Ich begann diesen Beitrag vor drei Monaten zu schreiben, kurz nachdem Markus Mäurer auf Mastodon und Bluesky die folgende Frage gestellt hatte:
Wer kann mir (relativ klassische) Fantasy-Romane nennen, die in einer
Sekundärwelt spielen und in denen Demokratie herrscht? Kein gerechter
König, kein obskur berufener Rat der Weisen, keine Händlergilde, sondern
wirklich demokratisch gewählte Volksfantasyvetreter. Mir will gerade
keiner einfallen.
Ich fühlte mich dadurch an eine Diskussion erinnert, die im Frühjahr 2023 (damals noch auf Twitter) aufgekommen und in der es ebenfalls um die Frage gegangen war, warum es in der "klassischen" Fantasy so selten demokratische Staaten gibt und ob es nicht an der Zeit sei, dies zu ändern. Anlass waren die Krönungsfeierlichkeiten für Charles IIII. gewesen, die die (britische) Monarchie eine Zeit lang zum politischen Tagesthema gemacht und mit ihrem abstrusen Pomp zugleich die Absurdität des Fortlebens eines solchen feudalen Reliktes demonstriert hatten.
Schon damals hatte ich mir ein paar Gedanken zu dieser Frage gemacht. Nun versuchte ich, sie in eine geordnete Form zu bringen. Doch je länger ich an dem Text herumbosselte, desto unsicherer wurde ich. Waren meine Argumente wirklich schlüssig? Vor allem: Hielt ich sie selbst dafür? Schließlich ließ ich das Ganze erst einmal unvollendet liegen. Wenn ich den Beitrag nun doch fertig geschrieben habe und veröffentliche, dann unter dem Vorbehalt, dass es sich dabei eher um eine Art Protokoll meiner Überlegungen handelt und nicht um ein letztgültiges Urteil. Auch wenn es sich vielleicht anders liest.
Unter
genrehistorischer Perspektive mag die Frage nach Demokratien in der Fantasyliteratur erst einmal etwas
merkwürdig erscheinen. Was sich in den 60er-80er Jahren als "klassische"
Fantasy herausbildete, speiste sich in erster Linie aus zwei
Hauptströmungen -- der Sword & Sorcery und der High Fantasy. In
beiden war aus nachvollziehbaren Gründen kaum Platz für solche Staatsformen,
schon gar nicht, wenn man dabei (wie Markus) an moderne repräsentative
Systeme denkt. Robert E. Howards Conan-Stories besaßen ihre Wurzeln vor
allem in der historischen Abenteuergeschichte. Und Tolkiens Lord of the Rings war
sogar in formaler Hinsicht als eine Art Wiederbelebung vormoderner
Literaturformen konzipiert. Wie der Autor selbst es einmal ausgedrückt
hat: "Mein Buch ist kein
‘Roman’, sondern eine ‘heroische Romanze’, eine ältere
und ganz andere Art Literatur." (1)
In beiden Fällen spielt die Handlung in einer fiktiven Vorzeit unserer
Welt. Dementsprechend schaut dann halt auch die dort herrschende
gesellschaftliche und politische Ordnung aus. Natürlich entwickelten
sich beide Subgenres über die Jahrzehnte weiter, wurden vielgestaltiger
und facettenreicher, aber ganz lösten sie sich nie von ihren
Ursprüngen. So gesehen überrascht es auch nicht, dass wir in ihnen eher
auf gekrönte Häupter als auf "Volksfantasyvertreter" stoßen.
Und
ich sehe darin auch kein grundsätzliches Problem. Über den
ideologischen Geist der Geschichten sagt das erst mal noch überhaupt
nichts aus. Der lässt sich nur von Fall zu Fall bestimmen. Selbst
Michael Moorcock, dessen Kritik an Tolkien & Co ja nicht gerade für
ihren differenzierten Charakter bekannt ist, erklärte seinerzeit in dem
Essay
Starship Stormtroopers:
Fiction
about kings and queens is not necessarily royalist fiction any more
than fiction about anarchists is likely to be libertarian fiction. [...] It depends what use you make of such characters in a story and what, in the final analysis, you are saying.
Dasselbe gilt für die soziale und politische Ordnung, in der die
Handlung angesiedelt ist. Entscheidend ist nicht, wie diese aussieht,
sondern wie an sie herangegangen wird.
Nun gibt es ironischerweise gerade in der amerikanischen Kultur (und Amerika dürfte nach
wie vor den Fantasymarkt dominieren) eine lange Tradition der
Romantisierung von Adel und feudalem Europa. Und es lässt sich nicht
leugnen, dass diese zuweilen Hand in Hand mit höchst reaktionären
politischen Kräften ging. So beschrieb schon
Mark Twain in Life on the Mississippi die Rolle, die Walter Scotts
Mittelalter-Romane bei der Entstehung des "chivalresken"
Selbstbildes der Sklavenhalter-Oligarchie der Südstaaten gespielt hatten. Auch wenn er deren Bedeutung dabei sicher
etwas übertrieb.
It
was Sir Walter that made every gentleman in the South a Major or a
Colonel, or a General or a Judge, before the war; and it was he, also,
that made these gentlemen value these bogus decorations. For it was he
that created rank and caste down there, and also reverence for rank and
caste, and pride and pleasure in them.
