"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Samstag, 22. November 2025

Trotz aller Clonans ...

Wie ich vor einigen Monaten in einem Beitrag, der eigentlich Roger Zelaznys Dilvish the Damned gewidmet war, schon einmal etwas ausführlicher dargelegt habe, war es Cele Goldsmith (Lalli), die an der Wende von den 50er zu den 60er Jahren als Herausgeberin von Fantastic die Grundlage für den späteren Sword & Sorcery - Boom legte. Sie überzeugte nicht nur Fritz Leiber, sich nach einer mehrjährigen Pause erneut den Abenteuern von Fafhrd und dem Grey Mouser zuzuwenden, sondern bot auch neuen Helden wie John Jakes' Brak dem Barbaren oder Zelaznys Dilvish eine Bühne.   
 
Im Dezember 1963 erschien dann die erste von am Ende vier Anthologien, die L. Sprague de Camp für Pyramid Books zusammenstellen würde: Swords and Sorcery (1963), The Spell of Seven (1965), The Fantastic Swordsmen (1967) und Warlocks and Warriors (1970). Inhaltlich boten sie zwar wenig neues, von Elrics Amerika-Debüt 1965 einmal abgesehen, aber die Auswahl der Geschichten trug zusammen mit den einleitenden Bemerkungen viel dazu bei, die Konturen des Subgenres zu definieren, das De Camp selbst übrigens lieber als "Heroic Fantasy" bezeichnete. (Der Begriff "Sword & Sorcery" war erstmals 1961 von Fritz Leiber ins Spiel gebracht worden (1))      
 
Der eigentliche Boom setzte zwar erst gegen Ende der 60er Jahre und in Reaktion auf die Neuveröffentlichung von Robert E. Howards Conan-Stories bei Lancer Books ein. Aber schon in dieser "Aufwärm-Phase" tauchten mit Brak und Lin Carters Thongor (ab 1965) die ersten Conan-Klone auf. Die Gattung war beinah so alt wie das Subgenre selbst. Ihr allererster Vertreter dürfte Clifford Balls Duar the Accursed gewesen sein, der nicht ganz ein Jahr nach Howards Selbstmord in Weird Tales erschienen war. Doch in der Folgezeit kam es zu einer wahren Flut von Clonans, die die Sword & Sorcery schon bald zu ersticken drohte. Allein 1968/69 erschienen neben mehreren Conan-Bänden zwei Thongor-Bücher, die erste Buchfassung von Brak the Barbarian sowie das Debüt von Gardner F. Fox' Kothar. Und das war erst der Anfang. (2)
 
Im Fandom wurde dies schon früh recht kontrovers diskutiert. Während die einen die Meinung vertraten, die S&S müsse sich weiterentwickeln, wenn sie nicht schon bald ein unrühmliches Ende finden wollte, blieb für die anderen der muskelbepackte Barbar das A und O des Subgenres und die vermeintliche Simplizität der Geschichten seine größte Tugend. Interessant ist die Position, die dabei L. Sprague de Camp und Lin Carter vertraten. Die beiden spielten eine wichtige Rolle während des Booms, und das nicht nur als Herausgeber und Verfasser von Howard-Pastiches. Doch zugleich legten sie eine leicht herablassende Haltung gegenüber der Sword & Sorcery an den Tag.
 
Schon in den 50ern hatte De Camp für Gnome Press ohne irgendwelche Skrupel einige von Howards historischen Abenteuergeschichten wie Hawks over Egypt und Road of the Eagles in Conan-Yarns umgeschrieben. Was er wie folgt kommentierte:
Robert E. Howard's heroes were mostly cut from the same cloth. It was mostly a matter of changing names, eliminating gunpowder, and dragging in a supernatural element. (3) 

Offensichtlich empfand er wenig Respekt für Howards literarisches Werk, was sich u.a. auch in seinen "Bearbeitungen" der Conan-Stories zeigte, für deren Veröffentlichung bei Lancer Books er verantwortlich war.

Und so wie es aussieht, galt dasselbe wohl auch für die Sword & Sorcery als Ganzes. Er hatte seinen Spaß mit dem Subgenre, sah in ihm aber nie mehr als simple Unterhaltung. Schon im Vorwort zu Swords and Sorcery (1963) erklärte er die "Heroic Fantasy" zu einer rein eskapistischen Literaturform: "Heroic fantasy is escape reading in which you escape clear out of the real universe." Zugleich sprach er ihr einen denkbar simplistischen Charakter zu:
"Heroic fantasy" is the name of a class of stories laid, not in the world as it is or was or will be, but as it ought to have been to make a good story. The tales collected under this name are adventure-fantasies, laid in imaginary prehistoric or medieval worlds, when (it's fun to imagine) all men were mighty, all women were beautiful, all problems were simple, and all life was adventurous. (4)
An dieser Sichtweise änderte sich auch später nichts. Noch in der Einleitung zu Warlocks and Warriors (1970) bekommt man zu lesen:
This is pure escape literature and makes no bones about it. Reading for serious purposes is fine, but even the most serious reader is better off if he sometimes reads something for the hell of it. In these stories one escapes clear out of the real world. (5)
Im Verlauf der 70er Jahre sicherte sich De Camp die völlige Kontrolle über die "Marke" Conan und baute eine ganze Industrie um den Cimmerier auf, was im Januar 1977 in der Gründung von Conan Properties, Inc. gipfelte. Die Clonan-Schwemme, die zur gleichen Zeit über das Subgenre hereinbrach, scheint ihn wenig gestört zu haben.
 
Bei Lin Carter sah es nicht viel anders aus. Die folgende Anekdote, die Joe Bonadonna -- Autor von Dorgo the Dowser -- in seinem Essay Imho: A Personal History of Sword & Sorcery and Heroic Fantasy erzählt, illustriert dies sehr schön:

(I)n 1970, I wrote a letter to Lin Carter, who was then the editor of Ballantine Books’ Adult Fantasy Series. I asked how to go about submitting a Conan novel I had written. Lin Carter was nice enough to reply quickly, telling me that only he and L. Sprague de Camp were licensed to write Conan stories. He suggested, however, that I change the name of Conan to one of my own choosing and change any other names borrowed from Howard, then submit the novel to a publisher as my own original creation. [...] In other words: I was advised to write a "Clonan" novel.
 
Lin Carter: Imaginary Worlds (mit einem Cover von Gervasio Gallardo)
  
Ironischerweise legte Carter seine entsprechenden Ansichten über die Sword & Sorcery ausgerechnet in Form einer Verteidigung des Subgenres nieder. Auslöser dafür war eine kurze Passage in einem genrehistorischen Essay von Alexei & Cory Panshin, der in der Augustausgabe 1972 von Fantastic unter dem Titel SF in Dimension: Mastery of Space and Time (1926-1935) erschienen war. Dort hatte man lesen können:
 [A]fter 1936, when Howard died, [Clark Ashton] Smith retired, and [C.L.] Moore turned to modern sf, sword and sorcery became a frozen form, a ritual dance after Howard. Early Moore and Smith continue to have influence on sf, but the sword and sorcery complex itself is a living fossil with no apparent ability to evolve.
Carter antwortete darauf im siebten Kapitel seines Buches Imaginary Worlds: The Art of Fantasy (1973). Dabei schlug er einen bewusst populistischen Tonfall an, indem er die Panshins zu Vertretern des Science Fiction - "Establishments" erklärte, deren Verdammungsurteil über die S&S der "general party-line" der "New Wavers" entspräche, womit er das in "old-school" - Kreisen des Fandoms verbreitete Vorurteil bediente, die Anhänger der New Wave seien ein Haufen abgehobener Elitisten.
 
Für Carter ist die Kritik der Panshins schon im Ansatz verfehlt, denn eine stilistische oder inhaltliche Weiterentwicklung der Sword & Sorcery erscheint ihm überhaupt nicht erstrebenswert.
Must a school of writing evolve? I wonder why. Evolution implies change into something else. But mere change for the sake of change, experiment for the sake of experiment -- the apparent aesthetic of the New Wave school of science fiction writing, to which I suppose Alexei Panshin belongs -- seems to a rather backwards-looking conservative like myself a pointless exercise in futility [...] 
There is absolutely no need for Sword & Sorcery to develop new maturities of style and theme
Seine Vorstellung von dem, was Sword & Sorcery ausmacht, ist äußerst eng und schließt jede Form von Innovation und Entwicklung per Definition aus.
Sword & Sorcery is the smallest, tightest literary genre I can think of, and one that is completely derivative. We who write it all work within the narrow tradition set down by Howard in the 1930s.
Offenbar sieht Carter keinen Widerspruch darin, im selben Kapitel Jack Vance den S&S-Autoren zuzurechnen, obwohl sich dessen Dying Earth - Geschichten schwerlich in solch eine ganz auf das Vorbild Howard ausgerichtete Tradition pressen lassen. Was den Eindruck noch verstärkt, dass es ihm bei dem Ganzen hauptsächlich um die Verteidigung von Clonans wie Jakes' Brak oder seinem eigenen Thongor geht, die beide als exemplarische Beispiele für die Sword & Sorcery angeführt werden. Deren Mangel an Originalität kann er natürlich nicht leugnen. Doch sei das eben kein Schwachpunkt, sondern vielmehr eines der definierenden Merkmale des gesamten Subgenres. Dessen ganze Existenz rechtfertigt sich für ihn in erster Linie aus einem Gefühl von Nostalgie, das die Geschichten bedienen sollen:
Most of us who write Sword & Sorcery do so out of a nostalgic affection of the genre and have no particular desire to change it, my own feeling being that "change" is not demonstrably synonymous with "improve." It's the sort of thing we loved in our teens (at least I did), and we contribute to the modern-day continuation of the genre out of fondness for what pleased us then. (6)  
Der Ruf nach komplexeren Charakteren, einer größeren thematischen Tiefe oder stilistischen Neuerungen und Experimenten macht vor diesem Hintergrund natürlich in der Tat wenig Sinn. Die Geschichten sollen ja möglichst simpel sein und bereits Bekanntes nachahmen. Andernfalls würden sie nicht den gewünschten Effekt erzielen können. Dass Lin Carter damit implizit auch die Werke Robert E. Howards, C.L. Moores und anderer Pioniere des Subgenres auf bloße Klischees reduzierte, möchte ich gar nicht weiter kommentieren. (7) 
 
Aber da er sich für seine Ausführungen der New Wave als "Feindbild" bediente, halte ich es für angebracht, darauf hinzuweisen, dass die Bewegung bereits zu dieser Zeit mehrere Werke hervorgebracht hatte, die im Dialog mit den Traditionen der Sword & Sorcery standen. Ich denke dabei vor allem an Joanna Russ' Alyx-Geschichten (1967/68) und M. John Harrisons The Pastel City (1971). Nach Carters Definition gehörten sie natürlich überhaupt nicht zum Subgenre, aber ich denke, man sollte in ihnen zumindest eine der möglichen Formen einer Weiterentwicklung sehen. (8) 
 
