Ermutigend an dieser Vorstellung mag sein, dass Frodo auch in scheinbar hoffnungslosen Situationen nie völlig alleingelassen sein wird. Und tatsächlich gibt es im Verlauf seiner Reise immer wieder Anzeichen für das Eingreifen einer höheren Macht. Nicht dass sich irgendwelche spektaktulären Wunder ereignen würden, die Vorsehung geht subtiler zu Werke. Scheinbar zufällige Ereignisse zeigen sich dem Weisen (oder dem Gläubigen, was bei Tolkien zwar nicht dasselbe ist, aber doch zusammengehört) oft in einem anderen Lichte. So sagt Gildor Inglorion zu Frodo: „Die Elben haben ihre eigene Bürde zu tragen und ihre eigenen Sorgen, und sie kümmern sich wenig um die Wege der Hobbits oder irgendwelcher anderen Geschöpfe auf der Welt. Unsere Pfade kreuzen die ihren selten, aus Zufall oder Absicht. Diese Begegnung mag mehr als ein Zufall sein; doch die Absicht ist mir nicht klar, und ich fürchte, zu viel zu sagen." (4) Dass Gildor den Begriff "Absicht" ("Purpose") verwendet, macht einmal mehr deutlich, dass wir es nicht mit bloßem "Schicksal" zu tun haben. Und Tom Bombadil antwortet auf die Frage, ob er Frodos Hilferufe im Tal der Weidenwinde gehört habe: „Nein, ich habe nichts gehört; ich war mit Singen beschäftigt. Bloßer Zufall brachte mich dorthin, wenn du es Zufall nennst." (5)
In beiden Fällen wurden die Hobbits durch diese "zufällige" Begegnung aus einer äußerst bedrohlichen Lage gerettet. Was natürlich nicht bedeutet, dass sich Tolkiens Held mit einem beruhigenden "Gott wird’s schon richten" den Gefahren stellen könnte, die auf ihn warten. Die Queste zum Schicksalsberg verlangt ihm seelisch wie körperlich das Letzte ab, auch trägt er für jede seiner Entscheidungen nach wie vor die volle Verantwortung. Doch das ändert nichts am providentiellen Charakter seiner Fahrt, auf den allein es hier ankommt.
Der Typus des "auserwählten Helden" ist eine jener tolkienschen Altlasten, an denen die Fantasy bis heute zu knabbern hat, auch wenn er längst nicht mehr so populär sein dürfte wie in den 80er Jahren, als die tolkieneske High Fantasy in voller Blüte stand. (6) Von Natur aus wohnt ihm ein elitäres und autoritäres Element inne, doch möchte ich auf diese Problematik jetzt gar nicht näher eingehen. Aus dem Motiv der göttlichen Vorsehung ergibt sich nämlich noch ein anderes Problem, das zwar weniger offensichtlich, gerade deshalb aber vielleicht noch schwerwiegender ist.
1965 schrieb Tolkien in einem Brief an Rayner Unwin:
Die Geschichte [des Hobbit] und ihre Fortsetzung [im Herr der Ringe] handeln nicht von ‘Typen’ oder der Heilung von bourgeoiser Selbstgefälligkeit durch ausgeweitete Erfahrung, sondern von den Leistungen besonders begabter und begnadeter Individuen. Ich würde sagen, wenn man, indem man so etwas sagt, nicht verderben würde, was man explizit machen will, ’von geweihten Personen, die von einem Sendboten inspiriert und zu Zwecken angeleitet werden, die über ihre persönliche Erziehung und Erweiterung hinausreichen’. (7)
Es spricht einiges dafür, dass Tolkien sich zur Zeit der Niederschrift seines Romans noch nicht so ausgedrückt hätte. Mit zunehmenden Alter scheint er dazu tendiert zu haben, das eigene Werk immer stärker durch die religiös-philosophische Brille zu betrachten. Und doch lässt sich nicht leugnen, dass er hier im Grunde nur die letzte Konsequenz aus dem Motiv des Erwähltseins zieht. Aber wenn man diesen Aspekt in den Vordergrund rückt, verliert der
Herr der Ringe viel von seinem humanen Gehalt. Denn was bleibt dann noch übrig von der eigentlich so sympathisch anmutenden Botschaft, „
daß bei den großen Entscheidungen der Weltgeschichte, ‘im Räderwerk der Welt’ oft nicht die Großen und Mächtigen, [...] den Ausschlag geben, sondern die scheinbar Schwachen und Unberühmten"? (8) Genau genommen dürfen wir Frodo ja überhaupt nicht als ein Beispiel für das allgemein menschliche Potential an Mut, Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft verstehen. Er ist nicht der "Durchschnittshobbit", der in Auseinandersetzung mit bisher ungekannten Herausforderungen aus eigener Kraft über das hinauswächst, was er aufgrund seiner kleinbürgerlichen Herkunft eigentlich geworden wäre. Vielmehr müssen wir in ihm eine durch Gottes Gnade ausgezeichnete Ausnahmeerscheinung sehen.
