"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Samstag, 30. Januar 2016

Strandgut der Woche

Dienstag, 26. Januar 2016

Der blinde Meister, Bruce Lee & al-Khidr

Zu den Lieblingsfilmen meiner Kindheit gehörte ohne Zweifel auch Das Geheimnis des blinden Meisters jener bizarre Mix von Fantasy, Kung-fu und esoterischen Binsenweisheiten aus dem Jahre 1978 mit David Carradine in gleich vier Rollen als der Affenkrieger, Chang-Sha, der Tod und der blinde Meister. Der Streifen erzählt die Geschichte von Cord und seiner Suche nach dem sagenumwobenen "Buch der Weisheit". Im Laufe seiner Queste muss sich der Kämpfer mit einer Reihe von Gegnern herumschlagen, die zugleich irgendwie Stufen auf seiner spirituellen "inneren Reise" repräsentieren sollen. Außerdem trifft er auf einen mysteriösen blinden Flötenspieler und Meisterkrieger, dem er eine Zeit lang als Schüler zu folgen versucht. Am Ende findet Cord wahre Erleuchtung in Anwesenheit von Christopher Lee. {Die einzige weibliche Figur in der Geschichte wird übrigens gekreuzigt, damit unser martialischer Weisheitssucher aus ihrem Tod eine seiner mystischen Einsichten gewinnen kann.}


Ich habe den Streifen seit gut zweieinhalb Jahrzehnten nicht noch einmal gesehen. Eine regelrechte Besprechung kann ich hier deshalb nicht abliefern. Stattdessen möchte ich auf ein kuriose Detail hinweisen, das mir bis heute Rätsel aufgibt.
Der ursprünglich unter dem Titel Circle of Iron in die Kinos gelangte Film geht auf ein Projekt zurück, das acht Jahre zuvor von Bruce Lee gemeinsam mit James Coburn und Stirling Silliphant ausgebrütet wurde. Lee wollte einen Film drehen, der einem westlichen Publikum – verkörpert in der Gestalt Cords die spirituelle Seite der asiatischen Kampfkünste näherbringen sollte:
The story illustrates a great difference between Oriental and Western thinking. This average Westerner would be intrigued by someone’s ability to catch flies with chopsticks, and would probably say that has nothing to do with how good he is in combat. But the Oriental would realize that a man who has attained such complete mastery of an art reveals his presence of mind in every action. The state of wholeness and imperturbability demonstrated by the master indicated his mastery of self.
And so it is with martial arts. To the Westerner the finger jabs, the side kicks, the back fist, etc., are tools of destruction and violence which is, indeed, one of their functions. But the Oriental believes that the primary function of such tools is revealed when they are self-directed and destroy greed, fear, anger and folly.
Der ursprüngliche Scriptentwurf trug den Titel The Silent Flute und enthielt offenbar sehr viel extremere Gewaltszenen sowie ein bisschen tantrischen Sex. Auch spielte die Handlung damals noch nicht in Fantasyland, sondern im "wirklichen" Asien.
Das Projekt scheiterte offenbar an Streitigkeiten zwischen seinen drei Initiatoren, und nachdem Bruce Lee mit The Big Boss (1971) und Fist of Fury (1972) der Sprung in die Gefilde des Stardoms gelungen war, scheint auch er nicht mehr sonderlich an einer Umsetzung interessiert gewesen zu sein. Doch wie auch immer sich das damals genau abgespielt haben mag, dieser Hintergrund erklärt den für einen Fantasy - B-Movie etwas eigenartigen "esoterischen" Vibe, der der Story auch nach ihrer Überarbeitung durch Stanley Mann (Damien: Omen II [1978]; Conan the Destroyer [1984]) anhaftet.

Was ich dennoch nach wie vor höchst bizarr finde, ist, dass ein Gutteil der Story um Cords erfolglosen Versuch, dem blinden Meister als Schüler zu folgen, ganz offensichtlich der in der achtzehnten Sure des Koran erzählten Geschichte von Moses und al-Khidr nachgebildet ist. Wer den Film gesehen hat, wird keine Probleme damit haben, die Parallelen zu erkennen:
Sie trafen einen von unseren Dienern, dem Wir Barmherzigkeit von Uns hatten zukommen lassen und den Wir Wissen von Uns gelehrt hatten. Mose sagte zu ihm: "Darf ich dir folgen, auf dass du mich von dem lehrst, was du über den rechten Weg belehrt worden bist?" Er sagte: "Nimmer wirst du es bei mir aushalten können. Wie willst du das aushalten, wovon du keine umfassende Kenntnis hast?" Er sagte: "Du wirst finden, so Gott will, dass ich standhaft bin, und ich werde gegen keinen Befehl von dir ungehorsam sein." Er sagte: "Wenn du mir folgst, dann frage mich nach nichts, bis ich selbst mit dir zuerst darüber rede." Da zogen sie weiter. Als sie nun das Schiff bestiegen, schlug er darin ein Loch. Er sagte: "Wie konntest du ein Loch darin schlagen, um seine Besatzung ertrinken zu lassen? Du hast da eine grauenhafte Sache begangen." Er sagte: "Habe ich nicht gesagt, dass du nimmer bei mir wirst aushalten können?" Er sagte: "Belange mich nicht dafür, dass ich vergessen habe, und bedrücke mich in meiner Angelegenheit nicht mit einer schweren Last." Da zogen sie beide weiter. Als sie dann einen Jungen trafen, tötete er ihn. Er sagte: "Wie konntest du einen unschuldigen Menschen töten, und zwar nicht als Wiedervergeltung für einen (anderen) Menschen? Du hast da eine verwerfliche Sache begangen." Er sagte: "Habe ich nicht zu dir gesagt, dass du nimmer bei mir wirst aushalten können?" Er sagte: "Wenn ich dich nach diesem noch einmal nach irgend etwas frage, dann lass mich dich nicht mehr begleiten. Du hast dann von mir aus bereits eine Entschuldigung erhalten." Da zogen sie beide weiter. Als sie dann zu den Bewohnern einer Stadt kamen, baten sie ihre Bewohner um etwas zu essen. Sie weigerten sich, sie zu bewirten. Da fanden sie in ihr eine Mauer, die einzustürzen drohte. Er richtete sie auf. Er sagte: "Wenn du gewollt hättest, hättest du dafür einen Lohn nehmen können." Er sagte: "Jetzt ist die Trennung zwischen mir und dir fällig. Ich werde dir die Deutung dessen kundgeben, was du nicht aushalten konntest. Was das Schiff betrifft, so gehörte es armen Leuten, die auf dem Meer arbeiteten. Ich wollte es schadhaft machen, denn ein König war hinter ihnen her, der jedes Schiff mit Gewalt nahm. Was den Jungen betrifft, so waren seine Eltern gläubige (Menschen). Da fürchteten wir, er würde sie durch das Übermaß seines Frevels und durch seinen Unglauben bedrücken. So wollten wir, dass ihr Herr ihnen einen zum Tausch gebe, der besser wäre als er in der Lauterkeit und anhänglichert in der Pietät. Und was die Mauer betrifft, so gehörte sie zwei Waisenjungen in der Stadt. Unter ihr befand sich ein Schatz, der ihnen gehörte. Ihr Vater war rechtschaffen. Da wollte dein Herr, dass sie (erst) ihre Vollkraft erreichen und ihren Schatz herausholen, aus Barmherzigkeit von deinem Herrn. Ich tat es ja nicht aus eigenem Entschluss. Das ist die Deutung dessen, was du nicht aushalten konntest."
Ich weiß natürlich nicht, ob sich die entsprechenden Szenen bereits in Bruce Lees ursprünglichem Script finden, doch wenn dem der Fall sein sollte, dann bin ich wirklich verwirrt. Sehr viel nachvollziehbarer wäre es, wenn wir z.B. auf die abgewandelte Version einer zenbuddhistischen Parabel treffen würden. Aber eine koranische Erzählung? 
Nun spielt die Gestalt des geheimnisvollen Wanderers al-Khidr in vielen Spielarten des Sufismus – der islamischen Mystik – eine wichtige Rolle. Und auch wenn die Sufis im Hippiemilieu der 60er/70er Jahre in Sachen Popularität nicht gegen hinduistische oder buddhistische Heilslehren ankommen konnten, waren sie wohl nicht ganz unbekannt. Doch mit asiatischen Kampfkünsten konnte man ihre Lehren kaum in Verbindung bringen. Und um deren tiefere Bedeutung war es Bruce Lee ursprünglich doch wohl gegangen.
Wenn irgendwer in der Lage sein sollte, mir dieses Rätsel zu lösen, möge er oder sie sich bitte melden. Es würde mich wirklich interessieren, was hinter dieser kuriosen Sache steckt.