Doch auch in dem, was man wohl als den Mainstream bezeichnen könnte, erwies sich die Sword & Sorcery im Laufe der 70er Jahre als sehr viel entwicklungsfähiger als Carter dekretiert hatte. Auch kam die Kritik am Immergleichen der Clonans keineswegs nur von "außen" oder vom "Establishment", sondern ebenso aus der Mitte des Fandoms. Ausgerechnet auf den Seiten von Amra, dem offiziellen Organ der Hyborian Legion, konnte man schon früh solche Äußerungen des Unmuts vernehmen wie Brian Hvals On the State of Heroic Fantasy vom September 1970: 
I have been most tempted in the last few months to completely give up reading heroic fantasy. It has become almost impossible to seperate the reasonable reading from the literary trash displayed in the bookstore. Or perhaps I have finally been exhausted by the same repetitous plots of half-naked barbarians chaising equally naked women through numberless perils, the entire series of episodes menaced by some slimy Elder Evil (naked or half-naked?). All fantasy stories appear to be identical. Broads and broad-swords, brainless boozing barbarians! Despite repeated overdoses of fortified vitamins, my system can stand only so much of this monotonous rubbish. Even some of the recent "classics" are archaeological garbage. I pray that some god (benign or otherwise) will send these unworthy tomes to their tombs!
... But what is the worth of a single nugget if you have to toil through ten tons of literary dirt to find it? Readers may soon realize that it is not worth the effort. The Barbarian Bonanza may result in the Barbarian Bust! (9) 
Lin Carter hatte so getan, als könne er für die überwältigende Mehrheit der Sword & Sorcery - Fans sprechen. Aber auch unter ihnen gab es sicher viele, die nicht zufrieden damit waren, in dem Subgenre eine reine "Nostalgie-Nische" zu sehen. Die sich eher dem angeschlossen hätten, was Jessica Amanda Salmonson dann 1979 in ihrem Vorwort zu Amazons! schreiben würde:
Many of us are fond of heroic fantasy not "in spite" of its lacking merit, but because the unrestrained magic and adventure provide a limitless potential that has yet to be sufficiently plumbed. (10)  
Sicher, allein schon aus kommerziellen Gründen wurde die Flut der Clonans nie wirklich gebrochen, sondern versickerte erst in den 80er Jahren, als sich keine ausreichende Käuferschaft mehr für sie fand. Bis dahin gab es stets genug Verlage, die nichts anderes wollten als den nächsten Barbaren im Lendenschurz. Aber die Sword & Sorcery der 70er war eine Strömung, die im Gegensatz zu Lin Carters Ansichten breit genug war, um neben ihnen auch andere, unkonventionellere und innovativere Ansätze entstehen zu lassen. 
Einer der Gründe dafür war ohne Zweifel, dass sich der S&S - Boom parallel zum Aufblühen einer Phantastik-Fankultur entfaltete, zu der u.a. das Erscheinen einer Vielzahl unterschiedlichster Magazine, Semi-Prozines und Fanzines gehörte. So weit ich weiß war keines von ihnen ausschließlich der Sword & Sorcery gewidmet, aber Publikationen wie Dark Fantasy, The Diversifier, Fantasy Crossroads, Fantasy & Terror, Space & Time, Void, Whisper, Witchcraft & Sorcery, Weirdbook und Wyrd (11) boten auf jeden Fall eine Bühne für junge und unbekanntere Autor*innen, die hier erstmals ein etwas größeres Publikum erreichen konnten. Und damit tendenziell auch einen Raum für eigenwilligere Ideen und Herangehensweisen, den es zuvor nicht gegeben hatte.
Zumindest einige der Autor*innen gelangten auf diesem Weg schließlich auch in die bedeutenderen Anthologien der Zeit. Lin Carters Flashing Swords (1973-81) enthielt, vom fünften und letzten Band einmal abgesehen, zwar beinah ausschließlich Beiträge von Mitgliedern der S.A.G.A., der Mitte der 60er Jahre von De Camp, Carter und John Jakes gegründeten Swordsmen and Sorcerers' Guild of America. Doch in seinen Year's Best Fantasy Stories (1975-80) zeigte auch er sich sehr viel offener für "ungewöhnlichere" S&S und veröffentlichte u.a. Kurzgeschichten von Pat McIntosh, Tanith Lee, Charles R. Saunders, Roger Zelazny, Brian Lumley und Janet Fox. In Andrew Offutts Swords Against Darkness (1977-79) erschienen u.a. Stories von Richard L. Tierney, Ramsey Campbell, David Madison, Tanith Lee, Darrell Schweitzer, Charles R. Saunders, Charles de Lint, Brian Lumley und Ardath Mayhar. Am Ende der 70er Jahre erschienen dann außerdem einige Anthologien, die ganz ausdrücklich eine kritische Haltung gegenüber den Barbaren-Klischees vertraten und zu einer entsprechenden Weiterentwicklung des Subgenres beitragen wollten. Das gilt nicht nur für Jessica Amanda Salmonsons Amazons! (1979), sondern auf etwas andere Art z.B. auch für den von Gerald W. Page & Hank Reinhardt zusammengestellten Band Heroic Fantasy (1979). Dort heißt es in der Einleitung
The great cliche of modern heroic fantasy has been the muscular barbarian who seldom behaves as a human being, and whose muscles, as decribed in the stories, seldom seem to operate the way human muscles do
Dies gelte es zu korrigieren: "We did look for a strongly realistic approach to our fantasy, and we wanted characters we could believe in, and enjoy". Außerdem setzen sich zumindest einige der in der Anthologie versammelten Geschichten kritisch, ironisch oder reflektierend mit dem "heroischen Ideal" auseinander.
 
Trotz der Clonan-Schwemme erwies sich die Sword & Sorcery in den 70er Jahren also sehr wohl als entwicklungsfähig. Und die entsprechende Tendenz verstärkte sich zudem merklich in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. Weshalb es meines Erachtens auch etwas zu kurz greift, wenn man den bald darauf einsetzenden Umschwung zur High Fantasy ausschließlich aus einem vermeintlichen Ersticken der S&S an ihren immer gleichen Klischees erklärt. Da spielten sicher auch noch eine Reihe anderer Faktoren eine Rolle. Trotz des scheinbaren Triumphs der High Fantasy wäre es zudem falsch, zu glauben, dass alle Entwicklungsansätze der 70er am Ende im Sande verlaufen oder von den Behemoths der Endlos - Epen gänzlich überrollt worden wären. Einige von ihnen fanden in den 80ern sehr wohl ihre Fortsetzung in Werken wie etwa Glen Cooks Black Company oder Steven Brusts Vlad Taltos.
    

Swords Against Darkness III (mit einem Cover von Greg Theakston)
 

Ein für mich sehr ansprechendes Beispiel dafür, wie die Sword & Sorcery der 70er sich weiterentwickeln konnte, ist David Madisons 1975 in Band 3 von Swords Against Darknesss erschienene Kurzgeschichte Tower of Darkness
 
Leider habe ich nur sehr wenig Informationen über den Autor finden können. Andrew Offutt bezeichnet ihn in seinen einleitenden Bemerkungen als "Texan", das ist aber auch schon alles, was er an Konkretem über ihn mitteilt. Ansonsten weiß ich eigentlich nur, dass Madison 1979 Selbstmord begangen hat. Charles R. Saunders erzählte 2007 in einem Interview mit Steven Tompkins über ihn:
Even after all these years, I feel bad about David. He was one of the best of the generation of fantasy and S&S writers which came up through the fanzines and semi-prozines of the 1970s. His work could best be described as "punk S&S." (12)
Geschichten aus Madisons Feder erschienen in WyrdSpace & Time, The Diversifier, Dark Fantasy, Fantasy & Terror, Astral Dimensions sowie Dragonbane/Dragonfields, dem kurzlebigen Magazin, das Saunders gemeinsam mit Charles de Lint herausgab. Tower of Darkness war die einzige seiner Stories, die (auch) in der Publikation eines großen Verlages (Zebra Books) veröffentlicht wurde. In der Januarausgabe 1978 von Dark Fantasy kann man zwar in den einführenden Bemerkungen zu The Trouble with Timothy von einem "recent sale to Year's Best Fantasy" lesen, doch 1979 erschien überhaupt kein entsprechender Band in Lin Carters Antho-Reihe und auch 1980 gab es keinen (posthumen) Abdruck einer Madison-Geschichte.
 
Tower of Darkness ist Teil eines kleinen Zyklus um das Gauner- und Abenteurerpaar Marcus und Diana, dessen übrige Teile in Space & Time und The Diversifier erschienen sind und leider nie irgendwo anders neu abgedruckt wurden. Ich würde einiges für ein kleines Sammelbändchen mit den sieben Geschichten geben. Denn zumindest diese eine hat mir außergewöhnlich gut gefallen. 
 
Oberflächlich betrachtet ist der Plot von Tower of Darkness geradezu "klassisch": Unsere Held*innen, die ganz der leiber'schen Spitzbuben-Tradition entsprechen, gelangen eines Abends an die Tore der Stadt Nyza. Nachdem ein paar Silbermünzen den Besitzer gewechselt haben, lässt man sie ein, aber wirklich willkommen fühlen sich die beiden hier nicht. Die Bewohner der Stadt werden von einer abergläubischen (?) Furcht vor dem Dunkel der Nacht beherrscht, was dazu führt, dass man Diana und Marcus nicht einmal Einlass in ein Wirtshaus gewährt. Also bleibt den beiden nichts anderes übrig, als relativ ziellos durch die nächtlichen Straßen zu ziehen und dabei die Weinflasche hin und her wandern zu lassen. Schließlich gelangen sie zu einer Parkanlage im Zentrum der Stadt, die noch etwas melancholischer und finsterer wirkt als der Rest von Nyza und in der sich ein Turm und eine Stufenpyramide erheben. Der Turm entpuppt sich als ein Heiligtum der Sonne, in dem ein Priester die ganze Nacht über jede Stunde einen Gong schlägt. Unglücklicherweise verhindert die Sprachbarriere eine echte Kommunikation. Stattdessen taucht plötzlich eine sehr bleiche und magere Frauengestalt aus dem Dunkel auf und lädt unsere Held*innen in die Krypta unter der Pyramide ein, wo die "Verehrer des Mondes" ihre nächtlichen Feiern zelebrieren würden. Diana und Marcus sind selbst etwas überrascht, wie schnell sie bereit sind, dieser Einladung zu folgen ...
 
Das klingt auf den ersten Blick, wie schon gesagt, nicht übermäßig originell. Und ja, die "Verehrer des Mondes" entpuppen sich eine Seite später dann auch schon als waschechte Vampire. Aber das vermeintlich so "konventionelle" der Story verstärkt für mich nur seine in Wirklichkeit ziemlich subversive Qualität. Die beruht zuerst einmal (und vor allem) auf dem ungewöhnlichen Heldenpaar, das schon rein äußerlich ganz und gar nicht dem entspricht, was man vielleicht erwartet hätte.
The woman was tall and lithe, muscular without being awkward. Her heavy square-cut blond hair was confined by a circlet of beaten gold; other than that she wore no ornaments. A narrow white scar creased the perfection of her tan, pulling her right eyelid down slightly and giving her face a faint look of sleepy cynicism. A fantastically jeweled and embroidered peacock cape hung from her shoulders, contrasting oddly with her masculine linen blouse, rudely patched camvas pants, and the notched and rusty sabre in her belt. [...]
Her male companion was small, although supple and compactly built. He was blond, like the woman, with a pretty, faintly childish face and deep black eyes.
He was dressed in peach-colored satin trousers, soft white boots, and a shirt that was alive with needlepoint dragons. His mascara and eyeshadow had begun to run from perspiration, and there was a blue butterfly painted on his left cheek.  
In ihrer äußeren Erscheinung sind Marcus und Diana also erst einmal so etwas wie eine Umkehrung der traditionellen Genderklischees. Könnte man allein schon recht cool finden, aber wenn wir sie im weiteren Verlauf der Erzählung näher kennenlernen, erweist sich, dass sie viel mehr sind als das. Madison stellt nämlich nicht einfach bloß die üblichen Genderrollen auf den Kopf. Diana ist nicht das "Mannweib", Marcus nicht der "effiminierte" Mann. Selbst wenn die leicht betrunkene Diana ihren Geliebten "little doll" nennt, wirkt das weder herablassend noch so, als wolle sie ihn in die "weibliche Rolle" drängen. Es ist einfach ihr liebevoller Kosename für ihn. Letztenendes transzendieren die beiden in ihrer Charakterisierung die üblichen Genderrollen und -klischees und sind das, was solche Figuren sein sollten: Individuelle menschliche Persönlichkeiten. Und dazu noch sehr sympathische. Die Menschlichkeit der beiden Figuren wird durch kleine Randdetails wie das folgende, die für die unmittelbare Geschichte absolut keine Rolle spielen, noch verstärkt:
"The money ..."
"I've got it. Don't worry."
"I'm not worried, Terrence." 
She sometimes called him Terrence when she was a glass or two the better for it. He had the good sense not to object, and never asked who Terrence was when she sobered up.
Und diesen sehr menschlichen Charakter seiner beiden Hauptfiguren verbindet Madison mit einem ebensolchen Umgang mit dem "heroischen Ideal". So interpretiere zumindest ich das letzte Drittel der Geschichte, denn der Autor ist ein viel zu guter Erzähler, um uns irgendwelche offensichtlichen "Botschaften" um die Ohren zu hauen.
Diana und Marcus erweisen sich als kompetente Sword & Sorcery - Held*innen -- ebenso kampfgeschickt wie clever --, sobald es zum großen Gemetzel in der Krypta kommt. Wirklich besiegen können sie die Vampire zwar nicht, aber immerhin gelingt ihnen die Flucht in die labyrinthischen Gänge unter der Pyramide. Dennoch finden sie sich am Ende in einer scheinbar aussichtslosen Situation wieder. Und alle beide zeigen dabei, dass sie fähig sind, vor Angst und Verzweifelung in Tränen auszubrechen. Was ich ihnen (und Madison) hoch anrechne. Schließlich sind sie sogar so weit, gemeinsam Selbstmord begehen zu wollen, um damit dem Schicksal zu entgehen, vampirifiziert zu werden. Ich fand die Szene wirklich tief berührend.
Gerettet werden sie am Ende auf völlig unerwartete (und leicht ironische) Weise durch den Heroismus eines anderen. Einen Heroismus zudem, der nichts mit geschickt geschwungenen Schwertern zu tun hat, sondern mit echtem Mut und Selbstlosigkeit: Der Priester aus dem Turm ist ihnen offensichtlich gefolgt, um sie zu warnen. Die Pyramide hat er nie erreicht, sondern wurde bereits zuvor von den Vampiren überwältigt und getötet. Doch damit gab es auch niemanden mehr, der den Gong zur vollen Stunde schlagen konnte. Weshalb niemand mehr genau wissen konnte, wie nahe der Morgen in Wirklichkeit bereits war. Was den Vampiren zum Verhängnis wird.               
 
Ich kann zum Abschluss nur noch einmal betonen, wie gut mir Tower of Darkness gefallen hat. Und wie sehr ich es feiern würde, wenn irgendwer mal einen Sammelband mit den Marcus & Diana - Geschichten zusammenstellen würde. Das ist 70er - Jahre - Sword & Sorcery, die es verdient hätte, wiederentdeckt zu werden.   
 

 


(1) Ich habe vor Zeiten schon einmal hier versucht, etwas genauer nachzuvollziehen, wie sich die Genrebzeichnung Sword & Sorcery letztenendes durchgesetzt hat. 

(2) Um noch ein etwas unbekannteres frühes Beispiel für die Clonan-Schwemme zu erwähnen: Cora Buhlert hat kürzlich bei Galactic Journey Kenneth Bulmers 1970 erschienen Roman Swords of the Barbarians besprochen.  

(3) Zit. nach: Mark Finn: Blood & Thunder. The Life & Art of Robert E. Howard. S. 236. 

(4) L. Sprague de Camp: Swords and Sorcery: Stories of Heroic Fantasy. S. 7.

(5) Zit. nach: Brian Murphy: Flame and Crimson. A History of Sword-and-Sorcery. S. 199. 

(6) Lin Carter: Imaginary Worlds: The Art of Fantasy. S. 146-48.

