht und Geist -- in Deutschland seit eh und je so unheilvoll voneinander getrennt -- miteinander identisch werden; zum Segen der Nation, deren politischer Instinkt den Intellektuellen, den Geistesmenschen an die Spitze rief. (2) 
Natürlich darf man dabei den historischen Kontext nicht außer Acht lassen. Umgeben von Hitler-Deutschland und dem austrofaschistischen Ständestaat (Dollfuß, Schuschnigg) im Westen, Horthy-Ungarn im Süden und dem autoritären polnischen Regime im Osten musste die Tschechoslowakei der Mitt-30er in der Tat wie eine Oase der Freiheit wirken. Und war als solche ein wichtiger Zufluchtsort und Stützpunkt für die deutsche antifaschistische Emigration und den Widerstand. Hier erschienen von 1933-38 u.a. Die neue Weltbühne und die A.I.Z. (mit Heartfields berühmten Fotomontagen). Prag war der Sitz der Exil-Führung der SPD (SoPaDe). Von hier aus wurden vor allem in den ersten Jahren der Nazidiktatur über sechs sog. "Grenzsekretariate" sozialistische Propagandamaterialien ins Reich geschmuggelt, Netzwerke des Widerstands organisiert und der Kontakt zu den Genoss*innen im Untergrund aufrechterhalten.
 
Auch war 1936 sowohl Thomas als auch Heinrich Mann die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verliehen worden, obwohl sie nicht dort lebten.
 
Zudem scheinen Masaryk und Beneš Vertreter eines Typs bürgerlicher Politiker gewesen zu sein, der schon zu ihrer Zeit eine Seltenheit geworden war: Gebildet, kultiviert und den Idealen der Aufklärung verbunden. (3) Man kann Klaus Mann gut verstehen, wenn er über Karel Čapeks Masaryk erzählt sein Leben schreibt, die Erinnerungen des Präsidenten stimmten ihn "wehmütig, weil sie mich an den 'grand old man' des Deutschen Reiches, an den General von Hindenburg denken lassen". (4) Manns Verklärung des "Geistesmenschen" als nationalen Führers mag etwas fragwürdig erscheinen, aber wenn die Alternative aus einem halbsenilen, blutbesudelten Weltkriegsgeneral bestand, ist seine etwas naive Begeisterung nachvollziehbar. (5) 

Dennoch ist dieses verklärte Bild der tschechoslowaischen Demokratie zumindest sehr einseitig. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Entstehung der Republik, um so ein besseres Verständnis ihres sozialen Inhalts zu erlangen.
 
Otto Bauer, einer der führenden Vertreter des Austromarxismus, schrieb in seinem 1923 erschienenen Buch Die Österreichische Revolution über die "nationalen Revolutionen", die das Ende des Habsburgerreiches besiegelt hatten:
In der Tschechoslowakei, in Jugoslawien, in Polen hatten Bourgeoisie und Proletariat gemeinsam um die nationale Befreiung gekämpft. Der gemeinsam errungene Sieg ordnete das Proletariat vorerst vollständig der nationalen Idee der nationalen Bourgeoisie unter. Im Triumph des errungenen nationalen Sieges fand das Proletariat in. den Revolutionsmonaten volle Befriedigung in der Aufrichtung, im Ausbau, in der Befestigung des nationalen Gemeinwesens. Es drängte über die Schranken einer bürgerlichen, nationalen Revolution nicht hinaus.
Richtig ist, dass das von  Karel Kramář angeführte bürgerliche Nationalkomitee und der von den Sozialdemokraten gebildete Sozialistische Rat in den Wochen vor der Unabhängigkeit häufig zusammenarbeiteten. Doch die Arbeiterklasse spielte eine nicht unwichtige selbstständige Rolle im Kampf gegen die K.u.K. - Monarchie.  Zu den ersten Massendemonstrationen unter republikanischer Parole war es im Zuge des Generalstreiks vom 14. Oktober 1918 gekommen. Mancherorts hatte man dabei bereits monarchistische Embleme von öffentlichen Gebäuden gerissen und die Republik proklamiert. Doch das Nationalkomitee hielt sich zurück und Militär und Polizei vermochten die Bewegung noch einmal zu bändigen. Zwei Wochen später führte dann der Prager Umsturz zur Unabhängigkeitserklärung und zur Machtübernahme durch eine bürgerliche Regierung unter Kramář, in enger Absprache mit der Auslandsführung um Masaryk und den Entente-Mächten.
 
