"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Freitag, 20. März 2015

Sonnensichel

Ich will ehrlich sein, ich hätte die partielle Sonnenfinsternis von heute Vormittag sehr leicht verschlafen können. Die Anstrengung der letzten Arbeitstage, eine leichte Erkältung sowie die allgemeine Angewohnheit, mich oft sehr viel später hinzulegen, als eigentlich klug wäre, hatten mich zu der Entscheidung geführt, nach Möglichkeit endlich einmal wieder richtig auszuschlafen – auch wenn das bedeuten sollte, dass ich erst um die Mittagszeit aus dem Bett kriechen würde. 

Dazu ist es nicht gekommen, und so habe ich mir das solare Schauspiel denn doch anschauen können. Natürlich war es nicht annähernd so beeindruckend wie die totale Sonnenfinsternis, die ich 1999 zusammen mit einem mir damals sehr nahestehenden Menschen und unzähligen anderen begeisterten Schaulustigen, die sich in der Nähe des Speyerer Doms versammelt hatten, miterleben durfte. Auf ihre unspektakuläre Weise besaß die Sonnensichel von heute Morgen für mich dennoch ihre ganz eigene Schönheit.

Als ich zwischendurch einen Blick auf meine Twitter-Timeline warf, entdeckte ich dort sehr viele spöttisch-ironische Kommentare zu dem Ereignis. Als Reaktion auf den Medienhype der letzten Tage (oder auch auf einen bewölkten Himmel, wie er sich offenbar über weiten Teilen von England präsentierte) sicher nicht ganz unverständlich, und doch hat mich das ein ganz klein wenig traurig gestimmt. Ich habe oft das Gefühl, dass Twitter in vielen von uns das übermäßige Verlangen geweckt hat, so oft es nur geht, witzig, geistreich und (selbst)ironisch wirken zu wollen. Ein Trend, der auch seine Schattenseiten besitzt.

Und dann erinnerte ich mich an einen wunderschönen Essay des 2002 verstorbenen Paläontologen und Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould, in dem dieser erzählt, wie er am 10. Mai 1994 eine ringförmige Sonnenfinsternis in New York miterleben durfte:
Manche Leute blickten durch Filter in den Himmel. Ein junger Mann hatte mehrere überbelichtete Filmstreifen vorbereitet und verteilte sie an umstehende Interessenten – für jeden Beobachter eine doppelte Schicht ... Auf der 53. Straße ließ ein Schweißer seine Brille während einer Arbeitspause in der Menschenmenge herumgehen.
Andere nutzten ein erstaunliches Phänomen der Optik: das Prinzip, dass fast jedes kleine Loch und jeder Hohlraum als Lochkamera wirkt und ein Abbild der Sonnensichel liefert. In dieser Beziehung hatte New York gegenüber dem Umland sogar einen Vorteil, denn auf unebenem Boden ist das Bild kaum zu erkennen, auf einem glatten weißen Bürgersteig dagegen recht gut ...
Auf der 58. Straße stand ein aus der Karibik stammender Pförtner in Arbeitskleidung vor einem Apartmenthaus mit einer verschlissenen Markise, die mehrere kleine Löcher hatte. Jedes davon warf ein wunderschönes Bild der Sonnensichel auf den Bürgersteig. Wie ein Marktschreier rief der Pförtner die Passanten unter seine Markise, damit sie sich das großartige Schauspiel ansehen konnten – kostenlos natürlich. Vor dem Nachbarhaus benahm sich ein Mann aus Asien wie der Inhaber des nächsten Standes auf dem Jahrmarkt: Er stach Löcher in Briefumschläge, Papierbogen und Pappstücke, und dann zeigte er den Leuten, wie sie damit das Bild der Sonne auf das Straßenpflaster projizieren konnten – auch das kostenlos und allein aus Mitteilungsbedürfnis.
Auf allen Straßen bildeten sich Ansammlungen von Leuten, die einander ihre neu erfundenen Hilfsmittel zum Projizieren von Bildern zeigten. Bäume zogen die größten Menschentrauben an, denn die Zwischenräume zwischen den Blättern wirken wie kleine Kameras, und auf dem Bürgersteig, zwischen den Schatten von Zweigen und Blättern, tanzten Hunderte von kleinen Sonnensicheln. Eine elegant gekleidete Frau mit Zigarette im Mundwinkel streckte auf dem Höhepunkt der Sonnenfinsternis ihre Hand in den Weg des Lichtes, sodass unter jedem Zwischenraum ihrer Finger ein Bild der Sonnensichel auftauchte. Sie quiekte vor Vergnügen, und die Umstehenden waren begeistert. Anschließend nahm ein Junge seine verstellbare Baseballmütze ab, öffnete den Verschluss des Einstellbandes und ließ durch jedes seiner kleinen Löcher ein Bild der Sonne fallen. Und wieder jubelten die Leute ...