(7) Ich finde es bezeichnend, dass er Jirel of Joiry "Miss Moore's 'gal Conan'" nennt, so als sei sie nichts weiter als eine weibliche Form von Howards Barbaren. Was weder der Figur noch Moores Geschichten gerecht wird.

(8) Leider scheinen diese Werke auch heute noch von Teilen der S&S-Community ignoriert zu werden. So finden z.B. in Brian Murphys Flame and Crimson weder Alyx, noch Viriconium oder Samuel R. Delanys ab 1979 erschienene Nevèrÿon - Erzählungen Erwähnung.  

(9) Zit. nach: Brian Murphy: Flame and Crimson. S. 195/96.

(10) Jessica Amanda Salmonson: Amazons!. S. 15 

(11) Nicht unerwähnt bleiben soll auch Sorcerer's Apprentice, das von Liz Danforth geleitete Hausmagazin von Flying Buffalo (Tunnels & Trolls). Hier erschienen u.a. Stories von Tanith Lee, Janet Fox und Charles de Lint sowie im Sommer 1979 mit Garden of Blood die erste neue Dilvish - Geschichte von Roger Zelazny. 

(12) Das Interview wurde ursprünglich für den Cimmerian geführt, fand sich später aber auch auf Saunders' Website. Diese existiert inzwischen allerdings auch nicht mehr, und leider lässt sich der Text auch über die WaybackMachine nicht mehr aufrufen.  

Sonntag, 28. September 2025

Frostflower & Thorn

Ist Phyllis Ann Karr eine weitgehend vergessene Autorin? 

Ein kurzer Blick in die ISFDB offenbart zwar, dass gerade in den letzten ~zehn Jahren eine ganze Reihe neuer Romane aus ihrer Feder bei Wildside Press erschienen sind, u.a. The Bloody Herring: A Gilbert & Sullivan Space Fantasy (2014), Loon Lake Lodge - A Dialogue Novel after the Template of Thomas Love Peacock (2015) und The Vampire of the Savoy - A Gilbert & Sullivan Vampire Story (2020). Was alles sehr verführerisch klingt (zumindest in meinen Ohren). Aber ich glaube nicht, dass irgendeiner von diesen einen höheren Bekanntheitsgrad erlangt hat. Und auch ihre Werke aus den 80ern, als sie noch bei großen Verlagen wie Ace und Berkley Books veröffentlicht wurde, dürften vor allem unter den jüngeren Jahrgängen kaum mehr bekannt sein. Keines von ihnen wurde nach 1985 noch einmal neu aufgelegt, bis sich ab 1999 Wildside Press ihrer annahm. Aber das ist ja schon eher ein Nischenverlag.

Vielleicht liege ich mit dieser Einschätzung ja auch falsch. Würde mich freuen, wenn man mich eines besseren belehren könnte. Immerhin gehörte Phyllis Ann Karr zu den Autorinnen, die Martha Wells -- heute vermutlich vor allem als Verfasserin der Murderbot Diaries bekannt -- 2016 auf Twitter ihren Followern unter dem Hashtag #femmeSFF ans Herz legte. Was man in diesem Artikel von Tansy Hoskins nachlesen kann. Und 2023 erschien in Ausgabe 4 von Wyngraf, dem "Magazine of Cozy Fantasy", ein Interview mit der Autorin. Wyngrafs Herausgeber Nathaniel Webb betrachtet ihren 1986 erschienenen Roman At Amberleaf Fair als einen wichtigen Vorläufer des Subgenres -- fügt allerdings einschränkend hinzu:
Interestingly, 1986 also saw the publication of Redwall and Howls' Moving Castle, two titles that became foundation stones of cozy fantasy. But while those spawned a lengthy series and a hit film respectively, Phyllis' quiet, quirky tale of Torin the Toymaker and his travails in love and magic seemed destined to remain a cult classic
mit einer "devoted, if small following".*
 
Wie dem auch sei. Ich bin Phyllis Ann Karr zum ersten Mal vor Jahrzehnten auf den Seiten von Schwertschwester begegnet, der deutschen Übersetzung des ersten Bandes von Marion Zimmer Bradleys Anthologien-Reihe Sword and Sorceress. Ich muss allerdings gestehen, dass ihre Kurzgeschichte Der Granat und die Glorie nicht zu den Beiträgen gehörte, die sich mir dauerhaft ins Gedächtnis einbrannten. Nachdem ich sie kürzlich in Vorbereitung für diesen Beitrag noch einmal gelesen habe, verstehe ich das sogar. Womit ich nicht gesagt haben will, dass sie schlecht wäre, aber losgelöst vom größeren erzählerischen Kontext der Frostflower & Thorn - Erzählungen muss sie doch etwas blass und beliebig wirken. Aber dazu später mehr.   
 
Schwertschwester mit einer Coverillustration von Claus-Dietrich Hentschel

Als ich vor zwei Monaten die Autor*innen-Liste für meine "Traum-Anthologie" zusammenstellte, auf der auch Phyllis Ann Karr vertreten war, fühlte ich mich anschließend dazu motiviert, endlich einmal ihren 1980 erschienenen Roman Frostflower and Thorn zu lesen. Ich hatte den stets als Teil jener Entwicklung betrachtet, in deren Verlauf Ende der 70er / Anfang der 80er vermehrt Autorinnen und weibliche Hauptfiguren Eingang in die Sword & Sorcery fanden. 
In ihrem Editorial zu Toadstool Wine, einem 1975 erschienenen Gemeinschaftsprojekt von sechs "Indie-Magazinen", hatte Karr erklärt, "male chauvinism" sei wohl bedauerlicherweise "an integral part of Sword & Sorcery [...] Something about S&S being an escape into a more robust past ..." Nur um nach einem kleinen Aside über die (in ihren Augen) entmenschlichenden Tendenzen des beginnenden Computer-Zeitalters augenzwinkernd zu erklären: "[I[t's hell living in the pioneer days of the computer. It's almost enough to drive a feminist to Sword & Sorcery".
Ob man Frostflower and Thorn tatsächlich dem Genre zurechnen sollte, ließe sich sicher kontrovers diskutieren. Ich bin in so Fragen ja eher undogmatisch. Auf jeden Fall lässt sich nicht bestreiten, dass der Roman in Auseinandersetzung mit der Sword & Sorcery entstanden ist. Und das reicht für mich aus.
 
Eine "typische" S&S - Autorin ist Phyllis Ann Karr jedoch ganz sicher nicht und es sieht auch nicht so aus, als habe sie je eine engere Beziehung zum Genre oder der Szene gehabt. Von ihrer Freundschaft und Zusammenarbeit mit Jessica Amanda Salmonson einmal abgesehen.
 
Die 1944 geborene Phyllis Ann Karmilowicz wuchs als Tochter polnischstämmiger Eltern im Lake County, im Nordwesten Indianas, auf. Zur prägenden Lektüre ihrer Kindheit gehörten u.a. Lewis Carrolls Alice - Bücher, L. Frank Baums Oz und Charles Kingsleys The Water-Babies, sowie "a few 'Baba Yaga' stories from 1950s Jack and Jill magazines". Auch entwickelte sie schon früh eine große Liebe für die Opern von Gilbert & Sullivan, die zu einer wichtigen Inspirationsquelle für ihr späteres Schaffen werden sollten. In ihrer High School - Zeit wurde sie außerdem leidenschaftlicher Fan der leicht subversiven Western-TV-Serie Maverick: "I became a 'Maverickie' the way a decade or so later people were to become 'Trekkies'". (W)  In keiner der wenigen Interviews mit ihr, die ich habe finden können, erwähnt sie im Zusammenhang mit ihrer "literarischen Sozialisation" Genre-Bücher oder -Magazine im engeren Sinn.
Besonders interessant fand ich ihre Einschätzung, welchen Einfluss diese frühe Lektüre (+ Maverick) auf ihr Weltbild hatten: 
Baba Yaga as per Jack and Jill, Robin Murgatroyd [aus Gilbert & Sullivans Ruddigore] and his accursed ancestors, Clan Maverick's elevation of cowardice into an ideal: all these lent to the eager Catholicism of my formative years a certain questioning flavor, a rejection of the good/bad dichotomy which seemed predominant in much of traditional American religion and culture, in favor of the morally mixed view of the universe
Wir werden noch sehen, wie sich dies in Frostflower and Thorn niedergeschlagen hat. 
 
Phyllis Ann Karr erzählt recht gerne, dass sie ihren ersten "Roman" bereits im Alter von sieben-acht Jahren geschrieben habe. Natürlich meint sie es damit nicht so ganz ernst. Two Sisters of Switzerland sei eine Nachahmung von Heidi gewesen, zusätzlich beeinflusst durch das Spiel mit einer Nachbarstochter. "If God is merciful, it will never be published". (W) Ernsthafte schriftstellerische Ambitionen entwickelte sie erst während ihrer Studienzeit an der Colorado State University. Zwischen 1968 und '71/72 entstand das, was sie als ihre "journeyman novel" bezeichnet -- The Ring of Tumboni. Veröffentlicht wurde der Roman allerdings erst viel später und in überarbeiteter Fassung.
Zuerst einmal begann sie als Bibliothekarin zu arbeiten. Erst in einer Öffentlichen Bibliothek und nach ihrem Master-Abschluss in "Library Science" für fünf Jahre an der University of Louisville. Dabei sammelte sie einige recht frustrierende Erfahrungen:
Those were good years; but whenever any library project headed by a man was put into motion, I was made to suspend my work on the Rare Book Room backlog in order to join whatever the new effort was. (W) 
Schließlich hatte sie die Nase voll und kündigte den Job.
 
Zu diesem Zeitpunkt waren bereits einige Kurzgeschichten von ihr in unterschiedlichen Magazinen veröffentlicht worden. Dabei legte sie sich von Anfang an nicht auf ein einziges Genre fest. So erschienen 1974/75 zwei ihrer Stories in Ellery Queen' Mystery Magazine. Ihre erste phantastische Geschichte wurde 1974 in der sechsten Nummer von Jessica Amanda Salmonsons Literary Magazine of Fantasy and Terror abgedruckt. 
Schon in The Ring of Tumboni war einer der Protagonisten Robin Oakapple / Sir Ruthven Murgatroyd aus der Gilbert & Sullivan - Oper Ruddigore gewesen. In der Folge hatte sie mehrere kürzere Robin-Geschichten geschrieben. Salmonson lehnte diese ab "with indications that she wasn't interested in the character". (W) Woraufhin Karr alle direkten G&S - Bezüge aus der Geschichte strich und sie in reine Fantasy umarbeitete. Und so erschien sie dann doch noch unter dem Titel Toyman's Trade und wurde zur Geburtsstunde von "Torin the Toymaker", dessen weitere Abenteuer ihren Weg in den frühen 80ern gleich in zwei von Salmonson zusammengestellte Anthologien finden sollten -- Tales by Moonlight (1983) und Heroic Visions (1983). Was Karr ziemlich amüsierte -- waren die Stories doch weder Horror noch Sword & Sorcery. Seinen größten Auftritt würde Torin schließlich in At Amberleaf Fair (1986) erhalten.
 
Obwohl ihre literarischen Geschmäcker in vielem "almost diametrically opposed" (W) waren, entwickelte sich sehr schnell eine enge und freundschaftliche Beziehung zwischen Karr und Salmonson. Die siebte Ausgabe des Literary Magazine of Fantasy and Terror (1975) nennt Karr als Co-Herausgeberin und auch in dem schon erwähnten Sammelband Toadstool Wine (1975) treten die beiden gemeinsam auf. 
 
Im Sommer 1977 nahm Karr an einem von George R.R. Martin ausgerichteten Autor*innen - Workshop am Clarke College in Dubuque (Iowa) teil.  Dort entstand die erste Fassung von Frostflower and Thorn. Im Nachwort zur Neuauflage von 2012 erzählt Karr, dass Gene Wolfe einer der Gäste des Workshops war und dass auf ihn die Idee zurückgeht, alle Mitglieder des Kriegerstandes in den Tanglelands zu Frauen zu machen. Ein Jahr später nahm Karr das Manuskript zu einem weiteren Workshop nach Indiana mit. Dort kam es u.a. Ursula K. LeGuin unter die Augen, die sich offenbar alles andere als begeistert zeigte: "[She] either hated my work or gave a darn good impression of hating it." Nun denn, auch eine LeGuin hatte halt nicht immer recht ... Dafür lernte Karr dort ihre zukünftige Agentin Barbara Lowenstein kennen, die den Roman schließlich bei Berkley Books unterbrachte.
 
Im selben Jahr 1980, in dem Frostflower and Thorn erschien, wurden auch ihre ersten beiden Historical Romance - Bücher -- My Lady Quixote und Lady Susan -- veröffentlicht. Weiterhin sah Phyllis Ann Karr keinen Anlass, sich auf ein einziges Genre festzulegen. 