Masaryk hatte in seinem 1918 erschienenen Buch Das neue Europa das utopische Bild einer quasi "klassenlosen" Demokratie entworfen:
Die Demokratie ist die Organisation der Gesellschaft, welche auf Arbeit beruht; in ihr gibt es keine Individuen und Klassen, welche die Arbeit der anderen ausbeuten; der demokratische Staat ist ohne Militarismus, ohne geheime Diplomatie; die Außen- und Innenpolitik unterliegt der Kritik und der Verwaltung des Parlamentes. (6)
Die Realität des aus dem Umsturz hervorgegangenen bürgerlichen Staates sah selbstverständlich ganz anders aus. Und auch wenn der patriotische Überschwang der "nationalen Befreiung" die Klassengegensätze für den Augenblick vielleicht zu übertünchen vermochte -- aufgehoben waren sie dadurch natürlich nicht.
 
Ohne Zweifel herrschte unter den breiten Massen der Bevölkerung die Erwartung, dass es mit dem Ende der nationalen Unterdrückung auch zu einer Wende hin zu größerer sozialer Gerechtigkeit kommen werde. Zumal in den Reihen der tschechischen Arbeiterklasse starke sozialistische und syndikalistische Traditionen existierten. Die bürgerliche Regierung sah sich deshalb alsbald zu einer Reihe von Zugeständnissen wie der Einführung des Achtstunden-Tages gezwungen. Zugleich versuchte sie, der neuen Ordnung mit der im Frühling 1919 initiierten Landreform ein breiteres soziales Fundament zu verschaffen. Auch wenn es sich bei dieser wohl nicht um jene "demokratische" Umwälzung im Interesse der ärmsten Teile der ländlichen Bevölkerung handelte, zu der sie in der Geschichtsschreibung manchmal verklärt worden ist. (7) 

Keine dieser Maßnahmen trug die erwünschten Früchte. Vielmehr machten die Parlamentswahlen von 1920 die Sozialdemokraten zur stärksten Kraft, während sie Kramářs Nationaldemokraten zur politischen Bedeutungslosigkeit verdammten. Derweil tobte in der Sozialdemokratischen Partei selbst ein heftiger Konflikt, wie wir ihn zur selben Zeit ähnlich u.a. in der französischen Sozialistischen Partei und der deutschen USPD beobachten können. Während die Mehrheit der alten Führung an einer "nationalen" Koalition mit bürgerlichen Kräften festhielt, wurde der Druck von unten immer stärker, mit dieser Politik zu brechen und der Partei eine revolutionäre Ausrichtung zu verleihen. Dabei spielte das Vorbild der russischen Oktoberrevolution eine entscheidende Rolle. Wie die Aktivistin Marie Švermová in ihren Memoiren erzählt:
To us, the youth, the proletarian revolution meant a solution to all the problems. We saw in it the fullest sense of our lives. We heard how the workers and peasants took power in Russia. It is no exaggeration to say that we were determined to sacrifice everything (8)
Entsprechend bemühten sich die jungen Radikalen u.a. darum, einen Boykott der Lieferung von Kriegsmaterial an das polnische Pilsudski-Regime zu organisieren, das sich seit 1919 im offenen Kampf mit der jungen Sowjetrepublik befand.
  
