"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Sonntag, 17. März 2024

Klassiker-Reread: "Die Chroniken von Tornor" von Elizabeth A. Lynn (1/2)

Momentan ist es ja etwas still geworden hier auf dem Blog. Aber dank einer erfreulich lebendigen Tradition ändert sich das heute endlich einmal wieder. Denn wie seit 2019/20 in jedem Jahr haben Alessandra von FragmentAnsichten und ich erneut einen gemeinsamen Klassiker-Reread unternommen. In der Vergangenheit hatten wir uns dabei Joy Chants Wenn Voiha erwacht, Patricia McKillips Erdzauber, Esther Rochons Der Träumer in der Zitadelle und den Dragonlance Legends von Tracy Hickman und Margaret Weis gewidmet. Anders als in den letzten beiden Jahren, in denen Sören Heim bzw. Christina F. Srebalus als Gäste mit von der Partie waren, sind wir diesmal wieder unter uns geblieben. Vorgenommen haben wir uns Elizabeth A. Lynns Fantasyzyklus Die Chroniken von Tornor.  
     
                                                  * * *
 
Elizabeth A. Lynn wurde 1946 in New York geboren und lebte später erst in Chicago, dann in San Francisco. Ihre eigentliche Karriere als Schriftstellerin war relativ kurz, reichte nur von Mitte der 70er bis Mitte der 80er Jahre, doch war der Eindruck, den ihre Arbeiten dabei auf viele ihrer Zeitgenoss*innen machte, beträchtlich. 
Lynn gehörte zu einer Gruppe von jungen Schriftsteller*innen, die im Verlauf der 70er in die amerikanische SFF-Szene Eingang fanden und oft eine frische und unkonventionelle Sicht vertraten, in der sich selbstredend auch etwas vom politisch unruhigen Charakter der Zeit widerspiegelte. Das aufblühende Biotop der Fanzines, Semi-Prozines und Kleinverlage bot dafür ein gutes Umfeld. Dennoch war es nicht immer leicht, Fuß zu fassen. So vollendete Lynn ihre erste "druckreife" Story Wizard's Domain / Zauberers Reich 1971, veröffentlicht wurde sie aber erst 1980 in Ellen Kushners Anthologie Basilisk. Nicht immer bestanden die Probleme dabei bloß aus frühzeitig verstorbenen Magazin-Projekten oder unprofessionellen Verlegern. So erzählt die Autorin z.B. über ihre Kurzgeschichte The Gods of Reorth / Die Götter von Reorth:  
Ein paar andere Lektoren, die sämtlich (mit einer Ausnahme) Männer waren, schickten sie mir zurück mit brummigen Kommentaren, dass ich wohl beabsichtige, alle Männer umzubringen. Mir scheint, sie haben das Wesentliche nicht begriffen.*
Zwischen 1976 und 1984 erschienen achtzehn Kurzgeschichten aus Lynns Feder in unterschiedlichen Magazinen und Anthologien. Dabei bewegte sie sich mit großer Selbstverständlichkeit zwischen den phantastischen Genres, wechselte von Fantasy zu SF zu Weird Fiction oder Horror, Ihre erste veröffentlichte Story We All Have To Go / Wir müssen alle einmal fort ist eine Near Future - Erzählung über eine besonders zynische Form von Reality - TV. Und auch ihr erster Roman A Different Light / Das Wort heißt Vollkommenheit gehört der Science Fiction an. Zur Fantasy kehrte sie wohl erst wieder zurück, als Jessica Amanda Salmonson sie um einen Beitrag für ihre Amazons! - Anthologie anging. The Woman Who Loved The Moon / Die Frau, die den Mond liebte spielt in derselben Welt Ryoka wie schon Wizard's Domain. Lynn hat einmal erklärt, dass sie "ein ganzes Buch"** schreiben wollte, dessen Handlung dort angesiedelt sein sollte. Doch dazu kam es nie. Immerhin kehrte sie noch einmal nach Ryoka zurück, als sie 1982/83 The Red Hawk / Der rote Falke als Beitrag für den von Peter Wilfert herausgegebenen Goldmann Fantasy Foliant 1 schrieb. Mit The Sardonyx Net / Sardonyxnetz (1981) entstand außerdem noch ein weiterer SF-Roman und mit The Silver Horse (1984) ein Fantasy-Kinderbuch, doch dann versiegte offenbar die Inspiration. Was Lynn im Rückblick aber keineswegs als Katastrophe sieht. Wie sie 1997 in einem Interview mit dem Locus Magazine erzählt hat:
I tried to figure out what to fill the hole in my life with. And what I filled it with was the rest of my life. I went back to martial arts very strongly. I had friends – I didn't lose them. I didn't stop reading books. And discovered that I could live and be a happy person, and never write again.
I went and worked for five dollars an hour, selling Thai and Balinese objets d'art to rich people in Berkeley, in a shop run by a friend of mine. And I enjoyed it! ... I took the H&R Block course, and then went off on my own and started doing taxes for people.
Ende der 1990er / Anfang der 2000er erlebte sie zwar noch ein kleines Comeback mit Dragon's Winter (1998) und Dragon's Treasure (2003), doch fanden diese Romane nie die Anerkennung, die ihr Werk am Ende der 70er Jahre genossen hatte.
 
Die ersten beiden Bände der Chroniken von Tornor – Watchtower / Die Zwingfeste und The Dancers of Arun / Die Tänzer von Arun erschienen 1979. Der erste der beiden wurde 1980 mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet. Im selben Jahr erreichte auch der Abschlussband The Northern Girl / Die Frau aus dem Norden das lesende Publikum.
 
Zwei Elemente, die eng mit Lynns persönlichem Leben verknüpft sind, finden sich in fast all ihren Geschichten: So sind zum einen immer wieder Kampfkunst-Schilderungen in die Handlungen eingewoben und Lynn war bzw. ist selbst Aikido-Lehrerin mit eigenen Dojo. Zum anderen sind LGBTQ-Figuren bei ihr keine Ausnahme, sondern die Regel. Die ehemalige LGBT-Buchkette „A Different Light“ war nicht zufällig nach ihrem Roman benannt. Lynn ist selbst offen lesbisch.
 
                                                  * * *
 
Die Ryoka-Geschichten besitzen allesamt das Flair von alten Mythen oder Volkssagen. Entsprechend beginnen sie mit Formulierungen wie: "Sie erzählen diese Geschichte in den östlichen Provinzen ..." (Zauberers Reich) oder "Sie erzählen diese Geschichte in den Mittleren Grafschaften ..." (Die Frau, die den Mond liebte). Die Chroniken von Tornor sind in einem deutlich anderen Stil gehalten.
 
Die Zwingfeste beginnt ähnlich wie eine typische Heroic Fantasy - Erzähling in medias res. Allerdings nicht mit einer Actionsequenz, sondern mit dem Nachspiel der Action. Die Grenzfeste Tornor ist von den Männern des Söldnerführers Col Istor erstürmt worden, die meisten Verteidiger sind erschlagen und auch der ehemalige Burgherr Athor liegt tot im Staub. Nur Wachhauptmann Ryke ist verschont worden, denn der Eroberer will ihm einen Handel vorschlagen: Das Leben von Prinz Errel gegen Rykes Dienste. Der schlaue Col weiß, dass ihm die Unterstützung eines Ortskundigen bei der Etablierung seiner Herrschaft eine große Hilfe sein wird. Ryke geht auf das Angebot ein, allerdings nur, weil er hofft, dass es ihm auf diesem Wege gelingen wird, die Flucht des Prinzen zu bewerkstelligen. Eine entsprechende Gelegenheit eröffnet sich, als einige Zeit später die Bot*innen Norres und Sorren auf Tornor eintreffen. Der Prinz kennt die beiden (wie sich später herausstellt, ist Sorren sogar seine Halbschwester). Gemeinsam fliehen die vier in die Westlichen Berge, wo der mysteriöse Van im verborgenen Tal von Vanima eine Gemeinschaft von Schüler*innen und Gleichgesinnten um sich geschart hat. Er lehrt sie eine neue Kampfkunst und eine besondere Form des Tanzes. Und obwohl die in diesen ausgedrückte Philosophie eigentliche eine Ablehnung von Agressivität und unnötiger Gewalt beinhaltet, finden Errel und Ryke in der Gemeinschaft von Vanima schließlich Verbündete gegen Col Istor.

Die Tänzer von Arun spielt mehrere Generationen später. Inzwischen hat sich die Kampfkunst der "Chearis" über die Länder von Arun verbreitet und mit ihr die Philosophie des "Chea" (einer Art metaphysischen Weltharmonie). Der junge Kerris ist ein Neffe des gegenwärtigen Herrn von Tornor. Doch da ihm im Alter von drei Jahren bei einem Überfall der nomadischen Asech der rechte Arm abgeschlagen wurde, wächst er als Außenseiter in der Kriegergesellschaft der Grenzfeste auf. Seit einiger Zeit wird er von Visionen heimgesucht, in denen er telepathischen Kontakt zu seinem Bruder Kel aufzunehmen scheint, dem er nie bewusst begegnet ist und der mit einer Gruppe von "Chearis" durch die Lande zieht. Als die "Tänzer" tatsächlich auf Tornor auftauchen, zögert Kerris nicht lange und schließt sich ihnen an. Gemeinsam reist man nach Süden zur "Hexenstadt" Elath, wo Kels Geliebter Sefer eine Schule ("Tanjo") für übersinnlich Begabte gegründet hat. Für Kerris wird die Reise zu einer Art Selbstfindungs- und Reifungsprozess, in dessen Verlauf er sich auch dem gewaltsamen Trauma aus seiner Kindheit stellen muss. Zumal es in Elath zu einer neuerlichen Konfrontation mit den Asech kommt.
 
Zwischen dem 2. und dem 3. Band vergeht erneut ein gutes Jahrhundert. Die Handlung ist nun ganz im Süden, in der Metropole Kendra-im-Delta, angekommen. Die Frau aus dem Norden ist nicht nur der deutlich längste, sondern auch der komplexeste Teil des Zyklus mit drei Perspektivträgerinnen und mehreren, miteinander verwobenen Handlungssträngen. Sorren, das titelgebende "northern girl", ist Leibeigene von Arré Med, die an der Spitze einer der ältesten und mächtigsten Adelsfamilien von Kendra steht. Seit einiger Zeit ist Sorren außerdem mit Paxe liiert, der Waffenmeisterin des Hauses Med. Während sich um sie herum eine große politische Intrige entspinnt, in die u.a. Arrés eifersüchtiger Bruder Isak und das aufsteigende Haus Ismenina verstrickt sind, erwacht in ihr das immer stärkere Verlangen, in die vermeintliche "Urheimat" ihrer Familie, nach Tornor, "zurückzukehren". Angespornt wird sie dabei von Visionen, alten Erzählungen und der Begegnung mit ghya Kadra. 
 
Cover-Illustrationen von Franz Berthold

 
Nun aber zu unserem eigentlichen Gespräch. Und Achtung: Wir spoilern hemmungslos.
  

1) Einstieg, Vergleiche zu anderen Büchern, Storytelling und Reflexion

[Alessandra]: Und wieder gilt: Neues Jahr, neuer Klassiker-Reread :) Dieses Mal nehmen wir uns also "Die Chroniken von Tornor" vor (auch veröffentlicht als "Die Türme von Tornor"). Normalerweise sprechen wir am Anfang ja immer darüber, wie wir die Bücher kennengelernt und wie wir das erneute Lesen wahrgenommen haben. In diesem Fall kann ich dazu allerdings gar nicht so viel sagen. Die Bücher und Reihen, die wir in den letzten Jahren besprochen haben, sind mir schon als Teenager oder während meiner Studienzeit begegnet. "Die Zwingfeste", den ersten "Tornor"-Band, habe ich allerdings erst 2022 gelesen, nachdem das Buch hier im öffentlichen Bücherschrank aufgetaucht war. Zuvor hatte ich darüber in der Sekundärliteratur gelesen, wo es als frühes Beispiel für LGBTQ-Fantasy, aber interessanterweise auch für Romantasy genannt wurde. Das hat mich neugierig gemacht, daher wollte ich die Trilogie schon länger mal lesen, jetzt bot sich die Chance. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, haben wir uns ja per Mail etwas darüber ausgetauscht, so entstand auch die Idee zu diesem "Reread". (Vielleicht hätten wir dabei bleiben sollen, von "Klassiker-Wiederentdeckung" zu sprechen ... :))
Ich habe "Die Zwingfeste" also Anfang diesen Jahres noch mal gelesen. Mir sind nun viel mehr Details und Zwischentöne aufgefallen, aber der Unterschied zum ersten Leseerlebnis war dennoch nicht so groß. Band 2 und 3 habe ich nun zum ersten Mal gelesen.
Ich schätze, du kannst stärker auf "frühere Begebenheiten" zurückschauen?