Aufs Engste hiermit verbunden ist ein Motiv, das Tolkien in seinem Essay
Über Märchen zu einem der zentralen Charakteristika der von ihm bevorzugten Form der phantastischen Literatur erklärt hat: Die von ihm als Eukatastrophe bezeichnete „
plötzliche Wendung zum Guten". Er sah in ihr ein konstitutives Element des Märchens und zugleich dessen tiefere Bedeutung: „
Die eukatastrophische Erzählung ist die echte Form des Märchens und sein höchster Zweck." Gemeint ist damit nicht einfach das "Happy End" – "Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage" –, sondern eine im Moment der völligen Auswegslosigkeit gänzlich unerwartet eintretende Wende, die den dramatischen Höhepunkt der Erzählung bildet.
Im
Herr der Ringe ist das die "zufällige" Zerstörung des Rings durch Gollum, nachdem Frodo an der ihm gestellten Aufgabe gescheitert ist.
Zur Beschreibung der Eukastrophe bediente sich Tolkien nicht zufällig religiös konnotierter Begriffe wie „
Gnade" und „
Erlösung". Ihre Darstellung soll den Leser zutiefst erschüttern und ihn eine "tiefere Wahrheit" hinter den Dingen erahnen lassen: Sie ist „
Evangelium, gute Botschaft, und gewährt einen kurzen Schimmer der Freude, der Freude hinter den Mauern der Welt, durchdringend wie das Leid." Wie diese Formulierungen bereits vermuten lassen, stellte Tolkien eine direkte Verbindung zwischen dem "glücklichen Ausgang" des Märchens und der christlichen Heilslehre her: „
Christi Geburt ist die Eukatastrophe der menschlichen Geschichte. Die Auferstehung ist die Eukatastrophe der Erzählung von der Fleischwerdung. Diese Erzählung beginnt und endet in Freude." (9)
Man braucht Tolkiens Sicht des Märchens natürlich nicht zu teilen, und die Verbindung, die er in seinem Essay zwischen dem Volksmärchen und der modernen Phantastik zieht, ist ohnehin höchst fragwürdig. Aber für den
Herr der Ringe ergeben sich aus diesem Konzept einige tiefgreifende Konsequenzen.
Die plötzliche und unerwartete Wende trägt den Charakter eines Wunders. Das führt automatisch dazu, dass die Bedeutung menschlichen Handelns abgewertet wird. Das Verhalten der Helden spielt zwar insofern eine wichtige Rolle, als sie es sind, die die Situation geschaffen haben, in der die wundersame Wendung eintreten kann. So hat sich Frodo aus eigener Kraft bis zum Schicksalsberg geschleppt (10), und nur aufgrund seines Mitgefühls ist Gollum überhaupt noch am Leben. Doch letztenendes ist die Eukatastrophe selbst unabhängig von menschlichen Wünschen und Taten. Sie kommt "von außen", ist ein Akt göttlichen Erbarmens.
Tolkien selbst ließ keinen Zweifel daran, dass er die Ereignisse, die letztlich zur Zerstörung des Ringes führen, als Folge eines göttlichen Eingreifens verstanden wissen wollte:
Frodo verdiente alle Ehre, weil er jede Unze Willens- und Körperkraft eingesetzt hat, und das reichte eben aus, ihn bis an den vorbestimmten Punkt zu bringen, aber nicht weiter. Wenige andere, womöglich niemand aus seiner Zeit, wären so weit gekommen. Dann griff die Andere Macht ein: der Autor der Geschichte (womit ich nicht mich selbst meine), 'die eine, immer gegenwärtige Person, die niemals abwesend ist und niemals genannt wird' (wie ein Kritiker gesagt hat). (11)
Tolkien pflegte eine tief pessimistische Sicht auf den Lauf der menschlichen Geschichte: "
Ich bin nun einmal Christ, sogar Katholik, und darum erwarte ich von der ‘Geschichte’ nichts anderes als eine ‘lange Niederlage’" (12) Wenn diese "lange Niederlage" ausnahmsweise einmal einem partiellen Triumph weicht, so nicht, weil der Mensch seinem Schicksal eine positive Wendung zu geben vermag, sondern weil der Allmächtige Gnade vor Recht ergehen lässt. Auf paradoxe Weise bestätigt der "glückliche Ausgang" der Eukatastrophe so nur Tolkiens allgemeinen Pessimismus.