Sonntag, 24. Januar 2016

Yig, Yog-Sothoth und andere Schrecken

Dank Mike Davis und der von ihm herausgegebenen Lovecraft eZine komme ich in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen in den Genuss, einige neuere cthulhuide Kurzfilme kennenzulernen. 
Na ja, "Genuss" ist vielleicht nicht immer das richtige Wort, denn die Qualität der Streifen schwankt doch beträchtlich. Aber auch wenn sich natürlich nicht alle von ihnen als solche Juwelen wie Jovanka Vuckovic's filmisches Poem The Captured Bird (2012) entpuppen, das ich vor Zeiten hier vorgestellt habe, stoße ich dabei doch immer wieder auf manch faszinierendes kleines Werk. Mit Robert P. Olssons Fyren von 2010 habe ich vor einem halben Jahr ein solches hier bereits einmal kurz besprochen. Heute will ich meiner verehrten Leserschaft drei weitere präsentieren: The Curse of Yig, Harbinger und Behind.


The Curse of Yig

Bekanntlich war der alte Gentleman von Providence immer mal wieder gezwungen, die ohnehin äußerst bescheidenen Einnahmen, die ihm aus seiner schriftstellerischen Arbeit zuflossen, aufzubessern, indem er anderen Pulpautoren seine Dienste als "Überarbeiter" – sprich Ghostwriter – zur Verfügung stellte. Eine Tätigkeit, die ihm wenig behagte, wie man dem folgenden Abschnitt aus einem seiner Briefe an E. Hoffmann Price entnehmen kann:


Art is not what one resolves to say, but what insists on saying itself through one. It has nothing to do with commerce, editorial demand, or popular approval. The only elements concerned are the artist and the emotions working within him. Of course, there is a business of magazine-purveying which is perfectly honest in itself, and a worthy field for those with a knack for it. I wish I had the knack. But this isn't the thing I'm interested in. If I had the knack, it would be something performed entirely apart from my serious work – just as my present revisory activities are. However, I haven't the knack, and the field is so repugnant to me that it's about the last way I'd ever choose to gain shelter and clothing and nourishment. Any other kind of a legitimate job would be preferable to my especial tastes. I dislike this trade because it bears a mocking external resemblance to the real literary composition which is the only thing (apart from ancestral traditions) I take seriously in life.*
 
Lovecraft hasste die moderne bürgerliche Gesellschaft u.a. deswegen so heftig, weil sie die Kunst zu einer Ware, das künstlerische Schaffen zu einem Geschäft degradiert hatte. Dennoch war auch er gezwungen, sich den Spielregeln bis zu einem gewissen Grad zu unterwerfen.
Zu denen, die Lovecrafts Dienste in Anspruch nahmen, gehörte auch Zealia Bishop eine Schriftstellerin, die eigentlich eher darauf spezialisiert war, Liebesgeschichten zu verfassen, in der Hochzeit von Weird Tales aber auch versuchte, in den phantastischen Berreichen des Pulp-Marktes Fuß zu fassen. Wirklicher Erfolg war ihr dabei wohl nicht beschieden, doch verdanken wir ihren Bemühungen immerhin die Entstehung von drei Kurzgeschichten, die heute allgemein als fester Bestandteil des Lovecraft-Oeuvres angesehen werden. Neben The Curse of Yig (1929) sind dies The Mound (1929/30) und die fürchterlich rassistische Short Story Medusa's Coil (1930). 
Glaubt man dem, was der alte Gentleman selbst zu diesem Thema zu sagen hatte, so war Bishops Beitrag bei diesen "Kooperationen" recht bescheiden. Im Oktober 1929 schrieb er in einem Brief an Clark Ashton Smith:
By the way if you want to see a new story which is practically mine, read The Curse of Yig in the new Weird Tales, next your verses. The "authoress", Mrs. Reed, is a client for whom Long & I have done lots of work, & this specimen is well-nigh a piece of original composition on my part, since all I had to go by was a synopsis of notes describing a pioneer couple, the attack on the husband by snakes, the bursting of his corpse in the dark, & the subsequent madness of the wife. All the plot & motivation in the present tale are my own I invented the snake-god, the Curse, the prologue & epilogue, the point about the identity of the corpse, & the monstrously suggestive aftermath.
Der von Paul von Stoetzel gedrehte Kurzfilm aus dem Jahr 2011 hält sich erstaunlich eng, über weite Strecken wortgetreu, an seine literarische Vorlage.


Tim Uren ist ein Veteran der Theaterszene von Minneapolis und Leiter der Truppe Ghoulish Delights. Seine Bemühungen, Horrorstories auf die Bühne zu bringen, führten u.a. zu einer Adaption von Lovecrafts The Rats in the Walls für das Minnesota Fringe Festival 2006. Als Walker Davis wirkt er meiner Meinung nach zwar etwas zu alt, aber ganz ohne Zweifel geben er und Amy Schweickhardt ihr Bestes in den Doppelrollen als Walker / Dr. McNeill bzw. Audrey / Ethnologin. Für irgendwelche aufwendigen Spezialeffekte oder die eigentlich zu erwartende Masse an Schlangen in der Halloween-Szene ("the flat, rocky floor, revealed in the new-born illumination, was one seething, brown-speckled mass of wriggling rattlesnakes") fehlte offenbar das nötige Geld, doch das wird durch die atmosphärische Inszenierung und die zum Teil exquisite Cinematoghraphie von Joe Johnson wettgemacht. Einzig die hinzugefügte zweite Rahmenhandlung, in der wir die Ethnologin als Insassin eines Pflegeheims (einer Irrenanstalt?) zu sehen bekommen, hat mich etwas irritiert. Sie ist nicht nur völlig unnötig, sondern scheint mir in ihren Implikationen auch etwas übertrieben. Nicht jeder Erzähler einer lovecraftschen Geschichte muss im Wahnsinn enden.


Harbinger


Der zweite Streifen ist ein brandneues Produkt von Gearmark.TV, die es sich offenbar zum Ziel gesetzt haben, jeden Monat einen neuen Kurzfilm herauszubringen. Regisseur Alexander Crews hat bei einem ihrer früheren Horrorprojekte – dem netten kleinen Schocker Rake – die Kamera geführt, und so ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass er bei Harbinger gerade in dieser Hinsicht eine etwas experimentellere Herangehensweise ausprobiert. Der ganze Film ist in subjektiver Einstellung (POV-Shot) aus der Perspektive des Protagonisten gedreht, was dem Charakter der Story durchaus angemessen ist. Diese basiert nicht direkt auf einer der Erzählungen des alten Gentleman, bedient sich aber in vielen ihrer Motive und Details sehr direkt im Fundus des Cthulhu-Mythos. Dazu gehört auch ein Aspekt lovecraftscher Erzählungen, der meines Wissens nach sonst eher selten aufgegriffen wird. Dessen Kultisten sind ja sehr häufig heruntergekommene und degenerierte Hinterwäldler, worin sich ganz sicher etwas von der elitären Weltanschauung ihres Schöpfers widerspiegelt. So gesehen ist der Kerl, mit dem es der Protagonist in Harbinger zu tun bekommt, eine geradezu urlovecraftianische Gestalt.
 


Behind

Faszinierenderweise bestehen in gewisser Hinsicht Parallelen zwischen Harbinger und diesem Kurzfilm, spielen das Motiv der Rückkehr der Großen Alten und die monströse Gottheit Yog-Sothoth doch in beiden eine wichtige Rolle. Und doch könnten sie nicht unterschiedlicher sein. Während es sich bei ersterem um einen zwar recht effektvollen, aber nichtsdestoweniger eher konventionellen Horrorflick handelt, haben wir es bei dem Film des französischen Künstlers Kendy Ty mit einem minimalistischen Werk zu tun, das völlig auf irgendwelche Gore- oder Schockeffekte verzichtet. Seine bedrückende Atmosphäre und das Aufgreifen der eher subtileren Motive lovecraftianischer Kunst – apokalyptische Angst, das Gefühl von Verlorenheit und Hilflosigkeit – machen den gerade einmal fünf Minuten langen Film dennoch zum vielleicht eindrucksvollsten der drei Streifen. Ein kurzes Interview mit Kendy Ty kann man sich hier durchlesen. 




