Am 1. März 1881 zerriss die Detonation zweier Bomben die sonntägliche Stille von St. Petersburg und beendete das Leben von Alexander II. Romanow, des "Herrschers aller Reußen".
Doch anders als die Attentäter und ihre Gesinnungsgenossen in der revolutionären Partei Narodnaja Wolja ("Volkswille/Volksfreiheit") gehofft hatten, erwies sich die Explosion nicht als der Startschuss für einen allgemeinen Aufstand gegen das absolutistische Regime. Mit der Thronbesteigung Alexanders III. begann vielmehr eine Ära der bleiernen Reaktion, begleitet von heftigen antijüdischen Pogromen und dem Erlass des Manifests vom 29. April, in dem der neue Zar sein unerschütterliches Festhalten an Gottesgnadentum und Selbstherrschaft bekundete.
Der neugegründeten Geheimpolizei Ochrana gelang es schon bald, die letzten Überreste der Narodnaja Wolja zu zerschlagen. Große Teile der einst so radikalen Intelligenzija warfen in den folgenden Jahren ihre alten Ideale von Volksbefreiung und Demokratie über Bord und söhnten sich mit dem Zarismus aus, was ihnen um so leichter fiel, als das von einem System hoher Schutzzölle begünstigte rasante Aufblühen des russischen Kapitalismus zahlreiche wohldotierte Posten in Industrie und Verwaltung für sie schuf. Die, die sich dem allgemeinen Renegatentum verweigerten, versanken sehr oft in Resignation und Verzweifelung. Angesichts der scheinbar unerschütterlichen Macht des Selbstherrschertums fühlten sie sich hilflos und isoliert. Aus gutem Grund gelangte der Dichter Semjon Nadson in den linken Kreisen der 1880er Jahre zu großer Beliebtheit.
In seinen frühen Studentenjahren war der 1853 in Moskau als Sohn eines konservativen Historikers zur Welt gekommene Solowjow selbst noch ein Anhänger des von Ludwig Büchner und Jakob Moleschott vertretenen Vulgärmaterialismus gewesen. Doch spätestens Mitte der 70er Jahre verwandelte er sich in einen erklärten Gegner sowohl der materialistischen wie auch der positivistischen Philosophie, denen gegegnüber er eine Rückkehr zu Metaphysik und Religion vertrat. In der Folge entwickelte er ein eigenes, unter dem Namen Sophiologie bekanntes philosophisch-religiöses Denksystem.
Die Sophiologie war zuerst einmal ein Aufstand gegen die Aufklärung. Dementsprechend steht am Beginn von Solowjows Philosophie die Verdammung der Vernunft:
(1) S. J. Nadson: The People's Poet.
(2) Zit. nach: Andreas Martin: Alleinheit und Vielfalt, Einführung in Leben und Werk von Vladimir Solov'ev.
Doch anders als die Attentäter und ihre Gesinnungsgenossen in der revolutionären Partei Narodnaja Wolja ("Volkswille/Volksfreiheit") gehofft hatten, erwies sich die Explosion nicht als der Startschuss für einen allgemeinen Aufstand gegen das absolutistische Regime. Mit der Thronbesteigung Alexanders III. begann vielmehr eine Ära der bleiernen Reaktion, begleitet von heftigen antijüdischen Pogromen und dem Erlass des Manifests vom 29. April, in dem der neue Zar sein unerschütterliches Festhalten an Gottesgnadentum und Selbstherrschaft bekundete.
Der neugegründeten Geheimpolizei Ochrana gelang es schon bald, die letzten Überreste der Narodnaja Wolja zu zerschlagen. Große Teile der einst so radikalen Intelligenzija warfen in den folgenden Jahren ihre alten Ideale von Volksbefreiung und Demokratie über Bord und söhnten sich mit dem Zarismus aus, was ihnen um so leichter fiel, als das von einem System hoher Schutzzölle begünstigte rasante Aufblühen des russischen Kapitalismus zahlreiche wohldotierte Posten in Industrie und Verwaltung für sie schuf. Die, die sich dem allgemeinen Renegatentum verweigerten, versanken sehr oft in Resignation und Verzweifelung. Angesichts der scheinbar unerschütterlichen Macht des Selbstherrschertums fühlten sie sich hilflos und isoliert. Aus gutem Grund gelangte der Dichter Semjon Nadson in den linken Kreisen der 1880er Jahre zu großer Beliebtheit.