Twain sah in der Ritterromantik eine direkte Reaktion auf den Freiheitsgeist der Französischen Revolution:
Then
comes Sir Walter Scott with his enchantments, and by his single might
checks this wave of progress and even turns it back; sets the world in
love with dreams and phantoms; with decayed and swinish forms of
religion; with decayed and degraded systems of government; with the
silliness and emptiness, sham grandeurs, sham gauds, and sham chivalries
of a brainless and worthless long-vanished society. (2)
Die Satire von A Connecticut Yankee in King Arthur's Court richtet
sich zu einem Gutteil gegen dieses romantisch verklärte Bild des
Feudalismus. Zumal auch die kapitalistischen Magnaten, die "robber barons",
deren Aufstieg sich nach dem Bürgerkrieg während des sog. "Gilded Age"
vollzog, in Ermangelung einer autochthonen aristokratischen Tradition
(3) recht häufig mit dem feudalen Plunder Europas liebäugelten, um ihrer
privilegierten Stellung "Glanz" und "Würde" zu verleihen. In leicht
abgewandelter Form lässt sich diese Tendenz mitunter bis heute unter
Verteter*innen der amerikanischen Elite und der wohlhabenden
Mittelklasse beobachten.
Inwieweit
diese Tradition auch in Teilen der (amerikanischen) Fantasyliteratur
fortlebt, wäre sicher eine interessante Frage. Ich selbst spiele ja
manchmal
mit der These, dass der High Fantasy - Boom der 80er Jahre zumindest in
Teilen die allgemeine reaktionäre Kehrtwende dieses Jahrzehnts
widerspiegele. Bin mir allerdings bewusst, dass ich mich dabei auf sehr
unsicherem Boden bewege und erst einmal viel mehr High Fantasy der Zeit
lesen müsste, um das zu verifizieren. (Was kaum geschehen wird).
Aber
schon die alte Romantisierung des europäischen Mittelalters enthielt
natürlich nicht immer ein derartiges "politisches" Element. Oft genug
handelte es sich einfach um eine Form von Exotik. Ein farbenfrohes
Ambiente für Swashbuckling Adventures. Und es spricht nichts dagegen,
daran anzuknüpfen, selbst wenn man jedwede Idealisierung des
realen Feudalismus ablehnt. Wie Steven Brust einmal in seinem Blogbeitrag
Fantasy Writing and Titles of Nobility geschrieben hat:
For Americans there is an element of the romantic and the exotic
about titles of nobility, about Baron Soandso, or Count Thisandsuch [...] In reality,
the feudal landlords were vicious bloodsuckers – when not for personal
reasons, than simply because of the nature of the property relations
that ultimately defined everyone’s life. What I am not about
to do is suggest that American fantasy writers ignore the exotic and
romantic elements – your readers have them in their heads, and unless you
see your job as primarily pedagogical (which I do not), what is in the
reader’s head is key: it is easier to play with the reader’s head if you
work with what you know is rattling around in there.
What I want to point out is that the tension between the
actual nature of the nobility and this sense of the romantic and exotic
is something that, if we’re aware of it, we can play with to produce
interesting effects. Just a few subtle hints about the reality, while
still permitting the swirling capes and Byronic posturing, can really
bring home the world and the character, and add a sense of depth. That
is, be aware of the reality and of the feelings of the reader.
Soweit sie mir aus eigener Leseerfahrung bekannt sind, würde ich sagen, dass ihm dieses Spiel in seinen Vlad Taltos
- Büchern ziemlich gut gelungen ist. Und diese Herangehensweise sagt
mir deutlich mehr zu, als wenn ein Autor zwar mit dem ganzen
(faux)-feudalistischen Inventar der "klassischen" Fantasy spielen will,
dann aber eine vom Volk gewählte Königin oder ein gesetzgebendes
Parlament einbaut, weil er glaubt, dass das seine Erzählung irgendwie
"progressiver" machen würde.
Ein nettes Fallbeispiel dafür ist Terry Brooks' The Sword of Shannara.
Das 1977 erschienene Buch ist bekanntlich ein ziemlich dreister Lord of the Rings -
Klon. Nichtsdestotrotz flechtet Brooks hie und da eigene Ideen in
die Handlung ein und setzt dabei deutlich andere Akzente als Tolkien.
Callahorn ist sein Äquivalent zu Gondor. Das Reich bildet eine Art
Schutzwall für die "freien Völker" gegen die Bedrohung durch die Horden
des Bösen. Doch anders als Tolkiens "Turm der Wacht" ist Callahorn dabei
nicht der Hüter des Erbes einer edleren Vergangenheit. Eine solche hat
es in Brooks' Welt nie gegeben. Vielmehr repräsentiert das Reich die
Verheißung einer besseren, menschlicheren Zukunft:
[Die Hauptstadt] Tyrsis war die Wegkreuzung der vier Länder, und durch seine Mauern
und Landschaften strömten Angehörige aller Nationen, die den Einwohnern
Gelegenheit gaben, zu sehen und zu begreifen, dass die Unterschiede in
Gesicht und Körper bei den einzelnen Rassen unwichtig waren. Die
Menschen hatten gelernt, die innere Person zu beurteilen. Ein riesiger
Berg-Troll wurde nicht angestarrt und seiner bizarren Erscheinung wegen
gemieden; Trolle kamen oft in dieses Land. Gnomen, Elfen und Zwerge
aller Arten und Gattungen zogen regelmäßig hindurch, und wenn sie
Freunde sein wollten, wurden sie willkommen geheißen. Balinor lächelte,
als er von dieser neuen, sich ausbreitenden Erscheinung sprach, die
endlich überall in den Ländern die Oberhand zu gewinnen schien, und er
empfand Stolz darüber, dass sein Volk zu den ersten gehörte, die alte
Vorurteile fallen ließen und nach gemeinsamen Grundlagen für Verständnis
und Freundschaft suchten.
Soweit stellt das
einen durchaus interessanten, wenn auch erzählerisch wenig überzeugend
umgesetzten, Gegenentwurf zu Tolkien dar. Aber dann geht Brooks
noch einen Schritt weiter und erklärt das Reich zu einer
konstitutionellen Monarchie:
Callahorn war eine der wenigen aufgeklärten Monarchien der Welt [...]