* H. P. Lovecraft: Selected Letters. Bd. V. S. 19f.

Samstag, 23. Januar 2016

Strandgut der Woche

Dienstag, 19. Januar 2016

"By a route obscure and lonely"

Wir können heute den 207. Geburtstag des unsterblichen Edgar Allan Poe feiern. Wenige können einen ähnlich hohen Rang im Pantheon der phantastischen Literatur für sich beanspruchen wie der düstere Romantiker und Meister des Makabren.

Zu diesem Anlass möchte ich hier rasch zwei Kurzfilme vorstellen, die auf seinen Geschichten The Tell-Tale Heart und The Oval Portrait basieren. 
Der erste wurde 2004 unter der Regie von Stephanie Sinclaire gedreht und ist zugleich eine der letzten Arbeiten des großen, fünf Jahre später verstorbenen Kameramanns Jack Cardiff, der vor allem für seine Kooperationen mit Michael Powell & Emeric Pressburger (A Matter of Life and Death [1946], Black Narcissus [1947], The Red Shoes [1948]), aber auch mit Alfred Hitchcock (Under Capricorn [1949]), John Huston (The African Queen [1951]), Joseph L. Mankiewicz (The Barefoot Contessa [1954]) und King Vidor (War and Peace [1956]) bekannt ist.
Über den zweiten Film weiß ich leider nicht mehr zu berichten, als dass er aus dem Jahr 2008 stammt. Der Regisseur könnte Dan Brosnan heißen. Das von den Machern hinzugefügte Happy End mag etwas irritierend wirken, doch als Ganzes betrachtet finde ich den Streifen ziemlich atmosphärisch und berührend.



Samstag, 16. Januar 2016

"When you're hurt and scared for so long, your fear and pain turn to hate, and the hate starts to change the world"


Ich bin wirklich alles andere als ein Gamer. Abgesehen von ein paar wundervollen Indie-Sachen wie den Lands of Dream - Spielen von Jonas & Verena Kyratzes oder den Twine-Geschichten von Richard Goodness (TOMBs of Reschette, TWEEZER, Zest etc.), habe ich mich seit rund zehn Jahren mit keinem einzigen Computerspiel mehr amüsiert. Und auch davor beschränkten sich meine diesbezüglichen Aktivitäten auf ein paar ältere Games, die ich von einem Freund "geerbt" hatte. Up to date war ich glaube ich nur in den frühen 80er Jahren, der Ära des C-64.

So gesehen fehlt es mir eigentlich an der nötigen Vertrautheit mit dem Medium, um Filme zu besprechen, die auf Computerspielen basieren. Jedenfalls, wenn es darum geht, zu beurteilen, inwieweit diese dem Flair und der Thematik ihrer Vorlagen gerecht werden.

Freilich gilt diese Subkategorie des Genrefilms allgemein als wenig berauschend, und alles, was ich bisher gesehen habe, lässt mich nicht viel anders denken.
Der erste Film dieser Art, der das Licht der Kinowelt erblickte, war Super Mario Bros. (1993). Ein Streifen, der viele Fragen aufwirft, vor allem zwei: Was haben sich die Leute, die dieses abstruse Machwerk kreierten, während des Drehs reingepfiffen? Und vielleicht noch wichtiger: Wo bekomm ich den Stoff? – Dem folgten 1994 und '95 Street Fighter und Mortal Kombat. Doch auch wenn letzterer zumindest in den Augen der erlauchten Jury von The Witless for the Defence deren Urteilssprüchen ich mich meist, aber nicht immer, anschließen kann – ein recht unterhaltsamer Action-Flick sein soll, blieb es nach diesem ersten Ausbruch für ein Jahrfünft eher still in diesem Winkel der Filmwelt. Dann kam Lara Croft: Tomb Raider (2001), und von da an verging kaum ein Jahr mehr, in dem uns nicht der eine oder andere auf einem Computerspiel basierende Film um die Ohren gehauen worden wäre. Eine Qualitätssteigerung war jedoch eher nicht auszumachen. Die berüchtigsten Serientäter des Subgenres sind ohne Zweifel Paul W.S. Anderson mit seiner nicht enden wollenden Resident Evil - Serie und Uwe Boll mit Flicks wie House of the Dead (2003), BloodRayne (2005) oder In the Name of the King: A Dungeon Siege Tale (2008; vgl. hier).
Inmitten dieser alles in allem nicht eben einladenden Filmelandschaft nimmt sich Silent Hill aus dem Jahre 2006 beinah wie ein kleines Juwel aus.


Die meisten Kritiker zeigten sich zwar wenig begeistert von dem Streifen – sein aktuelles Rating auf Rotten Tomatoes liegt bei 29% –, und auch ich würde ihn ganz sicher nicht als einen Klassiker des Horrorkinos bezeichnen, doch halte ich ihn für einen zumindest sehenswerten und alles in allem nicht uninterassenten kleinen Flick. Ich habe keine sonderlich hohe Meinung von Regisseur Christophe Gans, aber Silent Hill steht meiner Ansicht nach deutlich über seinen übrigen phantastischen Werken wie Necronomicon (1993; vgl. hier) oder Le pacte des loups / Brotherhood of the Wolf / Pakt der Wölfe (2001). 

Als ich mir den Film vor einigen Jahren zum ersten Mal anschaute, wusste ich noch nichts über das Spiele-Franchise. Im Rückblick war das vielleicht ganz gut so, war es mir damit doch möglich, ihn unabhängig von seiner "Quelle" zu betrachten. Und der Eindruck, den er dabei hinterließ, war ziemlich positiv. Die visuelle Ästhetik, die Cinematographie, das Monsterdesign und die allgemeine Atmosphäre des Streifens wirkten extrem verstörend auf mich. Ich will nicht behaupten, der Film habe tatsächlich Alpträume bei mir ausgelöst, aber seine Wirkung ging doch ohne Frage in die Richtung.
Mein Interesse war geweckt und ich begann, einige Artikel über das Silent Hill - Franchise zu lesen, und schaute mir schließlich eine Reihe von "Let's Play"s zu den meisten Teilen an. Als ich dem Film daraufhin einen weiteren Besuch abstattete, fiel mir natürlich auf, in wie vielen Punkten er von seiner Vorlage abweicht. Auch gelang es ihm nicht, mich noch einmal so stark in seinen Bann zu ziehen wie beim ersten Mal. 
Doch nach einer dritten Begegnung vor einigen Tagen, bin ich nun beinah versucht, die häretische Behauptung aufzustellen, der Film sei dem ersten Teil der Silent Hill - Reihe, auf dem er was die Story betrifft hauptsächlich basiert, in gewisser Hinsicht sogar überlegen.

Aber vielleicht sollte ich erst einmal versuchen, den Plot kurz zusammenzufassen.
Sharon (Jodelle Ferland), die neunjährige Adoptivtochter von Rose (Radha Mitchell) und Christopher (Sean Bean) Da Silva, tendiert zum Schlafwandeln und erwähnt in diesem Zustand immer wieder den Namen Silent Hill. Schließlich entscheidet sich Rose dazu, der mysteriösen Ortschaft gemeinsam mit ihr einen Besuch abzustatten, da sie hofft, dem Spuk damit ein Ende bereiten zu können. Silent Hill entpuppt sich als eine übel beleumundete Geisterstadt, in deren alten Kohlestollen seit Jahren ein Großbrand wütet, was u.a. einen nie endenden Ascheregen produziert, der auf die verlassene Siedlung niedergeht.* Doch das ist bei weitem nicht das merkwürdigste, was hier auf sie wartet. Kaum erreicht sie den Rand der Stadt, da läuft ihr die nur schemenhaft auszumachende Gestalt eines kleinen Mädchens vors Auto. Rose versucht auszuweichen, ihr Wagen landet im Straßengraben, sie selbst verliert beim Aufprall das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kommt, ist Sharon verschwunden. Natürlich macht sie sich sofort auf die Suche nach ihrer Tochter und betritt dabei eine groteske Alptraumwelt, die von bizarren Monstern bevölkert wird und immer wieder zwischen zwei Existenzformen – einer nebelverhangenen Szenerie und der "Finsternis"– hin und her wechselt. Sie begegnet der äußerst verstörten Dahlia (Deborah Kara Unger), die durch den Verlust ihrer eigenen Tochter Alessa offenbar in den Wahnsinn getrieben wurde, sowie der Polizistin Cybil (Laurie Holden), die ihr nach Silent Hill gefolgt ist und mit der sie sich nach anfänglichen Missverständnissen schließlich zusammentut. Die beiden stoßen auf eine religiöse Gemeinschaft unter Führung der fanatischen Christabella (Alice Krige), deren Mitglieder davon überzeugt sind, dass der Anbruch des Jüngsten Tages (verkörpert in der "Finsternis") einzig durch ihren Glauben und ihre moralische Reinheit aufgehalten werde. Christabella behauptet, die einzige Möglichkeit, Sharon zu finden, bestände darin, den "Dämon" aufzusuchen, der diese ganze Apokalypse herbeigeführt habe. Gemeinsam mit zwei ihrer Anhänger geleitet sie Rose und Cybil zum Krankenhaus von Silent Hill, wo selbiger residieren soll. Doch als sie zufällig ein Foto von Sharon erblickt und in ihr das perfekte Ebenbild des "Dämons" erkennt, wendet sie sich gegen unsere Heldinnen. Rose ist gezwungen, Cybil zurückzulassen, die von den Kultisten überwältigt wird, und dringt alleine in das Hospital vor, wo sie schließlich mit der grausigen Wahrheit über Silent Hill, den Kult und ihre eigene Adoptivtochter konfrontiert wird.    