Die radikalen Intellektuellen der 60er und 70er Jahre waren kämpferische Atheisten und Materialisten gewesen. Unter der Herrschaft von Alexander III. kam es nun auch in gebildeten Kreisen zu einer Art Wiederauferstehung religiös-mystizistischen und idealistischen Gedankengutes. Einer der wichtigsten Vertreter dieser Strömung war der Philosoph und Schriftsteller Wladimir Sergejewitsch Solowjow.I know, dear friend, deep in my heart I know
My verse is pale and faint and lacking power.
Oft for its weakness do I sadly grieve,
And pour forth secret tears at night's still hour.
In vain at times forth from my lips would burst
A cry of anguish I can scarce endure;
In vain at times love almost burns my soul -
Cold is our tongue, and lamentably poor. (1)
In seinen frühen Studentenjahren war der 1853 in Moskau als Sohn eines konservativen Historikers zur Welt gekommene Solowjow selbst noch ein Anhänger des von Ludwig Büchner und Jakob Moleschott vertretenen Vulgärmaterialismus gewesen. Doch spätestens Mitte der 70er Jahre verwandelte er sich in einen erklärten Gegner sowohl der materialistischen wie auch der positivistischen Philosophie, denen gegegnüber er eine Rückkehr zu Metaphysik und Religion vertrat. In der Folge entwickelte er ein eigenes, unter dem Namen Sophiologie bekanntes philosophisch-religiöses Denksystem.
Die Sophiologie war zuerst einmal ein Aufstand gegen die Aufklärung. Dementsprechend steht am Beginn von Solowjows Philosophie die Verdammung der Vernunft:
Alles, was die abstrakte Vernunft geben kann, ist erprobt und hat sich als untauglich erwiesen; und die Vernunft selbst hat auf vernünftige Weise ihre Insolvenz bewiesen. Aber dieses Dunkel ist der Beginn des Lichtes; denn wenn der Mensch gezwungen ist zu sagen: Ich bin nichts - so sagt er eben damit: Gott ist alles. Und hier erkennt er Gott - nicht die kindliche Vorstellung aus früherer Zeit und nicht den abstrakten Begriff des Verstandes, sondern den wirklichen und lebendigen Gott. (2)
Trotz gewisser liberaler
Neigungen – so bat er Alexander III. 1881 um Gnade für die "Zarenmörder" – sah es Solowjow als seine vordringlichste Lebensaufgabe an, alle Formen des "Positivismus, Materialismus, Nihilismus" philosophisch zu
zerschmettern Einem jungen Verwandten schrieb er:
[B]eschäftige Dich nicht zu ausdauernd und um Gottes willen nicht mit Naturwissenschaften: Dieses Wissen ist in sich selbst ganz leer und voller Täuschung. Wert zu studieren ist an sich nur die menschliche Natur und das Leben ... (3)
Solowjows oft bekundete Überzeugung, dass die Naturwissenschaften bloß zu hohlen Scheinwahrheiten führten und deshalb ohne Bedeutung für das Heil der Menschheit seien, war keine "rein" philosophische Haltung. Nicht zufällig erhielt die von ihm begründete Strömung die volle Unterstützung der Regierung, und schon bald beherrschten seine "Schüler" beinah unangefochten die philosophischen Fakultäten des Zarenreiches. Als sie Anfang des 20. Jahrhunderts einen wütenden Feldzug gegen den Darwinismus eröffneten, war eines ihrer Argumente, dass die Evolutionslehre auf einem "naturwissenschaftlichen Materialismus" fuße und einen der ideologischen Grundpfeiler des Marxismus bilde. Sergej Bulgakow, der um
die Jahrhundertwende aus dem sozialistischen Lager in die Arme des
Mystiszismus floh, behauptete sogar, Karl Marx habe seinen