[Peter]: Na ja, ich habe die Trilogie zwar tatsächlich schon einmal in der zweiten Hälfte der 2000er gelesen, aber viele der Details hatte ich natürlich längst wieder vergessen. Wie ich damals zu den Büchern gekommen bin, weiß ich auch nicht mehr so genau. Ungefähr zu dieser Zeit hatte ich nach einer recht langen Pause wieder begonnen, mich mit "Genre-Literatur" zu beschäftigen. Und war dabei besonders an Werken interessiert, die auf den einschlägigen Websites (für mich damals vor allem "Strange Horizons") als für ihre Zeit "anders" oder "progressiv" bezeichnet wurden. Und dabei muss irgendwann wohl auch der Name Elizabeth A. Lynn gefallen sein. Was mich bei dieser ersten Lektüre dann besonders fasziniert hat, war der Umgang mit Geschichte und Wandel. Die Welt der Trilogie erschien mir als bewusster Gegenentwurf zu den  sonst meist irgendwie "statischen" Welten der "klassischen" Fantasy. Die erneute Lektüre hat diesen Eindruck für mich einerseits bestätigt, mir andererseits aber auch vor Augen geführt, dass noch sehr viel mehr in den Büchern drinsteckt. Interessant fand ich dabei auch die Entwicklung innerhalb der Trilogie. "Die Zwingfeste" scheint mir nämlich noch am ehesten an die Ende der 70er Jahre üblichen Formen von Fantasy anzuknüpfen, während die späteren Teile sich dann immer weiter davon entfernen. Wie war da dein Eindruck?

[Alessandra]: Bei unseren vorherigen Rereads hatten wir uns ja u. a. Joy Chants "Wenn Voiha erwacht" und Esther Rochons "Der Träumer in der Zitadelle" vorgenommen. An beide musste ich während des Lesens der Trilogie häufig denken, weil es sowohl inhaltlich als auch strukturell einige Ähnlichkeiten gibt, gerade wenn es um dieses Thema des Wandels geht. "Voiha" und der "Träumer" haben wir als Einzelbände besprochen, aber sie sind ebenfalls Teil von Trilogien bzw. Zyklen, die einen sehr ähnlichen Weg gehen. "Der Träumer in der Zitadelle" klammere ich hier mal aus, weil ich die nachfolgenden Bände nur aus Sören Heims Schilderungen und Rezensionen kenne. Aber gerade an "Wenn Voiha erwacht" bzw. die dahinter stehende "House of Kendreth"-Trilogie musste ich oft denken. Auch hier folgen wir der Entwicklung einer Gesellschaft über Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte hinweg. "Kendreth" und "Tornor" sind sogar relativ zeitgleich entstanden (Kendreth 1977 – 1983, Tornor 1979 – 1980), mich würde es sehr interessieren, inwiefern die einander bedingt haben. Aber "Die Chroniken von Tornor" geht das Thema noch deutlich konsequenter an. Eigentlich finde ich, es müsste "Der Zyklus von Tornor" heißen; es gibt so viele Pseudo-Zyklen in der Fantasy, aber hier ergäbe der Titel mal Sinn! "Kendreth" erzählt eher Einzelgeschichten und man kann sich ein Stück weit zusammenreimen, wie die sozialen Entwicklungen zustandegekommen sind. Bei "Tornor" werden einem die Hinweise hingegen sehr deutlich vor Augen geführt. Auch hier werden zwar drei Geschichten erzählt, die man unabhängig voneinander lesen kann, da es um unterschiedliche Figuren in drei unterschiedlichen Städten geht. Trotzdem würde einem hier sehr viel Subtext verloren gehen, wenn man, sagen wir mit Band 3 starten würde. Und das, obwohl alle drei strukturell sehr unterschiedlich sind (wobei das wiederum auch für "Kendreth" gilt). Ich stimme dir jedenfalls zu, dass "Die Zwingfeste" noch am klassischsten erzählt ist. Er ist auch am lesbarsten :) Band 2 und 3 wirken dafür "selbstsicherer", als sei Lynn mit mehr Vertrauen ans Experiment dran gegangen. Denn Experimente sind da wahrlich einige drin ...

[Peter] Jaaa, auf die können wir später noch zurückkommen ... Den Vergleich mit "Kendreth" finde ich jedenfalls sehr treffend. Vor allem in "The Gray Mane of Morning" / "Der Mond der Brennenden Bäume" geht es ja sehr  explizit um einen gesellschaftlichen  und kulturellen Umbruch. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht. Bei den "statischen" Fantasywelten hatte ich mehr an so Sachen wie Tolkiens Mittelerde gedacht, wo sich über Jahrtausende anscheinend so gut wie nichts an der sozialen Ordnung verändert, nur immer wieder mehr oder weniger apokalyptische Kriege mit irgendeinem Dunklen Herrscher ausgefochten werden. Und auch so Sachen wie Le Guins "Erdsee" oder Patricia McKillips "Erdzauber" sind da finde ich nicht viel anders. Während wir bei "Tornor" miterleben, wie sich eine Welt in kultureller, gesellschaftlicher und politischer Hinsicht allmählich weiterentwickelt. Das deutet sich schon in "Die Zwingfeste" an, wenn wir z.B. ganz nebenbei erzählt bekommen, dass die Händler begonnen haben, Gilden zu bilden und sich als "Blauer Clan" bezeichnen. Was die Charaktere, die sich darüber unterhalten, reichlich absurd finden. Ab dem zweiten Band ist die Existenz des "Blauen Clans" dann eine Selbstverständlichkeit. Und natürlich erleben wir außerdem die Geburt des "Roten Clans" der "Tänzer", mit. Dessen weitere Entwicklung dann aber nicht ganz so abläuft, wie man sich das vielleicht vorgestellt hätte. 
 
[Alessandra] Denke, da spielt auch eine Rolle, dass "Tornor" ebenso wie "Kendreth / Mond der Brennenden Bäume" und "Vandarei/Der Träumer in der Zitadelle", sich auf Menschenvölker beschränken. Keine Elfen und andere Langlebigen, die sich dem Wandel entgegenstellen :) Wenn ein größerer Wandel in der Völkerfantasy thematisiert wird (wie in "Die Elfen" oder der Geralt-Saga), braucht es dafür gleich Jahrtausende.

[Peter] Das sicher auch. Gerade Tolkiens Elben verkörpern ja sehr deutlich den Wunsch, den Wandel der Geschichte aufzuhalten  und für immer in einem imaginierten "Goldenen Zeitalter" zu leben.

[Alessandra] Iinteressant finde ich bei "Tornor" auch, wie sich die Entwicklungen im Kreis vollziehen (daher oben die Zyklus-Anmerkung). In Band 1 haben wir z. B. eine sehr kriegerische und patriarchale Gesellschaft. Als die vier Hauptfiguren aus dem besetzten Tornor nach Vanima fliehen, das zunächst als pazifistische Kampfkunst-Kommune dargestellt wird, war ich im ersten Moment befremdet von so viel plakativer Utopie. Dass ein Teil der Bewohner Vanimas diese Ideale aufgibt, um gegen Col, den Antagonisten aus Band 1 und Besatzer von Tornor, in den Krieg zu ziehen, hat es nicht besser gemacht; die Begründung wirkte auf mich aufgesetzt nach dem Motto "ja, wir müssen halt eine klassische Story erzählen, in der der Antagonist doch noch besiegt und umgebracht wird". Und am Ende von Band 1 schien sich zunächst nicht viel an den sozialen Strukturen in Tornor geändert zu haben, im Gegenteil kehrte mit dem Sieg über Col alles zum Status Quo zurück – obwohl mehrfach angedeutet wurde, dass der nicht unbedingt erstrebenswerter war als das Leben unter Cols Herrschaft. 
Band 2 zeigt dann aber, dass im Verlaufe der Zeit u. a. durch den Einfluss der waffenlosen "Tänzer" (=Kampfkünstler) aus Vanima und durch die neu eingesetzte Herrscherin Sorren (offenbar die erste Frau auf dem Thron) ein Umdenken eingesetzt hat. Krieg und Kampf werden deutlich negativer bewertet, Frauen und Männer außerdem gleichgestellter dargestellt (wobei man hinzufügen muss, dass Band 2 in einer weiter südlich gelegeneren Stadt spielt, nicht in Tornor selbst). In Band 3 dann ist der Kampf mit Waffen ein Tabu und die Gesellschaft hat einige matriarchale Züge. Beides befindet sich aber in einer mehr oder weniger "sanften" Auflösung, es wird also angedeutet, dass sich auch diese Verhältnisse wieder ändern werden und der bewaffnete Konflikt lässt nicht lange auf sich warten. Das fand ich sehr clever und vor allem reflexiv, nachdem ich in Band 1 Sorge hatte, Lynn könne sich im Versuch verlieren, ihre Utopie-Vorstellungen und Epic-Fantasy-Storytelling zu verbinden.

[Peter] Zumal ich mir nicht einmal sicher bin, ob wir das in Band 3 herrschende Verbot des Waffentragens in den Städten überhaupt als durchgehend positiv wahrnehmen sollen. Der Bann wurde ja von den herrschenden Adelsfamilien verhängt und von den "Hexern" des Tanjo zusätzlich mit einer religiösen Komponente versehen. Es handelte sich also ganz klar um eine politische Entscheidung. Könnte es den Herrschenden vielleicht auf Dauer etwas gefährlich erschienen sein, wenn Leute aus dem einfachen Volk mit Schwertern herumhantieren und die Kampfkunst der Chearis erlernen? Die "Tänzer" wurden in Band 2 ja als eine quasi "demokratische" Gemeinschaft dargestellt. Jeder, der über das entsprechende Talent verfügte, konnte in den "Waffenhöfen" unterrichtet werden. Mit dem "Waffenbann" ist zugleich diese Gemeinschaft zerschlagen worden. Die alte Kampfkunst ist weitgehend gestorben, der "Tanz" lebt nur noch als eine Form aristokratischer Unterhaltung fort.
Ebenso unsicher bin ich mir, ob der gesellschaftliche Wandel, der sich zwischen Buch 1 und 2 vollzogen hat, ausschließlich auf die "Tänzer" und Sorren zurückzuführen ist. Schon zu Beginn von "Die Zwingfeste" erfahren wir, dass die ständigen Grenzkonflikte mit dem nördlich gelegnen Reich von Arhand, die der eigentliche Grund für die Existenz der Grenzfesten und der martialisch-patriarchalen Ordnung waren, einem Friedensschluss gewichen sind. Zu Beginn von "Die Tänzer von Arun" wird dann angedeutet, dass damit die Grenzfesten eigentlich ihre Existenzberechtigung eingebüßt haben. Das alte Kriegrethos lebt zwar noch fort, aber im Grunde nur noch als kulturelle Tradition. Am  Ende von Band 3 ist Tornor schließlich eine halbe Ruine, eine sterbende Welt.
Was das klassische Storytelling in "Die Zwingfeste" angeht, glaube ich, dass Lynn das sehr bewusst subversiv zu unterlaufen versucht hat. Ja,  wir bekommen (weitgehend) das klassische Ende serviert: Der geflohene Prinz hat sich Unterstützung in der Fremde organisiert und stürzt den "bösen" Usurpator. Aber die Art, wie dieser "Befreiungskampf" geschildert wird, ist alles andere als "heroisch". All das Gemetzel und die damit verbundenen Greuel (Vergewaltigungen etc.) erscheinen vielmehr extrem abstoßend. Und werden so auch von dem Protagonisten Ryke wahrgenommen, der eigentlich immer die traditionellen "Kriegerwerte" hochgehalten hatte.