Allerdings wird man an dieser Stelle festhalten müssen, dass im Unterschied zu anderen Teilen des ehemaligen Habsburgerreiches wie Wien oder Ungarn Arbeiter- und Soldaten-Räte selbst während der Umbruchsmonate in der Tschechoslowakei anscheinend keine weite Verbreitung gefunden hatten. Als sich im Frühjahr 1920 der "Bund Kommunistischer Gruppen" von der revolutionär-syndikalistischen Bergarbeitergewerkschaft SČH (Sdružení československých horníků) abspalterte, sah die Organisation eines ihrer vorrangigen Ziele darin "to explain and spread the institution of workers', rural and military soviets, get the proletariat acquainted with the constitution of the soviet republic". (9) Was wohl dafür spricht, dass diese revolutionäre Organisationsform auf tschechischem Gebiet nicht (oder nur selten) spontan entstanden war. Die extrem kurzlebige Slowakische Räterepublik (16. Juni - 7. Juli 1919) verdankte ihre Existenz ganz dem zeitweiligen Vorstoß der ungarischen Roten Armee und war Episode geblieben.
 
Wenn sich die bürgerliche Ordnung mit Ausgang des Weltkrieges in der Tschechoslowakei also weniger stark erschüttert zeigte als anderswo, dann war dafür neben dem patriotischen Taumel die wirtschaftliche Lage verantwortlich. Zwar hatte der junge Staat in den ersten Monaten seines Bestehens mit rasch anwachsender Inflation zu kämpfen, doch alles in allem sah die Situation weit weniger desolat aus als in anderen Teilen der ehemaligen K.u.K.-Monarchie. Als der französische revolutionäre Syndikalist und spätere Anhänger der Internationalen Linken Opposition Alfred Rosmer im Mai (?) 1920 auf dem Weg zum zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale von Wien kommend in Prag Zwischenstation machte, bot sich ihm folgendes Bild:
Nach Wien bot Prag einen schroffen Gegensatz: Überfluss anstelle des Elends, Heiterkeit nach der resignierenden Traurigkeit. Die Läden waren mit Waren überfüllt: der neue Staat war unter den günstigsten Bedingungen entstanden, soweit man das nach den Eindrücken eines Tages beurteilen konnte (...) Obwohl mich die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit nie angezogen hatte, so hatte doch die freudige Lebenskraft, die von dieser jungen begünstigten Nation ausging, eine sympathische Seite. (10)
Dennoch wäre es falsch zu glauben, die Tschechoslowakei sei ein Hort der Ruhe und Stabilität inmitten des von revolutionären Unruhen und heftigen Klassenkämpfen erschütterten Europas der unmittelbaren Nachkriegszeit gewesen. Seinen wohl schärfsten Ausdruck fand dies im semi-insurrektionären Generalstreik, der ein halbes Jahr nach Rosmers Stippvisite am 11. Dezember 1920 ausbrach und in dessen Verlauf linkssozialistische und anarchistische Militante in Kladno die Räterepublik ausriefen. Die demokratische Regierung reagierte darauf mit denselben Methoden, mit denen der österreichische Absolutismus dem Streik vom 14. Oktober 1918 begegnet war. (11) Dreizehn Arbeiter wurden erschossen, 5.000 verhaftet, 500 für längere Zeit ins Gefängnis geworfen. Die bürgerliche Öffentlichkeit feierte die Niederschlagung des Generalstreiks als das Brechen der "roten Flut des Bolschewismus". Selbst im fernen Amerika jubelte die New York Times: "There was another setback for the great Red Crusade recently and at a point of considerable strategic importance. ... A Bolshevist revolution here (in Czechoslovakia) would have unsettled all Central Europe and had serious repercussions everywhere east of the Rhine".
 