historischen Materialismus nach dem Vorbild des darwin’schen "Kampf ums Überleben" entwickelt. (4)
Solowjows eigene
Philosophie war ganz auf die Gestalt der göttlichen Weisheit –
Sophia – ausgerichtet, die die gesamte Welt mit ihrer Kraft
durchströme. Er selbst glaubte, mehrfach in seinem Leben Visionen
der Allheiligen Sophia – seiner "ewigen Freundin" – empfangen zu
haben. Ziel des Menschen müsse die Erkenntnis dieser Alleinheit
sein:
Erst wenn wir zugeben, dass jeder wirkliche Mensch mit seinem tiefsten Wesen in der ewigen göttlichen Welt wurzelt, dass er nicht nur eine sichtbare Erscheinung ... darstellt, sondern ... ein notwendiges und unersetzliches Glied des absoluten Ganzen, erst dann ... können zwei große Wahrheiten vernünftigerweise zugegeben werden ..., die Wahrheit von der Freiheit [gemeint ist die Willensfreiheit] und die Wahrheit von der Unsterblichkeit des Menschen. (5)
Ähnlich wie die Vertreter der ungefähr zur selben Zeit sich entwickelnden Theosophie plünderte auch Solowjow hemmungslos die mythologischen und
philosophischen Traditionen aller möglichen Völker und Kulturen, um
sein eigenes Gedankengebäude mit illustren Namen auszuschmücken. So
begegnet man in seinen Schriften u.a. der antiken Muttergöttin
Kybele, der griechischen Aphrodite, der ägyptischen Isis, der weisen
Wassilissa aus dem russischen Volksmärchen, dem chinesischen Tao,
der indischen Prajna (Transzendente Weisheit) usw. usf. Und auch eine
eindrucksvolle Ahnentafel der "Sophiologie" durfte natürlich
nicht fehlen – zu ihr gehörten u.a.: Origines, Hildegard von Bingen,
Paracelsus, Jakob Böhme, Emanuel Svedenborg, Franz Xaver von Baader,
Goethe, Schelling etc. etc.
Doch der "russische
Platon", wie ihn seine Bewunderer in maßloser Übertreibung
nannten, beschränkte sich nicht allein auf eine persönliche Mystik,
sondern entwarf darüberhinaus die Vision einer weltumspannenden "Theokratie", in der die Einheit Gottes und der Menschheit ihre
Vollendung finden sollte.
Nicht zufällig versuchte er diese
religiös-politische Utopie als die wahre Erfüllung der Ideale der
Französischen Revolution hinzustellen:
Die Vereinigung oder die Religion besteht darin, dass alle Elemente des menschlichen Seins, alle einzelnen Prinzipien und Kräfte der Menschheit in das richtige Verhältnis zum unbedingten zentralen Prinzip und durch dieses und in ihm zum richtigen und harmonischen Verhältnis gegeneinander gebracht werden. [...] Und so stellt sich von dieser Seite aus gesehen, das religiöse Prinzip als die einzige tatsächliche Verwirklichung der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit dar. (6)
Solowjow verstand sich
selbst als eine Art Missionar, der die von den Ideen des Atheismus,
Rationalismus und Sozialismus verführte russische Intelligenzija in
den Schoß einer erneuerten Orthodoxie zurückführen sollte. Wie sein christliches
Reich der "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" in Wirklichkeit
ausgesehen hätte, lässt sich daran ablesen, dass er seine
Verwirklichung lange Zeit von einer Verschmelzung des russischen
Zarismus mit der katholischen Kirche erhoffte. Die beiden
reaktionärsten Mächte des damaligen Europa als Doppelhaupt einer
weltweiten "Gottesherrschaft" – ein schlimmeres Alptraumszenario
hätte man sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts kaum ausdenken
können.