[Alessandra] Oh, bewusst unterwandert hat Lynn diese Strukturen zweifellos. Meine Kritik ist letztlich auch Jammern auf hohem Niveau. Dennoch gab es ein paar Kniffe, die ich ~schade fand. Z. B. erhalten die Flüchtlinge aus Band 1 die Unterstützung gegen Col im Prinzip nur, weil der Herrscher von Vanima (ein Anachronismus, sagen wir der "Vorsteher") mit dem noch eine Rechnung offen hat. Das wirkt im ersten Moment wie ein Verrat an der Idee des Utopias Vanima. Aber rückblickend könnte ich mir vorstellen, dass selbst das Teil von Lynns Plan war. Im Prinzip erzählen "Die Chroniken von Tornor" die Geschichte eines freundlichen Scheiterns. Ich will nicht zu viel in Lynns soziopolitische Ansichten hineininterpretieren, aber ich denke schon, dass Vanima einen idealen Ort darstellen soll. Aber obwohl er in Band 1 als realer Ort auftaucht, ist er vor allem ein Mythos, eine Geschichte, die sich Menschen von einer idealen Gemeinschaft erzählen - die gleichwohl nur in diesem sehr kleinen dörflichen Rahmen funktioniert. Kennst du das Lied "Für immer Frühling" von Soffie? Das kam im Zuge der Demos zu einiger Berühmtheit. Darin heißt es "Ich hab neulich geträumt Von einem Land, in dem für immer Frühling ist [...] In das Land, in dem für immer Frühling ist. Darf jeder komm'n und jeder geh'n, denn es gibt immer ein'n Platz am Tisch. Rot karierter Stoff, keine weißen Flaggen mehr. Alle sind willkomm'n, kein Boot, das sinkt im Mittelmeer" usw." Und Vanima wird in Band 2 und 3 ganz ähnlich beschrieben: "das Land, in dem immer Frühling ist ..." "Sie gelangten in das Land des Ewigen Sommers ..." Vanima stellt bis heute ein Idealbild dar. Aber indem es selbst innerhalb der Geschichte zum Mythos "verkommt", unterwandert Lynn wiederum diesen Gegenentwurf, das hat mir gut gefallen. Stattdessen bekommen wir in Band 2 ja sogar eine Demokratie präsentiert (zumindest für die Wahlberechtigten), quasi ein zurück zu realistischem Optimismus.

[Peter] Das Lied kenne ich nicht, aber im Großen und Ganzen würde ich dir da voll zustimmen. Und ich glaube, dass das Utopia von Vanima einiges den realen Kommune-Experimenten der 60er und 70er verdankt. Das Scheitern solcher Projekte wird dann ja auch noch mal anhand des Tanjo vorgeführt. Ursprünglich sollte das einfach eine Art Schule für die übersinnlich Begabten ("Hexer") sein. Und Sefer, der Gründer des ersten Tanjo in Band 2, verbindet damit ziemlich grandiose Vorstellungen von einer besseren Zukunft für die Menschheit. Doch in Band 3 sehen wir dann, dass aus dem Tanjo eine Art Kirche geworden ist, mit strengen Hierarchien, ordentlich viel Besitz und politischen Ambitionen. Das Oberhaupt des Tanjo der Metropole Kendra-im-Delta träumt ja sogar schon davon, alle umliegenden Länder und Städte unter seiner Oberherrschaft zu vereinen. Verglichen damit erscheint das Schicksal der "Tänzer" eher als tragisch. Vanima ist zu einem Mythos geworden, die "Tänzer" selbst zu romantisch verklärten Gestalten einer untergegangenen Ära. Allerdings finde ich es in diesem Zusammenhang interessant, dass sich Van, der Begründer dieser Kampfkunst und ihrer Philosophie, in Band 1 dagegen gesträubt hatte, aus der Gemeinschaft von Vanima den "Roten Clan" zu machen. Mir scheint da ein gewisser Skeptizismus gegenüber festen Organisationen mitzuschwingen. Sobald man aus Utopia eine Institution macht, ist schon der erste Schritt auf dem Weg zum Scheitern getan. 
Nicht unerwähnt lassen möchte ich außerdem noch ein anderes Motiv, das auch irgendwie zum Themenkomplex Wandel  und Geschichte gehört. In Band 3 geht es meines Erachtens nämlich u.a. um die Sicht auf die Vergangenheit. Sorrens übernatürliche Fähigkeit besteht ja darin, in Visionen vergangene Orte und Personen zu sehen. Dabei schaut sie immer wieder die Festung Tornor. Und  nachdem sie erfahren hat, dass ihre Familie ursprünglich von dort stammte, entwickelt sie das unbedingte Verlangen, selbst dorthin zu reisen, wenn ihre Zeit als "Leibeigene" (eigentlich eher eine Art von "indentured servitude") beendet ist. Das wird zu ihrer Hauptmotivation. Sie folgt also in gewisser Weise dem Lockruf der Vergangenheit, den sie mitunter sogar mit romantischen Träumereien verbindet, in denen sie selbst die Rolle der "verlorenen Prinzessin" spielt. Doch was sie ganz am Ende des Romans in Tornor vorfindet ist ganz und gar nicht das, was sie erwartet hatte, sondern eher eine Art sterbende Gesellschaft. Sie muss sich selbst eingestehen: "Es gibt keine Gewissheit ... Nur das Vergangene ist sicher. Und das Vergangene ist tot." Ich bin mir da zwar nicht  hundertprozentig sicher, aber ich interpretiere das als einen subversiven Kommentar auf das in der Fantasy ja doch recht geläufige Motiv der Sehnsucht  nach einer "schöneren, edleren Vergangenheit". Überhaupt der großen Bedeutung, die Tradition und Herkunft dort oft zukommen. Es ist nicht unbedingt falsch, dass Sorren ihre "Wurzeln" sucht, aber "Erfüllung" findet sie dadurch nicht. So wie ich das Ende gelesen habe, wird sie nicht auf Tornor bleiben, sondern sich gemeinsam mit ihrer neuen Geliebten Kedéra in die Westlichen Berge aufmachen, um das verlorene Vanima zu suchen, also die Inkarnation von "Utopie". Wohl nicht zufällig ist Sorrens einzige Vision, die nicht Tornor zum Inhalt hat, ein Blick auf das mythische Tal und seinen Gründer Van.

[Alessandra] Ich glaube, wir könnten hier noch viele Beispiele anführen, wie sich die Veränderungen zeigen und wie Lynn solche These-/Antithese-Elemente in die Handlung einschreibt. Um das Ganze aber zu einem ersten Fazit zu bringen: Ich sehe soziale Veränderung und den Umgang damit als das zentrale Thema der Trilogie – dem wiederum viele weitere Themen angefügt sind. Die Trilogie als Ganzes behandelt das im Makrokosmos, Band 1 im Mikrokosmos.
 
 
Den zweiten Teil unseres Gesprächs werdet ihr am Dienstag auf FragmentAnsichten antreffen.
 
 
* Elizabeth A. Lynn: Die Frau, die den Mond liebte. Fantasy & Science Fiction Erzählungen. S. 57.
** Ebd. S. 258.

Donnerstag, 11. Januar 2024

Two Shades of Grimdark?

Im letzten Jahr sind die ersten beiden "offiziellen" Ausgaben des New Edge Sword & Sorcery - Magazins erschienen. Websites und eZines wie Heroic Fantasy Quarterly, Swords and Sorcery Magazine, Beneath Ceaseless Skies, Tales From The Magician's Skull, Whetstone und Old Moon Quarterly erfreuen sich bester Gesundheit. Ja selbst ein deutschsprachiges Buch wie Christian Endres' Die Prinzessinnen scheint nicht wenige Liebhaber*innen gefunden zu haben. Die Sword & Sorcery erfährt gegenwärtig ganz offensichtlich eine nicht unbeträchtliche Wiederbelebung und Erneuerung. 
 
Um so interessanter ist es da, einen Blick zurück in die 2010 bei Harper Collins und Subterranean Press erschienene Anthologie Swords & Dark Magic zu werfen. Denn damals sah die Situation noch deutlich anders aus. Die allgemein verbreitete Weisheit war zu diesem Zeitpunkt immer noch, dass das Subgenre spätestens in den 90er Jahren einen unrühmlichen Tod gestorben sei und höchstens noch in Form irgendwelcher Conan-Pastiches vor sich hin vegitiere, von denen das letzte -- Harry Turtledoves Conan of Venarium -- aber auch bereits sieben Jahre zurücklag. Diese Einschätzung entsprach zwar auch schon 2010 nicht wirklich der Realität, aber wenn der Band mit dem Untertitel The New Sword & Sorcery antrat, dann sollte damit zweifellos suggeriert werden, dass man auf seinen Seiten Beispiele für ein Wiedererwachen der S&S nach einer langen Periode des Niedergangs präsentiert bekommen werde.
    
Doch worin genau sahen die Herausgeber Lou Anders und Jonathan Strahan diesen Neuanfang? 
 
Schon in der ersten Hälfte der 2000er hatte Howard Andrew Jones mit seinem eZine Flashing Swords versucht, frischen Wind in das Subgenre zu bringen und dabei den Begriff "New Edge" geprägt. Freilich war dieser "Bewegung" in ihrer ersten Inkarnation offenbar kein bleibender Erfolg beschieden. Ein völlig andersgearteter Aufbruch vollzog sich 2007/2008 mit der Gründung der "Sword & Soul", einer von Geschichte und Mythologie Afrikas geprägten Spielart der Heroic Fantasy. 2008 ging außerdem Rogue Blades Entertainment an den Start, mit dem Ziel, den Geist der alten Swashbuckler und Pulp-Abenteuer wiederzuleben. Und auch Beneath Ceaseless Skies und das Heroic Fantasy Quarterly nahmen um diese Zeit ihre Arbeit auf.
 
Es gab also tatsächlich eine ganze Reihe von Anzeichen für eine einsetzende Erneuerung der Sword & Sorcery. Doch im Vorwort zu Swords & Dark Magic findet nichts davon Erwähnung. Auf  die "Szene" mit ihren Kleinverlagen und Magazinen wird nur insoweit eingegangen, als John O'Neills Black Gate zur "definitive source for sword and sorcery short-form works since its launch in 2000" erklärt wird. Was zu diesem Zeitpunkt wohl tatsächlich keine so falsche Einschätzung war. Aber Anders und Strahan zeigen sich in erster Linie an Entwicklungen bei den großen Verlagen, in der "Mainstream-Fantasy" sozusagen, interessiert. Wo sie dort Ende der 2000er eine Art Wiederbelebung der Traditionen der S&S zu erkennen glaubten? Werfen wir einmal einen etwas genaueren Blick in ihr Vorwort.
 
Dasselbe beginnt mit der gängigen Gegenüberstellung von High Fantasy und Sword & Sorcery, wobei letztere u.a. so charakterisiert wird: "Smaller-scale character pieces, often starring morally compromised protagonists, whose heroism involves little more than trying to save their own skins from a trap they themselves blundered into in search of spoils". Wenig später werden Robert E. Howards "Urtexte" als "laced with a grim pessimism and an edge of violent realism" beschrieben. Beides ist nicht unbedingt falsch, aber der Fokus auf diese Elemente verrät doch, wohin der Hase läuft. Noch deutlicher wird das, wenn es von Conan heißt, er sei "an opportunist, a self-serving fortune seeker with a fatalistic outlook". Spätestens an diesem Punkt würde ich von einem Zerrbild sprechen. Der Cimmerier ist sicher kein tugendhafter "Ritter ohne Furcht und Tadel", aber ein "selbstsüchtiger Opportunist"? Diese Charakterisierung wird ihm meiner Ansicht nach nicht gerecht. Wie die meisten S&S-Held*innen nach ihm ist auch Conan sehr wohl zu selbstlosem Heroismus fähig.
Was folgt ist ein kurzer Abriss der Geschichte des Subgenres, der bei ungefähr zwei Seiten Länge naturgemäß unvollständig sein muss. Recht erfreulich ist, dass dabei neben Fritz Leiber und Michael Moorcock auch C.L. Moore, Clark Ashton Smith und Charles R. Saunders erwähnt werden. Eher amüsant wirkt es, dass Anders und Strahan "Hyboria" und "Hyperborea" verwechseln. Was man freilich auch als erneuten Beleg dafür interpretieren könnte, dass ihre Vertrautheit mit Howards Werk vielleicht nicht gar so groß ist. Wirklich verärgert hat mich allerdings, dass sie im Zusammenhang mit der von Marion Zimmer Bradley in den 80er Jahren gestarteten Anthologien-Reihe Sword and Sorceress kommentarlos den Mythos nachplappern, den MZB im Vorwort zu deren erstem Band formuliert hatte. Sie  habe das Unternehmen gestartet, "[f]eeling that, C. L. Moore excepted, the subgenre was dominated by men and typified by some fairly reprehensible attitudes toward and depictions of women". Damit wird nicht nur anderthalb Jahrzehnte "weiblicher" Sword & Sorcery -- angefangen mit Joanna Russ' Alyx-Geschichten über die Beiträge von Tanith Lee und C.J. Cherryh bis zu den Werken von Elizabeth A. Lynn und Janrae Frank -- unterschlagen, sondern auch die tatsächliche Vorreiterrolle von Jessica Amanda Salmonsons Anthologien Amazons! und Amazons 2 verleugnet. Es nimmt den Sword and Sorceress - Anthos nichts von ihrer Bedeutung, wenn man anerkennt, dass sie in Wahrheit ein relativ spätes Produkt einer sehr viel längeren Entwicklung waren.
Der historische Abriss endet erwartungsgemäß mit dem Triumph der High Fantasy in den 80ern, der die Sword & Sorcery in der Folgezeit zu einer Art Schattendasein verdammte. Doch in den letzten Jahren habe sich dies geändert. 
But recently, sword and sorcery has been making a comeback. In the wake of George R. R. Martin, whose Song of Ice and Fire series is notable for bringing a moral ambiguity and gritty realism to the fantasy epic, a host of younger writers have emerged to bring a “sword and sorcery sensibility” back to the epic subgenre. Writers like Steven Erikson, Joe Abercrombie, Scott Lynch, Tom Lloyd, David Anthony Durham, Brian Ruckley, James Enge, Brent Weeks, and Patrick Rothfuss are pioneering a new kind of fantasy, one that blends epic struggles with a gritty realism, where good and evil mixes into realistic characters fraught with moral ambiguities, and struggles between nations are not so one-sided as they are colored by a new, politically savvy understanding.
Lou Anders und Jonathan Strahan interpretieren die Grim & Gritty der 2000er als eine "moderne" Wiederbelebung der S&S. Damit erklärt sich auch die etwas fragwürdige (oder zumindest einseitig-verkürzte) Charakterisierung des Subgenres, mit der ihr Vorwort beginnt. 
 