„
Die Queste als ein Stück Welt-Plan mußte scheitern". (13) Allein auf die Handlung bezogen, ist das sicher richtig. Tolkien hätte Frodo zu einer Art Übermenschen machen müssen, wenn er ihn den Ring hätte zerstören lassen. Damit wäre der Figur des Hobbits jede menschliche und moralische Tiefe geraubt worden. Insofern bildet die Szene auf dem Schicksalsberg ein sehr viel befriedigenderes Finale als wir es aus nicht wenigen tolkienesken Epigonenepen kennen, wo die "auserwählten" Helden und Heldinnen ihren "Auftrag" tatsächlich zuendeführen. Doch darüberhinaus besitzt sie noch eine metaphorische Ebene, in der die Queste eben als ein "Stück Welt-Plan" erscheint, d.h. als ein Exempel für menschliches Planen und Handeln schlechthin. Und dieser Aspekt der Geschichte ist meinen Augen äußerst problematisch.
Frank Weinreich
interpretiert die Eukatastrophe als ein „
religiös vermittelte[s] Vertrauen auf den glücklichen Ausgang der Weltgeschichte". Dabei scheint er vor dem tiefen Geschichtspessimismus, der uns auf Schritt und Tritt in Tolkiens literarischem Werk und seiner Korrespondenz begegnet, willentlich die Augen zu verschließen. Und auch aus den theoretischen Ausführungen in
Über Märchen geht eigentlich sehr klar hervor, dass sich in der Eukatastrophe nicht die Hoffnung auf einen Sieg des Guten in der Geschichte ausdrückt, dass sie vielmehr auf eine Erlösung "jenseits" der Geschichte verweisen soll.
Aber auch wenn wir den Ausgang des
Herr der Ringe als uneingeschränkt optimistisch deuten – immerhin
wird Sauron gestürzt –, stellt sich immer noch die Frage: Wem haben wir den Triumph des Guten zu verdanken? Dem Mut, der Klugheit, Selbstlosigkeit und Standhaftigkeit von Menschen {Hobbits, Zwergen, Elben}oder dem Erbarmen Gottes?
Man könnte natürlich die Meinung vertreten, es sei doch letztenendes egal, ob die Geschichte deshalb eine gute Wendung nimmt, weil Menschen ihr eine solche verleihen oder weil Gottes Vorsehung sie dahingehend gelenkt hat. Ich jedoch sehe das anders. Ersteres Szenario könnte uns darin bestärken, die Herausforderungen der realen Geschichte selbstbewusst anzugehen, erfüllt von der Überzeugung, dass wir es sind, die sie formen und dass wir ihr eine positive Richtung zu geben vermögen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, braucht es Menschen, die sich ihres Potentials und ihrer Bedeutung bewusst sind und die kämpfend und planend in die gesellschaftliche Wirklichkeit eingreifen. Tolkiens eukatastrophische Erzählung hingegen führt uns zu einem ganz anderen Ideal: Wir sollen uns gerade nicht als die bewussten und aktiven Gestalter von Geschichte verstehen – das ist der böse Weg Sarumans –, sondern als die Instrumente von Gottes Heilsplan.