Die junge Republik als eine Art Bollwerk gegen den Kommunismus zu betrachten, entsprach übrigens ganz den Vorstellungen Masaryks. Dieser hatte während seine Exils im Ersten Weltkrieg enge Beziehungen zu führenden Vertretern der westlichen Großmächte geknüpft. Deren Sympathie für die "tschechoslowakische Sache" erhielt einen mächtigen Anstoß, als sich im Mai 1918 die in Russland "gestrandete" Tschechoslowakische Legion auf die Seite der weißgardistischen Konterrevolution schlug. Ohne die Rückendeckung der Entente wäre es sicher nicht zu der raschen und weitgehend widerstandslosen Etablierung der Unabhängigkeit gekommen. Insbesondere Frankreich war so etwas wie die Schutzmacht des neuen Regimes und spielte z.B. eine zentrale Rolle beim Aufbau einer nationalen Armee. Bis 1925 war der Chef des Generalstabs der französische General Eugène Mittelhauser. Und um noch einmal Rosmer zu zitieren:
Von allen Nationen hatte sich das Frankreich Clemenceaus und Poincarés am wütendsten gegenüber der Sowjet-Republik gezeigt. Clemenceau hatte sich dessen gerühmt, dass er sie von der übrigen Welt abschneiden würde; er behandelte sie wie einen Pestkranken, der von einem "Sperrgürtel" eingeschlossen sein müsste, um ihn zu ersticken und gleichzeitig die Völker vor der Ansteckung zu bewahren. (12) 
Die Tschechoslowakei bildete einen zentralen Bestandteil dieses "Cordon Sanitaire", wie auch später der sogenannten Kleinen Entente. (13)
 
Innenpolitisch wurde dies begleitet von einer Reihe repressiver Maßnahmen unterschiedlicher Intensität, die sich in erster Linie gegen die Kommunistische Partei richteten, die im Mai 1921 aus der Verschmelzung des linken Flügels der Sozialdemokraten mit Teilen kleinerer radikaler Gruppen entstand. Doch natürlich hatten auch Anarchisten und andere revolutionäre Linke unter ihnen zu leiden. 
Dennoch gelang es der KP im weiteren Verlauf zu einer der stärksten Parteien des Landes anzuwachsen. In den Parlamentswahlen von 1925 wurde sie mit 13,14% der Stimmen und 41 Sitzen zur zweitstärksten Fraktion, und gegen Ende der 20er Jahre besaß sie halboffiziellen Angaben zufolge 138.000 Mitglieder und war damit die größte KP außerhalb der Sowjetunion. 
 
Dieser beachtliche Erfolg der Kommunisten ist ein deutliches Anzeichen dafür,  dass die bürgerliche Demokratie über kein sonderlich solides soziales Fundament verfügte. 
Auf andere Art zeigte sich das auch in der Entstehung faschistischer Bewegungen wie der tschechischen NOF (Národní obec fašistická), der sudetendeutschen Nazis und Andrej Hlinkas slowakischer SLS (Slovenská ľudová strana), die ab 1939 dann auch das Personal für das slowakische Marionettenregime von Hitlers Gnaden stellen würde.
Aber auch das republikanische Regime selbst besaß eine Reihe von Zügen, die auf seine soziale Instabilität hindeuteten. So wurde die Politik der Ersten Tschechoslowakischen Republik stark von der in keiner Weise parlamentarisch legitimierten Gruppe der "Fünf" ("Pětka") dominiert. Masaryk erklärte 1925 ganz offen, dass eine solche "Regierung von Experten" eine (wenn auch unerwünschte) Notwendigkeit darstelle, solange die Bevölkerung noch nicht "reif" genug für eine reine Demokratie sei: 
Our difficulties arise from the high demands of democracy, which requires a body of citizens who are truly educated in the political sense, and an intelligent electorate, both men and women. Hence I am not in favour of government by experts or officials. [...] Problems, however, are solved by people who think and possess knowledge, and are not merely elected.
Daneben bemühte Masayrk sich, mit Bildung der informellen Gruppe des "Hrad" (der "Burg") entgegen dem Text der Verfassung möglichst viel Macht auf das Präsidentenamt (also sich selbst) zu konzentrieren. Zentraler Bestandteil dieser "Hausmacht" war bezeichnenderweise der Veteranenverband der Tschechoslowakischen Legion (Československá obec legionářská) und die mit ihm verbundene Legiobanka
Das liberale Regime trug also von Beginn an leicht bonapartistische Züge, die sich unter Beneš dann noch weiter verschärften.    
 