Theoretisch eine Monarchie, beherrscht von einem König, bestand die
Regierung auch aus einer parlamantarischen Körperschaft, deren
Repräsentanten vom Volk gewählt wurden und für die Verabschiedung der
Gesetze verantwortlich waren.
Doch nichts von dem, was wir im weiteren Verlauf der Geschichte vom Leben im
Reich zu sehen bekommen, passt zu dieser Erklärung. Callahorns
Gesellschaft entspricht völlig dem genretypischen Pseudo-Mittelalter.
Bestenfalls könnte man sich da so etwas wie Ständevertretungen
vorstellen. Die Handlung konzentriert sich zudem völlig auf
aristokratische Kreise und den Königsplalast. Und so muss die ohnehin
nur nebenbei hingeworfene Bemerkung über ein gesetzgebendes Parlament
als ungeschickter Versuch des Autors erscheinen, seinen liberalen
Überzeugungen Ausdruck zu verleihen, ohne gar zu weit von der Lord of the Rings -
Schablone abzuweichen.
Warum wirkt das Ergebnis so ungelenk? Ich würde behaupten, dass man als Leser*in unweigerlich das Gefühl bekommt, dass hier disparate Elemente nebeneinander gestellt werden, die sich nicht zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen. Wir wissen einfach irgendwie, dass man eine Staatsform nicht jeder beliebigen Gesellschaftsordnung aufpfropfen kann, sondern dass da ein innerer Zusammenhang besteht.
Allerdings würde ich einschränkend voranstellen, dass man bei dieser Frage den Charakter der jeweiligen Fantasywelt mit in Betracht ziehen muss. Es gibt meines Erachtens nämlich eine Reihe von "Welttypen", bei denen dieses Gefühl der Inkongruenz nicht notwendigerweise ein Problem darstellen muss -- im Gegenteil vielleicht sogar ästhetisch gewollt sein kann. (Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit).
Da wäre zuerst einmal das, was ich den "Traumland"-Typus nennen möchte: Lewis Carrolls Wonderland, die phantastischen Welten Lord Dunsanys, H.P. Lovecrafts
Dreamlands, Frank Baums Oz etc. Neuere Beispiele wären etwa die
Lands of Dream
von Jonas & Verena Kyratzes oder auch die
Herbstlande. (4) In atmosphärischer Hinsicht würde eine moderne repräsentative Demokratie in einigen von diesen sicher auch wie
ein Fremdkörper wirken. Aber es wäre absurd, deren Existenz
aus soziologischen Gründen für "unrealistisch" zu halten. Diese
Welten funktionieren nach anderen Gesetzen. Niemand stellt sich die Frage nach der Feudalökonomie des Feenreiches. Und niemand sollte das.
Dem verwandt, aber nicht wesensgleich, sind Welten, deren "Phantastik-Grad" so hoch ist, dass im Grunde nichts in ihnen zu seltsam, bizarr oder grotesk wirken kann. Ich denke da z.B. an Jack Vance' Dying Earth oder auch an Teile des moorcock'schen Multiversums. Prinzipiell spräche auch hier nichts gegen die Existenz einer Demokratie. Und tatsächlich heißt es am Anfang der zweiten Corum - Trilogie (The Bull and the Spear), dass die Mabden (Menschen) nach der Zerstörung ihrer Götter u.a. "neue Gesetze" schufen, "die jedem das Recht gaben, in den Angelegenheiten des Staates mitzubestimmen". (5) Freilich beschränkt sich Moorcock klugerweise auf diese vage Andeutung. Sie reicht, um auszudrücken, worum es ihm geht, ohne Fragen nach dem konkreten Charakter dieser neuen Ordnung zu provozieren.
Schließlich gibt es auch noch eine Spielart der Fantasy, die den "anachronistischen Bruch" als ein bewusstes Stilmittel einsetzt. Ein gutes Beispiel dafür ist T.H. Whites The Once and Future King. Die Handlung des Romans spielt zwar ausdrücklich in einer Art parallelweltlichem 12. Jahrhundert und steckt voller mediävistischer Details. (Wobei allerding auch diese bereits sehr "frei" gehandhabt werden, hat White doch z.B. kein Problem damit, John Ball, den radikalen Prediger des 14. Jahrhunderts, in seine Geschichte einzubauen). Aber zugleich erlaubt es ihm seine spielerische (beinah schon "postmoderne") Herangehensweise (und die Figur des rückwärts in der Zeit alternden Merlin) ganz offen über Themen wie Nationalismus, Faschismus und Kommunismus zu reden. Ähnliches gilt für Naomi Mitchisons To the Chapel Perilous und (wenn meine Erinnerung mich nicht trügt) auch für Teile von Evangeline Waltons Mabinogion - Tetralogie. Da alle drei Werke Neubearbeitungen mittelalterlicher Stoffe sind, wäre ein demokratischer Staat wohl auch in ihnen unangebracht, aber ich könnte mir Romane ähnlichen Stils vorstellen, in denen das kein Problem darstellen würde. (6)
Völlig
ausgestorben sind diese Spielarten der Fantasy sicher nicht. Doch
wird das Genre meines Erachtens von einem anderen Typus dominiert, der mit
einem sehr viel größeren "Pseudo-Realismus" daherkommt. Das äußert sich
unter anderem in der zentralen Bedeutung, die einer speziellen Form des
"Worldbuilding" zugesprochen wird. Die Sekundärwelt soll dabei im
Idealfall "glaubwürdig" und "in sich konsistent" erscheinen. Was
letztlich bedeutet, dass sie in weiten Teilen nach den selben Regeln
funktioniert wie die Realwelt. Wo diese durchbrochen werden (etwa durch
Magie), geschieht dies auf selektive und meist wiederum speziellen
Regeln unterworfene Weise. (7)
In
hohem Maße verantwortlich für die Vorherrschaft dieses Modells ist
natürlich der Einfluss Tolkiens, der selbst bei Autor*innen nachwirkt,
die das Werk des "Professors" gar nicht mehr aus eigener Leseerfahrung
kennen. Er vor allem war es, der das Ausarbeiten der Sekundärwelt zu
einem eigenständigen ästhetischen Unternehmen machte, weitgehend
unabhängig von der Handlung der Erzählung. Tolkien charakterisierte
sein Werk denn auch einmal als "eine erweiterte Form des Spiels, ein Land zu erfinden". (8) Das Spiel selbst ist natürlich sehr viel älter als der Lord of the Rings
und Arda keineswegs die erste Sekundärwelt der Phantastik (9), aber
niemand dürfte es mit einer solchen Obsession für Einzelheiten betrieben
haben wie der "Professor". "Ich habe es selbst gern, wenn Dinge im Detail ausgeführt werden und alle vernünftigen Fragen beantwortet werden können." (10)
Allerdings war Tolkien nicht an den sozialen Faktoren interessiert, die
in der Wirklichkeit den Fortgang der Geschichte bestimmen. Was erklärt,
warum Mittelerde bei allen Kriegen und Katastrophen
merkwürdig "statisch" wirkt. Sein Geschichtsbild war in erster Linie
religiös geprägt und dabei extrem pessimistisch: "Ich bin nun einmal Christ, sogar Katholik, und darum erwarte ich von der ‘Geschichte’ nichts anderes als eine ‘lange Niederlage’"
(11) Die einzige wirkliche Dynamik in seiner Historie von Mittelerde
ist
deshalb auch die eines langsamen Niedergangs des Schönen und Edlen.