Im Verlauf der 1890er
Jahre, die in Russland durch einen nie dagewesenen industriellen
Aufschwung, ein stetiges Anwachsen der Arbeiterbewegung und eine
neuerliche Hinwendung vieler junger Intellektueller zur Revolution
gekennzeichnet waren, bemächtigten sich Solowjows immer düsterere
Vorahnungen. Er war überzeugt davon, die Welt stehe am Vorabend
einer großen Zeitenwende und im Geiste vernahm er bereits den
Hufschlag der apokalyptischen Reiter. Nicht mehr lange und der
Antichrist werde auf Erden erscheinen. Solowjows theokratische Fantasien erhielten einen neuen Inhalt. Es ging nun nicht länger um
eine Art Konkordat zwischen Winterpalais und Vatikan, sondern um das
Sammeln einer kleinen Schar Standhafter, die der künftigen Tyrannei
der Gottlosen trotzen und den Glauben an Christus und die Allheilige
Sophia weitertragen würden.
Seine apokalyptischen
Visionen legte er schließlich in der Kurzen Erzählung vom Antichrist nieder.
Liest man heute Solowjows bizarres Alterswerk, so ergeht es einem,
wie dem Petersburger Publikum, welchem der Autor seine prophetischen
Ergüsse im Frühjahr 1900 zum ersten Mal vortrug – man muss in
schallendes Gelächter ausbrechen. Eine vergleichbare literarische
Kuriosität ist mir bisher nur in der Gestalt von Karl Mays
allegorischem Roman Ardistan und Dschinnistan begegnet. Doch
dankenswerterweise ist Solowjows Erzählung im Unterschied zum
may’schen Opus tatsächlich kurz.
Der Inhalt des Büchleins
ist rasch erzählt: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterwerfen die
Völker Asiens unter Führung eines japanisch-chinesischen Kaisers
die Welt. Bei der Eroberung Frankreichs genießen sie die
Unterstützung der Sozialisten: „In Paris brach ein Aufstand der
Kommune aus, und freudig öffnete die Hauptstadt der westlichen
Kultur ihre Tore dem Beherrscher des Ostens.“
Fünfzig Jahre lang lastet das neue Mongolenjoch auf der "zivilisierten Menschheit", dann erhebt sie sich, befreit sich von der asiatischen Tyrannei und vereinigt sich in einem europäischen Staatenbund. Bald darauf betritt der "Übermensch" die Bühne, ein genialer Philosoph und Schriftsteller, zugleich jedoch der (Adoptiv)-Sohn Satans und der Antichrist. Er selbst glaubt eine Art zweiter Messias zu sein, der Christi Mission erfüllen und übertreffen werde. Sein Buch Offener Weg zum Weltfrieden und Wohlstand verschafft ihm allgemeines Ansehen. Auf Betreiben der Freimaurer wird er auf Lebenszeit zum Präsidenten der "Vereinigten Staaten von Europa" gewählt. Wenig später ruft man ihm zum Römischen Imperator und Weltkaiser aus. Er schafft allgemeinen Frieden und
Fünfzig Jahre lang lastet das neue Mongolenjoch auf der "zivilisierten Menschheit", dann erhebt sie sich, befreit sich von der asiatischen Tyrannei und vereinigt sich in einem europäischen Staatenbund. Bald darauf betritt der "Übermensch" die Bühne, ein genialer Philosoph und Schriftsteller, zugleich jedoch der (Adoptiv)-Sohn Satans und der Antichrist. Er selbst glaubt eine Art zweiter Messias zu sein, der Christi Mission erfüllen und übertreffen werde. Sein Buch Offener Weg zum Weltfrieden und Wohlstand verschafft ihm allgemeines Ansehen. Auf Betreiben der Freimaurer wird er auf Lebenszeit zum Präsidenten der "Vereinigten Staaten von Europa" gewählt. Wenig später ruft man ihm zum Römischen Imperator und Weltkaiser aus. Er schafft allgemeinen Frieden und
im Anschluss daran verkündete er jene einfache und umfassende Sozialreform, mit der er schon in seinem Buche alle bedeutenden und vernünftigen Köpfe gewonnen hatte. Dank der einheitlichen Verwaltung und Kontrolle der Weltfinanzen sowie eines gewaltigen Grundbesitzes konnte der Imperator diese Reform durchführen. Er befriedigte die Armen, ohne die Reichen allzu fühlbar zu treffen. Jeder erhielt seinen Anteil entsprechend den Fähigkeiten, die er durch Arbeit und Verdienst bewies. [...] Damit war die soziale und die wirtschaftliche Frage endgültig gelöst.