Ein weiterer Aspekt, der einen zu Korrekturen am Bild der "Musterdemokratie" zwingt, ist ironischerweise ausgerechnet die "nationale Frage". Die Tschechoslowakische Republik war unter dem Banner der "nationalen Befreiung" gegründet worden. Doch ihr Staatsgebiet, dessen Grenzen von den Entente-Mächten im Vertrag von Trianon (1920) endgültig festgeschrieben wurden und die von der neuen bürgerlichen Elite z.T. mit Waffengewalt "gesichert" worden waren, umfassten nicht wenige nationale Minderheiten. Ganz wie das alte Habsburgerreich war auch die junge Republik ein Vielvölkerstaat. Zwar wandte sich Masayrk sehr deutlich gegen den krassen tschechischen Chauvinismus von Karel Kramář, aber von einer wirklichen Gleichstellung der Völkerschaften konnte auch unter ihm nicht die Rede sein. Schon in seiner ersten Rede als Präsident hatte er der Idee der jungen Republik als eines "Nationalitätenstaates" eine klare Absage erteilt. Nutznießer der neuen Ordnung waren beinah ausschließlich Vertreter des tschechischen Bürger- und Kleinbürgertums. Trotz der offiziellen Doktrin des "Tschechoslowakismus" blieben die Slowaken extrem marginalisiert. Die in der Verfassung von 1920 festgeschriebenen Regelungen über die "Autonomie" der nationalen Minderheiten wurden wenn überhaupt nur sehr zögerlich umgesetzt, die nationalen Rechte von Sudetendeutschen, Magyaren, Polen und Russinen (Ruthenen) immer wieder grob verletzt. In einigen Regionen war die Geburt der Republik von antijüdischen Ausschreitungen begleitet worden, deren wohl bekannteste der Pogrom von  Holešov im Dezember 1918 gewesen war. Und auch unter dem Deckmantel der liberalen Ordnung wucherte der Antisemitismus munter weiter (14). Im November 1920 beschrieb Franz Kafka in einem seiner Briefe an Milena Jesenská die Lage in Prag mit folgenden Worten: "Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhass. ‘Prasivé plenemo’ [„Räudige Rasse“] habe ich jetzt einmal die Juden nennen hören." (15) Anlass waren auch hier pogromartige Ausschreitungen. Und nicht zuletzt erließ die Regierung ab 1926 eine Reihe diskriminierender Gesetze gegen die "vagabundierenden" Roma.
 
Selbstverständlich hätte auch eine siegreiche sozialistische Revolution die gerade in Mittel- und Osteuropa so vielgestaltige "nationale Frage" nicht auf einen Schlag und zur vollsten Zufriedenheit aller Beteiligten lösen können. Nationale Borniertheit und nationaler Chauvinismus sind zählebige Ungeheuer. Aber sie hätte zumindest die Rahmenbedingungen schaffen können, unter denen es möglich gewesen wäre, sie auf demokratische und erfolgversprechende Weise anzugehen. Der Fortbestand des Kapitalismus hingegen machte dies von vornherein unmöglich. In all den neuentstandenen Staaten brauchte die bürgerliche Elite das Gift des Nationalismus. Zum einen, um ihre gerade erst gewonnene Herrschaft gegenüber der eigenen Bevölkerung zu legitimieren. Zum anderen, um ihren Macht- und Wirtschaftsinteressen ein patriotisches Deckmäntelchen zu verpassen, wenn es darum ging, im Konkurrenzkampf mit den Nachbarn möglichst große Brocken aus den Kadavern der Reiche von Kaiser, Zar und Sultan zu reißen. (16) Lenin hatte sicher recht, wenn er betonte, man müsse "zwischen dem Nationalismus einer unterdrückenden Nation und dem Nationalismus einer unterdrückten Nation, zwischen dem Nationalismus einer großen Nation und dem Nationalismus einer kleinen Nation" (17) unterscheiden. Aber eine der bitteren historischen Lektionen des 20. Jahrhunderts ist es, erkennen zu müssen, wie schnell der Unterdrückte zum Unterdrücker werden kann.  
 