Aber auch wenn das nicht sein Hauptinteresse war, machte er sich
zumindest Gedanken über die ökonomische Basis der Gesellschaften in
seiner Sekundärwelt. Wie er in einem Brief an Naomi Mitchison schrieb:
Ökonomisches
Denkens bin ich nicht unfähig oder unkundig, und ich denke, soweit es
die "Sterblichen" betrifft, Menschen, Hobbits und Zwerge, sind die
Situationen so angelegt, dass ökonomische Wahrscheinlichkeit gegeben ist
und sich ausführen ließe: Gondor hat genug Lehensgüter und Ländereien
in städtischem Besitz mit guten Wasser- und Straßenverbindungen, um
seine Bevölkerung zu versorgen; und offenbar hat es viele Industrien,
die allerdings kaum erwähnt werden. (12)
Für die uns
beschäftigende Frage ist dieser Faktor von vorrangiger Bedeutung. Denn
das oft gehörte Argument, in der Fantasy sei "alles möglich", gilt bei
diesem Weltenmodell nur in sehr eingeschränkter Form, wenn das Ganze
wirklich "in sich schlüssig" sein soll. Wenn in einer solchen
Sekundärwelt eine Demokratie auftaucht, würde ich mich deshalb
automatisch fragen: Wie hat eine solche Staatsordnung hier entstehen
können? Auf welcher materiellen, sozialen und ökonomischen Grundlage
basiert sie? Welche Schichten oder Klassen haben sie erkämpft? Und bei
einer traditionell pseudo-mittelalterlichen oder von anderen vormodernen
Kulturen inspirierten Fantasywelt würde ich schwerlich eine
befriedigende Antwort auf diese Fragen erhalten können.
Staatsformen
entstehen ja nicht spontan in einem historischen Vakuum oder sind die
Umsetzung abstrakter Ideale, die den Einflüsterungen einer
geheimnisvollen Inspiration entsprungen wären. Sie sind Produkt eines
geschichtlichen Prozesses, der in letzter Instanz von der Entwicklung
der gesellschaftlichen Produktivkräfte und der auf ihr erwachsenen
Teilung der Gesellschaft in Klassen bestimmt wird.
Der
Wunsch nach Freiheit und Gleichheit dürfte so alt sein wie die Existenz
von Unterdrückung und Ausbeutung. Und er fand durch die Geschichte in
einer Vielzahl von Formen Ausdruck. Aber kein Bauern- oder
Sklavenaufstand, keine Revolte der städtischen Unterschichten brachte
dabei in vorkapitalistischer Zeit etwas hervor, was einer
repräsentativen Demokratie geähnelt hätte.
Das absolute Maximum in
dieser Hinsicht war die antike griechische (vor allem athenische)
Demokratie mit ihrer gesetzgebenden Volksversammlung (ekklesia), ihren gewählten Staatsbeamten und Volksgerichten (dikasteria).
Doch diese basierte ökonomisch auf Sklaverei (13) und dürfte wohl kaum
das sein, was Markus und anderen als Modell vorschwebt.
Die
parlamentarische Demokratie ist ein Produkt des Aufstiegs des
Bürgertums zur herrschenden Klasse. Ihre Entstehung setzt voraus, dass
die wirtschaftliche Entwicklung hin zum Kapitalismus begonnen hat, all
die ständischen und korporativen Strukturen, persönlichen Bande und
Hierarchien aufzulösen, in deren komplexes Geflecht die Menschen bis
dahin eingebettet waren und über die sie sich selbst definierten. Erst
deren fortschreitende Zersetzung bringt den Typus des "Citoyen" als
lebendigen Trägers der Demokratie hervor. Ihre eigentliche Geburtsstunde
aber ist die bürgerliche Revolution, wenn die Bourgeoisie sich an die
Spitze der großen Masse des Volkes stellt und mit dessen Unterstützung
die feudalen Mächte gewaltsam stürzt. Die dauerhafte Etablierung des
allgemeinen Wahlrechts erfolgte in den meisten Fällen freilich erst
später und durch den massiven Druck zuerst der plebejischen Schichten,
dann der Arbeiterklasse.