Eine Reihe von Kritikern wie der gute Roger Ebert fanden den Plot offenbar äußerst verwirrend und unverständlich. Ich denke, dass er sich bei näherem Hinsehen alles in allem als ziemlich simpel erweist. Wenn man von dem in der Tat bizarren finalen Twist absieht, auf den Christophe Gans besser hätte verzichten sollen. 
Die größten Schwächen des Films bestehen für mich in folgendem.
Zuerst einmal wirkt es etwas unbefriedigend, dass wir die Wahrheit über Silent Hill, seine Vergangenheit und die Rolle, die Sharon und Alessa in dem Ganzen spielen, in einer Art "Infodump" - Szene vorgesetzt bekommen. Die Szene selbst ist zwar ziemlich gelungen und eindringlich, aber es wäre schön gewesen, wenn wir im Verlaufe der vorherigen Handlung mehr Hinweise auf die vergangenen Ereignisse erhalten hätten, die Wahrheit uns sukzessive und durch die Geschehnisse vermittelt offenbart worden wäre. Doch dafür finden sich nur einige wenige eher zaghafte Ansätze.
Noch sehr viel irritierender allerdings ist die ganze Parallelhandlung um Rose' Ehemann, der ihr nach Silent Hill folgt, jedoch nicht das alptraumhafte Paralleluniversum betritt, in dem seine Frau umherirrt, sondern sich stattdessen mit dem Kleinstadt-Cop Thomas Gucci (Kim Coates) herumschlagen muss. All das ist nicht nur furchtbar langweilig, die entpsrechenden Szenen reißen einen auch immer wieder aus dem phantasmagorischen Universum heraus, in dem der Hauptteil des Filmes spielt, und erlauben es dem Streifen über längere Strecken deshalb nicht, seine verstörende Atmosphäre in voller Stärke zu entfalten.
Interessanterweise wurde dieser Handlungsstrang offenbar nur deshalb eingefügt, weil die Studiobosse der Meinung waren, ein Film mit ausschließlich weiblichen Hauptfiguren ließe sich schlechter verkaufen! In gewisser Hinsicht ist es irgendwie ganz nett, zu sehen, welch negative Auswirkungen dieser sexistische Bullshit hatte. Doch letztendes ist es natürlich vor allem bedauernswert, dass einem gar nicht so üblen Film aus solchen Beweggründen etwas von seinem Potential geraubt wurde.

Wie dem auch sei, kommen wir zurück zu meiner häretischen Behauptung.
In einem langen Interview mit Shane Bettenhausen, das vor der Premiere des Films geführt wurde, erzählt Christophe Gans, dass er ursprünglich einen Film drehen wollte, der in erster Linie auf Silent Hill 2 basiert hätte. In der Tat ist der Inhalt des zweiten Teils in vielerlei Hinsicht sehr viel interessanter als der seines Vorgängers, ist die Alptraumwelt von Silent Hill in ihm doch vor allem eine Verkörperung der Ängste und Schuldgefühle jener, die es in den fluchbeladenen Ort verschlagen hat. Andererseits kann ich die Beweggründe, die Gans schließlich von dieser Idee Abstand nehmen ließen, bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen:
[W]e realized that it was impossible to talk about Silent Hill and not talk about why this town is like that. So we realized that we had to adapt the first one. 
Etwas merkwürdiger fand ich da schon, was der Regisseur in dem selben Interview über seine Herangehensweise an die "Mythologie" von Silent Hill sagt:
I'm only the illustrator of this mythology that has been invented by this guy [Komponist Akira Yamaoka, der bei dem Interview anwesend war] and his friend [Keiichirō Toyama], and it was important to be true to it, and if possible, to expand it some direction.
In Wirklichkeit hat Christophe Gans die "Mythologie" in zentralen Punkten völlig verändert. Im Spiel trägt der Kult von Silent Hill deutlich okkultistisch-satanistische Züge. Dass die Gottheit, die von seinen Anhängern verehrt wird, den Namen "Samael" trägt, ist bloß ein besonders offensichtlicher Fingerzeig hierfür. Ziel der Kultisten ist es, ihrem offenbar aus unserer Welt verbannten Gott die Rückkehr zu ermöglichen, damit er die Erde in ein Irdisches Paradies verwandeln kann. Nichts hiervon findet sich in dem Film. Bei Gans ist der Kult zu einer Verköperung des christlichen Fundamentalismus mit all seiner Intoleranz, Heuchelei und Grausamkeit geworden. 

Für manche Fans des Franchises dürfte in dieser Veränderung die größte Schwäche des Filmes – sein Verrat am "echten" Silent Hill bestehen. Ich sehe es genau umgekehrt. 
Das ursprüngliche Spiel besitzt soweit ich das beurteilen kann – eine fraglos ziemlich faszinierende Atmosphäre, doch im Zentrum seiner Story steht letztenendes bloß einmal mehr das infernalische Treiben eines satanisch-cthulhuiden Geheimbundes. Nichts sonderlich originelles. 
Natürlich ist auch das Thema von christlich-religiösem Fanatismus nicht eben neu, und Christophe Gans geht ganz sicher nicht auf besonders subtile Weise mit ihm um, aber es besitzt eine sehr viel engere Verbindung zur Welt, in der wir leben, und hat deshalb auch eine sehr viel stärkere Wirkung auf mich. Immerhin müssen wir schon seit längerem mit ansehen, wie christlich-fundamentalistische Gruppen nicht nur in den USA ihren Einfluss immer weiter ausbauen. Und auch wenn diese noch nicht damit begonnen haben, erneut Scheiterhaufen zu errichten und all jene, die sie für "sündig" halten, als Hexen zu verbrennen, kann es doch nicht schaden, immer mal wieder vor Augen geführt zu bekommen, wohin die Bigotterie dieser Fanatiker in letzter Konsequenz führen muss. Und mehr noch der Film zeigt nicht nur, zu welch extremer Grausamkeit religiöser Fundamentalismus führen kann, er zeigt auch, wie diese Grausamkeit ihre Opfer ihrereseits zu unmenschlichen Monstern machen kann, wie aus Schmerz und Hilflosigkeit Hass und das Verlangen nach Rache geboren werden, wie die ganze Welt auf diese Weise pervertiert und in eine Hölle verwandelt werden kann. Wie Alessa sagt: "When you're hurt and scared for so long, your fear and pain turn to hate, and the hate starts to change the world"

  
       .  
* Drehbuchautor Roger Avary wurde von dem seit 1962 brennenden Minenfeuer von Centralia/Pennsylvania zu diesem Szenario inspiriert.

Strandgut der Woche

Samstag, 9. Januar 2016

Strandgut der Woche

Samstag, 2. Januar 2016

Der Hort und sein Fluch


Wo es [das Schöpfungsverlangen] nicht verderbt ist, 
strebt es nicht nach Trug, Herrschaft und Behexung: 
Nach gemeinsamen Reichtum sucht es, nach Gefährten 
beim Schaffen und Genießen, nicht nach Sklaven.