Dem Antichristen an die
Seite stellt sich der Wundertäter Appollonius, der durch eine
Synthese aus westlicher Naturwissenschaft und orientalischer Magie
u.a. die Fähigkeit entwickelt hat, „die atmosphärische
Elektrizität nach seinem Willen anzuziehen und zu lenken.“
Zuguterletzt beruft der
Weltkaiser ein allgemeines Konzil der christlichen Kirchen nach
Jerusalem ein, auf dem sie sich unter seiner Leitung vereinigen
sollen. Doch die Führer der drei großen Konfessionen – Papst Petrus
II., der orthodoxe Starez Ioannes und der protestantische Professor
Ernst Pauli – wenden sich gegen den Imperator und entlarven ihn als
Antichrist. Daraufhin tötet Appollonius mit Hilfe seiner "elektrischen Wundermacht" die ersten beiden und Pauli verlässt
mit einigen wenigen Getreuen Jerusalem. Auf den letzten drei Seiten
überrschlagen sich die Ereignisse: Petrus und Ioannes stehen von den
Toten auf, die Juden erheben sich gegen den Kaiser, dieser zieht eine
gewaltige Streitmacht aus den Völkern Asiens zusammen – und der
Jüngste Tag bricht an:
Unter dem Toten Meer, an dessen Ufern das Heer des Imperators Aufstellung genommen hatte, öffnete sich der Krater eines ungeheuren Vulkans. Glühende Lavafluten stiegen auf und flossen zu einem einzigen Flammenmeer zusammen. Es verschlang den Imperator, sein zahlloses Heer und auch seinen unzertrennlichen Begleiter, den Papst Appollonius, dem nun alle magischen Künste nicht mehr helfen konnten. Die Juden aber flohen nach Jerusalem und riefen in Furcht und Zittern den Gott Israels um Rettung an. Als die heilige Stadt schon vor ihren Blicken lag, spaltete ein gewaltiger Blitz den Himmel von Osten nach Westen. Sie sahen Christus. Bekleidet mit den Insignien der Allmacht, mit ausgebreiteten Händen, auf denen die Wundmale der Nägel leuchteten, schritt er auf sie zu. In dieser Zeit zog auch die Schar der Christen vom Sinai hinauf nach Zion, geführt von Petrus, Johannes und Paulus. Von allen Seiten strömten ihnen jauchzende Scharen zu: Das waren jene Juden und Christen, die der Antichrist hatte töten lassen. Sie waren auferstanden und herrschten mit Christus tausend Jahre.
Das interessante an
dieser Erzählung ist, dass man ihre literarische Form als ein
Spiegelbild des geistigen Inhalts der solowjow’schen
Philosophie betrachten kann. Solowjow versucht, Fragen des ausgehenden 19. und
beginnenden 20. Jahrhunderts in der mythologischen Bildersprache der
Johannesapokalypse und der mittelalterlichen Überlieferung zu
behandeln. Dabei prallen Elemente aufeinander, die sich beim besten
Willen nicht zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen lassen. Der
Antichrist wirkt einfach grotesk, wenn man ihn in eine Mischung aus
Nietzsche, Nero und Sozialreformer verwandelt und dann auch noch zum
Präsidenten der Vereinigten Staaten von Europa erklärt. Ebenso
verkommt Satan zu einem traurigen Popanz, sobald er bei einer
nächtlichen Unterhaltung mit seinem "geliebten Sohn" mit einer
Stimme spricht, die so klingt, „als käme sie aus einer
Sprechmaschine“. Die besondere Ironie
besteht jedoch darin, dass es vor allem Solowjows Ehrlichkeit ist,
die sein Werk zur Lächerlichkeit verdammt. Er meint es toternst mit
seiner Erzählung und sieht in ihr die Aktualisierung einer
göttlichen Offenbarung: „Die innere Bedeutung des Antichrist
als des religiösen Usurpator, der durch 'Raub' und nicht durch eine
geistige Tat die Würde des Sohnes Gottes erwirbt [...] - all das
findet sich im Worte Gottes und in der ältesten Überlieferung.“ (7) Eben diese
Ernsthaftigkeit und diese unbedingte Treue zum Bibelwort und der
kirchlichen Tradition macht es ihm unmöglich, seiner Vision eine
modernere Form zu geben. Und so muss der Antichrist eben nicht nur
europäischer Präsident, sondern auch römischer Imperator sein,
zugleich jedoch „den Tierschutzvereinen [...] seine besondere
Förderung zuteil“ kommen lassen.