Frostflower and Thorn mit einer Coverillustration von Enric (Torres-Prat)

Der Tag beginnt nicht gerade toll für die Kriegerin Thorn. Missmutig und rüde setzt sie den jungen Kaufmann Spendwell, mit dem sie die letzte Nacht verbracht hat, vor die Tür. Der kann zwar eigentlich nichts für ihren Zustand, aber an irgendwem muss sie ihre Wut auslassen. Denn die morgendliche Übelkeit gemahnt sie nur zu deutlich an das Problem, mit dem sie sich nun endlich ernsthaft auseinandersetzen muss: Sie ist schwanger. Und sie hat auch nicht das geringste Interesse daran, Mutter zu werden. Also gilt es, eine Abtreibung zu organisieren. Fragt sich nur, ob sie genug Geld aufbringen kann, um sich einen ausgebildeten Medicus leisten zu können. Oder ob sie dafür weniger respektable Dienste in Anspruch nehmen muss. Der misslungene Versuch, den bescheidenen Inhalt ihres Geldbeutels mit einem kleinen Würfelspielchen aufzubessern, scheint diese Frage ein für alle Mal zu beantworten. Doch da tritt völlig überraschend die junge Zauberin Frostflower an sie heran und macht ihr ein ungewöhnliches Angebot: Sie könne ihre Schwangerschaft auf magische Weise in wenigen Stunden zu einem Ende bringen und verlange als Gegenleistung nichts außer dem Baby, das Thorn ja ohnehin nicht haben will. Die "sorceri" sind eine mit einer Mischung aus Furcht und Verachtung beäugte Minderheit in der Gesellschaft der Tanglelands. Dennoch geht Thorn auf das Angebot ein. Und damit beginnt der Ärger erst so richtig.        
 
Ich kann mir vorstellen, dass diese Eröffnungssequenz des Romans zum Zeitpunkt seines Erscheinens ziemlich provokant gewirkt haben muss. "Casual Sex" war in der Sword & Sorcery zwar nichts wirklich ungewöhnliches, aber die Selbstverständlichkeit, mit der Karr das Thema Abtreibung behandelt, dürfte 1980 manche Leser*innen wahrscheinlich schockiert haben. Vergessen wir nicht, dass das Urteil in "Roe v. Wade" gerade einmal sieben Jahre zurück lag. Wie das angesichts der reaktionären Entwicklungen der letzten Zeit heute aussehen würde, wage ich nicht zu beurteilen.
Zwar findet die Abtreibung nicht wirklich statt. Vielmehr beschleunigt Frostflower die Entwicklung des Fötus auf magische Weise, so dass er im Verlaufe eines Nachmittags zu einem Baby heranwächst, das dann zur Welt kommt. Aber sie tut das nicht, weil es ihr darum gehen würde, ein "ungeborenes Leben" zu retten. Und die Erzählung verurteilt zu keinem Zeitpunkt Thorns ursprüngliche Entscheidung oder lässt die Kriegerin in einem schlechten Licht erscheinen, weil sie auch nach der Geburt keine mütterlichen Gefühle für das Kind entwickelt.      
 
Die Mutterrolle übernimmt stattdessen Frostflower, die sofort eine tiefe Bindung zu dem Baby entwickelt. Sie hat vor, den kleinen Starwind (wie sie ihn tauft) nach Windslope zu bringen, einen der Rückzugsorte ("retreats") der Sorceri, wo sie selbst aufgewachsen ist.
 
Da es als unumstößliche Wahrheit gilt, dass Jungfräulichkeit die Voraussetzung für die Entwicklung und Beherrschung magischer Kräfte ist, können die Sorceri ihren Nachwuchs nicht auf "natürliche Weise" sichern. Und ihre gesellschaftliche Pariah-Stellung führt dazu, dass sich ihrer Gemeinschaft kaum jemand freiwillig anschließt. Die Aufnahme von Waisenkindern ist deshalb eine beliebte Praxis. 
Unglücklicherweise nährt das aber auch das ohnehin schon verbreitete Gerücht, die Sorceri würden Kinder stehlen. Ein Grund, warum Thorn als eine Art Leibwächterin Frostflower und das Baby bis nach Windslope begleiten soll. Als es auf dem Weg dennoch zu einer Begegnung mit dem örtlichen Grundherren (und Priester) Maldron kommt, die durch eine Verkettung unglücklicher Umstände mit einem kleinen Handgemenge endet, stößt dies die eigentliche Handlung des Romans an. Maldron ist von nun an darauf erpicht, das "gestohlene Kind" zu "befreien". 
 
Es ist vermutlich nicht ganz unbeabsichtigt, dass das Verhältnis der dominierenden Gesellschaft der Tanglelands zu den Sorceri gewisse Assoziationen zu den Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit wachruft. Dass Hexen sich gerne an Kindern vergreifen, war nämlich auch dort eine der geläufigen Wahnideen. Auch wenn ihnen dabei meist sehr viel morbidere Beweggründe unterstellt wurden als den Sorceri. Körperteile von Kindern (oder auch "Kinderschmalz") galten als ein wichtiger Bestandteil der berüchtigten "Hexensalbe". Aber auch die Vorstellung, dass Hexen frisch geborene (und ungetaufte) Kinder dem Satan weihen und damit in ihre Teufelsbundschaft aufnehmen würden, war nicht ganz unbekannt. Eine noch deutlichere Verwandtschaft besteht in Sachen "Wetterzauber". Das Heraufbeschwören von Unwettern gehörte zu den Fähigkeiten, die man Hexen traditionell nachsagte. Und tatsächlich bildet Wetterbeeinflussung neben der Manipulation von Zeit (und dem damit verbundenen Wachstum oder Zerfall) eine der Hauptkünste der Sorceri. Mehr als einmal ruft Frostflower im Laufe des Romans Blitze vom Himmel.
 
Allerdings darf man diese Parallelen auch nicht überbewerten. Individuelle Sorceri werden in den Tangelands zwar verfolgt und zum Teil äußerst grausamen Bestrafungen (bis hin zum öffentlichen "Ausweiden") unterzogen, aber es herrscht kein allgemeiner "Hexenwahn". Die gesellschaftliche Stellung der Sorceri ähnelt eher der einer marginalisierten Minderheit. 
Noch sehr viel wichtiger scheint mir folgender Unterschied zu sein: Zwar war es keineswegs so, dass ausschließlich Frauen Opfer der Hexenverfolgungen geworden wären. Aber es lässt sich doch kaum bestreiten, dass eine christlich eingefärbte Misogynie wichtiger Bestandteil des Hexenwahns war. Man braucht bloß mal einen Blick in das sechste Kapitel des berüchtigten Hexenhammers (Malleus maleficarum) von Sprenger & Institoris zu werfen. Dieses Element fehlt bei der Diskriminierung der Sorceri völlig. Deren Gemeinschaft scheint in ihrer Genderzusammensetzung ausgeglichen zu sein.  Die Begriffe "sorceron" (sg.) und "sorceri" (pl.) waren von Karr sogar ausdrücklich als "gender-inclusive terms" konzipiert. Dementsprechend tragen auch die gegen sie erhobenen Vorwürfe keine spezifisch misogynen Züge.
 
Was uns geradewegs zu einem der wichtigsten Gründe führt, warum mir der Roman so gut gefallen hat. Ich hätte mir nämlich sehr leicht eine deutlich simplistischere Variante desselben Szenarios vorstellen können. Doch Karr entwirft gerade nicht das schwarz-weiße Bild eines "bösen Pariarchats" und einer von diesem unterdrückten Gemeinschaft "magischer Frauen". Die Gesellschaft der Tanglelands (und vor allem ihre herrschende Klasse) besitzt zwar patriarchale Züge, während unter den Sorceri "true gender equality" herrscht. Dennoch ist das Gesamtbild sehr viel komplexer.
 
Das Worldbuilding war für mich einer der stärksten Aspekte von Frostflower and Thorn. Dabei folgt der Roman in vielem gerade nicht den geläufigen Präferenzen eines generischen Fantasyromans. Das beginnt schon damit, dass wir beim Aufschlagen des Buches keine der üblichen Landkarten präsentiert bekommen. Tatsächlich hatte ich während der gesamten Lektüre nie den Eindruck, mehr als eine vage Vorstellung von der Geographie der Tanglelands vermittelt zu bekommen. Die eigentliche Handlung spielt sich in einem recht überschaubaren Areal ab. Alles was sich jenseits davon befindet, bleibt äußerst verschwommen. Dasselbe gilt für die Historie der Tanglelands. Wir erhalten bloß ein, zwei vage Einblicke in vergangene Ereignisse und Entwicklungen. Und auch dies nicht in Form "autoritativer" Aussagen. Wir erfahren bloß, was in bestimmten sozialen Kreisen darüber erzählt wird.  Allerdings ist dies zumindest ausreichend, um den Eindruck gesellschaftlichen Wandels zu erzeugen. Die Welt war nicht immer so, wie sie in der Gegenwart aussieht. Für mich ein sehr wichtiger Punkt. Denn worin Karrs Worldbulding meiner Meinung nach wirklich zu glänzen versteht, ist die Schilderung einer sozialen Ordnung und der Art, wie diese die Menschen prägt, die in ihr leben.
 
Die Gesellschaft der Tanglelands ist primär agrarisch geprägt, das technologische Niveau vormodern. Dementsprechend bilden Großgrundbesitzer die herrschende Klasse. So weit also alles wie gehabt. Aber Karr verzichtet dabei auf einen Gutteil der üblichen klischeehaften Verzatzstücke eines "Fantasy-Mittelalters". Bei ihr gibt es keine Burgen und Ritter, keine Könige oder Adeligen mit pompösen Titeln.  Die Grundherren bilden keine Kriegeraristokratie, weder in ihrem Selbstverständnis, noch in ihrer sozialen Funktion. Sie werden "farmer-priests" genannt, und das beschreibt recht genau die zwiefache Grundlage ihrer privilegierten Stellung. Materiell basiert sie auf Landeigentum und der Arbeit einer nominell zwar freien, aber nicht zufällig als "chattel" umschriebenen Arbeiterschaft. Ideologisch auf ihrer Rolle als Priester. Der religiöse Aspekt scheint über die Zeiten an Bedeutung zugenommen zu haben. Die "farmer-priests" gelten selbst als "heilig", ihre Körper als "unantastbar". Das findet seinen Ausdruck nicht nur in einer Obsession für "rituelle Reinheit", sondern erklärt auch, warum sie nicht selbst das Kriegshandwerk ausüben können. 
Für diese Aufgabe existiert eine eigene Kaste, die ausschließlich aus Frauen besteht. Ursprünglich rekrutierte sie sich anscheinend aus weiblichen Mitgliedern der Grundherren- und Priesterklasse, doch ist das inzwischen ferne Vergangenheit und weitgehend in Vergessenheit geraten. Dennoch könnte das einer der Gründe dafür sein, warum die Kriegerinnen immer noch gewisse Privilegien gegenüber den "Gemeinen" genießen. Daraus sollte man jedoch keine Schlüsse über die soziale Stellung von Frauen im allgemeinen ziehen. Wie wir am Beispiel von Thorn und dem Händler Spendwell sehen, kann es zwar zu einer Umkehrung der "traditionellen", patriarchalen Dynamiken von Dominanz und Unterordnung kommen, wenn es um eine Kriegerin und einen Gemeinen geht, aber das ist in erster Linie eine Klassenfrage. Auch wird stark angedeutet, dass das Kriegerhandwerk deshalb den Frauen überlassen wurde, weil diese als Individuen weniger zählen und ihr etwaiger gewaltsamer Tod deshalb leichter in Kauf genommen werden kann. Einige der Kriegerinnen scheinen in längerfristigen Dienstverhältnissen zu bestimmten "farmer-priests" zu stehen und bilden so etwas wie feudale Gefolgschaften. Doch die meisten, wie Thorn, führen ein ziemlich unstetes Leben, ziehen kreuz und quer durch die Tanglelands und verdingen sich, wo immer ihre Dienste gebraucht werden. Dieser Lebenswandel könnte einer der Gründe für die ziemlich "lockere" Sexualmoral sein, die unter der Kriegerinnen herrscht. "Casual Sex" mit häufig wechselnden Partnern ohne irgendwelche romantischen Gefühle oder Bindungen scheint bei ihnen die Norm zu sein.
Die "Gemeinen" -- Handwerker, Händler und natürlich die Landarbeiter -- bilden die große Mehrheit der Bevölkerung. Die direkte Herrschaft der einzelnen "farmer priests" reicht wohl nicht über ihre individuellen Landgüter hinaus, doch dominieren sie auch das jeweilige Umland und seine Bewohner. Nur die größeren Städte scheinen sich allmählich zu autonomen Machtzentren zu entwickeln, deren Oberhäupter nicht länger bereit sind, den "farmer priests" blind in allem zu gehorchen. Doch noch ist es wohl nicht zu offenen Konflikten gekommen.  
Die Sorceri schließlich stehen gänzlich außerhalb dieser Drei-Klassen-Ordnung.
 
Die soziale Hierarchie der Tanglelands beeinflusst nicht nur die Art und Weise, wie sich Personen zueinander verhalten, abhängig von ihrer Klassenstellung. Da sie aufs engste mit der Religion verknüpft ist, die von den "farmer priests" gepredigt wird, schlägt sie sich auch im Wertesystem und dem Gefühlsleben der Menschen nieder. Das gilt vor allem für die ständige Angst vor der jenseitigen Strafe, die die Sünder*innen im "hellbog" erwartet. Thorn hat da mehr als einmal mit zu ringen. 
Auch die Diskriminierung der Sorceri wird religiös begründet, sie gelten als "Häretiker", die das Volk mit ihren Irrlehren zu korrumpieren versuchen. Abergläubischere Leute (vor allem aus dem "einfachen Volk") bringen sie wohl auch mit den Dämonen, die den "hellbog" beherrschen in Verbindung.
 