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Das "Lange Parlament", dessen Zusammentreten 1640 den Beginn der Englischen Revolution markierte
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Die Gerichtsverhandlung gegen Louis Capet (Louis XVI.) vor dem Nationalkonvent von 1792
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Natürlich
ist es völlig okay, die Frage zu stellen, ob dieselben historischen
Gesetzmäßigkeiten denn auch für eine Fantasywelt gelten müssen. Und
selbst wenn es sich bei dieser um eine des "pseudo-realistischen" Typs
handelt, würde ich das nicht unumwunden bejahen wollen. Auch in
einer solchen könnte es eine ganze Reihe von Faktoren geben, die den
Lauf der Geschichte auf eine in der Realität unbekannte Weise
beeinflussen. Etwa das
direkte Eingreifen übernatürlicher Mächte (Götter, Dämonen etc.). Auch
die reale Existenz von Magie hätte sicher ihre Auswirkungen auf die
gesellschaftliche Entwicklung. Und dasselbe dürfte wohl für die Existenz etwaiger nichtmenschlicher Völker gelten.
In unserer letzten
Klassiker-Reread-Diskussion brachte Alessandra den interessanten Gedanken auf, dass die extreme Langlebigkeit einiger dieser Völker mit ein Grund für den "statischen" Charakter vieler "klassischer" Fantasywelten sein könnte. Ich denke, das ist ein valider Punkt. Tolkiens Elben sind vielleicht die ersten, die einem da einfallen würden. Aber sie stellen in gewisser Weise einen Sonderfall dar, auch wenn ihr Vorbild selbstverständlich viele spätere Autor*innen beeinflusst hat. (14) Doch wenn man z.B. die Dragaeraner aus Steven Brusts literarischem Universum nimmt, ließe sich durchaus argumentieren, dass deren Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende umfassende Lebensdauer zusammen mit der Organisation in kastenartigen "Häusern" mit ein Grund für die scheinbare Unveränderlichkeit der sozialen Struktur ihres Imperiums ist. Als einen zusätzlichen Faktor könnte man dort auch die Rolle der Magie ansehen. Selbige ist nämlich ziemlich "alltäglich" (jedenfalls für die, die sie sich leisten können) und erfüllt oft ähnliche Funktionen wie die Technik in unserer Welt. Weshalb manche Aspekte der dragaeranischen Gesellschaft auch erstaunlich "modern" wirken. Doch anders als technologische Entwicklungen führen magische nicht zu Veränderungen in den Produktionsbedingungen oder setzen diese voraus. Neue Magie führt nicht zur Entstehung von Manufaktur oder Fabrik. Und untergräbt damit auch nicht die traditionelle Ordnung.
Ob vergleichbare "phantastische Faktoren" umgekehrt auch dazu verwendet werden könnten, um die Entstehung einer demokratischen Verfassung auf Grundlage einer vormodernen Wirtschaft "glaubwürdig" zu machen? Ich will das nicht von vornherein ausschließen, doch finde ich es schwierig, mir ein entsprechendes Szenario vorzustellen.
Natürlich ist mir bewusst, dass eine vermeintliche "historische Korrektheit" sehr gerne von Konservativen oder Reaktionären als Argument ins Feld geführt wird, wenn es darum geht, sexistische oder rassistische Elemente in der Fantasy zu verteidigen ("Damals war das halt so.") oder größere Diversität als "unrealistisch" und "politisch motiviert" zu verdammen. (Dass diejenigen, die das tun, oft selbst ein gehöriges Maß an historischer Ignoranz an den Tag legen, wäre ein Thema für sich). Nun könnte es so scheinen, als würde ich mich einer ähnlichen Argumentation bedienen. Aber es geht mir nicht eigentlich um "historische Korrektheit". Was in Bezug auf Fantasygeschichten ja auch in der Tat etwas unsinnig wäre. Selbst bei solchen, die sich relativ stark an historische Vorbilder anlehnen. Um ein besonders prägnantes Beispiel zu nennen: Maike Claußnitzers
Aquae Calicis - Erzählungen orientieren sich in vielem recht genau an der Wirklichkeit des europäischen Frühmittelalters. (Wenn auch mit deutlich mehr Geistern, Kobolden und hübsch-handlichen Drachen). Doch herrscht in ihrer Welt eine ganz selbstverständliche Gleichberechtigung der Geschlechter. Was ich keineswegs als irritierend, sondern vielmehr als sehr angenehm empfinde. Denn es passt zum Charakter der Geschichten. Wenn mir die Vorstellung von Demokratien in einem "klassischen" Fantasysetting nicht so recht gefallen will, dann nicht, weil sie "historisch inkorrekt" wäre, sondern weil sie "soziologisch" unglaubwürdig wirkt. (15) Zumindest im Kontext eines "pseudo-realistischen" Weltenbaus.
Der Hauptgrund für meine Irritation dürfte allerdings darin bestehen, dass mir in diesen Diskussionen sehr oft ein weltanschaulicher Ansatz mitzuschwingen scheint, dem ich ausgesprochen kritisch gegenüberstehe. Mein Eindruck ist nämlich, dass im "progressiven" Flügel unserer Phantastikszene eine (im philosophischen Sinne) idealistische Sicht auf Geschichte und Gesellschaft vorherrscht. D.h. die Überzeugung, die soziale Wirklichkeit werde von den Ideen der Menschen (ihren Wertvorstellungen, Ideologien, "Mythen" etc.) geformt, und nicht umgekehrt. Während ich selbst an dem alten marx'schen Diktum festhalte, das da lautet: "Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern
umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt." (16)
Trennt man die Ideen auf diese Weise von ihren materiellen Wurzeln, fällt es auch sehr viel leichter, sie aus ihrem historischen Entwicklungszusammenhang zu lösen. Auf die uns hier interessierende Frage angewandt: Wenn die "moderne" Demokratie die Umsetzung einer Idee ist -- der der politischen Gleichheit aller Bürger*innen --; und wenn diese Idee ihre Entstehung nicht in letzter Konsequenz der materiellen (ökonomischen) Entwicklung verdankt, sondern "ganz einfach" (quasi spontan) dem menschlichen Geist entsprungen ist; dann spricht im Grunde nichts dagegen, sich eine solche Staatsform in einer Gesellschaft vorzustellen, deren wirtschaftliche Entwicklung sich auf dem Niveau des europäischen Mittelalters befindet.