Solowjow will den
Propheten spielen, doch er ist keiner. Also borgt er sich Sprache und
Gewand des "Johannes von Patmos" und kleidet seine eigenen
Gedanken in die Hülle eines zweitausend Jahre alten Textes. Damit
macht er aber nicht nur sich selbst lächerlich, sondern entwürdigt
auch jene "älteste Überlieferung", der er doch nachzueifern
wünscht. Denn der namenlose Verfasser der Offenbarung des
Johannes war insofern ein "echter" Prophet, als er den
Gefühlen und Gedanken der Volksmassen seiner Zeit in den
grausig-bizarren Bildern seiner Vision Ausdruck verlieh. Der glühende
Hass der Unterdrückten auf Rom, die "große Hure Babylon", ihr
Verlangen nach Rache, ihr Hoffen auf das Erscheinen des göttlichen
Erlösers, der kommen werde, um die Könige der Erde und ihre
Heerscharen zu vernichten, ihre Sehnsucht nach einem Tausendjährigen
Reich des Friedens und der Gerechtigkeit – all dies spricht zu uns
aus dem Text der Apokalypse und macht sie zu einer religiösen
Dichtung von bezwingender poetischer Kraft. Nichts davon finden wir
bei Solowjow. Seine "Offenbarung" ist nicht Ausdruck mächtiger
sozialer Strömungen. In ihr vernehmen wir bloß das bange Stimmchen
eines verängstigten Spießbürgers.
Solowjow spürte
deutlich, dass er am Vorabend gewaltiger sozialer und politischer
Konflikte lebte. Er fühlte, wie die Grundfesten der überkommenen
Ordnung unter seinen Füßen ins Wanken gerieten, sah die moralische
und intellektuelle Kraftlosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft:
„Ein Christentum ist nicht vorhanden, von Ideen ist soviel da, wie zur
Zeit des trojanischen Krieges, nur waren es damals junge starke
Helden, die gegen den Feind zogen, und heute sind es schwächliche
Greise." (8) Auf seine Art erkannte
er, dass der Liberalismus in den letzten Zügen lag, dass die
europäische Bourgeoisie den Glauben an ihre eigene historische
Mission verloren hatte: „Der fortschrittliche Gedanke der
Gegenwart in Europa hat sein Ideal verloren, denn er glaubt nicht an
den absoluten Sinn der Welt und folglich auch nicht an das absolute
Ziel der Vollkommenheit. Diese innere Hohlheit des üblichen
Begriffes der Fortschrittsidee erregte in Europa eine Enttäuschung
über diese Idee selbst.“ (9)
Nicht dass der "russische
Platon" von der erhabenen Höhe seines Ideenhimmels aus die sehr
materiellen Wurzeln dieses Prozesses hätte erkennen können. Wer
persönlichen Umgang mit der Allheiligen Sophia pflegt, stellt sich
keine Fragen über ökonomische oder soziale Entwicklungen. Die
größte unmittelbare Bedrohung machte er deshalb auch nicht im Schoß
der bürgerlichen Gesellschaft selbst, sondern in den unendlichen
Weiten Asiens aus. Die "barbarischen Horden" Chinas und der
Mongolei seien dazu ausersehen, das Urteil an der kraftlos gewordenen
europäischen Zivilisation zu vollstrecken. Ihr Triumph werde den
Auftakt zur Endzeit bilden. Schon einige Jahre zuvor hatte er in seinem berühmten Gedicht Panmongolismus ein ähnliches Szenario entworfen. Es waren vor allem der japanisch-chinesische Krieg von 1894/95 und der sich damit immer deutlicher abzeichnende Aufstieg Japans zu einer imperialistischen Großmacht, die die Schreckensvision eines neuen Mongolensturms in ihm geweckt hatten.