J.R.R. Tolkien, Über Märchen


Ich sehe in J.R.R. Tolkien nicht allein einen der großen Gründerväter der modernen Fantasy, sondern zugleich einen der letzten bedeutenden Vertreter einer auf die Englische Romantik zurückgehendenTradition, die ich als "romantischen Antikapitalismus" bezeichnen würde. Vor bald zweieinhalb Jahren habe ich einmal eine Artikelserie (hier * hier * hier) begonnen, die diesem Thema gewidmet sein sollte, die ich jedoch leider nie zu Ende geführt habe. Ich kann nicht versprechen, dass ich das je tun werde. Vor allem, da ich dazu erst einmal meine Bekanntschaft mit William Morris und seinem Werk auf umfassende Weise auffrischen müsste. Was ich sehr gerne tun würde, doch wer weiß, wann ich die Muße dazu finde. Darum veröffentliche ich jetzt einfach einen Text, der eigentlich zum abschließenden Teil der Artikelserie hätte gehören sollen.

Kurioserweise zeigt sich der antibürgerliche Charakter von Tolkiens Werk vielleicht am deutlichsten im Hobbit. Es ist schon irgendwie merkwürdig, aber offenbar war der "Professor" bei einem Kinderbuch sehr viel weniger zurückhaltend, wenn es darum ging, seinen sozialen Überzeugungen Ausdruck zu verleihen.

Ziel der abenteuerlichen Fahrt, an der Bilbo teilnimmt, ist bekanntlich die Zurückeroberung eines Schatzes. Das Motiv des Drachenhortes gemahnt an die germanischen Heldenepen – an den zweiten Teil des Beowulf, vor allem aber an die Nibelungensage –, und wenn die "unvorhergesehene Gesellschaft" der Zwerge, nachdem sie die Speisekammer des armen Hobbits geplündert hat, ihre Musikinstrumente auspackt und das Lied über ihr "lang vergessenes Gold" anstimmt, wirkt dies, als öffne sich auf einmal eine Tür und gebe den Blick frei auf eine weite, nebelverhangene Landschaft von archaischer Schönheit und epischer Strenge, die sich hinter der bieder-witzigen Fassade des Eröffnungsszenarios verbirgt.
 
Far over the misty mountains cold
To dungeons deep and caverns old
We must away ere break of day
To seek the pale enchanted gold.
The dwarves of yore made mighty spells,
While hammers fell like ringing bells
In places deep, where dark things sleep,
In hollow halls beneath the fells.
For ancient king and elvish lord
There many a gloaming golden hoard
They shaped and wrought, and light they caught
To hide in gems on hilt of sword.
On silver necklaces they strung
The flowering stars, on crowns they hung
The dragon-fire, in twisted wire
They meshed the light of moon and sun.
Far over the misty mountains cold
To dungeons deep and caverns old
We must away, ere break of day,
To claim our long-forgotten gold.