Genrehistorisch ist es zwar sicher nicht ganz falsch, die Grimdark auf die Heroic Fantasy zurückzuführen. Und einige der Bücher, an die Anders und Strahan gedacht haben mögen, würde auch ich dem Subgenre zurechnen. So vor allem Scott Lynchs Gentleman Bastards - Reihe, die eindeutig in der Tradition von Autoren wie Fritz Leiber und Steven Brust steht. (1) Dennoch sträube ich mich heftig dagegen, den Zynismus der Grim & Gritty mit einer "sword and sorcery sensibility" gleichzusetzen. (2)
   
Ob die Anthologie als Ganzes diese Perspektive widerspiegelt, kann ich nicht sagen, da ich mit der eigentlichen Lektüre noch am Anfang stehe. Ich bezweifele es allerdings, enthält der Band doch überraschend viele Beiträge altgedienter S&S-Veteran*innen wie C.J. Cherryh, Glen Cook, Tanith Lee, Michael Moorcock und Michael Shea. Diesen Blogpost wollte ich trotzdem jetzt schon einmal raushauen, weil ich mich lesetechnisch in nächster Zeit auf die Vorbereitung des diesjährigen Klassiker-Rereads mit Alessandra von FragmentAnsichten konzentrieren werde und deshalb nicht weiß, wann ich mit Swords & Dark Magic zum Ende komme. Vor allem aber, weil die ersten beiden Stories der Antho -- Steven Eriksons Goats of Glory und Glen Cooks Tides Elba -- ein gerade in dieser Hinsicht sehr interessantes Paar darstellen.
 
Ich habe mich nie dazu durchringen können, mir einmal einen Band von Eriksons Malazan Book of the Fallen - Reihe vorzuknöpfen. Dazu schrecken mich Fantasy-Endlos-Epen inzwischen zu stark ab. Ich kann deshalb auch nicht sagen, ob Goats of Glory typisch für ihn ist. Aber die Story hat mich mit einem wirklich unangenehmen Gefühl zurückgelassen.
 
Ein kleiner Trupp von fünf Söldner*innen erreicht das armselige und halb ausgestorbene Dorf Glory. Kaum erspäht man sie in der Ferne, macht sich der ortsansässige Totengräber auch schon daran, mit seinem jugendlichen Gehilfen Snotty fünf frische Gruben auf dem Friedhof auszuheben. Auch die (noch unbeschrifteten) Grabsteine liegen bereits parat. Die ruppigen Neuankömmlinge kehren in Swillmans Schenke ein, wo sie nicht nur der ältlichen Prostituierten Slim begegnen, sondern auch erzählt bekommen, dass die zerfallene Burgruine über dem Dorf der geeignetste Ort wäre, um ein Nachtlager aufzuschlagen.
Für uns Lesende ist zu diesem Zeitpunkt klar, dass dort oben irgendeine tödliche Bedrohung lauert und die Dorfbewohner offenbar regelmäßig Durchreisende in ihr Verderben schicken, um anschließend die Leichen fleddern zu können.
Die überraschende Wernde kommt, wenn sich zeigt, dass die Fünf keineswegs blind in die Falle tappen, sondern augenblicklich in geübter Soldatenmanier nach einer geeigneten Gefechtsposition suchen. Als wenig später unzählige ausgehungerte Dämonen über die vermeintlich Chancenlosen herfallen, um sich endlich mal wieder an warmem Menschenfleisch zu laben, erwartet sie eine böse Überraschung. Die Fünf haben sich in ein unterirdisches Ganglabyrinth zurückgezogen, dessen verwinkelte Korridore und Kammern ihnen ausgezeichnete Möglichkeiten eröffnen, die sich aufsplitternde Horde der Angreifer nach und nach zu dezimieren. Was folgt ist eine lange Actionsequenz, die mich in ihrer Krassheit und dem zynischen Tonfall der Schilderung an einen Tarantino-Streifen erinnert hat. Nun habe ich zwar nichts gegen ein zünftiges Fantasygemetzel mit reichlich herumspritzendem Blut und hervorquillenden Eingeweiden, aber nach drei Seiten wird so was verdammt öde, selbst wenn man so gut zu schreiben versteht wie Steven Erikson.         
An diesem Punkt der Geschichte konnte ich ein leichtes Gähnen nicht unterdrücken, zudem nichts darauf hindeutete, dass es noch eine weitere Wendung geben würde. Das wüste Gemetzel sollte nach der eher gemächlichen Gangart der ersten Hälfte offenbar der Clou des Ganzen sein. Doch es kommt noch schlimmer, denn dann versucht Erikson, besonders clever zu sein. Er wechselt die Perspektive und zeigt uns das Ende des Kampfes aus Sicht des "Teufelchens" ("Imp"), das die Dämonen angeführt hatte. Längst sind die Jäger zu den Gejagten geworden.
Whimpering, the imp picked its way around yet another heap of demon corpses. Poor children! This was a slaughter, a terrible, grievous, dreadful slaughter!
And now they were hunting the survivors down – nowhere to hide! 
Human stench everywhere, down every passage, every twisting, turning corridor, every cursed chamber and rank room. There was no telling where they were now, no telling what vicious ambushes they’d set up.
The imp crouched, quivering, hugging itself, and crooned its grief. Then it shook itself, drawing free its tiny sword. Enough of these evil tunnels and warrens! To the ladder! Flee this cruel place!
Natürlich gibt es kein Entkommen. Einer der Söldner schnappt sich das "Teufelchen", bricht ihm Arme und Beine und spießt es schließlich mit seinem eigenen Schwert auf. Die monströse Mutter der Kreatur, die wenig später auftaucht, um ihr Kind zu rächen, tappt in eine Falle. Es dauert Stunden, bis das Wesen unter dem ständigen Beschuss der Söldner*innen schließlich wimmernd sein Leben aushaucht.
 
Was mich an Eriksons erzählerischem Trick so sehr ärgert, ist weniger die Brutalität des Geschilderten als vielmehr das Manipulative. Zu Beginn der Sequenz gehört unsere Sympathie naturgemäß den fünf Krieger*innen. Wir haben sie in der ersten Hälfe der Geschiche etwas näher kennengelernt und sie erscheinen eindeutig als die Underdogs in der Situation -- out-numbered and out-gunned. Entsprechend positiv wird man reagieren, wenn sie die Lage zu wenden verstehen. Zumal die anschließenden Kampfszenen absichtlich so geschildert sind, dass wir die kaltblütige Kompetenz der Fünf cool finden sollen. Und dann lässt uns Erikson ins offene Messer laufen. Mit der Konsequenz, dass wir unsere vorherige Begeisterung abstoßend finden müssen. Denn das, was wir so cool gefunden haben, ist ja in Wirklichkeit ein blutiges Massaker, unsere Held*innen skrupellose Schlächter!
Man könnte das für einen subversiven Kommentar auf die Gepflogenheiten der Heroic Fantasy halten. Doch ich sehe darin bloß einen billigen Trick auf Kosten der Leser*innen. Denn was soll uns damit gesagt werden? Dass Köpfen, Gliedmaßen abhacken und Bäuche aufschlitzen "in Wirklichkeit" nichts vergnügliches, sondern etwas ziemlich widerliches ist? Ich denke, das haben wir auch vorher schon gewusst. Und es muss uns nicht davon abhalten, trotzdem Spaß an der Schilderung fiktiver Gemetzel haben zu können. Oder dass es stets eine Frage der Perspektive ist, wer als Opfer und wer als Täter erscheint? Das wäre eine äußerst fragwürdige Botschaft. Zumal die Geschichte nichts wirklich tiefgründigeres über Gewalt zu sagen hat. Wo kommt sie her? Was macht sie aus den Menschen? 
Am Ende bleiben wir mit der nihilistischen "Erkenntnis" zurück, dass Menschen zu allen nur erdenklichen Untaten fähig sind und dabei stets "Gründe" finden werden, um diese vor sich und anderen zu rechtfertigen. Exemplarisch vorgeführt im Gedankengang des Totengräbers:
Nobody invited any of this, so nobody was to blame, not for anything. Just came down to making a living, that’s all. People got the right to that, he figured. It wasn’t a rule or anything like it, not some kingly law or natural truth. It was just one of those ideas people said aloud as often as they could, to make it more real and more true than it really was. When the fact was, people got no rights to anything. Not a single thing, not air to breathe, food to eat, ale to drink. Not the sweet smile between the legs, not a warm body beside you at night. Not land to own, not even a place to stand. But it made it easier, didn’t it, saying that people got the right to a living, and honest hard work, like digging graves and carving capstones, well, that earned just rewards because that’s how things should be.
Etwas anders schaut es bei Glen Cook aus.
 
Dessen Geschichten um die Soldaten der "Black Company", deren erste 1984 erschien, werden oft als einige der frühesten Vertreter (oder Vorreiter) der Grim & Gritty zitiert. Inwieweit ich dem zustimmen würde oder auch nicht, möchte ich jetzt nicht diskutieren. Das muss warten, bis ich mal dazu komme, mich auf dem Blog etwas ausführlicher den Annals of the Black Company zu widmen. Für den Moment sei bloß bemerkt, dass Tides Elba einen deutlich positiveren Eindruck bei mir hinterlassen hat als Steven Eriksons Story.
 
Die "Black Company" hat seit drei Monaten ihr Lager in der (nicht mehr ganz so) "freien" Stadt Aloe aufgeschlagen, ohne dass man sie in irgendwelche Gefechte geschickt hätte. Was ganz und gar nicht der Normalität entspricht. Wie Ich-Erzähler und Regimentsschreiber Croaker erstaunt feststellt: "It’s been eighty-seven days since somebody tried to kill me". Die Soldaten vertreiben sich ihre Zeit mit Kartenspiel und zotigen Unterhaltungen. Aber selbstredend kann dieser unnatürliche Zustand nicht ewig anhalten. Und als dann eines schönen Tages ein Fliegender Teppich am Himmel über der Stadt auftaucht, wissen Croaker und seine Kumpels sofort, dass schluss ist mit Schonzeit. Tatsächlich hat das magische Vehikel den "Limper" hierher getragen, einen besonders unerfreulichen Handlanger der "Lady", jener finsteren Zauberin, in deren Sold die "Black Company" steht. Die Clique um Croaker erhält den Befehl, eine angebliche Rebellenführerin namens Tides Elba ausfindig zu machen und zu arretieren, die sich irgendwo in der Umgebung von Aloe herumtreiben soll. Allerdings hat bislang keiner in der Truppe etwas von rebellischen Aktivitäten in der Region gehört. Und sie alle wissen, dass der "Limper" noch eine Rechnung mit der "Black Company" offen hat und sie liebend gern ins Verderben stürzen würde. Es gilt also entsprechend vorsichtig an diesen Auftrag heranzugehen.
 
Für alle, die nicht zuvor schon einmal Bekanntschaft mit der "Company" geschlossen haben, könnte der Einstieg in die Story etwas schwierig sein. Denn das Figurenensemble ist groß und unübersichtlich. Goblin, Otto, Elmo, One-Eye, Corey, Hagop, Silent -- keiner von ihnen wird groß vorgestellt. Sie sind einfach da und Teil der Handlung. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit wird z.B. auf vergangene Gefechte angespielt, die zum Verständnis der Beziehung zwischen unseren Helden und dem "Limper" und der "Lady" von Bedeutung sind. Aber ich schätze, derartiges sollte einen nicht gar zu sehr überraschen, wenn man eine Geschichte liest, die Teil eines erzählerischen Universums ist, das zu diesem Zeitpunkt bereits aus zehn Romanen bestand.
 