Neben seinem Mitgefühl und seiner Opferbereitschaft ist es vor allem seine Demut, die Frodo zum Helden des
Herr der Ringe macht. Er nimmt seinen Auftrag als Ringträger „
in völliger Bescheidenheit" an, „
mit dem Eingeständnis, daß er für seine Aufgabe völlig ungeeignet sei." (14) So gesehen erscheint auch die besondere Rolle der „
scheinbar Schwachen und Unberühmten" in Tolkiens Mythologie in einem etwas anderen Licht. Nicht weil sie die Kraft besitzen würden, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, geben sie „
bei den großen Entscheidungen der Weltgeschichte, ‘im Räderwerk der Welt’ oft [...] den Ausschlag", sondern weil sie die bevorzugten und besonders geeigneten Werkzeuge Gottes sind. Oder um Tolkiens eigene Worte zu benutzen: „
aufgrund des geheimen Lebens in der Schöpfung und desjenigen Teils in ihr, das allem Wissen außer dem des Einen unzugänglich bleibt". (15) Im Christentum hat dieser Gedanke seine vioelleicht schönste Verkörperung in der Gestalt Mariens gefunden. Und wenn Frodo nach langem Zögern seine Bestimmung annimmt und sagt: „I
ch werde den Ring nehmen [...], obwohl ich den Weg nicht weiß" (16) , so verhält er sich tatächlich ähnlich wie die Jungfrau, die dem Erzengel Gabriel antwortet: „
Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast." (Lk 1,38)
Man mag zurecht einwenden, dass kaum jemand aus der Lektüre des
Herr der Ringe solche religiös-moralischen Schlüsse ziehen dürfte. Welcher Tolkienist hält sich schon selbst für den Knecht oder die Magd Gottes? Doch die religiöse Komponente scheint mir in diesem Zusammenhang auch nicht die wirklich entscheidende zu sein. Wir leben in einer Zeit, in der den allermeisten Menschen tagtäglich eingebleut wird, dass sie sich Umständen anzupassen haben, die sie angeblich nicht beeinflussen können. Sich einzuschränken, keine zu hohen Ansprüche zu stellen und nur ja nicht auf den Gedanken zu verfallen, an den herrschenden Verhältnissen ließe sich irgendetwas grundsätzlich verändern, gilt als Tugend des Realismus, und es ist die größte Furcht der herrschenden Eliten, dass sich die "einfachen" Leute von dieser Hypnose befreien könnten. Eine Demutsmoral, wie sie Tolkien vertritt, halte ich nicht deshalb für gefährlich, weil sie religiöse Wurzeln besitzt, sondern weil sie den Glauben an den eigenen Willen untergräbt und damit das vorherrschende Klima der Hilflosigkeit verstärkt.
Nebenbei bemerkt ist der Bilbo des
Hobbit ein sehr viel freierer und "humanistischerer" Held als sein Neffe im
Herr der Ringe. Zwar wird er durch Gandalfs Manipulationen quasi gezwungen, an der Fahrt zum Einsamen Berg teilzunehmen, aber alle seine wichtigen Entscheidungen während des Abenteuers trifft er nicht unter Anleitung irgendwelcher wohlmeinender Autoritäten oder in demütiger Hinnahme eines göttlichen Auftrags, sondern aus eigener Initiative und Einsicht heraus. Dies gilt insbesondere für den "Diebstahl" des Arkenjuwels – seine vielleicht größte Heldentat.
Zu Weinreich Interpretation der Eukatastrophe als "
Vertrauen auf den glücklichen Ausgang der Weltgeschichte" sei außerdem noch folgendes angemerkt: Nicht immer ist der Optimismus eines Schriftstellers etwas Positives, sein Pessimismus etwas Negatives. Ohne es zu wollen, eröffnet uns der gute Frank in einem anderen seiner
Essays eine ausgezeichnete Möglichkeit, dies zu demonstrieren.
Um den angeblichen Optimismus von Tolkiens Werk hervorzuheben, kontrastiert er es mit dem Robert E. Howards. Nun wäre ein genauerer Vergleich zwischen den beiden Erzvätern der modernen Fantasy sicher höchst interessant und fruchtbar, doch leider dient ihm "Two-Gun" Bob einfach nur als dunkle Folie, auf der man den "Professor" um so heller und freundlicher erstrahlen lassen kann. Völlig zurecht weist er darauf hin, dass die Welt von Conan & Co. düsterer, härter und hoffnungsloser ist als Mittelerde. Aber er beweist eine extrem oberflächliche Herangehensweise an Howards Werk, wenn er schreibt: „
Das einzige was man bei Conan als Gutes ausmachen kann, ist die Kampfkunst und an deren Ende steht immer wieder nur der Tod. Das Gute bei Tolkien, das in den Handlungen der Gefährten, besonders in denen der Hobbits, zum Ausdruck kommt, ist dagegen lebensbejahend."