Nur am Rande taucht in Solowjows
Apokalypse der Aufstand der zweiten Pariser Kommune auf, mit dem sich
die Sozialisten als bloße Helfershelfer der asiatischen Barbarei
erweisen. Für seine geistigen Erben allerdings sollte gerade diese
Verschmelzung von Revoluton und Mongolensturm eine zentrale Rolle
spielen.
Solowjow war nicht in der
Lage, der Gefahr, deren Heraufziehen er inspinktiv spürte, auch nur
eine lebensfähige Idee entgegenzustellen. Seine eigene Philosophie
war vielmehr selbst Ausdruck jener inneren Kraftlosgkeit der
bürgerlichen Gesellschaft, die er so lautstark beklagte. Darum die
haltlose Flucht in die mythologischen Gefilde eines untergegangenen
Zeitalters. Die eigene Schwäche spürend suchte Solowjow verzweifelt
nach einem sicheren Halt in der religiösen Überlieferung. Doch wie
sollte sich dort eine Antwort auf die drohenden Herausforderungen des
20. Jahrhunderts finden lassen? Zumal er wie alle Anhänger des "neuen religiösen Bewusstseins" weder fähig noch willens war,
seine europäische Bildung und den mit ihr verbundenen Skeptizismus
hinter sich zu lassen. Eine Rückkehr zum naiven Glauben der
Altvorderen war unmöglich, und Solowjow beteuerte immer wieder, er
sei kein Konservativer, er wolle vielmehr dem in die Krise geratenen
liberalen Fortschrittsgedanken mit seiner Sophiologie neues Leben
einhauchen. Was dabei herauskam war ein wüster Mischmasch aus
miteinander unvereinbaren Zutaten – ganz wie die Kurze Erzählung
vom Antichrist. Denn worauf lief diese ganze Philosophie
letztenendes hinaus? Solowjow verdammte in der Gestalt des
Antichrist die aufklärerische Überzeugung, der Mensch könne kraft
seiner Vernunft eine gerechte und friedliche Gesellschaftsordnung
schaffen, und setzte an die Stelle des sozialen Fortschritts sein "ganzheitliches" Konzept der "Theokratie". Bei Lichte betrachtet bedeutete dies nichts anderes als: Vorwärts ins Mittelalter! – aber bitte ohne irgendwelche
Unbequemlichkeiten; ohne Askese, Fasten und Selbstgeißelung; ohne
Hexenhammer und Scheiterhaufen.
(1) S. J. Nadson: The People's Poet.
(2) Zit. nach: Andreas Martin: Alleinheit und Vielfalt, Einführung in Leben und Werk von Vladimir Solov'ev.
(3) Zit. nach: Andreas Martin:
Alleinheit und Vielfalt, Einführung in Leben und Werk von
Vladimir Solov’ev.
(4) Vgl.: Alexander Vucinich: Darwin in RussianThought. S. 257-260.
(5) Wladimir Solowjow: Vorlesungen
über das Gottmenschentum. Zit. nach: Tatjana Sytenko: EinigeGedanken über das Gottmenschentum.
(6) Zit. nach: Andreas Martin:
Alleinheit und Vielfalt, Einführung in Leben und Werk von
Vladimir Solov’ev.
(7) Wladimir Solowjow: Einleitung zu ‘Drei
Gespräche über Krieg, Fortschritt und das Ende der
Weltgeschichte'.
(8) Vgl.: Fürst Sergius Trubetskoy:
Der Tod W. Solovjeffs. Bd. 1. S. 346. Zit. nach: Harry Köhler:
Vorwort zu Wladimir Solovjeffs ‘Die Grundlagen des geistigen
Lebens’ (Teil 1).
(9) Zit. nach: Harry Köhler: Vorwort
zu Wladimir Solovjeffs ‘Die Grundlagen des geistigen Lebens’
(Teil 1).
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