Freilich wird man dann auch kaum eine befriedigende Antwort auf die Frage geben können, warum dies nicht auch in der Realität der Fall gewesen ist. Letztenendes wird man sich gezwungen sehen, auf den hochmütigen Standpunkt der Aufklärungsphilosophen zurückzufallen, die den Menschen des "dunklen Zeitalters" einen Mangel an Einsicht und Vernunft unterstellten. Denn wie anders könnte man erklären, dass diese sich von "Königen und Pfaffen" beherrschen ließen?
Man könnte das natürlich für eine reichlich abstrakte, "geschichtsphilosophische" Frage halten. Doch begünstigt eine idealistische Weltsicht auch eine entsprechende politische Praxis. Wenn die gesellschaftliche Realität letztenendes von unseren Ideen geformt wird, dann ist alles, was es zu ihrer Verränderung braucht, neue oder andere Ideen. Mitunter geht diese Philosophie sogar so weit, sozioökonomische Systeme wie Kapitalismus oder Imperialismus in bloße Ideenkomplexe oder "Narrative" aufzulösen. Um anschließend zu proklamieren, wir bräuchte "neue Erzählungen" oder "neue Arten des Erzählens". Damit nährt sie die Illusion, ein bloßes "Umdenken" sei bereits ein politischer Akt, vielleicht sogar der entscheidende politische Akt. Die handfesten materiellen Eigentums- und Machtverhältnisse geraten dabei oft aus dem Fokus.
Doch bevor wir uns noch weiter von unserem eigentlichen Thema entfernen, trete ich lieber rasch auf die Bremse.
Was ich mit dem Ganzen hier nicht sagen will, ist, dass die "klassische" Fantasy meiner Meinung nach auf ewig an die altbekannten pseudo-mittelalterlichen und oft eurozentrischen Szenarien gekettet wäre. Schon
in der historischen Realität hat es ja eine Vielzahl sehr
unterschiedlicher vorbürgerlicher Herrschafts- und Gesellschaftsformen
gegeben. Und natürlich spricht nichts dagegen, sich außerdem völlig neue
und phantastischere auszudenken.
Auf
demokratische Elemente muss man dabei keineswegs völlig verzichten. Nur
sollten sie halt dem Entwicklungsgrad der beschriebenen Gesellschaft
angemessen sein.
Einem
ziemlich gelungenen Beispiel hierfür bin ich kürzlich im Zuge unseres diesjährigen
Klassiker-Rereads begegnet. Ein Gutteil der
Handlung von
Die Tänzer von Arun, dem zweiten Band von Elizabeth A. Lynns
Chroniken von Tornor, spielt nämlich in der kleinen Stadt Elath. Und dort regiert ein Stadtrat. Einer der Charaktere fragt: "
So wie der Rat der Häuser in Kendra-im-Delta [der größten Metropole des Landes]?" Worauf er die Antwort erhält: "
Ja,
ungefähr so. Er wurde nach ihm als Vorbild eingerichtet. Aber wir hier
in Elath sind nicht ganz so großmächtig. Hier kann jeder, der Grund und
Boden besitzt, Ratsmitglied werden. Es gibt hier keine Adelsfamilien wie
in der Großen Stadt." (17) Eine solche "moderate", an Besitz in der
Gemeinde gebundene "Demokratie" scheint mir durchaus zu den sozialen
Verhältnissen zu passen, die in der Erzählung beschrieben werden.
Während in den rein bäuerlichen Gemeinschaften des Galbareth (der
Kornkammer des Landes) eher kollektivistische Strukturen vorzuherrschen
scheinen (gemeinsame Speisehallen etc.), ist die Gemeinde in dem stärker
vom Handwerk geprägten Elath bereits in einzelne Haushalte
aufgespalten. Auch der Landbesitz ist parzelliert. Aber anders als in
den größeren Städten sind die Klassengegensätze noch relativ
unentwickelt. Es scheint keine extrem armen oder extrem reichen Familien
zu geben. Während sich in Kendra schon seit langem eine Oligarchie
herausgebildet hat, die ursprünglich wohl auf Großgrundbesitz basierte,
herrscht in Elath noch eine relative soziale Gleichheit. Was seinen
Ausdruck dnn halt auch in der politischen Ordnung gefunden hat. Eine
moderne Demokratie ist der Ort natürlich trotzdem nicht. Auch reicht die
"Herrschaft" des Rates nicht über die Grenzen der Gemeinde hinaus.
Noch viel weniger geht es mir darum, behaupten zu wollen, die "klassische" Fantasy sei von Natur aus ungeeignet, aktuelle politische Themen anzusprechen. Das ist ja auch anhand genuin historischer Stoffe sehr gut möglich. Ich denke da z.B. an Bertolt Brechts Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar oder an Spartacus von
Stanley Kubrick & Dalton Trumbo, die beide unter anderem den
Aufstieg
des Faschismus bzw. die Etablierung autoritärer Regime thematisieren.