 
An dieser Stelle deutet sich zum ersten Mal an, dass der Hobbit mehr ist als ein für den heutigen Geschmack vielleicht etwas albernes Kinderbuch.
In der zweiten Hälfte der Erzählung erhält das Hortmotiv dann allerdings noch eine ganz andere Bedeutung. Der Hobbit wird zu einer Geschichte über die Gier nach Reichtum und ihre Folgen
Auch dieses Thema war den alten Germanen nicht völlig unbekannt. So ist es in der ursprünglichen Fassung der Nibelungensage, wie sie uns im Altnordischen überliefert ist, Atlis/Etzels Gier nach dem Hort, die den tragischen Untergang der Gjukungen am Hof des Hunnenkönigs herbeiführt. Und selbst in der um 1200 entstandenen mittelhochdeutschen Version scheint dieses Motiv ganz am Ende wieder auf: Wenn in der letzten "Aventiure" des Nibelungenlieds der von Dietrich von Bern bezwungene Hagen vor Kriemhild geführt wird, geht es dieser nämlich auf einmal nicht mehr um Rache für Siegfried, sondern bloß noch um das von ihrem großen Widersacher im Rhein versenkte Gold: „welt ir mir geben widere, daz ir mir habt genomen,/ sô muget ir noch wol lebende heim zen Burgonden komen.“ – ‘Wenn ihr mir das zurückgebt, was ihr mir genommen habt, so wird’s euch wohl noch möglich sein, lebendig heim ins Burgunderland zu gelangen.' (1)
Doch anders als in den alten Heldensagen geht es im Hobbit in erster Linie um die moralisch verheerende Wirkung des Reichtums auf ursprünglich edle Charaktere. Nachdem er in den Besitz des Drachenhortes gelangt ist, zeigt sich Thorin Eichenschild eher gewillt, einen Krieg vom Zaun zu brechen, als auch nur "ein Gran seines Goldes" abzugeben, denn „[t]ief hatte sich die Begierde in ihm festgefressen.“ Wie Bilbo dem Elbenkönig erzählt, dessen Heer zusammen mit Bards Männern den Einsamen Berg belagert: „Er ist bereit, auf seinem Goldhaufen sitzen zu bleiben und zu verhungern, wenn ihr nicht abzieht.“ Als Thorin den "Verrat" des Hobbits ent-deckt, der, um ein Blutvergießen zu verhindern, das Arkenjuwel "gestohlen" und den Belagerern übergeben hat, wird der zornerfüllte Zwergenkönig nur durch das Eingreifen Gandalfs davon abgehalten, Bilbo zu erschlagen. Aber auch der scheinbar so edle Elbenherrscher ist nicht gefeit gegen den unheilvollen Einfluss des Goldes. Schließlich war es „die Sage von dem märchenhaften Reichtum Thrors“, die ihn sein Heer in Marsch setzen ließ, nachdem er von Smaugs Tod erfahren hatte. Auch ihn verlangt es also nach dem Schatz und nicht bloß nach "Gerechtigkeit".
Für sich allein genommen besäße solch eine Kritik an der Gier nach Reichtum natürlich nichts antibürgerliches. Schließlich war schon für das mittelalterliche Christentum Habgier/Geiz ("Avaricia") eine der sieben Todsünden. Erst die Figur des Meisters von Seestadt verdeutlicht uns, in welchem Kontext wir den Hobbit zu lesen haben.
Esgaroth auf dem Langen See ist das einzige wirklich "republikanische" Gemeinwesen, das wir in Mittelerde kennenlernen. Im Unterschied zur bäuerlichen Eidgenossenschaft des Auenlandes handelt es sich um eine auf Handel basierende Kommune. Den Meister von Seestadt zeichnet Tolkien dann auch nicht zufällig als eine Karrikatur des bürgerlichen Politikers: verlogen, geldgierig, feige und demagogisch. Als Smaug die Stadt angreift, flüchtet er ohne zu Zögern „zu seinem großen, vergoldeten Boot und hoffte, in der allgemeinen Verwirrung davonrudern und sich in Sicherheit bringen zu können.“ Mit Bard dem Bogenschützen wird ihm der aufrechte Vertreter des Adels entgegengestellt: „Einer seiner Vorfahren war Girion, Fürst von Dal“. Nach dem Tod des Drachen und der Vernichtung Seestadts macht sich der Unmut der Bevölkerung in deutlichen Worten Luft: „Er [der Meister] mag einen gescheiten Kopf haben, was Geschäfte angeht, besonders für seine eigenen. [...] Aber wenn es ernst wird, dann ist kein Verlaß auf ihn.“ Stattdessen wollen sie den Drachentöter zu ihrem König machen. Der Meister ist der einzige, der das republikanische gegen das monarchische Prinzip zu verteidigen versucht: „In der Seestadt wählten wir von jeher unter den Alten und Weisen einen Meister aus. Nie haben wir die Herrschaft kriegerischer Männer geduldet.“ [„In the Lake-town we have always elected masters from among the old and wise, and have not endured the rule of mere fighting men.“] Er tut dies selbstverständlich aus völlig eigennützigen Motiven, und die einfachen Leute durchschauen ihn. Sie haben genug von "Geldzählern" und Pfeffersäcken: „Up the Bowman, and down with Money-bags“! Woraufhin der Meister sein demagogisches Geschick unter Beweis stellt, indem er zuerst Bard mit heuchlerischem Lob überschüttet und der aufgebrachten Menge anschließend einen probaten Sündenbock präsentiert: Thorin und seine Zwerge, die Smaug doch überhaupt erst aufgescheucht und in Wut versetzt hätten. An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass Tolkiens feudale Romantik nicht nur antibürgerlich, sondern auch antidemokratisch ist, denn das Volk erweist sich augenblicklich als leicht zu manipulierender Pöbel: „Der Erfolg seiner Rede war, daß das Volk seinen Wunsch nach einem neuen König für den Augenblick völlig vergaß und Thorin und seine Gesellschaft zur Zielscheibe ihres Ärgers machte. Ungezügelte, bittere Worte wurden laut. Einige von denen, die damals die alten Lieder [über die Rückkehr des Königs unter dem Berg und den damit verbundenen Segen] gesungen hatten, schrien sich jetzt heiser, daß die Zwerge den Drachen vorsätzlich gegen sie aufgestachelt hätten.“ 
Einzig Bard zeigt sich ruhig, gerecht und mitfühlend. Und so kommt es zwar nicht zum Sturz des Meisters, doch in Wirklichkeit übt der Bogenschütze in der folgenden Krisenzeit die uneingeschränkte Gewalt über das Gemeinwesen aus: „Er ordnete alle Angelegenheiten, wie er es für gut hielt (jedoch stets im Namen des Meisters).“ Und natürlich erweist er sich als kluger und umsichtiger Führer, während der Meister weiterhin nur an sein eigenes Wohlergehen und seine Bequemlichkeit denkt. Dass Bard das aristokratische Prinzip verkörpern soll, zeigt sich nicht nur an seiner adeligen Herkunft, sondern auch in der Art, wie Tolkien ihn beschreibt. Er verleiht ihm die Züge eines klassischen Heroen, "grimmig und stolz": die beiden Epitheta werden im Laufe der Erzählung immer wieder auf ihn angewandt, und schon bei seinem ersten Auftreten heisst es, er sei „grim-voiced and grim-faced“ gewesen. Vögel sprechen mit ihm, wie weiland mit dem berühmtesten germanischen Drachentöter, Sigurd dem Wälsungen. Und wenn Bard sich dazu entschließt, gegen Thorin und die Zwerge zu ziehen, so weniger aus nackter Gier (obwohl auch er nicht gegen den verführerischen Reiz des Hortes gefeit ist), sondern weil er von „der wiederaufgebaute[n] Stadt Dal, über der goldene Glocken klingen sollen“ träumt, d.h. vom wiedergewonnenen Ruhm seiner Sippe. 
Ein besonders vielsagendes Detail findet sich im vorletzten Kapitel des Buches. Als Dain Eisenfuß nach der Schlacht der Fünf Heere Teile des Schatzes an alle beteiligten Parteien verteilt, heisst es von Bard: „[A]nd he rewarded his followers and friends freely“. Meine Kenntnis der alt- und mittelenglischen Literatur ist leider eher bescheiden, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Tolkien mit "followers and friends" etwas ähnliches ausdrücken wollte wie die mittelhochdeutschen Dichter mit "mâge unde man". Gemeint ist der Feudalverband aus Verwandten bzw. gleichgestellten Verbündeten ["friends"/"mâge"] und Vasallen ["followers"/"man"]. Dafür spricht meines Erachtens vor allem die Alliteration, die der Formulierung etwas formelhaftes verleiht. Tolkien besaß ein großes Feingefühl für solche sprachlichen Details. Bard praktiziert hier die feudale Tugend der Freigebigkeit, wie sie alle wahren Helden und guten Könige der mittelalterlichen Literatur auszeichnet, und deren soziale Funktion der Dichter des Beowulf ganz ungeniert wie folgt beschrieben hat: „Swá sceal geong guma góde gewycrean/ fromum feohgiftum on fæder bearme/ þæt hine on ylde eft gewunigen/ wilgesíþas þonne wíg cume/ léode gelaésten“ – ‘So schenkte in jungen Jahren der Sohn/ vom Hort freigebig im Haus seines Vaters,/ dass willig im Alter ihm wiederum halfen/ die kühnen Kämpen, wenn Krieg entbrannte,/ und mutig ihm folgten’. (2)
Der Meister hingegen verfügt selbstverständlich nicht über diese löbliche Eigenschaft und endet dementsprechend: „[D]a er zu denen gehörte, die leicht solchen Sünden verfallen, hatte die Drachenkrankheit ihn angesteckt. Er nahm den größten Teil des Goldes und floh – und verhungerte in der Einöde, verlassen von seinen Spießgesellen.“ (3)
Dass dennoch nicht Bard, sondern Bilbo der wahre Held des Hobbit ist, zeigt einmal mehr, dass Mitgefühl und schlichte Menschlichkeit für Tolkien über dem "heroischen" Ideal stehen.
Der Ausdruck "Drachenkrankheit" könnte vielleicht den Eindruck erwecken, als hafte Smaugs Gold eine Art unheilvoller Zauber an, ist aber offenbar nur als metaphorische Umschreibung für Habgier gedacht. Das ist insofern von Bedeutung, als das Motiv des verfluchten Drachenhortes in der germanischen Heldensage weitver-breitet war. Sowohl auf dem Schatz des Drachen im Beowulf als auch auf dem Nibelungenhort lastet ein solcher Fluch. Das Unglück, das die späteren Besitzer des Goldes ereilt, besitzt darum einen stark schicksalhaften Charakter, weshalb man z.B. die altnordische Erzählung vom Untergang der Gjukungen auch nur schwer als eine Warnung vor den Folgen der Gier lesen kann. Wenn hingegen Tolkien sich des Hortmotivs bedient, so verleiht er diesem stets eine deutlich moralische Dimension. Das interessanteste Beispiel dafür findet sich nicht im Hobbit, sondern in der Gedichtsammlung The Adventures of Tom Bombadil:

Nicht allein aufgrund der archaischen Versform scheint The Hoard der altgermanischen Dichtung besonders nahe zu stehen. Aber obwohl das Gedicht tatsächlich von einem Vers aus dem Beowulf inspiriert wurde, (4) trügt der Schein.
 
When the moon was new and the sun young
of silver and gold the gods sung:
in the green grass they silver spilled,
and the white waters they with gold filled.
Ere the pit was dug or Hell yawned,
ere dwarf was bred or dragon spawned,
there were Elves of old, and strong spells
under green hills in hollow dells
they sang as they wrought many fair things,
and the bright crowns of the Elf-kings.
But their doom fell, and their song waned,
by iron hewn and by steel chained.
Greed that sang not, nor with mouth smiled,
in dark holes their wealth piled,
graven silver and carven gold:
over Elvenhome the shadow rolled.
There was an old dwarf in a dark cave,
to silver and gold his fingers clave;
with hammer and tongs and anvil-stone
he worked his hands to the hard bone.
and coins he made, and strings of rings,
and thought to buy the power of kings.
But his eyes grew dim and his ears dull
and the skin yellow on his old skull;
through his bony claw with a pale sheen
the stony jewels slipped unseen.
No feet he heard, though the earth quaked.
when the young dragon his thirst slaked.
and the stream smoked at his dark door.
The flames hissed on the dank floor,
and he died alone in the red fire;
his bones were ashes in the hot mire.
There was an old dragon under grey stone;
his red eyes blinked as he lay alone.
His joy was dead and his youth spent,
he was knobbed and wrinkled, and his limbs bent
in the long years to his gold chained;
in his heart's furnace the fire waned.
To his belly's slime gems stuck thick,
silver and gold he would snuff and lick:
he knew the place of the least ring
beneath the shadow of his black wing.
Of thieves he thought on his hard bed,
and dreamed that on their flesh he fed,
their bones crushed, and their blood drank:
his ears drooped and his breath sank.
Mail-rings rang. He heard them not.
A voice echoed in his deep grot:
a young warrior with a bright sword
called him forth to defend his hoard.
His teeth were knives, and of horn his hide,
but iron tore him, and his flame died.
There was an old king on a high throne:
his white beard lay on knees of bone;
his mouth savoured neither meat nor drink,
nor his ears song; he could only think
of his huge chest with carven lid
where pale gems and gold lay hid
in secret treasury in the dark ground;
its strong doors were iron-bound.
The swords of his thanes were dull with rust,
his glory fallen, his rule unjust,
his halls hollow, and his bowers cold,
but king he was of elvish gold.
He heard not the horns in the mountain-pass,
he smelt not the blood on the trodden grass,
but his halls were burned, his kingdom lost;
in a cold pit his bones were tossed.
There is an old hoard in a dark rock,
forgotten behind doors none can unlock;
that grim gate no man can pass.
On the mound grows the green grass;
there sheep feed and the larks soar,
and the wind blows from the sea-shore.
The old hoard the Night shall keep,
while earth waits and the Elves sleep. (5)