Für eine wirkliche Analyse und Kritik von Howard ist hier nicht der Platz, aber meiner Meinung nach enthält sein tiefer Pessimismus unbeabsichtigterweise ein größeres Stück Wahrheit als Tolkiens Eukatastrophe. Denn selbstverständlich ist es nicht allein seine Geschicklichkeit im Umgang mit dem Schwert, die den Cimmerier zum Helden macht. Weinreich zitiert zwar eine Beschreibung von Conans gnadenlosen Stammesgott Crom, um den Unterschied zwischen dieser finsteren Gottheit und Tolkiens gütigem Ilúvatar hervorzuheben, verschweigt jedoch, was Conan in
Queen of the Black Coast über sein Verhältnis zu den Göttern sagt:
I have known many gods. He who denies them is as blind as he who trusts them too deeply. I seek not beyond death. It may be the blackness averred by the Nemedian skeptics, or Crom's realm of ice and cloud, or the snowy plains and vaulted halls of the Nordheimer's Valhalla. I know not, nor do I care. Let me live deep while I live; let me know the rich juices of red meat and stinging wine on my palate, the hot embrace of white arms, the mad exultation of battle when the blue blades flame and crimson, and I am content. Let teachers and priests and philosophers brood over questions of reality and illusion. I know this: if life is illusion, then I am no less an illusion, and being thus, the illusion is real to me. I live, I burn with life, I love, I slay, and am content.
Howards Ideal war die unabhängige, sich keiner Autorität – gleich ob göttlich oder weltlich – unterordnende, nur ihren natürlichen Trieben gehorchende Persönlichkeit. Man rufe sich nur einmal die berühmte Beschreibung Conans aus
The Phoenix on the Sword in Erinnerung:
"[B]lack-haired, sullen-eyed,
sword in hand, a thief, a reaver, a slayer, with gigantic melancholies and
gigantic mirth, to tread the jeweled thrones of the Earth under his sandalled
feet." Der Cimmerier wäre niemals bereit gewesen, ein demütiges Instrument der Vorsehung zu werden wie Frodo. Im Ringkrieg hätte er beiden Seiten die Gefolgschaft verweigert. Er hätte als Glücksritter, Pirat oder Söldner seinen eigenen Kampf gekämpft und wäre dabei vermutlich untergegangen, weil er sich weder Sauron noch dem zurückgekehrten König gebeugt hätte.
Diese starke und egoistische Einzelpersönlichkeit stellt Howard in vielen seiner Stories der Macht der Geschichte gegenüber. In diesem Zweikampf muss sie notwendigerweise unterliegen. Daraus resultiert der Pessimismus von "Two-Gun" Bob – und er ist vollkommen berechtigt, denn im Grunde ist er nichts anderes als das ungewollte Eingeständnis, dass das Ideal des "rugged individualism", dem Howard anhing, einer Prüfung durch die Wirklichkeit nicht standhält. Der Einzelne, so willensstark und unabhängig er auch immer sein mag, kann sich nicht gegen die Geschichte durchsetzen. Am großartigsten finden wir dies in
Worms of the Earth dargestellt, dem düster-tragischen Finale von Howards Zyklus um den Piktenkönig Bran Mak Morn, der sein Volk gegen die vordringende römische Zivilisation zu verteidigen versucht und damit letztenendes nur dessen Untergang besiegelt.
Auch wenn "Two-Gun" Bob dies nicht beabsichtigte, zeigt uns der Pessimismus seiner Geschichten also, worin die Lösung nicht bestehen kann, ohne dass es dabei zu einer Abwertung des Menschen und seines Willens kommen würde. Tolkiens "Optimismus" – der ja in Wirklichkeit gar keiner ist – preist uns hingegen eine falsche Lösung an, hinter der sich eine viel tiefere Misanthropie verbirgt als die Howards. Die von Gott gesandte Euakatastrophe ist nur die Kehrseite von Tolkiens Überzeugung, dass jeder Versuch der Menschen, ihr Schicksal selbst zu formen, in Tyrannei und Zerstörung enden muss.