Oft wird behauptet, nur Unglück könne Menschen einander näher bringen. Wir helfen einander im Schneesturm; wie öffnen unsere Herzen und unsere Häuser für die Opfer einer Katstrophe, die in unserer unmittelbaren Nachbarschaft geschehen ist; wir suchen die ganze Nacht im Wald nach einem vermissten Kind, das wir nicht einmal kennen. Alle diese Beobachtungen vermitteln uns zu Recht den Glauben an das Allgemein-Menschliche in einer Welt, die meist durch Gedankenlosigkeit, egoistisches Handeln und sogar regelrechte Grausamkeit gekennzeichnet ist. Aber wir unterstellen auch, nur Katastrophen könnten diese Wirkung haben, nicht aber die Freuden und mit Sicherheit nicht der rationale Genuss, das Gegenstück zum rein emotionalen Spaß. In Wirklichkeit können uns aber auch Interesse und Neugier zusammenführen – und meine Erlebnisse mit den New Yorkern, die in einer Naturerscheinung schwelgten und sich spontan über die Sonne unterhielten, vermitteln mir in irgendeiner Form mehr Hoffnung als unser gemeinsamer Mut in Krisenzeiten – und das, obwohl die Einigkeit in der Katastrophe mich vor erhabener Bewunderung weinen lässt, während die Mitmenschlichkeit wegen der Sonnenfinsternis mir nur ein Lächeln entlockt.
(Stephen Jay Gould: Glückliche Gedanken an einem sonnigen Tag in New York. In: Ders.: Ein Dinosaurier im Heuhaufen. Streifzüge durch die Naturgeschichte. S. 23ff. Den gesamten Essay im englischen Original kann man hier lesen.)

3 Kommentare:

  1. Wow, tolle Beobachtung von Gould!

    Ich bedanke mich für das Bringen der Stelle mit einem Zitat:

    "Ich setze mich nicht hin und trinke was mit Leuten, die irgendwie ironisch drauf sind."
    - George Pelecanos, den die meisten Leute als Co-Autor von THE WIRE kennen; ich schätze seine Romane.

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  2. Hallo, Frank.

    Freut mich, dass es dir gefallen hat. Ich muss mir unbedingt mal die anderen Essaybände von Gould zulegen.

    Und vielen Dank für das Pelecanos-Zitat. :)

    Was "zeitgenössisches" Fernsehen angeht bin ich ein großer Unwissender, und so kenn ich auch "The Wire" nur vom Hörensagen. Aber vielleicht sollte ich mal in eines seiner Bücher reinschauen. Würdest du irgendeinen Titel besonders empfehlen?

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  3. Ich kenne THE WIRE ebenfalls nur vom Hörensagen; ich bin vor allem ein Papierfresserchen ...

    Pelecanos hat vor eine Weile einen neuen Krimihelden geschaffen. Das erste Buch, THE CUT, ist auch auf Deutsch rausgekommen und spielt in Washington DC; daraus habe ich zitiert. Mir gefiel der Roman vor allem wegen der Atmo der Reggae-Welthauptstadt (wofür sie kaum einer kennt) und wegen des Helden, der als noch recht junger Veteran der Bush-Kriege nun zufällig ein Sachenwiederbeschaffer geworden ist.
    Ich habe den Roman inzwischen zweimal gelesen:
    http://frankboehmert.blogspot.de/2012/10/gelesen-george-pelecanos-ein.html
    http://frankboehmert.blogspot.de/2014/02/gelesen-george-pelecanos-ein.html

    Ein Geheimtipp ist das über mehrere Jahrzehnte hinweg spielende D.C.-Quartet, wobei ich da aus persönlichen Gründen nur den ersten Band gelesen habe. Aber Pelecanos schreibt sehr eindringlich, und Krimis aus der Einwandererperspektive haben natürlich was, weil sie dem USA-Bild weitere Facetten hinzufügen.

    In den Staaten ist er ein Großer, hochgelobt unter anderem von Stephen King, bei uns gehen seine Bücher unter.

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