Sicher könnte man so manches an Tides Elba als "grimdark" bezeichnen. Unsere Protagonisten sind ziemlich zynische und illusionslose Berufssoldaten, ohne jeden Hang zu Idealismus oder "selbstlosem Heldentum". Was nicht heißt, dass sie alle völlig amoralische Egoisten wären. So sieht sich Croaker im Laufe der Ereignisse gezwungen, den selbstsüchtigen One-Eye in seine Schranken zu verweisen, da dessen Verhalten die ganze "Company" in Gefahr zu bringen droht. Doch über die Grenzen der eigenen Truppe reicht auch sein "Altruismus" nicht hinaus. Selbst als sich herausstellt, dass Tides Elba in Wirklichkeit gar keine Rebellin ist, sondern bloß aufgrund irgendwelcher magischer Verwandtschaftsverhältnisse (die ihr selbst gar nicht bewusst sind) eine Bedrohung für die "Lady" darstellt, spielt niemand auch nur mit dem Gedanken, der jungen Frau zur Flucht zu verhelfen. Auch wenn sie alle wissen, dass die Unschuldige ein denkbar grausiges Schicksal erwartet. Befehl ist nun einmal Befehl. Und ihnen allen ist bewusst, dass es mehr als unklug wäre, den Zorn der "Lady" heraufzubeschwören. Man darf sich bereits glücklich schätzem, wenn's einem gelungen ist, nebenbei dem "Limper" eins auszuwischen. Alles andere wäre dumm und vermessen.
 
Warum ich dennoch so völlig anders auf die Geschichte reagiert habe als auf Goats of Glory? Sehr einfach. Anders als bei Steven Eriksons Story hatte ich hier nie den Eindruck, einem zynischen Autor gegenüberzustehen. Ebensowenig einem, der besonders clever zu sein versucht. An keiner Stelle hatte ich das Gefühl, Glen Cook wolle mir irgendwelche Pseudo-Wahrheiten über die "menschliche Natur" verkaufen. Der Zynismus in Tides Elba ist der Zynismus Croakers, des Erzählers, und der scheint mir bei einem abgebrühten Berufssoldaten, der schon unzählige blutige Schlachten hinter sich hat, völlig nachvollziehbar. Vertreter*innen der Grim & Gritty missbrauchen den Begriff des "Realismus" oft genug, um damit ihre eigene Misanthropie zu kaschieren. Hier jedoch erscheint er mir angebracht.
 
Ob ich zum Rest der Geschichten aus Swords & Dark Magic noch einmal etwas schreiben werde, kann ich nicht versprechen. Das hängt halt auch davon ab, ob sie mir dafür interessant genug erscheinen.  


(1) Apropos: Mit Dzur (2006) und Jhegalaa (2008) erschienen zu dieser Zeit auch zwei neue Romane von Brust. Doch aus irgendwelchen mir unverständlichen Gründen werden die Vlad Taltos - Bücher fast immer ignoriert, wenn es um Sword & Sorcery geht.

(2) Ob die Grim & Gritty ein eigenes Subgenre oder nicht vielmehr eine bestimmte Sichtweise darstellt, die sich in allen möglichen Genres finden lässt, ließe sich sicher kontrovers diskutieren. Wie Alessandra Reß weiland in einem ihrer Artikel für TOR Online geschrieben hat: "Auch wenn Grimdark inhaltlich oft der Low Fantasy ähnelt, sogar als dessen Weiterentwicklung diskutiert wird, ist er grundsätzlich in nahezu allen phantastischen Subgenres zu finden. Damit wird er – ähnlich wie die Dark Fantasy – weniger durch seine Handlungsstrukturen, sondern mehr durch die düster-brutale Grundstimmung definiert."

Sonntag, 17. Dezember 2023

Reread-Gedanken

Vor drei Tagen hat Alessandra im Rahmen ihres Throwback-KoFi-Adventskalenders (dessen bisherige Teile man auf ihrem Blog FragmentAnsichten hier aufgelistet findet) hinter Türchen 14 unter der Überschrift "Klassiker" u.a. ein paar Worte über unsere alljährlichen gemeinsamen Rereads verloren. Was mich sehr gefreut hat, bedeutet mir unsere kleine Tradition des regelmäßigen Gedankenaustausch doch viel und bereitet mir jedes Mal großen Spaß. Ihr Beitrag hat mich nicht nur dazu animiert, endlich mit der (Lese)vorbereitung für unsere nächste Diskussionsrunde zu beginnen. (Es wird ja auch wirklich langsam Zeit.) Er hat mich auch an eine kuriose Erkenntnis erinnert, die ich bei unserem allerersten Reread vor vier Jahren gemacht hatte. 

Dabei war es um Joy Chants kurzen Roman Wenn Voiha erwacht (When Voiha Wakes) gegangen (Teil 1 / Teil 2). Meine letzte Lektüre des Buches lag damals über zehn Jahre zurück. Und ich war felsenfest überzeugt davon, dass eines seiner zentralen Motive der Übergang von einer eher kollektivistischen zu einer individualistischen Kultur war. Die Kunst als Ausdrucksform einer erwachenden menschlichen Persönlichkeit, die sich nicht länger primär als Teil einer von der Tradition geformten Gemeinschaft sieht. Doch als ich nun Wenn Voiha erwacht erneut las, musste ich zu meinem Erstaunen feststellen, dass es für eine derartige Interpretation kaum handfeste Belege im Text gab. Ganz offensichtlich hatte ich etwas in das Buch hineingelesen, was sich dort nicht wirklich befand. Eine eigenartige Erfahrung. Wie hatte das passieren können?

Wäre es möglich, dass meine damalige Herangehensweise an Literatur dafür verantwortlich war? Besaß ich zu jener Zeit die Tendenz, in Büchern einen Widerhall meiner eigenen Weltanschauung finden zu wollen? Um sie auf diese Weise quasi vor mir selbst zu rechtfertigen?

Ich denke, das könnte tatsächlich mit einer der Gründe gewesen sein. Und hoffe zugleich, dass das nicht länger der Fall ist. Womit ich nicht gesagt haben will, dass ich inzwischen "ideologisch unbeeinflusst" oder "neutral" an Literatur herangehen würde. Das tut niemand. Die Frage ist bloß, wie strukturiert und bewusst die "ideologische Linse" ist, durch die man ein Buch betrachtet. Die "Linse" selbst wird immer da sein. Aber im Idealfall dient sie dazu, den Blick für bestimmte Details und Zusammenhänge zu schärfen. Auf keinen Fall sollte sie zu einem Zerrbild führen, das dem Verlangen entsprungen ist, ein literarisches Werk in ein bestimmtes vorgefasstes Schema zu pressen oder für die eigene Ideologie zu vereinnahmen.

So gesehen bin ich besonders gespannt auf den nächsten Klassiker-Reread mit Alessandra. Denn auch von dem Werk, das wir uns diesmal vorgenommen haben, spukt eine ziemlich konkrete Interpretation in meinem Kopf herum. Wird sie sich als ebenso haltlos erweisen wie damals bei Wenn Voiha erwacht? Ich hoffe natürlich, dass dem nicht der Fall sein wird. Aber man wird abwarten müssen.

Zugleich hat mich das aber auch auf die Idee gebracht, dass ich mich im nächsten Jahr außerdem mal an den persönlichen Reread eines Buches machen könnte, bei dem es ebenfalls so ausschaut: Naomi Mitchisons Kornkönig und Frühlingsbraut (The Corn King and The Spring Queen). In meinem Gedächtnis lebt dieser erstmals 1931 veröffentlichte und leider wohl ziemlich in Vergessenheit geratene Klassiker der historischen Phantastik nämlich als eine Art epische Allegorie auf die Menschheitsgeschichte fort -- von der Geburt der Klassengesellschaft bis zur Kommunistischen Revolution (und ihrem Scheitern). Und es würde mich ja schon interessieren, ob dieses Bild dem Roman tatsächlich gerecht wird. Mal ganz abgesehen davon, dass ich ihn als eine faszinierende Lektüre in Erinnerung habe, die aufzufrischen sich ohnehin lohnen würde. Auch habe ich das Gefühl, dass die schottische Schriftstellerin zu einer Gruppe von frühen Fantasyautorinnen gehört, die in der Szene immer noch viel zu wenig bekannt sind. Mit Anthologien wie Sisters of Tomorrow, The Future is Female! und Rediscovery ist es in den letzten Jahren zwar zu einer erfreulichen Wiederentdeckung früher Autorinnen der amerikanischen Science Fiction gekommen. Doch konzentrieren sich diese Bände fast völlig auf Stories, die in den einschlägigen Magazinen der 20er-60er Jahre veröffentlicht wurden, wobei der Blick kaum je über die Grenzen des SciFi-Genres (und der Vereinigten Staaten) hinausschweift. Das ist nicht als Kritik an Herausgeber*innen wie Lisa Yaszek und Gideon Marcus gemeint, die mit der Zusammenstellung dieser Anthologien großartige Arbeit geleistet haben. Doch naturgemäß bleiben dabei phantastische Autorinnen wie Hope Mirrlees (Lud-in-the-Mist [1926]), Sylvia Townsend Warner (Lolly Willowes [1926]), Evangeline Walton (The Virgin and the Swine [1936]) oder eben Naomi Mitchison ausgeblendet. Und daran sollte sich mal etwas ändern, finde ich.

Freitag, 24. November 2023

Nachtrag zu Eleanor Scott

In meinem letzten Blogpost hatte ich angekündigt, dass ich mich in einem zweiten Beitrag den übrigen Geschichten aus Randalls Round zuwenden und dabei auch einen etwas genaueren Blick auf die Autorin Eleanor Scott werfen wolle. Erstaunlicherweise habe ich diesen Artikel dann sogar tatsächlich geschrieben. Hier ist er.   

Wie Dr. Vicky Margree, Verfasserin von  British Women’s Short Supernatural Fiction, 1860–1930: Our Own Ghostliness, in ihrem Gespräch mit Will Ross & Mike Taylor von A Podcast to the Curious erzählt, ist unser Wissen um Eleanor Scotts Leben und ihre schriftstellerische Karriere unglücklicherweise bruchstückhaft und ungenau. Zum einen, da ihr Werk lange Zeit weitgehend in Vergessenheit geraten war. Zum anderen, weil Helen Leys unter einer ganzen Reihe von Pseudonymen veröffentlichte und die Zuordnung einiger Geschichten bis heute nicht vollständig geklärt ist. So enthält z.B. die British Library - Ausgabe von Randalls Round im Anhang mit Unburied Bane und The Menhir zwei Stories, die unter dem Namen "N. Dennett" 1933/34 in Charles Birkins Anthologien-Reihe Creeps erschienen sind, doch von dem Experten Richard Dalby aufgrund stilistischer Ähnlichkeiten der Autorin zugesprochen wurden.  

Helen Madeline Leys wurde 1892 als Tochter von John Kirkwood Leys und Ellen (Holligan) Leys in Hampton Hill (Middlesex) geboren. Ihr Vater hatte sich nach einer erfolglosen Karriere als Rechtsanwalt ("barrister") der Schriftstellerei zugewandt und eine ganze Reihe recht erfolgreicher "Sensationsromane" mit Titeln wie The Black Terror und A Wolf in Sheep's Clothing veröffentlicht. Doch spielte ihre Mutter -- in Barbados geborene Tochter eines Kolonialbeamten und allem Anschein nach eine sehr selbstbewusste Persönlichkeit -- die wichtigere Rolle für ihre Erziehung. Zumal der Vater bereits 1909 verstarb. 
 
John Kirkwood Leys war einige Jahre vor seiner zweiten Heirat 1889 zum Katholizismus konvertiert. Ein wichtiges Detail, war der tief in den Traditionen des englischen Protestantismus verwurzelte Hass auf die "Papisten" zu dieser Zeit doch immer noch sehr lebendig. Leys musste nach seinem Übertritt zur römischen Kirche das Sorgerecht für seine Kinder aus erster Ehe gerichtlich gegen die eigene Familie verteidigen. Helen und ihre zwei Jahre ältere Schwester Mary wurden offenbar ganz im Glauben ihres Vaters erzogen. Spuren dessen werden wir werden auch in den Spukgeschichten wiederfinden.
 
Ein Nachruf auf Mary Dorothy Rose (M.D.R.) Leys, der am 8. September 1967 in der Times erschien, erwähnt: "the family was too poor to afford school fees". Um so bemerkenswerter, dass es beiden Schwestern gelang, Zugang zu einer akademischen Ausbildung zu erlangen. 
 