Die Frage, ob man die Religion der "farmer priests" als Kommentar auf den christlichen Fundamentalismus interpretieren soll, dessen Einfluss auf Politik und Gesellschaft der USA Ende der 70er / Anfang der 80er Jahre merklich anzuwachsen begann, finde ich schwer zu beantworten. Gewisse Anklänge gibt es da sicher. Doch wie bereits gesagt, ist Karrs Darstellung weit entfernt von einer simplistischen Schwarz-Weiß-Malerei. Und das war eine sehr bewusste Entscheidung der Autorin: 
In the world of the Tanglelands, the prejudice cuts both ways: the sorceri, who in some sense actually collaborate in their own persecution, are every bit as prejudiced against the farmer-priests as vice versa.
Als Opfer von Diskriminierung und Gewalt genießen die Sorceri natürlich unsere Sympathie. Selbst wenn sie mitunter aktiv dazu beitragen, ihren Ruf als "gefährliche Hexer" am Leben zu erhalten, da sie glauben, dass die Furcht vor ihren "dämonischen Kräften" sie vor gar zu unüberlegten Übergriffen schützen werde. Auch ist ihre Philosophie der Gewaltlosigkeit und kompromisslosen Wahrhaftigkeit (Frostflower weigert sich selbst in extremen Situationen zu lügen oder jemanden aktiv zu verletzen), sicher anziehender als die Lehren von Gehorsam und Höllenpein. Auch wenn ich zugeben muss, dass mir das Ganze streckenweise etwas zu sehr nach New Age geschmeckt hat. Ein Einfluss, dem man in der Fantasyliteratur der 80er Jahre ja nicht selten begegnet. Glücklicherweise ist er hier aber nicht gar zu aufdringlich.
Dennoch sind die Sorceri nicht die unfehlbaren Besitzer von Weisheit und Wahrheit. Frostflowers Sicht auf die Religion der übrigen Bewohner der Tanglelands gleicht zu Beginn (wohl nicht zufällig) ganz der simplistisch-"aufklärerischen" "Priestertrugs-These". Sie glaubt, dass es sich dabei um eine zynische Erfindung der "farmer-priests" handelt, die ausschließlich dazu dient, deren privilegierte Stellung zu legitimieren. Und sie ist mehr als ein wenig überrascht, als sie feststellen muss, dass Leute wie Maldron und seine Ehefrau Inmara tatsächlich an ihre Götter glauben. Und dass ihnen ihre Religion nicht weniger wichtig ist als den Sorceri ihre Philosophie und ihr Ein-Gott-Glaube. Am Ende des Romans zeigt sich außerdem, dass auch die Weltsicht der Sorceri in mindestens einem zentralen Punkt fehlerhaft ist.
 
Damit kommen wir zu dem Element des Romans, über das es mir am schwersten fällt, zu schreiben. Der Rolle, die ein Akt sexualisierter Gewalt für die Handlung spielt. 
Wie schon erwähnt, sind sowohl die "farmer priests" als auch die Sorceri selbst davon überzeugt, dass Jungfräulichkeit die unabdingbare Voraussetzung für den Einsatz von Magie ist. Für die Sorceri ist das sogar ein zentraler Punkt ihrer Philosophie und hat etwas mit ihrem Verständnis vom göttlich-natürlichen Gleichgewicht der Kräfte zu tun. So gesehen erscheint es auf perverse Weise nur folgerichtig, dass Sorceri, die sich vermeintlich besonders großer Verbrechen schuldig gemacht haben, als Teil ihrer Bestrafung vergewaltigt werden. Das gilt für Männer wie für Frauen. Schließlich kann ihnen nur auf diese Weise ihre Macht genommen werden. Der Vergewaltiger bzw. die Vergewaltigerin wird dies allerdings kaum je ganz freiwillig tun, da die Sorceri für gewöhnlich den letzten Rest ihrer Macht einsetzen, um ihre Peiniger*innen auf magische Weise um Jahrzehnte altern zu lassen.
Nun galt es schon Ende der 70er Jahre als ein Klischee der Sword & Sorcery, dass die Heldin vergewaltigt wird, um danach zur rächenden Kämpferin zu werden. Und natürlich wurde das auch zu dieser Zeit bereits kritisiert. So schrieb Jessica Amanda Salmonson in ihrer 1979 erschienen Anthologie Amazons!: "It is not heartwinning to think women need be raped to metamorphose from victim to warrior." (S. 51) Ich bin mir nicht ganz sicher, wie verbreitet dieser Trope im Genre tatsächlich war. Mit der Figur von Red Sonja besaß er auf jeden Fall eine sehr prominente Vertreterin, und mir sind auch ein paar weitere Beispiele bekannt. 
Ich bin kein grundsätzlicher Gegner von Rape-Revenge-Geschichten. Allerdings auch kein großer Freund derselben. Und als klischeehafte Origin Story einer Heldin sollte man sie ganz sicher nicht verwenden. Frostflower and Thorn gehört aber ohnehin nicht in diese Kategorie. Zwar wird Frostflower ein Opfer sexualisierter Gewalt, nachdem sie dem "farmer-priest" Maldron ein zweites Mal in die Hände gefallen ist, aber das macht sie in der Folge nicht zur wütenden Rächerin. Vergeltung ist kein Motiv, das in dem Roman eine Rolle spielen würde. 
Nichtsdestotrotz ist dies ein wichtiger Wendepunkt in der Handlung. Besteht die zweite Hälfte des Romans doch hauptsächlich aus Thorns Bemühungen, zuerst Frostflowers Leben zu retten und dann ihren Lebenswillen neu zu wecken. Denn für die Zauberin ist das, was man ihr angetan hat, mehr als nur eine furchtbare Gewalttat. Sie hat das Gefühl, dass man ihr zugleich mit ihren magischen Kräften einen essenziellen Teil ihrer selbst geraubt hat.
Statt dem genreüblichen Racheverlangen steht bei Karr also der aus Freundschaft geborene Versuch zu helfen und zu heilen im Zentrum. Dabei ist Thorn wirklich alles andere als die geborene "Heilerin". Ihrem Temperament würde es viel eher entsprechen, das Schwert zu zücken. Aber sie weiß, dass Frostflower damit nicht geholfen ist. Und auch wenn diese sich zeitweilig selbst aufgegeben hat, ist Thorn nicht bereit, das einfach so hinzunehmen. Schließlich gelingt es ihr sogar, ihre Freundin davon zu überzeugen, dass diese den vermeintlichen Verlust ihrer Kräfte nicht einfach als eine unumstößliche Tatsache akzeptieren sollte. Nur weil alle Welt etwas glaubt, muss es nicht stimmen. Und tatsächlich gewinnt Frostflower am Ende des Romans ihre Magie zurück. Und widerlegt damit einen zentralen Punkt ihrer eigenen Weltanschauung.    
 
Es ist diese zweite Hälfte des Romans, in der die ursprünglich ja ganz zufällige und zuerst einmal sehr zweckorientierte Bekanntschaft der beiden zu einer echten Freundschaft vertieft wird. Thorn rettet Frostflower in mehr als nur einer Hinsicht das Leben. Und die Schilderung dieser sich allmählich (und anfangs fast "gegen den Willen" der Beteligten) entwickelnden Freundschaft zwischen zwei sehr unterschiedlichen Frauen ist sicher einer der sympathischsten Aspekte des Romans. Denn auf den ersten Blick "passen" die beiden eigentlich überhaupt nicht zueinander. Die impulsive, pragmatische, leicht hedonistische, zu vulgärer Sprache und Aggressivität neigende Thorn und die sanftmütige, philosophisch veranlagte, sehr idealistische und einem eher asketischen Lebenswandel anhängende Frostflower. Besonders gut hat mir dabei gefallen, wie Karr die unterschiedlichen Persönlichkeiten ihrer beiden Heldinnen auch in Sprachstil und Wortwahl zum Ausdruck bringt, abhängig davon aus welcher Perspektive die jeweilige Passage erzählt wird. (Einer meiner Lieblingssequenzen: "Anyway, the swordswoman could not squat here like a cheese waiting to go moldy. She had to get out.")
Für die Autorin sind die beiden in gewisser Hinsicht Archetypen. Wie sie im Vorwort zur Neuauflage des Romans von 2012 schreibt:
My most important characters tend to fall into one of two types.
Recognizing them in the Biblical Martha and Mary of Bethany, I suspect they are archetypes, known to many other human beings besides me.
Believing them not so much androgynous as transcending gender lines, in my mind I call them Sir Kay and Sir Ruthven. Based on my own readings of the Arthurian romances and the Gilbert & Sullivan operas, this is in general the way I see them: Kay is practical, hard-spoken, impatient (especially with incompetence), no-nonsense, brusque to the point of rudeness; Ruthven (a.k.a. Robin Oakapple) is gentle, dreamy, a bit shy, almost unfailingly courteous, yet with some lurking potential for mischief. Both have a streak of idealism, but Kay’s takes the form of feisty determination to see things done right and refusal to suffer fools gladly, while Ruthven’s tends to greater introspection [...]
I call them Sir Ruthven and Sir Kay, after two of my lifelong favorites in other writers’ works [...]
I could also call them Frostflower and Thorn.   
Aber Archetypen sind, wenn man auf geschickte Weise mit ihnen arbeitet, nicht das selbe wie Klischees. Und so sind auch Karrs Heldinnen lebendig gezeichnete Menschen mit individuellen Persönlichkeiten.
 
Wo der Roman für mich ein wenig ins klischeehafte abrutscht, ist in der Charakterisierung des Antagonisten. Maldron ist auf eine geradezu monomanische Weise darauf fixiert, Frostflower nach ihrer Rettung vom Galgen erneut in die Finger zu bekommen. Der Grund dafür? Er hat sich in sie "verliebt". Besser gesagt: Er hat eine erotisch-sexuelle Obsession für sie entwickelt. Er will sie nicht töten, sondern zu seiner Konkubine machen (nachdem sie rechtlich nicht länger als legitime Nebenfrau in Frage kommt). Vielleicht stimmt das objektiv überhaupt nicht, sondern ist bloß Ausdruck meiner persönlichen Vorlieben und Abneigungen, aber ich finde das Motiv des "Hexenjägers", der eine Obsession für die "Hexe" entwickelt, etwas abgeschmackt. Ansatzweise findet man es schon in so klassischen Figuren wie dem Templer Brian de Bois-Guilbert aus Walter Scotts Ivanhoe oder auch Dom Frollo aus Victor Hugos Glöckner von Notre-Dame. Sicher ist es nötig, Maldron mit einer besonders starken Motivation für sein Handeln auszustatten. Aber ich hätte es sehr viel interessanter gefunden, wenn es ihm z.B. um die kompromisslose Verteidigung des Gesetzes gegangen wäre. Frostflower ist "schuldig" und darf sich auf keinen Fall ihrer Strafe entziehen! Dazu hätte man ihn nicht einmal zum blinden Fanatiker machen müssen. Sein Gedankengang hätte ebenso gut wie folgt aussehen können: Die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung beruht auf dem Respekt vor dem Gesetz. Wenn wir als "Autorität" einer "Schuldigen" erlauben zu entkommen, wie können wir dann erwarten, dass das "einfache Volk" den Gesetzen gehorcht? 
 
Aber vermutlich ist das eine bloße Geschmacksfrage. Und die etwas klischeehafte Zeichnung Maldrons hat den Roman für mich nicht kaputt gemacht. Auch könnte ich mir vorstellen, dass die Figur des Händlers Spendwell vielen Lesenden sehr viel "problematischer" vorkommen wird. 
Der ist nämlich der (wenn auch unfreiwillige) Vergewaltiger Frostflowers, hilft Thorn aber später, die Zauberin zu retten und in Sicherheit zu bringen. Sein Schuldbewusstsein ist sicher der Hauptgrund dafür, dass er relativ schnell bereit ist, sie zu unterstützen. Aber dennoch bekommt man den Eindruck, dass er das wahre Ausmaß dessen, was er Frostflower angetan hat, nie wirklich versteht. Und die Erzählung "maßregelt" ihn nicht dafür. Was jedoch keineswegs bedeutet, dass die Vergewaltigung selbst in irgendeiner Weise bagatellisiert würde. Das zeigt sich deutlich an der Art, wie Frostflower auf Spendwell reagiert. 
Man kann das unangenehm finden, aber in meinen Augen entspricht diese Darstellung ziemlich gut dem Charakter der Welt, in der der Roman spielt. Vergessen wir nicht, dass eine solche Vergewaltigung in den Tanglelands nichts ungewöhnliches ist, und von der herrschenden Moral keineswegs verurteilt, sondern als ein Akt der "Gerechtigkeit" angesehen wird. (Der zweite Frostflower & Thorn - Roman beginnt mit einer Sequenz, in der Thorn auf den Befehl ihrer Oberen die Vergewaltigung eines männlichen Sorceron durchführen soll). Es ist deshalb keineswegs selbstverständlich, dass Spendwell überhaupt das Gefühl hat, etwas verwerfliches getan zu haben. Wenn sein Schuldeingeständnis dennoch etwas oberflächlich wirkt, dann kommt mir das in Anbetracht der Umstände nur realistisch vor. Einen expliziten Erzählerinnenkommentar dazu braucht es meines Erachtens nicht. Die Lesenden werden sich schon selbst ihr Urteil bilden können.
 
Schließlich noch ein paar Worte zu Inmara, der Hauptfrau Maldrons. Sie war für mich die sehr viel bessere Antagonistin als ihr Gatte. Ihr geht es weniger um die Bestrafung der "Hexe" als vielmehr darum, mit dem kleinen Starwind noch einmal ein Kind bekommen zu können, nachdem alle "Fruchtbarkeitsrituale", die sie gemeinsam mit ihrem Mann in den Wäldern durchgeführt hat, erfolglos geblieben sind. Dass sie damit eigentlich genau das tut, was man Frostflower vorwirft, nämlich ein Kind zu "stehlen", ist ihr in wachen Momenten zwar durchaus bewusst, aber es gelingt ihr, immer neue Argumente zu finden, mit denen sie ihr Verlangen vor sich selbst rechtfertigen kann. Mit ihr als "Gegenspielerin" erhält das ganze Szenario den Charakter eines Konfliktes zwischen "Müttern": Thorn ist die biologische Mutter, Frostflower die emotionale und Inmara wäre gerne beides, ist aber keines davon. Dabei ist sie nicht unsympathisch gezeichnet. Und anders als ihr Mann gelangt sie am Ende zur Einsicht in ihr Fehlverhalten.
 