Anders als der altväterliche, panslawistisch angehauchte Nationalismus, wie ihn Kramář noch vertreten hatte (18), sah die "moderne" Variante, wie sie Masaryk und Beneš verkörperten, die tschechische Nation als eine Fackelträgerin "westlich-freiheitlich-europäischer Werte". Das mag erst einmal progressiver klingen, aber die Abwendung vom Panslawismus ging sehr oft mit der Übernahme eines quasi-kolonialistischen "westlichen" Überlegenheitsdünkels einher. Vor allem gegenüber den "primitven" Slowaken und Russinen (Ruthenen), die den östlichen, fast ganz agrarisch geprägten Teil der Republik bewohnten. Die Bemerkungen eines tschechischen Geographen, der 1924 in dieser Region arbeitete, lassen diese Haltung sehr schön erkennen: "We bring order, discipline, Western European democracy, and culture to this land of former oriental chaos and disorder" (19). Eine exotistisch-romantisierende Sicht der Slowakei als "bäuerliches Idyll" wie in Karel/Karol Plickas Film Die Erde singt (Zem spieva, 1933) kann bei aller Ambivalenz als ein "freundlicher" Ausdruck dieser Haltung interpretiert werden. Aber natürlich gab es auch sehr viel weniger "nette" Varianten. Und wenn gar die Tschechoslowakei zum Bollwerk der "europäischen Zivilisation" gegen die "barbarisch-asiatischen" Horden des Bolschewismus erklärt wurde, gingen Nationalismus, Rassismus und Antikommunismus eine besonders gifitige Verbindung ein.   


Im nächsten Teil werden wir uns dann etwas eingehender mit Devětsil, dem Poetismus und der tschechoslowakischen Avantgarde beschäftigen.

 

 

EDIT: Offenbar ist 2018 eine Übersetzung von Ondřej Cikán unter dem Titel Valerie und die Woche der Wunder – Poetistischer Schauerroman erschienen

(1) Franz Kafka lasse ich hier mal außen vor. Weniger aufgrund der Deutschsprachigkeit seines Werkes, als vielmehr weil dessen Hauptteil einer etwas früheren Ära angehört.

(2) Klaus Mann: Eine Stunde mit Beneš. In: Ders.: Das Wunder von Madrid. Aufsätze, Reden, Kritiken 1936-1938. S. 183.

(3) Mit dieser Charakterisierung beziehe ich mich ausschließlich auf die 20er/30er Jahre. Schließlich sollte Beneš später zu einem engen Verbündeten Stalins werden, der wohl auch persönlich einen freundschaftlichen Umgang mit dem Diktator pflegte, was ihn in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt. 
Die Präsidentschaft von Václav Havel (1989-2003) wurde oft als eine Art Wiedergeburt dieser Tradition dargestellt, doch ließe sie sich eher als eine Karrikatur derselben charakterisieren. Während Masaryk den Eindruck eines zu spät gekommenen Vertreters der bürgerlich-revolutionären Ideale von Freiheit, Fortschritt und Humanität macht, war Havel als Intellektueller Proponent eines antiaufklärerischen, zivilisationspessimistischen und letztlich obskurantistischen Weltbildes.     

(4) Klaus Mann: Krankheit und Gesundheit. In: Ders.: Das Wunder von Madrid. S. 189.

(5) Ein weiteres anschauliches Beispiel für diese Idealisierung Masaryks ist Oskar Kokoschkas 1935/36 enstandene Porträt des Präsidenten, in dem der Maler, der 1934 nach Prag emigriert war, diesen als den Erben der Traditionen des Reformators Jan Hus und des Humanisten Jan Amos Komenský darstellt. Vgl.: Christian Drobe: Charles Bridge in Prague by Oskar Kokoschka (1934).