Mary konnte dank eines Stipendiums ab 1911 moderne Geschichte am Somerville College studieren, einem der ersten zwei Frauencolleges von Oxford, das anders als Lady Margaret Hall auch Nicht-Anglikanerinnen offen stand. Ab 1919 begann sie selbst Geschichte in der Society of Oxford Home-Students zu unterrichten, aus der später das St. Anne's College wurde. Ab 1938 war sie dort Vice-Principal. M..D.R. Leys war stark engagiert in der Catholic Social Guild. Die 1909 gegründete Organisation hatte sich der Förderung einer katholisch geprägten Sozialpolitik und Sozialwissenschaft verschrieben. Seit 1921 unterhielt sie das Catholic Workers College in Oxford, an dem Arbeiter eine Ausbildung im Sinne der katholischen Soziallehre erhielten, mit dem erklärten Ziel, auf diese Weise eine Konkurrenz zur sozialistisch ausgerichteten Führung der britischen Arbeiterbewegung aufzubauen. M.D.R. Leys schrieb mehrere Bücher für die Guild und auch der Titel ihres ersten "professionell" verlegten Werkes -- Men, Money and Markets (1936) -- verrät sehr deutlich ihr Interesse an politisch-ökonomischen Fragen. In späteren Jahren verfasste sie u.a. eine History of the English People (1950), eine History of London Life (1958) und eine Sozialgeschichte der Katholiken in England (1961), wobei sie immer wieder mit ihrer Schwägerin, der Historikerin Rosamond Joscelyne Mitchell, zusammenarbeitete.
 
Helen Leys' Karriere war nicht ganz so glanzvoll. Und leider sind die mir zugänglichen Informationen über ihren akademischen wie beruflichen Werdegang noch bruchstückhafter als bei ihrer Schwester. Auch sie studierte am Somerville College. Vicky Magree erklärt, dass sie zu einem der allerletzten Jahrgänge von Studentinnen gehört haben muss, die keinen offiziellen Abschluss in Oxford machen konnten. Ihr Studium glich zwar weitgehend dem ihrer männlichen Kommilitonen und sie legten auch die selben Prüfungen ab, doch erhielten sie am Ende kein Diplom. Selbst wenn sie bessere Leistungen erbrachten als sämtliche männlichen Studenten ihres Jahrgangs, was wiederholt vorkam. Das änderte sich erst 1920 nach jahrzehntelangen Kämpfen und Reformbemühungen
Anders als ihre Schwester schlug Helen keine akademische Laufbahn ein, sondern arbeitete zuerst als Lehrerin. Schon bald wechselte sie in die Lehrerinnen-Ausbildung und wurde schließlich Direktorin ("Principal") einer entsprechenden Lehranstalt in Oxford. Allerdings gibt das "England and Wales Register" von 1939 ihren Beruf offenbar als "Travelling Lecturer" an. Was bedeuten könnte, dass sie diesen Posten inzwischen wieder aufgegeben hatte. 
 
Das würde angesichts ihres ersten veröffentlichten Romans nicht überraschen. War Among Ladies erschien 1928 im Verlag von Ernest Benn. Das Buch zeichnet ein denkbar düsteres Bild von Englands höheren Mädchenschulen und den sozialen Verhältnissen, unter denen die dort arbeitenden Lehrerinnen zu leben gezwungen waren. Dabei benutzte Helen Leys zum ersten Mal das Pseudonym Eleanor Scott, vermutlich auch, um sich vor möglichen Folgen für ihre berufliche Laufbahn zu schützen. Freilich war mit The Room eine der Geschichten aus Randalls Round, das ein Jahr später bei dem selben Verlag erschien, sechs Jahre zuvor bereits einmal unter ihrem richtigen Namen im Cornhill Magazine abgedruckt worden, was sie im Vorwort zu dem Sammelband auch ausdrücklich erwähnt. Mit etwas Mühe hätte man die Identität der Autorin also durchaus ermitteln können.
 
Im selben Vorwort schreibt Eleanor Scott, die in dem Buch gesammelten Stories seien "at different times and under all sorts of conditions" geschrieben worden, doch "all had their origin in dreams". Mehr verrät sie uns leider nicht über ihre Entstehung. Kein Wort über literarische Einflüsse oder Vorbilder. 
 
Scotts erneute "Wiederentdeckung"* nahm ihren Anfang 1987 mit dem Neuabdruck ihrer Story Celui-Là in der von Rosemary Pardoe und Richard Dalby herausgegebenen Ghosts & Scholars -Anthologie Ghost Stories in the Tradition of M.R. James. Und auch wenn das sicher nicht die Absicht der beiden Herausgeber gewesen war, rückte es die Schriftstellerin von Anfang an in eine etwas unglückliche Position. Bis heute wird sie gar zu oft in erster Linie als M.R. James - Epigonin gesehen. Was ihr ganz sicher nicht gerecht wird. Auch wenn der Einfluss Montys auf einige ihrer Geschichten unverkennbar ist. Was angesichts von dessen Popularität aber kaum überraschen dürfte.


Insbesondere zwei der in Randalls Round versammelten Stories besitzen einen sehr deutlichen James-Vibe. The Twelve Apostles erinnert stark an The Treasure of Abbot Thomas, während Celui-Là durch Setting und Atmosphäre Reminizenzen an Oh Whistle And I'll Come To You, My Lad wachruft. Aber selbst diese beiden sind mehr als bloß gelungene Pastiches. So beginnt Twelve Apostles mit einem amerikanischen Millionär, der sich ein englisches Herrenhaus kaufen will, aber darauf besteht, dass es in demselbigen gefälligst zu spuken hat. Ohne Gespenst ist es ihm offenbar nicht "authentisch" genug. Bei so einem Auftakt würde man vielleicht erwarten, eine Geschichte im Stile von Oscar Wildes Canterville Ghost erzählt zu bekommen. Doch der satirische Unterton verschwindet sehr schnell und im weiteren Verlauf geht es dann um den Schatz eines Alchimisten aus elisabethanischer Zeit, das Entschlüsseln kryptischer Informationen und eine Monsterschnecke! Letztere könnte von E.F. Bensons Negotium Perambulans inspiriert worden sein, aber die Kombination all dieser Elemente ist dennoch recht originell. Auch fällt auf, dass der Protagonist sein Überleben am Ende einem Kruzifix verdankt. So etwas ähnliches gibt es zwar auch in Canon Alberic's Scrap-Book von M.R James, aber da in Celui-Là die Rettung gleichfalls von göttlicher Seite kommt, darf man darin wohl mehr als eine bloße Genre-Konvention sehen. Zumal es hier dann sogar ein katholischer Priester ist, der die übernatürliche Bedrohung mit seinen Gebeten und Segenssprüchen zu bannen versteht. Und dass Protagonist Maddox den bretonischen Pater, bei dem er zu Gast ist, zuvor als "bäurisch", "ungebildet" und "abergläubisch" belächelt und nicht recht ernstgenommen hat, verleiht dem Ganzen noch eine zusätzliche Note. Ich denke, hier spielt auf jedenfall etwas vom religiösen Glauben der Autorin selbst mit hinein. Und vielleicht auch von der Erfahrung, die sie als Katholikin in einem so stark anglikanisch geprägten Umfeld wie Oxford gemacht haben mag.
 
Personen aus der universitären Welt von Oxford spielen in einer ganzen Reihe der Geschichten eine wichtige Rolle. Dabei fällt auf, dass es sich dabei anders als bei M.R. James nie um Dozenten oder ausgewachsene Gelehrte handelt (außer in Nebenrollen), sondern stets um Mitglieder der Studentenschaft. Darin spiegelt sich selbstverständlich die unterschiedliche Erfahrung wider, die Autor und Autorin mit dem Leben an der Universität gemacht hatten. 
 
The Room ist sicher die Erzählung, die mich am wenigsten angesprochen hat. Denn genau genommen handelt es sich bei ihr nicht wirklich um eine unheimliche Geschichte, auch wenn ein Zimmer, in dem es angeblich spuken soll, eine wichtige Rolle darin spielt. Eine Clique von Oxford-Studenten schließen eine Wette ab, nacheinander in besagtem Zimmer zu übernachten und im Anschluss daran von ihren Erlebnissen zu berichten. Und bis auf einen werden sie auch tatsächlich alle von grauenhaften Visionen heimgesucht, die sie zutiefst erschüttert und verstört zurücklassen. Doch diese Visionen sind eigentlich moralische Lektionen. Im Grunde geht es in The Room darum, wie unterschiedliche soziale Typen ihr Comeuppance erhalten. Und das ist nicht der Typ Geschichte, den ich besonders spannend finden würde. Das interessanteste an der Erzählung ist, dass sie uns einen kleinen Einblick in Eleanor Scotts eigene Wertvorstellungen eröffnet. So bekommen sowohl der hedonistische "Sensualist" als auch der fanatische Frömmler, der am liebsten persönlich Gottes Strafe an allen Sündern vollziehen würde, ihr Fett weg. Der einzige, der ungeschoren davon kommt, ist der gutmütige und beinah etwas naiv-kindlich wirkende Reece. Auffällig ist außerdem, dass sich eine der Diskussionen in der Clique am Schicksal der Dienerin Lily entfacht, "who used to wait at dinner" (im College?) und ihre Anstellung verloren hat, nachdem sie (vermutlich von einem Studenten) geschwängert wurde. Das Ganze zeichnet das wenig anziehende Bild einer Männergesellschaft, in der Frauen nur als Objekte existieren -- des Mitleids, der Verachtung oder des sexuellen Begehrens. Und natürlich spielt dabei auch ein Element des Klassen-Snobismus mit hinein.
 
The Room ist damit sicher das beste Beispiel für den kritischen Blick auf die männliche Studentenschaft, den Vicky Magree in dem eingangs erwähnten Gespräch hervorhebt. Allerdings fällt auf, dass das Bild, das Eleanor Scott am Beginn von The Old Lady vom Milieu der Oxforder Studentinnen zeichnet, auch nicht unbedingt schmeichelhaft ist.
Honor Yorke, Protagonistin und Ich-Erzählerin der Geschichte, ist zwar noch relativ neu an der Universität und gehört als Irin (und damit auch Katholikin?) eigentlich zu einer Gruppe, der man nicht selten mit Rassismus begegnet, scheint aber dennoch problemlos Aufnahme in die "angesagten" Kreise gefunden zu haben. Mit ihrer Kommilitonin Maude schließt sie eine ziemlich grausame Wette ab. Sie erklärt, dass es ihr gelingen wird, sich mit der Außenseiterin Adela "anzufreunden", ihr Vertrauen zu gewinnen und in den nächsten Semesterferien zu ihrer Familie eingeladen zu werden. Adela ist extrem schüchtern, verängstigt und verschlossen:
She looked permanently scared -- she hardly raised her voice above a whisper, and her remarks, when audible, were merely hurried agreements with whatever the last speaker had said. She was silent whenever possible; her very movements were furtive and rapid, as if she had to go through the meal against time, and secretly.
Maude nennt sie verächtlich "that washed-out little dishcloth".
Ganz wohl fühlt sich Honor zwar nicht damit, die so hilflos und ungeschickt wirkende junge Frau emotional zu manipulieren, aber letztlich ist es ihr wichtiger, sich gegenüber Maude zu beweisen. In der Tat gelingt es ihr recht schnell, mit Hilfe vorgetäuschten Interesses eine Art "Beziehung" zu Adela aufzubauen. Und mit einigen ziemlich durchschaubaren Manövern auch die gewünschte Einladung von deren mysteriösem "Vormund" ("guardian") zu erhalten. Allerdings scheint die neue "Freundin" über letzteres alles andere als erfreut zu sein.
Honor vermutet zuerst, dass der (weibliche)) "Vormund" eine extrem autoritäre Persönlichkeit sein muss und darin auch der Grund für Adelas Mangel an Selbstbewusstsein liegen könnte. Doch die Wahrheit stellt sich als sehr viel gruseliger heraus. Die "alte Dame" ist eine Art Hexe, die alle fünf Jahre ein Menschenopfer durchführen muss, um sich ihre unnatürliche Langlebigkeit zu erhalten. Die Vormundschaft über Adela und ihre Brüder hat sie sich verschafft, um sich einen leicht zugänglichen und möglichst wehrlosen Nachschub zu sichern. Doch inzwischen ist der beinahe aufgebraucht. Am nächsten Mittsommer ist Adela an der Reihe. Wenn sie nicht einen Ersatz beschaffen kann ...
Ich finde es schwer zu bestimmen, ob Honor inzwischen ehrliche freundschaftliche Gefühle für ihre Kommilitonin entwickelt hat. Der Text bleibt da offen für unterschiedliche Interpretationen. Doch auf jedenfall überlässt sie die junge Frau nicht einfach ihrem Schicksal und sucht das Weite. Obwohl ihr das durchaus möglich wäre. Vielmehr begibt sie sich in die irische Heimat und berät sich dort mit ihrem Bruder Conal und einem "wise man". Eine nette kleine Anspielung auf die irische Tradition der "Fear Feasa". Mit dem nötigen Wissen und tatkräftiger Unterstützung ausgestattet kehrt Honor zur Mittsommernacht zurück, um der "alten Dame" ein für alle mal das Handwerk zu legen.
Allein schon die beiden Hauptfiguren und ihre eigentümliche Beziehung machen The Old Lady zu einer der interesantesten Erzählungen in Randalls Round, auch wenn das Ende wie oft bei Eleanor Scott etwas hastig und antiklimaktisch wirkt.