Damit ist Inmara auch eine der Repräsentantinnen für das, was ich für eines der Hauptmotive der Erzählung halte. Für mich ist Frostflower and Thorn letztenendes nämlich vor allem (auch) ein Roman über das Infragestellen von Weltanschauungen und Wertesystemen. Das Angenehme dabei ist, dass das auf allen Seiten geschieht. Niemand ist hier im Besitz der absoluten "Wahrheit" -- nicht die Sorceri und nicht die "farmer priests". Dabei geht es Phyllis Ann Karr keineswegs darum, eine postmodern-relativistische Sicht zu vermitteln, die den Begriff der objektiven Wahrheit ablehnen und in unzählige subjektive Betrachtungsweisen und "Narrative" auflösen würde. Ihr geht es vielmehr um Offenheit, Toleranz, Menschlichkeit und um die Ablehnung von Rechthaberei und Grausamkeit, die aus derselben entspringt. Ob es den Einen Gott der Sorceri oder die vielen Götter der "farmer priests" tatsächlich gibt (die Erzählung gibt uns da keinerlei Hinweise, das hier könnte auch eine völlig götterfreie Welt sein) ist letztlich sehr viel weniger wichtig als die Art, wie wir Menschen miteinander umgehen.
 
Ist Frostflower and Thorn ein Sword & Sorcery - Roman? Wenn man darunter ausschließlich actiongeladene Abenteuer mit viel herumspritzendem Blut und Gedärmen versteht, wohl eher nicht. Auch wenn ich die eine "große" Action-Szene gegen Ende des Buches, in der es zu einem Scharmützel in den nächtlichen Gassen eines Dorfes kommt, extrem gut geschrieben fand. Andererseits gleicht vor allem Thorn in vielerlei Hinsicht schon einer ziemlich typischen S&S-Heldin. Wie die Autorin selbst diese Frage vermutlich beantworten würde, lässt ihre zweite Frostflower & Thorn - Kurzgeschichte A Night at Two Inns erahnen, die 1985 im zweiten Band von Marion Zimmer Bradleys Antho-Reihe Sword & Sorceress erschien.
 
Wie ich eingangs erwähnt habe, hat mich die erste dieser Stories auch nach mehrmaligem Lesen nicht wirklich vom Hocker reißen können. Aber im Grunde dient The Garnet and the Glory vor allem dazu, das Tor in ein ganzes Multiversum aufzustoßen, in dem Karrs Heldinnen in der Folge dann munter von Welt zu Welt hüpfen können. Da mir an ihrem ersten Roman so gut gefallen hatte, wie stark ihre Figuren in der Realität der Tangleands verankert sind, fand ich es zwar etwas schade, dass sie dabei deutlich an Bodenhaftung verlieren. Zugleich eröffnet sich damit aber auch die Möglichkeit für alle möglichen neckischen Crossovers. So besuchen Frostflower und Thorn in A Glassmaker's Courage (1989) das Universum von M. Coleman Eastons "Masters of Glass" - Romanen (die ich nicht gelesen habe), stolpern in The Dragon, the Unicorn and the Teddy Bear (1989) in eine Welt, die von lebendigen Spielzeugen (?) bevölkert wird, statten in The Truth about the Lady of the Lake (1990) Arthur und Merlin einen Besuch ab und begegnen in The Robber Girl, the Strangers, and Ole Lukoie (2003) schließlich Karrs eigenem "Räubermädchen", das seinerseits ja den Märchen von Hans Christian Andersen entsprungen war. A Night at Two Inns schließlich ist in erster Linie ein Kommentar auf die "klassische" Sword & Sorcery.
 
Frostflower und Thorn finden sich in einer Art tief verschneitem Limbo wieder, in dem zwei Gasthäuser auf sie warten. Das eine ist menschenleer und heruntergekommen, der Wirt ein missmutiger Geselle, der nicht einmal ernsthaft versucht, seinen potenziellen Gästinnen das Gefühl zu vermitteln, willkommen zu sein. In dem anderen steppt der Bär. Eine lärmende Gesellschaft von Haudegen und Halunken vergnügt sich mit Wein, Gesang und wilden Schaukämpfen. Unter den Feiernden finden sich auch die (natürlich nicht namentlich genannten) Comic-Inkarnationen von Conan und Red Sonja, die auf Thorn einen ziemlich lächerlichen Eindruck machen (nicht nur wegen des Chainmail Bikinis). Dennoch hat diese Taverne so einiges zu bieten, was die Kriegerin anzieht. Nicht nur wird hier dem Glücksspiel gefrönt (eine von Thorns großen Schwächen), sie beginnt auch sofort mit dem Satyr-Kellner zu flirten. Für Frostflower ist das alles natürlich eher nichts. Nach einiger Zeit erfahren unsere Heldinnen, dass eine der beiden Schenken in Wirklichkeit eine Art Wartehalle für Walhalla ist. In regelmäßgen Abständen kommen irgendwelche "Götter" vorbei, die alle Gäste einsacken, um sie dann in irgendeinem "ewigen Krieg" als Kanonenfutter zu verpulvern. Spätestens als ein Barde anfängt, eine lange Ballade anzustimmen, in der es hauptsächlich darum geht, wieviele Leute von irgendeinem Helden abgemetzelt wurden, sollte eigentlich kein Zweifel mehr daran bestehen, welche der beiden Tavernen gemeint ist. Thorn braucht trotzdem beinah zu lange, um drauf zu kommen (der Satyr ist aber auch einfach zu sexy).
 
Ich habe A Night at Two Inns als eine Kritik an den Klischees der "klassischen" Sword & Sorcery und vor allem an deren Verhältnis zu Gewalt und Blutvergießen gelesen. Wobei Karr jedoch zugleich anerkennt, dass zumindest eine ihrer beiden Heldinnen letztlich aus diesem Milieu stammt und ihm immer noch verbunden ist. Was für mich eine recht gute Beschreibung der Beziehung zwischen Frostflower and Thorn und der S&S darstellt.
 
Ach ja, eins noch zum Abschluss: Frostflower hat einen kleinen Mischlingshund namens Dowl, mit dem Thorn sich nur widerwillig anfreunden kann. Und alles ist besser mit kleinen Mischlingshunden.    
 
Frostflower und Dowl. Illustration von George Barr für A Glassmaker's Courage

 
EDIT: Zwei Jahre nach Fostflower and Thorn erschien die Fortsetzung Frostflower and Windbourne. Phyllis Ann Karr hätte gerne noch einen dritten Band (Frostflower's Choice) geschrieben, doch fehlte dafür das Interesse des Verlags:
When every other writer in the SF/Fantasy field was moaning and groaning that their publishers forced them to do trilogies and didn't want anything else but trilogies, my publishers wouldn't let me do one! Frostflower and Thorn should have been a trilogy, but I guess the second book [...] fell so far behind the first in sales that Ace / Berkley decided they didn't want the third. (W)
 
  
 
 
 * Alle Zitate, die aus diesem Interview stammen, werden im Folgenden mit einem (W) gekennzeichnet. Zitate, die weder mit einem Link noch mit einer solchen Kennzeichnung versehen sind, stammen sämtlich aus der 2012 erschienenen überarbeiteten Neuauflage von Frostflower and Thorn.

Montag, 25. August 2025

Imaro in der Stadt des Wahnsinns

Anfang Juli verkündete die Canadian Science Fiction and Fantasy Association (CSFFA), dass sie zusammen mit Clint Budd und Diane L. Walton auch Charles R. Saunders (postum) in ihre Hall of Fame aufgenommen hat. Rein zufällig erreichte mich ungefähr zur selben Zeit The Quest for Cush, der zweite Band von Saunders' Imaro - Zyklus. Den ersten hatte ich vor dreieinhalb Jahren gelesen und im Anschluss daran auch einen etwas ausführlicheren Blogbeitrag über den Autor geschrieben, der als Gründer der Sword & Soul gelten darf, einer von afrikanischer Geschichte, Kultur und Mythologie inspirierten Unterart der Sword & Sorcery. Leider erwies es sich in der Folge als gar nicht so einfach, an weitere Abenteuer des Ilyassai-Kriegers heranzukommen. Doch in diesem Frühjahr sind nun bei Gollancz erfreulicherweise die ersten beiden Teile seiner Saga neu aufgelegt worden. Ob dort irgendwann auch Ausgaben von The Trail of Bohu und The Naama War erscheinen werden, weiß ich leider nicht. Für den Moment jedenfalls bin ich endlich wieder zurück in den abenteuerlichen Gefilden von Nyumbani, dem phantastischen Afrika von Saunders' Erzählungen.
 
Ähnlich wie schon Imaro setzt sich auch The Quest for Cush teilweise aus älteren Kurzgeschichten zusammen, die Saunders zu Beginn der 80er Jahre noch einmal überarbeitete und in die fortlaufende Handlung seiner Romane einflocht. Das Eröffnungskapitel "Mji Ya Wzimu", das damals allerdings noch den Abschluss des ersten Bandes gebildet hatte und erst in der Night Shade - Ausgabe von 2007 an seinen jetzigen Platz gerückt ist, basiert auf der allerersten veröffentlichen Imaro - Geschichte M'ji Ya Wazimu (The City of Madness), die im Juli & Oktober 1974 auf den Seiten des kanadischen Magazins Dark Fantasy erschienen war. Da Lin Carter sie im Folgejahr auch in seine Anthologien-Reihe The Year's Best Fantasy Stories aufgenommen hatte, gehört sie zu den wenigen Werken des Autors, die ins Deutsche übersetzt wurden. Mir liegt sie als Teil des Moewig - Bandes Die besten Fantasy-Stories 1 (1987vor. (1)  Dank der Queen's University (Toronto) und des Internet Archive kann man seit einiger Zeit allerdings auch direkten Einblick in alle Ausgaben von Dark Fantasy erhalten, was es einem erlaubt, viele der frühen Imaro-Geschichten in ihrer ursprünglichen Form zu lesen.  
 
Ich halte es nicht für nötig, noch einmal alles zu rekapitulieren, was ich Ende 2021 über Leben und Karriere von Charles R. Saunders (1946-2020) geschrieben habe. Der alte Blogpost existiert ja noch. Darum hier nur eine Kurzfassung. 
Als ihm in den späten 60er Jahren erstmals Robert E. Howards Conan - Stories in Gestalt der Lancer Books - Ausgaben mit ihren ikonischen Frank Frazetta - Covern in die Hände fielen, entdeckte Saunders nicht nur seine Liebe zur Sword & Sorcery, die ihn ein Leben lang begleiten sollte, sondern spürte auch, wie dabei der Funke des Geschichtenerzählers in ihm entfacht wurde:
Once I started reading those books, I was hooked! Of course, I still read the hard and New Wave SF. But fantasy appealed to something deeper in me – the soul of the storyteller, perhaps. It was when I discovered fantasy that I also discovered that I wanted to be a storyteller – a griot, although I hadn't yet discovered that term. 
Freilich sollte es noch eine Reihe von Jahren dauern, bis er selbst ernsthaft mit dem Schreiben beginnen würde. Dabei stellte sich ihm u.a. ein Problem, das er mit vielen (allen?) schwarzen Fantasy- und Science Fiction - Fans der Zeit teilte. Ein Problem, das allerdings zugleich zu einer Art Herausforderung für ihn werden sollte:  
I began to realize that in the SF and fantasy genre, blacks were, with only few exceptions, either left out or depicted in racist and stereotypic ways.  I had a choice:  I could either stop reading SF and fantasy, or try to do something about my dissatisfaction with it by writing my own stories and trying to get them published.  I chose the latter course.
Ein halbes Jahr nach seinem Debüt mit M'ji Ya Wazimu (The City of Madness) trat er auch mit seiner Kritik an den rassistischen Elementen in der "klassischen" Sword & Sorcery an die (Szene) Öffentlichkeit. Sein Essay Die, Black Dog! ist meines Wissens nach das früheste Beispiel für eine solche kritische Auseinandersetzung mit den Tradtionen des Genres. Er erschien 1975 in Toadstool Wine, einem Gemeinschaftsprojekt von sechs "Indie-Magazinen", und gehörte dort zu dem Teil, der von dem von Jessica Amanda Salmonson und Phyllis Ann Karr herausgegebenen Magazine of Fantasy and Terror beigesteuert worden war. 
Saunders selbst hat später einmal gesagt, der Essay sei für ihn eine Art "cri de coeur" gewesen, "overflowing with ire and brimstone". Sein Zorn richtete sich dabei nicht allein gegen die "(un)heilige Dreieinigkeit" von Weird Tales -- Robert E. Howard, H.P. Lovecraft und Clark Ashton Smith --, sondern auch gegen die selbsternannten Sachwalter des Howard'schen Erbes, L. Sprague de Camp und Lin Carter.      
Carter and de Camp [...] continue to practice good old-fashioned bigotry in their non-Conan endeavors. Though they have done a good job at ameliorating some of Howard's more blatant racism, their own efforts at sword-and-sorcery are throwbacks. This is doubly shameful, because both of these men are scholars, and should know better.  
In einem Interview mit Steve Tompkins hat er seine Kritik an der Sword & Sorcery von Carter und de Camp später einmal wie folgt präzisiert 
These stories demonstrated a blind spot most people of their generation had, regardless of their level of education. They simply could not accept the notion that black Africans were capable of developing their own civilisations. It was as though they could not even imagine such a thing. Whenever blacks lived in a semblance of civilization, it was always either something built on the ruins of an older, more advanced culture, or else it was introduced by white outsiders and maintained by a half-caste elite. (2)   
In der westlichen Abenteuer- und Pulp-Literatur fand diese rassistische Überzeugung u.a. Ausdruck in dem beliebten Motiv der "Lost Cities" und "Lost Civilizations", als deren frühestes populäre Beispiel H. Rider Haggards King Solomon's Mines (1885) gelten darf. Noch einflussreicher dürfte sein ein Jahr später erschienener Roman She gewesen sein. Ihren Weg in die Sword & Sorcery scheint mir das Motiv allerdings primär über Edgar Rice Burroughs' Tarzan - Romane gefunden zu haben.
 