Wenn wir die Reihe der unglückseligen Besitzer des Schatzes überblicken, so mag uns das an die altnordische Erzählung vom fluchbeladenen Nibelungenhort erinnern, der nacheinander Hreidmar, Fafnir, Sigurd, die Gjukungen und Atli ins Verderben stürzt. Tatsächlich aber ist nirgends von einem Fluch die Rede, der über dem Gold liegen würde. Die elbischen Schöpfer des Geschmeides waren zwar der Magie kundig, aber nichts spricht dafür, dass sie einen Zauber in das Gold gewoben hätten, in dem der Grund für das üble Schicksal von Zwerg, Drache und König zu suchen wäre. Erst nachdem die Elben der Gewalt von Eisen und Stahl hatten weichen müssen, und „greed that sang not, nor with mouth smiled,/ in dark holes their wealth piled“, erhielt der Schatz einen unheilvollen Charakter. Seinen späteren Besitzern wird kein Fluch, sondern die ausschließliche Fixierung auf ihren Reichtum zum Verhängnis. Allerdings hatte dieser bereits lange zuvor ihr Leben zerstört, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst gewesen wären. Das Greisenhafte und Gebrechliche aller drei Besitzer ist dafür ein äußerliches Symbol. Tolkien entwickelt in The Hoard einen Gedanken, der von zentraler Bedeutung für sein gesamtes künstlerisches Werk ist. Er zeigt, wie Schönheit und Kunst durch das Besitzdenken pervertiert werden, und wie dasselbe Denken auch dem gesamten menschlichen Leben seinen wahren Wert nimmt. Als die Elben ihre Geschmeide schufen, taten sie dies offenbar aus unverfälschter Freude an der Schönheit und an ihrer eigenen Schöpferkraft, was sich darin zeigt, dass sie während ihrer Arbeit sangen. Damit vollzogen sie in gewisser Weise den göttlichen Schöpfungsakt nach, denn die Götter hatten von Gold und Silber ‘gesungen’, während sie diese erschufen – eine deutliche Parallele zur ‘Musik der Ainur’ im Silmarillion (6), und zugleich ein Hinweis auf Tolkiens Idee vom "Nebenschöpfertum" ("subcreation"). (7) Dann aber zerstörten Gewalt und Gier, die weder ‘singen’ noch ‘lächeln’, den paradiesischen Urzustand. Der von Habgier beherrschte Mensch will die Schönheit für sich allein besitzen, dies aber führt unweigerlich dazu, dass er sich nicht mehr wirklich an ihr erfreuen kann. Der Zwerg ist zwar noch schöpferisch tätig, aber er denkt dabei ausschließlich an die Macht, die der Reichtum ihm verschaffen soll: „coins he made, and strings of rings, and thought to buy the power of kings.“ Drache und König sind ausschließlich Besitzende. Ersterer kennt zwar den Platz des kleinsten Ringes, der an seinem Körper klebt, aber „[h]is joy was dead and his youth spent [...] in the long years to his gold chained“. Ebenso ist der König zwar stolz darauf, Herr des Elbenhortes zu sein, aber Essen, Trinken und Gesang – d.h. das Leben – bergen keine Freude mehr für ihn. Da er außerdem als Herrscher für sein Reich und seine Untertanen verantwortlich ist, zerstört die Gier nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das der von ihm Abhängigen: „The swords of his thanes were dull with rust,/ his glory fallen, his rule unjust,/ his halls hollow, and his bowers cold“.

The Hoard ist in meinen Augen eine der eindrucksvollsten Äußerungen von Tolkiens romantischem Antikapitalismus und erinnert nicht zufällig an einige Szenen aus Richard Wagners Das Rheingold. Und dass nicht nur, weil der Zwerg, der mit seinem Gold "die Macht von Königen" kaufen will, an Alberich und seine Allmachtsfantasien denken lässt. Wie das Geschmeide der Elben ist auch das Rheingold zu Beginn "unschuldig" in seiner Schönheit. Die Rheintöchter erfreuen sich an seinem Glanz, ohne dass sie je auf den Gedanken verfallen würden, es "in Besitz zu nehmen". Erst als der Zwergenkönig sich seiner bemächtigt und den Ring aus ihm schmiedet, wird es zu einer unheilbringenden Macht.

Tolkien mit Wagner zu vergleichen, scheint bei vielen Tolkienisten verpönt zu sein. Frank Weinreich etwa schreibt im Zusammenhang mit dem gegen Tolkien erhobenen Faschismusvorwurf:
Der HdR ist immer wieder mit Wagners ‘Ring der Nibelungen’ [sic] verglichen worden. Tolkien mochte Wagner nicht und er mochte explizit die Götterdämmerung nicht und einmal soll er aufgebracht gesagt haben: ‘Beide Ringe sind rund - und damit enden die Gemeinsamkeiten!’ 
An anderer Stelle heißt es bei ihm: 
Saurons Ring und der der Nibelungen haben nichts miteinander zu tun? Haben Sie auch nicht, jedenfalls nicht in dem Sinn wie die Leute es meinten, die damals diese Frage an Tolkien richteten. Die wollten Parallelen zu Wagner und dem deutschen Nationalismus aufweisen und Tolkien - wie so oft - in die arische Ecke stellen.
Ich finde es ehrlich gesagt etwas traurig, wenn ein Autor, der jede "politisch motivierte" Kritik an seinem eigenen literarischen Idol für illegitim hält, scheinbar kein Problem damit hat, Richard Wagner ganz selbstverständlich zu einem Nazi vor Hitler abzustempeln. Meiner Meinung nach erweist sich jeder, der den großen Komponisten auf seine widerliche antisemitische Hetzschrift Das Judenthum in der Musik oder die nationalistischen Ausfälle gegen „wälschen Dunst mit wälschem Tand“ und das völkische „Was deutsch und ächt, wüßt’ Keiner mehr,/ lebt’s nicht in deutscher Meister Ehr’“ (8) aus dem Finale der Meistersinger zu reduzieren versucht, als fürchterlich borniert.
Tatsache ist freilich, dass Tolkien für den Ring des Nibelungen in der Tat nichts übrig hatte. Vermutlich behagte ihm die allegorische Umdeutung des alten Stoffes nicht. Vielleicht war auch einfach Wagners Musik nicht nach seinem Geschmack. Allerdings bezieht sich das von Weinreich angeführte Zitat überhaupt nicht auf den wagnerschen Ring, sondern auf das Vorwort Åke Ohlmarks zur schwedischen Ausgabe des Herr der Ringe, in der dieser Tolkiens Ring mit dem Ring aus der altnordischen Nibelungenüberlieferung identifiziert hatte. (9)
Doch sei’s drum, der Vergleich mit Wagner ist in meinen Augen dennoch angebracht. Und mit Germanentümelei hat das überhaupt nichts zu tun. Sowohl Tolkiens Roman als auch Wagners gewaltige Operntetralogie sind geboren aus dem Hass auf die moderne kapitalistische Gesellschaft – auf eine „Industrie, die den Menschen tödtet, um ihn als Maschine zu verwenden“, auf einen Staat, „der den Menschen ehrlos erklärt, um ihn als Unterthan wieder zu Gnaden anzunehmen“. (10)
Alberichs Ring verkörpert, wie Bernard Shaw als erster ganz richtig erkannt hat (11), die weltbeherrschende Macht des Kapitals: „Niblungen all,/ neigt euch nun Alberich!/ Überall weilt er nun,/ euch zu bewachen;/ Ruh und Rast/ ist euch zerronnen;/ ihm müßt ihr schaffen,/ wo nicht ihr ihn schaut;/ wo nicht ihr ihn gewahrt,/ seid seiner gewärtig:/ untertan seit ihr ihm immer! Im Nibelungen-Motiv des Rheingolds findet das rastlose Schaffen und Zusammenraffen einer auf unendlicher Akkumulation basierenden Gesellschaftsordnung seinen faszinierenden musikalischen Ausdruck.