(18)
Natürlich erlauben sich die Künstler gewisse Freiheiten mit
der historischen Realität, wenn sie die Klassenkämpfe der Antike mit denen ihrer eigenen Zeit parallel setzen. Wie anders könnten z.B. die Anhänger
Catilinas bei Brecht zu einem Stand-in für Kommunisten werden? Aber
gewisse Grenzen werden dabei nicht überschritten. Und da es aus naheliegenden Gründen nicht zum dauerhaften Sieg der
Ausgebeuteten kommen kann, stellt sich auch nicht das Problem
anachronistischer Staatsformen ein.
Etwas ähnliches ist auf ähnliche Weise sicher auch in der "klassischen" Fantasy machbar. Und ich denke, es wäre gar nicht so schlecht, wenn sich die Autor*innen dabei gleichfalls von den realen Klassenkämpfen der Vergangenheit inspirieren ließen. Das Material ist reichhaltig, vielfältig, in allen Kulturkreisen anzufinden und (soweit ich das beurteilen kann) von der Fantasy bislang nur wenig genutzt. Eine eingehendere Beschäftigung mit diesen historischen Episoden könnte u.a. dazu beitragen, den entsprechenden Erzählungen eine größere soziale Konkretheit zu verleihen. Statt eines Kampfes um abstrakte Ideale, Konflikte, die im realen Leben der Betroffenen verwurzelt sind, den sozialen Verhältnissen entspringen, unter denen sie existieren. Dabei zugleich aktuelle politische Fragen unserer Zeit zu berühren, sollte durchaus möglich sein. Vorausgesetzt man hält es nicht für notwendig, dabei gar zu direkt und unverhüllt vorzugehen.
Natürlich will ich damit nicht sagen, dass alle Welt nun "klassische" Fantasy über Bauernaufstände und Zunftrevolten schreiben solle. Zumal die erfolgreiche künstlerische Darstellung einer Revolution eine ziemlich schwierige Angelegenheit ist. Gar zu schnell driftet man dabei ins Romantisierende oder Pathetische ab. (19) Mich irritiert zwar schon, dass "politische Kämpfe" in der Fantasy immer noch viel zu oft aus dem Machtgerangel und den Intrigen aristokratischer Häuser und Sippen zu bestehen scheinen. Und ich würde mir durchaus wünschen, dass wir zur Abwechselung statt der "Politik der Herrschenden" auch einmal die "Politik der Beherrschten" zu sehen bekämen. Aber das kann ja sehr unterschiedliche Formen annehmen und der offene Aufstand muss dabei nicht notwednigerweise im Zentrum stehen. Mein ganz persönlicher Traum ist es immer noch, mich irgendwann einmal daran zu versuchen, Sword & Sorcery in der Ära des Großen Bauernkrieges (1525) zu schreiben. Dabei hätten mein Held und meine Heldin in ihrer Vergangenheit zwar auf unterschiedliche Weise Kontakt zu den revolutionären Bewegungen der Zeit gehabt, doch würde ich sie garantiert nicht an der Spitze aufständischer Bauernhaufen irgendwelche Klöster oder Burgen erstürmen lassen. Mir würde es mehr um die allgemeine Atmosphäre einer gesellschaftlichen Umbruchszeit gehen.
Kommen wir zum Ende. Mein vorläufiges Fazit wäre wohl ungefähr das Folgende: Ich wüsste nicht, warum wir mehr Demokratien in der "klassischen" Fantasy bräuchten. Es sei denn, wir wollten auch weiterhin Geschichten über "edle" Herrscher und "Reiche des Guten" schreiben, zierten uns aber, diese dann als Könige und Monarchien darzustellen. Für mich kein ausreichender Grund.
Sehr viel wichtiger scheint mir eine kritische Haltung gegenüber Macht und Hierarchien, gegenüber den
Reichen und Mächtigen, ganz gleich, welche
politische Form deren Herrschaft besitzt.
Das heißt nicht, dass Vertrer*innen der privilegierten
Schichten grundsätzlich negativ oder unsympathisch gezeichnet werden
müssten. Krude Karrikaturen, gleich welcher Art, haben ganz allgemein
nur einen sehr begrenzten Wert. Ebensowenig, dass unsere Held*innen notwendigerweise dem einfachen Volk entstammen müssten -- trotz meiner
oft erklärten Vorliebe
für die plebejischen Underdog-Held*innen der Sword & Sorcery.
Mir
geht es vielmehr um eine bestimmte Grundhaltung auf Seiten der
Auor*innen. Und um ein Verständnis dafür, wie die soziale Ordnung einer
Welt nicht nur das Leben, sondern auch das Denken und Empfinden jener
prägt oder beeinflusst, die in ihr existieren. Wobei es
selbstverständlich ganz vom Charakter der jeweiligen Geschichte abhängt,
wie groß die Rolle tatsächlich ist, die diese Faktoren in ihr spielen
werden.
Von
Vorteil bei dem Ganzen ist auf jedenfall immer, wenn die Autor*innen eine
Ahnung davon haben, wie Herrschaft, soziale Hierarchien, Ausbeutung etc.
in der Realität funktionieren -- historisch und gegenwärtig.
(1) Brief an Szabó Szentmihályi
[Oktober 1971]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 329. S. 539.
(2) Mark Twain: Life on the Mississippi. Kapitel XLVI. S. 314f.
(3)
Genaugenommen hatte zwar auch Amerika eine Aristokratie (Gentry) und
semi-feudale Hierarchien gekannt, doch waren diese durch die Revolution
von 1776 und die aus ihr hervorgegangenen Entwicklungen zerschlagen worden. Und
da der Unabhängigkeitskrieg die Geburtsstunde der Vereinigten Staaten
gewesen war, musste es quasi unmöglich erscheinen, an diese
Vergangenheit anzuknüpfen, wenn man zugleich die Fahne des Patriotismus
hochhalten wollte. Nur proto-faschistische Denker wie der Eugeniker und
Rassentheoretiker Lothrop Stoddard "wagten" es, ganz offen und direkt
das Erbe der Revolution zu attackieren.