Vicky Magree vergleicht und kontrastiert The Old Lady mit At Simmel Acres Farm. Und auch wenn ich ihren Schlussfolgerungen nur bedingt zustimmen kann, macht das auf jedenfall Sinn, denn es existieren deutliche Parallelen zwischen den beiden Geschichten. Auch hier haben wir zwei Personen aus der Oxforder Studentenschaft, die eine eigenartige "Freundschaft" verbindet und die zusammen die Semesterferien verbringen, wobei eine von ihnen von finsteren Mächten aus der Vergangenheit ihrer Familie bedroht wird. 
Mit Norton und Markham haben wir es diesmal allerdings mit zwei männlichen Studenten zu tun, und auch ihre jeweilige Stellung in der sozialen Hierachie der Universität und damit die zwischen ihnen herrschende Dynamik ist im Grunde die umgekehrte. Ich-Erzähler Norton ist der Außenseitertyp. Er beschreibt sich selbst als "dull and priggish", erwähnt seine extreme Kurzsichtigkeit und mangelnde Sportlichkeit und erklärt: "I haven't many friends of my own". Markham hingegen ist das, was man im amerikanischen Jargon als "Jock" bezeichnen würde: "[H]e was one of those large, vigorous people who live for Rugger [Rugby] and rowing". Ihre Bekanntschaft basiert eigentlich bloß auf dem Umstand, dass sie Zimmernachbarn in ihrem College sind. Erst als Markham sich eine Sportverletzung zuzieht und längere Zeit das Bett hüten muss, kommen sich die beiden näher. Norton vermutet zwar, dass sein Kommilitone nur deshalb seine Gesellschaft sucht, weil er sich aufgrund seiner Invalidität unter den "own hefty pals" unwohl fühlt. Dennoch fühlt er sich offenbar geschmeichelt und sagt umgehend zu, als dieser ihn fragt, ob sie die Ferien gemeinsam verbringen wollen.         
Also machen sie sich auf zu einem kleinen Dorf in den Cotswolds. Markhams Familie stammt aus dieser Gegend und offenbar hat er als Kind viel Zeit dort verbracht. Doch schon bei ihrer Ankunft wirkt er ungewöhnlich nervös und missmutig. Der ewig geduldige Norton entschuldigt das Verhalten seines "Freundes" wie stets mit dessen gehandicaptem Zustand. Und macht sich tagsdarauf umgehend auf die Suiche nach einem Ort, wo dieser zugleich die frische Luft genießen und sich körperlich schonen könnte. Und tatsächlich gibt es direkt neben dem Bauernhaus, in dem die beiden untergekommen sind, einen umfriedeten Garten. Allerdings scheint der bei den Einheimischen in einem etwas eigentümlichen Ruf zu stehen, weshalb ihn schon seit langem niemand mehr betreten hat. Norton lässt sich davon nicht abschrecken, und die Anlage ist zwar architektonisch etwas eigenartig, aber doch recht lauschig. Das eigenartigste Detail ist eine archaisch anmutende römische Büste, die in einer Nische steht, und vor der sich ein kleiner Brunnen befindet. 
The blank eye-sockets were rather large, oddly rounded at the corners, and had in consequence an expression of ruthlessness. The nose was too worn to be in any way remarkable, but the mouth had the most subtle expression -- at once cynical, suffering, cruel, undaunted and callous.   
Schon bald zeigt sich, dass es wohl keine so gute Idee war, "Simmel Acres Plot" zu öffnen. Die Büste hat eine unheimliche Wirkung auf Markham. Sie weckt Erinnerungen in ihm, die er eigentlich überhaupt nicht haben dürfte und die irgendwie mit seinen Vorfahren zusammenhängen, über die er sagt: "We come from these parts, you know ... used to have a big place in the eighteenth century, or something. Rather rips, I believe we were -- Hellfire Club and all that tosh ..." Er bringt der Büste ein spöttisches "Trankopfer" dar. Und ganz allgemein wird sein Verhalten zunehmend erratisch. Erst hochfahrend, triumphierend und arrogant, dann melancholisch und verzweifelt. Norton hat das deutliche Gefühl, dass sein "Freund" in den Bann finsterer Mächte geraten ist.
 
Der "Hellfire Club" wird übrigens auch in The Cure erwähnt. Und während er hier zumindest als Hinweis auf die okkultistische (satanistische?) Vergangenheit von Markhams Familie dient, hat er dort keine richtige Funktion und passt nicht einmal wirklich zur Atmosphäre der Story.  Für diese doppelte Nennung könnte es einen biographischen Hintergrund geben. Denn dem Zensus von 1911 zufolge, lebte Helen Leys damals zusammen mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in "Park View, Sands, High Wycombe, West Wycombe, Bucks". Also in der Nachbarschaft von Medmenham Abbey und der Höhlen von West Wycombe, wo die Mitglieder von Sir Francis Dashfords "Order of the Knights of St. Francis", dem man später den Namen "Hellfire Club" verlieh, in den 1750er/60er Jahren ihre Zusammenkünfte abgehalten hatten.* Schon im frühen 19. Jahrhundert wurden diese Örtlichkeiten zu einer Touristenattraktion. Auch hieß es schon bald, dass es dort spuken solle. Allerdings konzentrierten sich die Geschichten, die man über den "Hellfire Club" erzählte, lange Zeit auf die angeblichen sexuellen Ausschweifungen der Libertins. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhielten sie eine merklich finsterere Färbung und man begann von satanistischen Ritualen zu munkeln. Enstprechend veränderte sich auch der Charakter der Gespenstergeschichten, die von "local mystery mongers" verbreitet wurden. Ich halte es nicht für so unwahrscheinlich, dass einige von ihnen auch der jungen Helen zu Ohren gekommen waren, weshalb sich der Name des berüchtigten "Clubs" möglicherweise besonders fest in ihr Gedächtnis eingeprägt hatte.   
 
The Old Lady und At Simmel Acres Farm miteinander vergleichend, hebt Vicky Magree unter anderem den unterschiedlichen Charakter der Autoritäten hervor, an die sich die Protagonist*innen hilfesuchend wenden. Während Honor den Rat eines Vertreters volksmagischer (irischer) Traditionen einholt, sucht Norton am Ende die Unterstützung eines Oxford-Dons. Es stellt sich die Frage, welche Schlussfolgerungen man daraus ziehen soll. Wird damit eine "weiblich-intuitive" einer "männlich-rationalistischen" Herangehensweise gegenübergestellt? 
Anders als Honor gelingt es Norton nicht, seinen "Freund" zu retten. Besteht da ein Zusammenhang? Haben wir den gegensätzlichen Ausgang der beiden Geschichten irgendwie mit dem unterschiedlichen Geschlecht der beiden Hauptfiguren in Verbindung zu bringen?
Ich muss zugeben, dass ich solchen Interpretationen eher skeptisch gegenüberstehe. Im Text selbst kann ich wenig finden, was dem als Grundlage dienen könnte. Norton zögert vielleicht etwas länger als Honor, bis er seine Rettungsaktion einleitet, aber das entspricht einfach seinem Charakter. Und ob der Universitätsgelehrte Markham hätte retten können oder nicht, wissen wir nicht, da die beiden schlicht zu spät in das kleine Dorf zurückkehren.
 
Insgesamt tue ich mich etwas schwer mit dem Ansatz von Vicky Magree (und Dan Orrells), die in Eleanor Scotts Geschichten einen "politischen", feministischen Subtext zu erkennen glauben. Von einigen wenigen Ausnahmen, wie bei The Room, einmal abgesehen, kann ich dafür kaum stichhaltige Indizien in Randalls Round entdecken. Natürlich dürfte die Sicht der Autorin von der Erfahrung, als Frau in einer extrem sexistischen Gesellschaft zu leben, mitgeprägt worden sein. Doch letztlich wissen wir einfach zu wenig über Helen Leys, um sagen zu können, ob sie daraus irgendwelche politischen Schlüsse zog -- und wenn, dann welche. Eine Lektüre von War Among Ladies wäre da vielleicht hilfreich. Aber auch Magree und Orrells scheinen den Roman nicht aus eigener Leseerfahrung zu kennen. Somerville College stand (zumindest vor dem 1. Weltkrieg) im Ruf, liberal und fortschrittlich zu sein. Chauvinistische Spötter nannten es gerne das "bluestocking college" und in den 1910ern positionierte es sich offen für das Frauenwahlrecht. Dass die Schriftstellerin mit entsprechenden politischen Theorien und Bewegungen vertraut war, wird man also mit einiger Sicherheit annehmen dürfen. Aber wie ihre eigene Einstellung zu diesen Fragen war, muss offen bleiben. Angesichts ihres katholischen Hintergrunds, mit dem sie anscheinend nie gebrochen hat, wird man wohl nichts gar zu radikales erwarten dürfen. Allerdings hat sie später zwei biographische Kinderbücher über Adventurous Women (1933) und Heroic Women (1939) geschrieben.
 
Etwas überrascht hat mich, dass Vicky Magree und Dan Orrells in dem Podcast-Gespräch gerade die Geschichte aus Randalls Round kommentarlos übergehen, in der das Thema Frauenemanzipation am offensten angesprochen wird: "Will Ye No' Come Back Again?".
 