(6) Zit. nach: Peter Ludewigs Nachwort zu: Vítězslav Nezval / Karel Teige: Depesche auf Rädern. Theatertexte 1922-1927. S. 92. 

(7) Vgl.: Antonie Doležalová: A stolen revolution. The political economy of the land reform in interwar Czechoslovakia.

(8) Zit. nach: Bohumil Melichar: Karlín and Kings Road: Two Different Worlds. A Comparison of the Political Success of Communist Party of Czechoslovakia and Communist Party of Great Britain between the World Wars. S. 98.

(9) Zit. nach: Ladislav Cabada & Zdenek Benedikt: Intellectuals and the Communist Idea: The Search for a New Way in Czech Lands from 1890 to 1938. S. 44.

(10) Alfred Rosmer: Moskau zu Lenins Zeiten. S. 40.

(11) Der Generalstreik war nebenbei bemerkt auch der Anlass für die Rückkehr von Jaroslav Hašek, des späteren Verfassers des Braven Soldaten Schwejk, aus Sowjetrussland in die Heimat, wo er im Auftrag der Bolschewiki bei der Organisation eines revolutionären Aufstands helfen sollte. Als er in der Tschechoslowakei eintraf, hatten sich die entsprechenden Hoffnungen allerdings bereits zerschlagen. 

(12) Ebd. S. 29.

(13) Was sie freilich nicht davor bewahren sollte, von ihren "Schutzherren" 1938 im Münchner Abkommen Hitler als Schlachtopfer dargebracht zu werden. Treue und Dankbarkeit gehörten noch nie zu den Tugenden des Imperialismus.

(14) Der Antisemitismus hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in Reaktion auf das Erstarken der sozialistischen Arbeiterbewegung Eingang in den "tschechischen politischen Diskurs" gefunden. Wie der Historiker Michal Frankl erklärt, gelangten durch die Reichsratswahlen von 1897, bei denen zum ersten Mal "ein Teil der Abgeordneten durch allgemeine Wahlen bestimmt" wurde, "auch einige sozialdemokratische Abgeordnete nach Wien. Das hatte wiederum zur Folge, dass sowohl die katholischen Politiker als auch die tschechischen Nationalisten gegen die Sozialdemokratie mobilisierten, und zwar mit Hilfe des Antisemitismus. Das bedeutet: Die Juden wurden als die Verschwörer, die Wortführer hinter den Kulissen der Sozialdemokratie dargestellt. Sie sollen versucht haben, durch den Sozialismus die Integrität der tschechischen nationalen Bewegung zu unterminieren und zu zerstören, um die Welt besser beherrschen zu können. So etablierte sich der Antisemitismus wirklich im Zentrum des politischen Diskurses." In diesem Kontext muss auch der "Ritualmord"-Prozess gegen Leopold Hilsner gesehen werden, der 1899 zur Aufstachelung des Judenhasses organisiert wurde. Masaryk, zu dieser Zeit Professor an der Karlsuniversität, zeigte sich dabei von seiner besten Seite und bezog sehr deutlich Position für den Angeklagten.

(15) Franz Kafka: Briefe an Milena. S. 184.

(16) Ähnliches konnte man aus vergleichbaren Gründen nach dem Zusammenbruch des Stalinismus beobachten, als sich die zu einem Großteil aus der alten Kaste der Apparatschiks hervorgegangenen neuen kapitalistischen Eliten der Oligarchen und Kleptokraten um die Beute balgten.

(17) Wladimir I. Lenin: Zur Frage der Nationalitäten oder der „Autonomisierung“.

(18) Zu Beginn des Weltkrieges hatte dieser noch von der Wiedererrichtung eines böhmischen Königreiches unter der Schutzherrschaft des Zaren geträumt.

(19) Zit. nach: Marta Filipová: The creation of Czechoslovakia and its identity politics.