In The Return of Tarzan (1913) taucht zum ersten Mal die "verlorene Stadt" Opar auf, bei der es sich um das letzte Relikt einer einstigen atlantischen Kolonie handelt (3), bevölkert von den degenerierten Nachkommen der weißen herrschenden Kaste, deren Macht vor Jahrhunderten dem Ansturm der schwarzen "Wilden" erlag. Wie die Hohepriesterin La dem Helden erzählt:  
From that day [dem Tag des Untergangs von Atlantis] dated the downfall of my people. Disheartened and unhappy, they soon became a prey to the black hordes of the north and the black hordes of the south. One by one the cities were deserted or overcome. The last remnant was finally forced to take shelter within this mighty mountain fortress. Slowly we have dwindled in power, in civilization, in intellect, in numbers  
Fast genau dieselbe Hintergrundsgeschichte besitzt die "verlorene Stadt" Negari in Robert E. Howards Solomon Kane - Story The Moon of Skulls (1930). Nur haben die Nachfahren der Atlanter dort selbst in der Stadt die Macht irgendwann an die "schwarzen Barbaren" verloren und müssen sich seitdem mit der Rolle der Priesterkaste zufrieden geben, um bestenfalls graue Eminenz spielen zu können. (4)  
 
Auf dieses doppelte Vorbild bezieht sich Charles R. Saunders ziemlich eindeutig in M'ji Ya Wazimu (City of Madness). Doch bevor wir uns anschauen, was er dort mit dem Motiv der "Lost City" macht, noch ein paar Worte über die Version der Geschichte, die mir als Teil von The Quest for Cush vorliegt.
 
Wie bereits erwähnt, bildete "Mji Ya Wzimu" ursprünglich den Abschluss des 1981 erschienen ersten Imaro - Romans. Als die Saga in der zweiten Hälfte der 2000er erstmals vollständig (neu) herausgegeben wurde, wanderte das Kapitel an den Anfang des zweiten Bandes. Doch das war nicht die einzige Veränderung. Saunders ersetzte zudem den vorausgehenden Part, der auf seiner (unveröffentlichten) Kurzgeschichte Imaro and the Giant Kings basiert hatte, durch ein völlig neu geschriebenes Kapitel -- The Afua. Grund hierfür war, dass der Inhalt der alten Story beunruhigende Parallelen zum Völkermord in Ruanda und Burundi aufwies. Imaro hatte darin einen Aufstand von "Kahutu" - Sklaven gegen ihre "Mwambututsi" - Herren angeführt, der in einem blutigen Massaker gipfelte. Die beiden Völker waren den realtweltlichen Hutu und Tutsi nachempfunden, und es ist nur zu verständlich, dass Saunders eine derartige Story nach den grauenerregenden Ereignissen von 1993/94 nicht länger in seiner Saga haben wollte. Damit veränderte sich auch ein wichtiger Teil von Imaros "Biographie": Die Umstände, unter denen er zu dem Gesetzlosen - Trupp der haramia gestoßen war, deren Anführer er schließlich wird, und wie er seine Geliebte Tanisha kennengelernt hatte. Dem musste dann natürlich auch der Inhalt von "Mji Ya Wzimu" angepasst werden. Was man heute in The Quest for Cush zu lesen bekommt, ist also nicht derselbe Text, der einmal Teil von Imaro gewesen ist. Wie groß die Unterschiede zwischen den beiden sind, kann ich freilich nicht überprüfen. Wenn im Folgenden von "Romanversion" die Rede ist, ist also immer diese überarbeitete Fassung gemeint.
 
 
Karte von Nyumbani, gezeichnet von Cliff Bird, erstmals veröffentlicht in REHupa #34 (1978). Quelle: Stuff I Like.

Die Ausgangssituation ist in Kurzgeschichte und Roman weitgehend dieselbe. Die haramia ist von den Truppen der Küstenkönigreiche aufgerieben worden, woraufhin  der Verräter Bomunu geflüchtet ist, Tanisha als Gefangene mit sich schleppend. Imaro hat die beiden bis in einen dichten, ihm unbekannten Dschungel verfolgt.
 
Die Unterschiede liegen vor allem in der psychologischen Bedeutung, die diese Ereignisse für unseren Helden haben. 
Der Imaro der Kurzgeschichte wird ausschließlich von einem wütenden Verlangen nach Rache angetrieben. Im Roman ist er eine sehr viel komplexere Figur. Wichtiger Teil seiner Persönlichkeit ist die Sehnsucht nach einer menschlichen Gemeinschaft, in der er sich akzeptiert und aufgenommen fühlt. Die haramia konnte ihm das zwar nicht wirklich bieten, doch von allen Gruppen, die er in seinem Leben bis dato kennengelernt hatte, schien sie am ehesten das Potenzial zu besitzen, eine solche Gemeinschaft werden zu können. Ihr Untergang hat ihn in die Position des einsamen Außenseiters zurückgeworfen. 
Auch seine Beziehung zu Tanisha besitzt im Roman eine deutlich andere Qualität. In der Kurzgeschichte wird sie als eine Art Beutestück beschrieben, das ihm während des Aufstands gegen die Mwambututtsi in die Hände gefallen ist:
With his share of the loot, Imaro had also taken Tanisha, a buxom, lusty Kahutu wench who had been the mistress of the sadistic overseer of the mine. Imaro had killed him with his bare hands. And he had vowed to do the same to anyone who dared to touch the woman he claimed for his own ...
Imaros Verhalten hinterlässt den Eindruck, dass er in ihr vor allem ein Besitztum sieht, das ihm gestohlen wurde. Von gegenseitiger Zuneigung und Respekt ist hier noch wenig zu spüren.
Ganz anders in der Romanfassung. Hier basierte ihre Beziehung von Anfang an auf wechselseitigen Gefühlen. Tanisha war nie die "Beute" Imaros. Viemehr war die "verbotene" Liebschaft der beiden der Hauptauslöser für Imaros Konflikt mit Rumanzila, dem ehemaligen Anführer der hamaria. In der Folge wurde sie zur einzigen Person, der Imaro völlig vertraut und mit der er seine Ängste und Unsicherheiten teilt. Entsprechend anders sehen auch seine Motive für die Verfolgung ihres Entführers Bomunu aus. Ihm geht es nicht darum, sein "Eigentum" zurückzuerlangen, sondern einen geliebten Menschen zu befreien.        
 
Doch zuerst einmal stößt Imaro während seiner Verfolgungsjagd durch den Dschungel überraschend auf folgende Szene: Auf einer kleinen Lichtung quälen und misshandeln drei Krieger in altertümlicher Rüstung einen am Boden liegenden Mann. Alle vier sind von ungewöhnlicher Erscheinung. 
Three of them were complete anomalies: men of medium stature with unnaturally light skins and thin, narrow features, and snakelike black locks curling downward from rusty metal helmets. (M'Ji Ya Wazimu
They were men of medium height, clad in armor of worn leather reinforced with plates of rusty metal. But it was their complexion that made them so anomalous. Their skin was as pale as the belly of a fish, in sharp contrast to the black of their hair, which hung in strange, snakelike locks beneath their helmets. (The Quest for Cush)
Das Opfer der bleichen Krieger ist von kleinwüchsiger Gestalt -- ein "Pygmäe".
Interessant auch hier, wie sich die Motivation für Imaros Eingreifen von Version zu Version verändert hat. In der Kurzgeschichte ist es neben einem Anflug von Mitgefühl für den Gemarterten vor allem ein instinktiver, aus seinem Unterbewusstsein aufsteigender Hass auf die Weißen, der ihn angreifen lässt. Beinahe könnte man von einer Art "race memory" sprechen: "Something about the appearance of the light-skinned torturers stirred a loathing that crept unbidden from the deepest recesses of his memory." Davon findet sich im Roman nichts mehr. Hier weckt die Szene in Imaro vor allem Erinnerungen an seine eigene Kindheit und Jugend, an all die Misshandlungen, die er von den Händen der Ilyassai erleiden musste, des Volkes, unter dem er aufgewachsen ist.
 
Imaro metzelt die bleichen Krieger in einem seiner berserkerhaften Gewaltausbrüche nieder. Mit dem geretteten "Pygmäen" betritt nun endlich Pomphis die Bühne, der für den Rest von The Quest for Cush (und darüberhinaus?) zum engsten Freund und treuen Gefährten unseres Helden werden wird. Die Figur des redegewandten, etwas eitlen, kultivierten und umfassend gebildeten Bambuti (5) ist eine weitere bewusste Umkehrung rassistischer Klischees, deren Wurzeln in den pseudowissenschaftlichen Rassentheorien des 19. und 20. Jahrhunderts liegen. Wie Charles Saunders in seinem Essay Of Chocolate-Colored Conans and Pompous Pygmies schreibt:
The Pygmies, or the Bambuti, have long been considered one of the most primitve peoples on Earth, ranking right up (down?) there with the Australian Aborigenes and the natives of New Guinea. So I thought it would be a gas to hit the public with a Cushite-educated Pygmy who could read and speak thirty-six languages, translate the Necronomicon into Yoruba, plan better bank robberies than Dillinger, and make love in eighty-three different positions.
Als Kind von Sklavenjägern entführt, wuchs Pomphis im Palast des Sha'as von Azania auf, einem der Reiche an der Ostküste von Nyumbani. Dort wurde er zu einem mjimja -- einem Hofnarren, Gaukler und Akrobaten -- ausgebildet und erfreute sich eine Zeit lang der Gunst der mächtigen Adeligen. (6) Das endete, als man ihn eines Tages im Bett mit einer der Töchter des Sha'as überraschte. Seiner Hinrichtung entging er bloß, weil ein Abgesandter des mächtigen Cush Interesse an dem Bambuti zeigte und ihn mit in das uralte Reich im Norden nahm. Mit Khabatekh als väterlichem Mentor konnte Pomphis sich in der Folge ganz seinem unstillbaren Durst nach Wissen hingeben. Für Jahre wurden die großen Bibliotheken von Cush seine zweite Heimat. Doch dann kehrte er zusammen mit Khabatekh in den Süden zurück. Sein Mentor kam bei einem Überfall ums Leben und auf der Flucht vor den Angreifern landete Pomphis schließlich in dem Urwald, in dem er nun Imaro begegnet ist.
 
Die Hintergrundsgeschichte des geschwätzigen Bambuti ist in beiden Versionen der Story weitgehend identisch. Mit einer entscheidenden Abweichung: In der Kurzgeschichte gab es keinen besonderen Grund für die Reise von Khatabekh und Pomphis: "Ever a traveler and explorer, Khatabekh succumbed once again to his wanderlust. Thus, he and Pomphis had set off for the wild hills south of Punt and Axum." Im Roman hingegen wurden die beiden von der Herrscherin von Cush, der Kandisa, ausgeschickt, um einen prophezeiten Heroen, den "mightiest warrior of all", zu finden, der eine zentrale Rolle im heraufziehenden großen Krieg zwischen Cush und den bösen Zauberern von Naama spielen werde. Und natürlich wird Pomphis am Ende der Geschichte (bzw. des Kapitels) zu der Überzeugung gelangt sein, den Gesuchten in Imaro gefunden zu haben. Damit wird an Motive aus dem ersten Roman angeknüpft, denn schon dort hatte sich angedeutet, dass Imaro ein besonderes Schicksal vorherbestimmt ist und dass die Hohen Zauberer von Naama und die von ihnen verehrten Dämonengötter, die Mashataan, dabei seine Hauptgegenspieler sein würden.
 
Mit den Mashataan können wir nun endlich auch wieder zu den mysteriösen weißhäutigen Kriegern zurückkehren. Bei denen handelte es sich Pomphis Einschätzung nach nämlich um Mizungus -- beinah schon mythische Gestalten aus der Vergangenheit von Nyumbani. Vor Jahrhunderten landeten ihre Schiffe an der Westküste und sie begannen, große Teile des Kontinentes zu erobern und seine Bevölkerung zu versklaven. Dabei genossen sie die übernatürliche Unterstützung der Mashataan. Für fast ein Jahrhundet herrschten sie mit eiserner Faust über die von ihnen unterworfenen Völker und plünderten das Land aus. Erst als es einem der Magier von Cush gelang, die "Cloud Strider", die göttlichen (oder gottähnlichen) Beschützer Nyumbanis, in unsere Welt zurückzurufen, konnten sich die Bewohner des Kontinentes in einem großen Befreiungskrieg gegen die Mizungus und ihre dämonischen Schutzherren erheben und sie ins Meer zurücktreiben. Doch ab und an hört man geflüsterte Gerüchte von einer letzten Stadt der weißen Unterdrücker, die sich immer noch irgendwo in den Tiefen des Dschungels befinden soll. "Mji Ya Wazimu, the legends call it -- the City of Madness." Mizungus war der Name, den die Bewohner Nyumbanis den Fremden gaben: "those without mercy". Sie selbst nannten sich "Atlanteans".
 