(4) Von letzteren habe ich bislang allerdings nur Alessandras Roman
Die Sommerlande gelesen, mein Wissen ist also beschränkt.
(5) Michael Moorcock: Das Buch Corum. S. 467.
(6) Außen vor bleiben bei unseren Betrachtungen Universen wie das von Mervyn Peakes Gormenghast,
die sich bewusst jeder klaren "historischen" Verortung entziehen, sowie industrialisierte Fantasywelten wie China Miévilles Bas-Lag oder das
Faerie in Michael Swanwicks The Iron Dragon's Daughter.
(8) Brief an Naomi Mitchison [5. September 1954]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 154. S. 259.
(9) Oft wird in diesem Zusammenhang auf William Morris und seine Erzählungen
The Well at the World's End,
The Wood Beyond the World,
The Water of the Wondrous Isles und
The Sundering Flood verwiesen. Aber wie Matthew David Surridge in seinem Essay
Worlds Within Worlds überzeugend dargelegt hat, gebührt diese Ehre wohl eigentlich Sara Coleridge mit ihrem Roman
Phantasmion. Die erste detaillierte erfundene Mythologie dürfte Lord Dunsanys
Gods of Pegana gewesen sein.
(10) Brief an Naomi Mitchison [25. April 1954]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 144. S. 230.
(11) Brief an Amy Ronald [15. Dezember 1956]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 195. S. 336.
(12) Brief an Naomi Mitchison [25. April 1954]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 144. S. 230.
(13) In seiner klassischen Studie The Class Struggle in the Ancient Greek World stellt
G.E.M de Ste. Croix sogar die These auf, dass der Sklavenarbeit in den
antiken Demokratien eine besonders große Bedeutung zukam, da das
politische Regime der Ausbeutung des freien demos (Bauern,
Pächter, Handwerker, kleine Kaufleute) gewisse Grenzen setzte, die in
Oligarchien und Despotien nicht existierten. Die herrschende Klasse war
deshalb "gezwungen", einen größeren Teil ihres "Einkommens" aus der
Ausbeutung unfreier Arbeit zu beziehen, wenn das System seine Stabilität
behalten sollte.
(14) Tolkien hegte eine tiefe Abneigung gegen allegorische Literatur. Seine Elben *rein* allegorisch zu lesen, wäre darum sicher falsch. Doch diente ihm das Schicksal der Eldar u.a. zu einer erstaunlich ambivalenten und selbstkritischen Auseinandersetzung mit einer Form von romantischem Konservatismus, der sich dem Wandel der Geschichte verweigert und um jeden Preis eine
vermeintlich schönere und edlere Vergangenheit am Leben zu erhalten
versucht.
Dabei spielt deren Unsterblichkeit eine wichtige Rolle. Ich habe dieses Thema vor Zeiten schon einmal in meinem Blogbeitrag Der ehrliche Romantiker etwas ausführlicher behandelt. So ist es auch durchaus folgerichtig, dass die Elbenreiche des Dritten Zeitalters, vor allem Imladris und Lorien, keine "realistische" wirtschaftliche Grundlage besitzen. Bruchtal und der Goldene Wald sind in gewisser Hinsicht nicht mehr ganz
Teil "dieser Welt". Es handelt sich bei ihnen um künstlich (magisch)
geschaffene Enklaven, in denen der Lauf der Zeit durch die Macht der
Ringe Vilya und Nenya weitgehend aufgehalten wurde.
(15) Okay, 100%ig voneinander trennen kann man das vermutlich nicht. Aber ich hoffe, es ist dennoch verständlich, was ich meine. Trotzdem könnte man mir an dieser Stelle vermutlich mangelnde Konsequenz vorwerfen. Schließlich besitzen auch patriarchale Strukturen ihre materiellen Wurzeln und eine Feudalgesellschaft, die völlig frei von ihnen wäre, ist darum wohl nur schwer vorstellbar. Dennoch besteht da für mich ein Unterschied.
(16) Karl Marx:
Zur Kritik der Politischen Ökonomie.
Vorwort.
(17) Elizabeth A. Lynn: Die Tänzer von Arun. S. 100.
(18) Interessanterweise gilt dasselbe nicht auch für den Spartacus -
Roman von Howard Fast, von dem das Drehbuch inspiriert worden war. Auch
in dem geht es natürlich um Klassenherrschaft, Ausbeutung, Rebellion und
den Kampf für Freiheit und Gleichheit. Aber anders als bei Trumbo &
Kubrick wird nicht thematisiert, wie die Bedrohung durch eine
Revolution als Hebel verwendet wird, um ein republikanisches System
durch eine Militärdiktatur zu ersetzen. Ich schätze, dass dabei etwas
von den Erfahrungen mitschwingt, die Trumbo, der ja selbst ein Opfer der
Schwarzen Listen war, mit dem McCarthyismus gemacht hatte. Viele linke
Intellektuelle der Zeit sahen in der antikommunistischen Hexenjagd die
Vorstufe für ein faschistisches Regime in den USA. Howard Fast hatte
zwar mindestens ebensosehr unter den Repressionen der "Red Scare" -
Hysterie zu leiden -- immerhin hatte er mit der Abfassung des Romans im
Gefängnis begonnen --, aber sein Spartacus enthält weniger
"tagespolitische" Motive und widmet sich eher der allgemeineren Frage,
was Ausbeutung und Sklaverei aus der Gesellschaft und den Menschen
machen.
(19) So sehr ich China Miévilles Bas-Lag - Trilogie auch schätze, halte ich die Darstellung des Massenaufstands in New Crobuzon in The Iron Council doch für einen ihrer schwächsten Teile.