Annis Breck ist selbstständig, willensstark und eine (in bescheidenem Maßstab) erfolgreiche Geschäftsfrau mit einer Vergangenheit in der Suffragetten-Bewegung. Sie beschließt, ein "hostel" für junge Arbeiterinnen ("working girls") in Burley/Leeds einzurichten, und erwirbt dafür "Queen's Garth", ein Haus, von dem manche erzählen, das es dort spuken soll. Was der praktisch veranlagten Annis jedoch kein Kopfzerbrechen bereitet.
Es fällt mir nicht ganz leicht, zu bestimmen, was für ein Bild wir uns von der Protagonistin machen sollen. Was wir am Beginn der kurzen Geschichte über sie erfahren, stammt größtenteils "aus dem Mund" ihrer chauvinistischen Verächter. Und muss entsprechend skeptisch gesehen werden. 
Dasselbe gilt für das, was wir über die Geschichte von "Queen's Garth" zu hören bekommen:
The last of the original family, old Miss Campbell, was the only survivor of a clan that had lived in the house ever since it was built in the seventeenth century. They had apparently specialised in strong-minded females, who had very occasionally condescended to marry, but had always ruled with a rod of iron, having deep-seated suspicion of men and a determination to keep them well under. How they had ever married at all was a marvel; no doubt it had been entirely for practical, and never for romantic, reasons.
Ich denke schon, dass wir den Sexismus in der Charakterisierung der ehemaligen Bewohnerinnen als solchen erkennen sollen. Dennoch bin ich mir unsicher, wieviel hier die Stimme der männlichen Spötter und wieviel die der Erzählerin ist. Woran auf jedenfall kein Zweifel bestehen kann, ist, dass Annis Brick eine denkbar schlechte Meinung von Männern im allgemeinen hat. Das bekommen wir immer wieder auch aus ihrer Sicht erzählt. Ob sie das automatisch zur Karrikatur der "verbitterten, männerhassenden Feministin" macht? Schwer zu sagen. Dass ihre Bekannte Lucy Ferrars, "an old friend of W.S.P.U. days"** etwas lächerlich gezeichnet ist, lässt sich jedenfalls kaum leugnen.
Lucy was always getting up meetings and asking Annis to speak at them, and Annis was always irritatetd sooner or later by Lucy's absolute lack of the power to organise. Her meetings were never successful.
Annis ist sichtlich genervt von ihrer geschwätzigen und naiv-begeisterten Art und behandelt sie mit nur mühsam verborgener Verachtung. Selbst als sich ihre Gedanken den Mädchen zuwenden, die einmal in "Queen's Garth" wohnen sollen, sind diese wenig freundlich. Auch wenn sie dafür einmal mehr (und vielleicht nicht ganz zu unrecht)  "die Männer" verantwortlich macht:
Girls were what men had made them -- giddy, fickle, heartless. They had found that faith and loyalty and depth of feeling didn't pay -- thanks to men.  
Nachdem Annis alleine in dem halb-renovierten Haus zurückgeblieben ist, kommt es schon bald zu einer Reihe unheimlicher Ereignisse. Aus dem Augenwinkel glaubt sie eine schmenhafte Gestalt wahrzunehmen. Dann ist ihr, als höre sie das leise Schluchzen eines Kindes (oder einer jungen Frau?). Beim Anblick der Sonnenuhr im Garten kommt ihr plötzlich der melancholische Vers "Time flieth, hope dieth" in den Sinn. Und tatsächlich findet sie eine verwitterte Inschrift desselben Inhalts auf dem Sockel. Im selben Augenblick überkommt sie das beunruhigende Gefühl, nicht länger allein hier zu sein. "[S]he felt, as certainly as she had ever felt anything, that someone stood behind her, reading the words over her shoulder -- someone sneering, hating, despising her ..." Der Eindruck vergeht zwar ebenso schnell, doch um ihre Nerven ist es immer schlechter bestellt. Schließlich hört sie die gespenstischen Klänge eines Spinetts, das eine ihr bekannte Melodie spielt. "Will ye no' come back again?". Eine bleierne Melancholie überkommt sie. Sie flieht in ihr Bett. Nur um etwas später mit einer Art verzweifelten Epiphanie wieder aufzuschrecken:
What was it that had awakened her? Surely she had heard something. Was it a voice? A name, echoing in her ears? Or was it the spinet? -- "Will ye no' come back again?" "Time flieth, hope dieth." Yes -- and a girl -- a girl dressed in a frock of blue silk, patterned with tiny gay posies -- a girl at the spinet -- a girl by the sundial, tracing the sad old motto, while slow tears dropped on the stone slab -- a girl called Annis ...
The girl had her own face. She understood it now. And his name -- ah, how had she ever forgotten it? his name had been Richard ... 
Und mit diesen Worten endet die kurze Geschichte.
Wie haben wir das alles zu interpretieren? Hat Annis Brick tatsächlich einmal in diesem Haus gelebt und all die unheimlichen Ereignisse waren bloß Ausdruck unterdrückter Erinnerungen? Oder geht hier tatsächlich der Geist einer anderen Annis um? Keins von beidem scheint mir eine wirklich befriedigende Erklärung zu sein. 
Ganz sicher jedoch soll uns das Ganze irgendetwas über die Persönlichkeit der Hauptfigur sagen. Aber was genau? Dass ihre tiefe Abneigung gegen Männer letztenendes auf eine enttäuschte Liebe aus ihrer Jugend zurückzuführen ist? Dazu würde passen, was sie früher in der Geschichte bei sich selbst gedacht hatte: "Men! All alike! Just use women and throw them away -- forget they exist." Sollen wir darin dann auch den eigentlichen Beweggrund für ihr politisches Engagement und ihr Streben nach Unabhängikeit sehen? Und wenn dem so ist, will uns Eleanor Scott damit zugleich auch irgendetwas über die Frauenemanzipationsbewegung im allgemeinen sagen? Und wenn, was? Das Gefühl von Verzweifelung, das Annis gegen Ende immer mehr überkommt, legt zumindest nahe, dass wir in ihr eine zutiefst unglückliche Person sehen sollen. Will uns die Autorin damit sagen, dass eine Frau kein erfülltes Leben ohne einen Mann an ihrer Seite führen kann? Und dass das Streben nach Selbstständigkeit deshalb am Ende zu Unglück, Einsamkeit und Verzweifelung führen muss?
Auch das könnte man dann natürlich noch unterschiedlich interpretieren. Eher wohlwollend im Sinne von: Die gesellschaftliche Ordnung und die sexistische Moral der Zeit erlaubten es einer Frau nicht, gleichzeitig ein selbstständiges Leben zu führen und in einer romantischen Beziehung zu sein. (Die Geschichte stellt männlichen Chauvinismus ja keineswegs positiv dar.) Oder aber: Das Streben nach Emanzipation mag zwar in Grenzen nachvollziehbar sein, verstößt letztenendes aber gegen die "weibliche Natur" und ihre tiefsten Bedürfnisse.
Doch ganz gleich wie man's dreht oder wendet. Am Ende hat  "Will Ye No' Come Back Again?" einen ziemlich schalen Nachgeschmack bei mir hinterlassen.
 
Es bleiben uns noch zwei Geschichten aus Randalls Round.
      
The Tree enthält zwar eine faszinierende Idee, wirkt aber eher wie eine rasch hingeworfene Skizze: Ein Maler fällt unter den unheilvollen Einfluss einer böartigen und rachsüchtigen Esche. Der Versuch seiner Ehefrau, den Verfluchten zu retten, hat fatale Auswirkungen.
 
The Cure hatte ich bereits in meinem letzten Blogbeitrag als ein weiteres Beispiel für frühen Folk Horror erwähnt. Im Vergleich zu Randalls Round sind die Parallelen zu späteren Werken des Subgenres allerdings nicht so ausgeprägt. Auch wirkt die Geschichte etwas unfokussiert.
Ich-Erzähler Spud wird von Freda, einer Freundin aus Kindheitstagen, darum gebeten, ihren Bruder Erik eine zeitlang bei sich aufzunehmen und ihm eine möglichst "unaufgeregte" Atmosphäre zu verschaffen, damit er sich von einer scheinbaren Nervenkrankheit erholen könne. Da Spud Landwirt (bzw. Gutsbesitzer) im ländlichen Sussex ist, sollte sein Wohnsitz Crow's Hall dafür eigentlich ideale Bedingungen bieten. Und da er ein zwar etwas ruppiger und nicht besonders fantasiebegabter, im Herzen aber gutmütiger Geselle ist, geht er umgehend auf ihre Bitte ein.
Die Familie der Geschwister hat skandinavische Wurzeln. Erik, der anscheinend immer schon einen Hang zu "Fantastereien" hatte, entwickelte während seines Studiums in Oxford eine große Leidenschaft für nordische Folklore. Weshalb er sich im Anschluss daran nach Island aufmachte, "to do reasearch into a dead life. Folklore and charms and dead religions and legends and things". Dort muss irgendetwas geschehen sein, was ihn nervlich völlig zerrüttet zurückgelassen hat. Vermutlich im Zusammenhang mit dem nächtlichen Öffnen eines Hügelgrabs. Ein besonders obsessives Verhalten legt Erik im Zusammenhang mit einem Artefakt an den Tag, das er von seiner Expedition mitgebracht hat und nun in einer unscheinbaren Schachtel verborgen hält. Einerseits hütet er es eifersüchtig wie einen Schatz, andererseits scheint er es zu fürchten. Er selbst vergleicht sein Verhalten in einem ruhigeren Moment mit dem eines Alkoholikers.
Unglücklicherweise erfahren wir nie, was sich in der Schachtel verbirgt. (Oder am Ende vielleicht doch?) Irgendwann wirft Erik sie während einer seiner Anfälle aus dem Fenster und sie wird nicht noch einmal erwähnt. Die Geschichte nimmt von diesem Punkt an eine deutlich andere Wendung. Isländische Hügelgräber spielen von nun an keine Rolle mehr. Was doch etwas irritiert.           
Auch wenn die Wende nicht ganz unmotiviert erscheint. Spud ist zwar kaum die richtige Person, um Eriks Ängste zu verstehen, aber selbst ihm ist klar, dass sie mit dessen Obsession für den Norden verknüpft sind. Also nimmt er ihm das Versprechen ab, den ganzen "Island-Kram" erst mal hinter sich zu lassen. Er solle doch lieber versuchen, Frieden in der harmlosen Schönheit von Sussex zu finden: "This isn't Iceland, you know. No icefields and barrows here. Only good farmed land and friendly country ..." Erik geht darauf ein, auch wenn er dabei düster vor sich hin murmelt: "It isn't only Iceland ... Its everywhere -- if you look ... But I wont't look. I'll chuck it. I will." Spud versteht natürlich nicht, was er damit meint. Aber für uns Lesende blitzt da erneut der Frazer'sche Grundgedanke der vergleichenden Mythologie auf, demzufolge sich hinter den Mythen und Bräuchen aller möglichen Kulturen im Grunde dieselben Ideen verbergen. Wenn Erik sich in der Folge immer mehr in die Geschichte der Region um Crow's Hall vertieft und unter dem Landvolk Nachforschungen darüber anstellt, "why the valley behind Wether Down, where the mounds are, was called Kings Bottom"***, ahnen wir deshalb auch, dass er nicht wirklich von seinen alten Obsessionen abgelassen hat. Dieselben dunklen Mächte, denen er in Island begegnet ist, ruhen auch unter den grünen Hügeln Englands.
Trotz dieser Verknüpfung erscheint mir der Island-Part etwas überlang. Denn der spannendere Teil der Geschichte beginnt eigentlich erst jetzt. Er ist es auch, der die Verbindung zum Folk Horror schlägt. Interessanterweise verlieren wir Erik dabei für längere Zeit aus dem Auge. Nur einmal sehen wir ihn zusammen mit dem "Dorftrottel" Murky Glam auf dem Rand eines Dorfbrunnens hocken und wie in Trance in die Tiefe starren. Eine recht atmosphärische kleine Szene. Abgesehen davon hören wir nur von seinen ausgedehnten Streifzügen über die Hügel. Denn unser Erzähler hat viel zu viel mit dem Einbringen der Ernte zu tun, um sich noch groß um seinen wunderlichen Gast zu kümmern. 
Wenn wir dann erfahren, dass zu den Pflichten des Gutsbesitzers auch die Ausrichtung eines Erntedankfestes am 15. August gehört****, das mit dem Abbrennen eines großen "bale-fire" auf einem der Hügel von Kings Bottom ausklingt, ahnen wir vielleicht schon, in welche Richtung sich die Geschichte bewegt. Und wenn dann auch noch Spuds Fuhrmann Gibson davon erzählt, dass es alle sieben Jahre in Zusammenhang mit diesem Feuer zu einem mysteriösen Todesfall gekommen sein soll, kann eigentlich kaum mehr ein Zweifel bestehen: "'Old folks they say it's the toll taken by him'. He jerked his thumb up at the mound." Es dürfte keine Überraschung sein, zu erfahren, wer diesmal das Opfer sein wird.
Der Geschichte fehlt ein wenig die enge Anbindung an reale Formen des Brauchtums, wie wir sie in Randalls Round gesehen haben. Und für mein Gefühl ist durch das Islandmotiv nicht wirklich etwas dazugewonnen. Eriks Obsession hätte ebensogut von Anfang an englischer Folklore gehören können. Alles in allem ist The Cure die deutlich schwächere Story, wenn auch genrehistorisch sicher immer noch sehr spannend.
 
Insgesamt betrachtet war der Sammelband für mich eine zwar interessante, aber nicht überwältigende Lektüre. (Randalls Round selbst hatte ich vorher ja schon anderswo gelesen). Möglicherweise hat Helen Leys unter dem Pseudonym "P.R. Shore" außerdem noch zwei Kriminalromane mit den Titeln The Bolt (1929) und The Death Film (1932) geschrieben. Hunterprozentig sicher scheint die Autorschaft da nicht zu sein. Zu Horror oder Weird Fiction ist sie jedoch wohl nie wieder zurückgekehrt, wenn man von der möglichen Ausnahme der zwei zu Beginn genannten "N. Dennett" - Stories absieht.
 
 


* Dashfords "Orden" war nur eine der im 18. Jahrhundert bestehenden Vereinigungen "freigeistiger" Vertreter (und teilweise auch Vertreterinnen) der Elite, denen man den Namen "Hellfire Club" verlieh. Von diesen aber sicher die bekannteste.
 
** Die 1903 gegründete und von Emmeline und Christabel Pankhurst geführte Women's Social and Political Union sollte anfangs zwar hauptsächlich die Interessen von Arbeiterinnen vertreten, verwandelte sich aber schon bald in die bedeutendste und militanteste bürgerliche Suffragetten - Organisation, die sich fast völlig auf den Kampf um das Frauenwahlrecht konzentrierte. Die Kampagne der W.S.P.U. erreichte ihren Höhepunkt mit der Massendemonstration vom 21. Juni 1908 im Hyde Park. In der Folge wandte sie sich verstärkt "radikalen" Taktiken wie Hungerstreiks, Brandanschlägen etc. zu. Ihr unrühmliches Ende kam mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs. Die W.S.P.U. verwandelte sich in eine jingoistische Propagandavereinigung im Dienste des britischen Imperialismus, um sich 1917 schließlich offiziell aufzulösen.
 
*** Ich bin mir nicht sicher, ob damit der reale Hügel Wether Down gemeint ist, welcher sich allerdings in Hampshire erhebt. Über "Kings Bottom" habe ich jedenfall nichts in Erfahrung bringen können. Aber immerhin scheint es in der näheren Umgebung ein Hügelgrab zu geben.
 
**** Der Text spricht von "Lammas Night", aber Lammas/Loaf Mass ist eigentlich der 1. August.