Die Hintergrundsgeschichte der "Stadt des Wahnsinns" gleicht also beinah völlig der von Opar (und Negari). Verändert hat sich eigentlich nur die Perspektive. Doch indem wir sie durch die Augen der "Kolonisierten", nicht der "Kolonisatoren" (bzw. ihrer Nachfahren, der weißen "Entdecker" und "Abenteurer") betrachten, bekommt das ganze Szenario sofort einen völlig anderen Vibe.
In der Romanfassung wird das noch durch eine Passage verstärkt, die sehr deutlich Reminiszenzen an den transatlantischen Sklavenhandel wachrufen soll: "Thousands of men and women were sent across the Bahari Magharibi in slave ships bound for the Mizungus' home continent". Außerdem wird im Vergleich zur ursprünglichen Kurzgeschichte sehr viel stärker die rassistische Weltsicht der Atlanter hervorgehoben, wobei diese auf den bösartigen Einfluss der Mashataan zurückgeführt wird:
In Atlan they had sown a malignant suggestion in the minds of the people of the sea-girt continent: a belief that the people of Nyumbani were subhuman, fit only for slavery, or sacrifice on the altar of the Atlanteans' gods. Under the influence of the Mashataan, the people of Atlan even gave the black people a special, derogatory name: na-gah, meaning "despised ones". 
An welches realweltliche Wort wir dabei denken sollen, dürfte wohl klar sein.
In der "Stadt des Wahnsinns" werden Imaro und Pomphis später riesige Tempelfriese sehen, die dieser Weltsicht künstlerischen Ausdruck verleihen:
The carvings depicted scenes of unimaginable cruelty, with tall, noble, long-haired figures dominating stooped, apish creatures only vaguely identifiable as human. Though its brightness had faded with the passage of the rains, the pigments that colored the figures were still visible. The noble, victorious ones were painted white; their cringing, subservient victims black.
Imaro ist ganz von Wut und Hass auf die Mizungus erfüllt. Pomphis, der über ein sehr viel größeres historisches Wissen verfügt und das Ganze deshalb etwas distanzierter betrachten kann, reagiert deutlich anders:
Pomphis looked at the carvings and reflected sadly upon the fate of this remnant of the Mizungu invaders, still deluded by the false tenets inculcated by the Mashataans ... Even now, they have not learned, the Bambuti thought.
Ich denke, es ist nicht zu weit her geholt, hierin etwas von Charles Saunders' eigener Sichtweise erkennen zu wollen: Rassismus ist ein zählebiges Übel und noch lange nicht überwunden. Aber er entspringt nicht der "Natur" der Weißen. 
 
Illustration von Gene Day für den zweiten Teil von M'Ji Ya Wazimu (The City of Madness) aus der Oktoberausgabe 1974 von Dark Fantasy

Da Pomphis beobachten konnte, wie Bomunu und Tanisha von den Mizungus gefangen und in die "Stadt des Wahnsinns" verschleppt wurden, beschließt Imaro ohne zu zögern, ebenfalls die halbzerfallene Metropole aufzusuchen. Der Bambuti begleitet ihn, allein schon aus Dankbarkeit für seine Rettung. Und wie es seine Art ist, beginnt Pomphis auch sogleich, Pläne für ihr weiteres Vorgehen zu schmieden. Leicht überrascht stellt er fest, dass Imaro, den er bislang ja nur als wildgewordenen Berserker kennengelernt hatte, bei kühlem Kopf sehr wohl zu einem umsichtigen Verhalten fähig ist.
 
Der Rest der Geschichte entspricht weitgehend den Koventionen einer "klassischen" Sword & Sorcery - oder Pulp Adventure - Story. Das Szenario ist aus zahlreichen Vorgängern hinlänglich  bekannt -- von Edgar Rice Burroughs' Return of Tarzan bis zu Robert E. Howards Moon of Skulls oder seinen Conan - Yarns The Slithering Shadow und Red Nails. Der Held dringt in die "Lost City" ein und rettet die Damsel-in-Distress, die gerade irgendeinem finsteren Gott geopfert werden soll. Und natürlich gipfelt das Ganze in einem epischen Kampf mit einem fürchterlichen Ungeheuer.
 
Auffällig ist allerdings, dass Saunders dabei auf ein Element verzichtet, das in fast allen seinen "Vorbildern" zu finden ist. Dort herrscht nämlich beinahe immer eine Frau, ob als Priesterin, Königin oder "lebende Göttin", über die "Verlorene Stadt". Sei es La bei Burroughs, Nakari und Thalis (in eingeschränktem Maße auch Tascela) bei Howard. Ganz zu schweigen von Ayesha in H. Rider Haggards She (1887) und Antinea in Pierre Benoits L'Atlantide (1919). Dieser Aspekt und damit verbundene Themen wie Genderrollen und Matriarchat interessierten Saunders anscheinend nicht. Vielleicht dachte er sich aber auch, dass sie die Geschichte unnötig verkomplizieren und ihren antikolonialistischen Inhalt unscharf machen würden. 
 
Wie dem auch sei, auf jeden Fall werden die Atlanter bei ihm von einem Hohepriester beherrscht. Auch sind sie nicht im klassischen Sinne "degeneriert". Vielmehr haben sie ihre Lebensdauer über Jahrhunderte künstlich verlängert, indem sie von der Seelenkraft (n'kaa) ihrer schwarzen Opfer zehren, die sie den Mashataan darbringen. Dabei wird die n'kaa in den abgeschlagenen Schädeln der Ermordeten eingeschlossen, die die Atlanter morbiden Schmuckstücken gleich am Körper tragen.
 
Der vielleicht interessanteste Unterschied zwischen Short Story - und Romanversion ist, dass wir in letzterer einige Szenen aus der Sicht des atlantischen Hohepriesters Vorstos erhalten. In gewisser Hinsicht "humanisiert" das die Atlanter, denn wir bekommen gezeigt, dass es auch unter ihnen Gefühle von Liebe und Freundschaft gibt, wenn der Quasi-Unsterbliche sich Gedanken darüber macht, wie er das unnatürliche Leben seiner Geliebten und seines engsten Freundes weiter verlängern könnte. Freilich sind diese Gefühle dadurch zutiefst pervertiert worden, dass eine solche Ausweitung der Lebensspanne nur durch die Opferung weiterer Schwarzer erreicht werden kann. Ganz in seiner zutiefst rassistischen Weltsicht gefangen, sieht Vorstos in den na-gah natürlich nicht wirklich gleichwertige Menschen, sondern mehr Tiere, die man mit gutem Gewissen auf die Schlachtbank schicken kann. Dass ihre "Seelenkraft" dennoch das einzige ist, was die Atlanter am Leben zu erhalten vermag, sollte zwar dafür sprechen, dass sie nicht bloß Tiere sind, ihre n'kaa vieleicht sogar ganz dieselbe wie die der Atlanter ist. Doch solche Gedankengänge sind dem Priester natürlich völlig fremd.
 
Erwähnt sei außerdem noch, dass es diesmal an Pomphis ist, Imaros Leben zu retten, nachdem er zuvor bereits den Großteil der Atlanter durch eine Flut geschickter Beleidigungen in Rage versetzt und vom großen Altarraum fortgelockt hatte. Auch erhalten die Seelen der hingemordeten Schwarzen am Ende Gelegenheit, sich auf grausige Weise an den Mizungu zu rächen, was zugleich den endgültigen Untergang der "Stadt des Wahnsinns" herbeiführt.
 
In der Romanversion klingt das Kapitel Mji Ya Wzimu mit einer Szene aus, die andeutet, welche Bedeutung das eben bestandene Abenteuer und vor allem die sich entwickelnde Freundschaft mit Pomphis für Imaros Persönlichkeit haben. Bislang hatte es außer Tanisha keinen Menschen gegeben, dem sich unser Held innig verbunden gefühlt und dem er wirklich vertraut hätte. Das beginnt sich nun langsam zu ändern. Als der Bambuti erzählt, mit welchen vulgären und blasphemischen Schmähungen genau er die Mizungu in blindwütige Rage versetzt hatte, bricht Imaro in schallendes Gelächter aus. 
Tanisha and Pomphis exchanged a glance.
"By Aspelta's claw," the Bambuti half-whispered, "I don't believe this man has ever laughed before."
He was right. 
Nachdem die ursprüngliche Version von City of Madness in Dark Fantasy erschienen war, veröffentlichte Jessica Amanda Salmonson im New Fantasy Journal eine offenbar ziemlich negative Besprechung der Story, auf die Saunders seinerseits mit dem Essay Of Chocolate-Colored Conans and Pompous Pygmies reagierte. Ich finde dieses anfängliche Aufeinanderprallen zweier kommender Größen der Sword & Sorcery recht interessant. Alle beide gingen an das Genre von einem Blickwinkel aus heran, den man heute wohl "marginalisiert" nennen würde. Bloß war das bei ihnen nicht derselbe. Saunders ging es darum, einen schwarzen Sword & Sorcery - Helden zu kreieren, der nicht länger ein Sidekick war wie Juma der Kushit von L. Sprague de Camp und Lin Carter. Zugleich wollte er eine phantastische Welt erschaffen, die den ganzen Reichtum und die Vielfalt afrikanischer Kulturen und Überlieferungen widerspiegeln sollte. Wie revolutionär dieses Anliegen Mitte der 70er Jahr war, scheint Salmonson anfangs nicht recht begriffen zu haben. Sie betrachtete die Sword & Sorcery hauptsächlich unter einer feministischen Perspektive. Und auch wenn ich den konkreten Inhalt ihrer Rezension nicht kenne, finde ich es nicht schwer, mir vorzustellen, warum City of Madness in ihren Augen nicht mehr war als eine generische S&S-Story mit einem schwarzen Clonan. Die Figur der Tanisha entspricht vor allem in der ursprünglichen Fassung weitgehend den "traditionellen" sexistischen Klischees. Sie ist dort nicht mehr als eine sexy Damsel-in-Distress, die gefesselt, hilflos und nackt auf einem Opferaltar liegt und darauf wartet, dass der Held kommt und sie befreit. Schlimmer noch -- nach ihrer Rettung verfällt sie in einen hysterischen Zustand, aus dem Imaro sie schließlich mit einer schallenden Ohrfeige herausreißen muss. Ein Detail, das seinen Weg glücklicherweise nicht in die Romanfassung gefunden hat. 
 
Charles R. Saunders und Jessica Amanda Salmonson sollten im weiteren Verlauf der 70er Jahre großen Respekt für einander entwickeln. Und man darf wohl annehmen, dass sie im Verlauf dessen auch einiges voneinander lernten. Saunders war der einzige männliche Autor, der mit einem Beitrag in Salmonsons Anthologie Amazons! (1979) vertreten war. Agbewe's Sword war die erste seiner Geschichten um die Kriegerin Dossouye. Mit deren Abenteuern werden wir uns im nächsten Blogpost zur Sword & Soul beschäftigen. Uns zugleich aber auch den Rest von The Quest for Cush anschauen.


 

(1) Die Stadt des Wahnsinns war zuvor bereits in Terra Fantasy #81: Tempel des Grauens (1981) abgedruckt worden. In deutscher Übersetzung erschienen außerdem die Imaro-Story  The Pool of the Moon Der Mondteich in Terra Fantasy #88: Der dunkle König (1981) und Die besten Fantasy-Stories (1987), sowie die vier ersten Dossouye-Kurzgeschichten in Amazonen! (1981) und den ersten drei übersetzten Bänden von Marion Zimmer Bradleys Anthologien-Reihe Sword and Sorceress. Außerdem noch die Nyumbani-Geschichte Ishigibi in Hexengeschichten (1985), der deutschen Version von Susan M. Shwartz' Hecate's Cauldron.

(2) Dieses Interview wurde ursprünglich für den Cimmerian geführt, fand sich aber auch auf Charles R. Saunders' eigener Website. Die ist inzwischen allerdings im Orkus verschwunden und unglücklicherweise lässt sich der Text nicht einmal mehr über die Wayback Machine erreichen.  

(3) Die Vorstellung, Atlantis sei ein Weltreich mit Kolonien auf allen möglichen Kontinenten gewesen, dürfte wohl durch Ignatius Donnellys 1882 erschienenen Schmöker Atlantis, the Antedeluvian World erstmals populär geworden sein. Ein weiterer Einfluss war vermutlich Madame Blavatskys Theosophie, in deren "Geschichtsphilsophie" Atlantis gleichfalls eine nicht unbedeutende Rolle spielt.   

(4) Bekanntermaßen verkörpert die "Zivilisation" bei Howard beinahe immer Repression, Entmenschlichung und Dekadenz. Entsprechend erscheinen auch die atlantischen Kolonisatoren in The Moon of Skulls zumindest in einem etwas fragwürdigen Licht -- überheblich und grausam. Dennoch ist die Darstellung der afrikanischen Bevölkerung ganz von Howards rassistischen Überzeugungen (und den entsprechenden Klischees der Pulp-Literatur der Zeit) geprägt. Weshalb der Unterschied zu früheren Lost City - Geschichten letztenendes dennoch nicht so groß ist.   

(5) Die Bambuti bzw. Mbuti sind ein realweltliches Volk aus der Kongo-Region.

(6) In dem Sammelband Nyumbani Tales finden sich zwei Geschichten -- The Blacksmith & the Bambuti sowie Pomphis and the Poor Man --, die Episoden aus dieser Jugendzeit des "Pygmäen" in Azania erzählen.