{ungefähr ab 2:00)

Wie der arme Mime klagt: „Sorglose Schmiede,/ schufen wir sonst wohl/ Schmuck unsern Weibern,/ wonnig Geschmeid,/ niedlichen Niblungentand,/ wir lachten lustig der Müh./ Nun zwingt uns der Schlimme,/ in Klüfte zu schlüpfen,/ für ihn allein/ uns immer zu mühn./ Durch des Ringes Gold/ errät seine Gier,/ wo neuer Schimmer/ in Schachten sich birgt:/ da müssen wir spähen,/ spüren und graben,/ die Beute schmelzen/ und schmieden den Guß,/ ohne Ruh und Rast/ dem Herrn zu häufen den Hort.“ (12)
In seiner Schrift über Das Kunstwerk der Zukunft hat Wagner diesen Zwang zur unendlichen Akkumulation, der dem kapitalistischen Wirtschaftssystem innewohnt, in verschwommener und moralisierender, von feuerbachschen Vokabeln durchsetzter Ausdrucksweise als "Luxus" beschrieben:
Der Luxus ist ebenso herzlos, unmenschlich, unersättlich und egoistisch, als das Bedürfniß, welches ihn hervorruft, das er aber, bei aller Steigerung und Überbietung seines Wesens nie zu stillen vermag, weil das Bedürfniß eben selbst kein natürliches, deßhalb zu befriedigendes ist, und zwar aus dem Grunde, weil es als ein unwahres, auch keinen wahren, wesenhaften Gegensatz hat, in dem es aufgehen, sich also vernichten, befriedigen könnte. Der wirkliche, sinnliche Hunger hat seinen natürlichen Gegensatz, die Sättigung, in welchem er – durch die Speisung – aufgeht: das unnöthige Bedürfniß, das Bedürfniß nach Luxus, ist aber schon bereits Luxus, Überfluß selbst; der Irrthum in ihm kann daher nie in die Wahrheit aufgehen: es martert, verzehrt, brennt und peinigt stets ungestillt, läßt Geist, Herz und Sinne vergebens schmachten, verschlingt alle Luft, Heiterkeit und Freude des Lebens; verpraßt um eines einzigen, und dennoch unerreichbaren Augenblickes der Erlabung willen, dieThätigkeit und Lebenskraft Tausender von Nothleidenden; lebt vom ungestillten Hunger abermals Tausender von Armen, ohne seinen eigenen Hunger nur einen Augenblick sättigen zu können; er hält eine ganze Welt in eisernen Ketten des Despotismus, ohne nur einen Augenblick die goldenen Ketten jenes Tyrannen brechen zu können, der es sich eben selbst ist.Und dieser Teufel, dieß wahnsinnige Bedürfniß ohne Bedürfniß, dieß Bedürfniß des Bedürfnisses, - dieß Bedürfniß des Luxus, welches der Luxus selbst ist, – regiert die Welt. (13)
In prahlerischer Rede entwirft Alberich im Rheingold die Vision einer Welt, in der alles Schöne und Edle dem Reichtum untertan sein wird: „Die in linder Lüfte Wehn/ da oben ihr lebt,/ lacht und liebt:/ mit goldner Faust/ euch Göttliche fang ich mir alle!/ Wie ich der Liebe abgesagt,/ alles, was lebt,/ soll ihr entsagen!/ Mit Golde gekirrt,/ nach Gold nur sollt ihr noch gieren.“ (14)
Das Zwergenreich Nibelheim – erfüllt von der Hammerklängen der unermüdlich schuftenden Sklaven Alberichs – ist ebenso eine industrielle Hölle wie Sarumans Festung Isengart.

Natürlich gibt es auch bedeutende Unterschiede zwischen den beiden Werken, und dass nicht nur, weil der Ring im Gegensatz zu Tolkiens Roman tatsächlich eine allegorische Dichtung ist.
Richard Wagner war einmal ein überzeugter Revolutionär gewesen, Verfasser so umstürzlerischer, von Ludwig Feuerbachs materialistischer Philosophie inspirierter Schriften wie Die Kunst und die Revolution und Das Kunstwerk der Zukunft; Freund des demokratischen Dichters Georg Herwegh – der "eisernen Lerche" des Vormärz – und des Anarchisten Michail Bakunin, mit dem zusammen er 1849 auf den Barrikaden von Dresden gekämpft hatte. Im Gegensatz zum Herr der Ringe kennt der Ring des Nibelungen deshalb keine gute göttliche Weltordnung. Wotans Herrschaft ist vielmehr selbst Teil des Problems, und die einzige Hoffnung besteht im Auftreten des freien Menschen, der die göttlichen Gesetze zerbrechen und aus eigener Machtvollkommenheit heraus eine neue und bessere Ordnung schaffen wird. Doch Wagners revolutionärer Optimismus war angesicht des Triumphes der Reaktion, der auf das Scheitern der europäischen Revolution von 1848/49 folgte, zerbrochen, und er hatte sich unter dem Einfluss der Ideen Arthur Schopenhauers ein zutiefst pessimistisches Welt- und Menschenbild angeeignet. Und so versagt Siegfried in der Götterdämmerung. Im berühmten Trauermarsch wird nicht ein blonder Recke zu Grabe getragen, sondern ein Ideal, eine Hoffnung. Und die Welt kann Erlösung finden nurmehr durch den selbstlosen Freitod Brünhilds und die Rückkehr in den anfänglichen Naturzustand.

 
Der revolutionäre Humanismus, dessen Spuren selbst in dieser pessimistisch gebrochenen Form noch zu erkennnen sind, war Tolkien völlig fremd. Die Aufgabe, die Wagner seinem Siegfried stellte, wäre ihm sicher ebenso verwerflich vorgekommen, wie die Ambitionen Saurons oder Sarumans. Dennoch – die Schrecken des Nan Curunir und die Schrecken Nibelheims sind nahe Verwandte. Und Tolkien wie Wagner bedienten sich der Sprache des Mythos und der Heldenepik, um diese Schrecken darzustellen und gegen sie anzukämpfen.


(1) Das Nibelungenlied. V. 2367, 3-4.
(2) Beowulf. V. 20-24.
(3) J.R.R. Tolkien: Der kleine Hobbit. S. 261; 266; 271; 257; 250; 251; 253; 254; 255; 256; 249; 255; 291; 301.
(4) Vgl.: Brief an Mrs. Pauline Gasch (Pauline Baynes) [6. Dezember 1961]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 235. S. 408.
(5) J.R.R. Tolkien: The Hoard. In: The Adventures of Tom Bombadil and Other Verses from the Red Book. § 14.
(6) Als Teil der Adventures of Tom Bombadil gehört The Hoard zum Arda-Mythos, denn das Buch soll ja eine Sammlung von Versen aus dem ‘Roten Buch der Westmark’ vorstellen, und in der Einleitung heisst es, das Gedicht „depends on the lore of Rivendell, Elvish and Númenorean, concerning the heroic days at the end of the First Age; it seems to contain echoes of the Númenorean tale of Turin and Mim the Dwarf.“ So gesehen könnten die ‘singenden Götter’ also tatsächlich einer Erinnerung an die Ainulindale entsprungen sein. Die meisten der in den Adventures enthaltenen Gedichte waren jedoch ursprünglich geschrieben worden, ohne dass Tolkien dabei an eine Verbindung zu seiner Mythologie gedacht hätte. Tatsächlich beschränken sich die Ähnlichkeiten zwischen The Hoard und der Geschichte von Túrin darauf, dass in beiden ein Zwerg und ein Drache erwähnt werden. 
(7) Wir schaffen nach unserem Maß und abgeschauten Muster, weil wir selber geschaffen sind – und nicht nur geschaffen, sondern geschaffen nach dem Bild eines Schöpfers.“ (J.R.R. Tolkien: Über Märchen. In: Ders.: Die Ungeheuer und ihre Kritiker. S. 186.)
(8) Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg. 3. Akt. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 7. S. 270.
(9) Vgl.: Brief an Allen & Unwin [23. Februar 1961]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 229. S. 401. 
(10) Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 3. S. 49.
(11) Vgl. Shaws 1883 erschienenen Essay ThePerfect Wagnerite: A Commentary on the Niblung’s Ring.
(12) Richard Wagner: Das Rheingold. 3. Szene. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 5. S. 236; 238.
(13) Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 3. S. 49.
(14) Richard Wagner: Das Rheingold. 3. Szene. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Bd. 5. S. 243.