Solche Überlegungen besitzen natürlich nur dann Gewicht, wenn man der Meinung ist, dass gute Literatur etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben sollte, dass sie der Leserin oder dem Leser die Möglichkeit eröffnen sollte, Erkenntnisse und Inspirationen aus ihr zu beziehen. Ob Weinreich das so sieht, scheint mir jedoch eher fraglich. Seine Essays enthalten diesbezüglich recht widersprüchliche Aussagen. Als beispielhaft sei da
folgender sprachliche wie gedankliche Schnitzer zitiert
Tolkiens von christlichem Gedankengut durchtränkte Kosmogonie einer von einem liebenden Schöpfergott erschaffenen Welt, in der jeder seines Glückes Schmied ist und in der, wer sich nur bemüht, am Ende auch errettet wird, diese Welt ist trotz Saurons und trotz Mordors letztlich doch eine sehr schöne und erstrebenswerte Welt.
Solch eine Welt mag manchem
wünschenswert erscheinen,
erstrebenswert kann sie auf keinen Fall sein, da ihre Existenz ja nicht vom menschlichen Willen – individuell oder kollektiv – abhängt. Entweder gibt es einen Gott, der letztenendes alles zum Guten lenkt, oder nicht. Wir Menschen können ihn nicht erschaffen.
Tolkien betrachtete es als eine der edelsten Aufgaben des Märchens, Trost zu spenden inmitten einer Welt, die nicht nur vom Grauen der Moderne, sondern auch von „
Hunger und Durst, Armut, Schmerz, Leid, Ungerechtigkeit und Tod" erfüllt ist. Man kann aus gutem Grund kritisieren, dass ein solcher "Trost" letztenendes auf ein Aussöhnen mit Verhältnissen hinauslaufen würde, die keineswegs alle naturgegeben und unveränderlich sind. Das Märchen als ein weiteres "Opium des Volkes" sozusagen. Aber es wäre ausgesprochen arrogant, wollte man nicht anerkennen, dass dieser Idee ein ehrlicher und tiefempfundener Glaube zugrundelag. Die Freude, die uns ein wahres Märchen bescheren soll, erschöpfte sich für Tolkien nicht in netten Geschichten von einer herbeifantasierten schöneren Welt: „
Es ist eine Freude, die nach einer primären Wahrheit schmeckt. (Andernfalls hieße sie nicht Freude). Sie blickt voraus (oder zurück, die Richtung ist in dieser Hinsicht unerheblich) auf die große Eukatastrophe." Daraus ergeben sich allerdings auch gewisse Probleme. Der Apostel Paulus schreibt in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth: „
Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, ist auch Christus nicht auferweckt worden. Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos." (1 Kor 15, 13f.) Ähnliches ließe sich auch über die tolkiensche Eukatastrophe sagen. „
Das Besondere, der ‘Freude’ im gelungenen Phantasiewerk kann [...] als ein plötzliches Durchschimmern der tieferen Wahrheit oder Wirklichkeit erklärt werden." Wenn es jene „
Freude hinter den Mauern der Welt, durchdringend wie das Leid", auf die sie verweisen soll, aber nicht gibt, dann ist auch die Eukatastrophe ‘leer’ und ‘sinnlos’; schlimmer noch: sie ist ein Betrug. (17)
In ihrer ganzen Konsequenz will Frank Weinreich diese Verbindung nicht sehen. Er gehört zwar nicht zu jenen Tolkienisten, die die tiefe Frömmigkeit ihres Idols ignorieren oder kleinzureden versuchen, vielmehr
erklärt er die Eukatastrophe ganz offen zu einem Ausdruck der „
christliche[n] Weltsicht" des Autors. Aber eigenartigerweise bereitet es ihm keinerlei Schwierigkeiten, sie als etwas Positives zu betrachten, ohne deshalb den Glauben Tolkiens teilen zu müssen. Der christliche Bezug sei „
beileibe nicht nötig, um Mittelerde zu verstehen" und berge „
statt dessen sogar die Gefahr, Tolkiens Welt zu missverstehen." Für ihn genügt es offenbar,, wenn ihm der
Herr der Ringe die hübsche Mär von „
einer vielleicht schöneren und trotz aller Spannung und Gefahr doch behüteteren Welt" vorsetzt. Nicht im Sinne der klassischen Utopien, die ja als Antrieb zur aktiven Weltveränderung dienen sollten, sondern als phantastisches Neverland, in das er sich ab und an zu einem entspannenden "Urlaub" zurückziehen kann. Damit erweist er sich als ein größerer Eskapist, als es Tolkien jemals gewesen ist. Diesem ging es in seiner Dichtung um die
Wahrheit. Ein Begriff, der in Weinreichs Überlegungen zur Literatur scheinbar keine Rolle spielt. Obwohl er die Phantastik unablässig gegen ihre ignoranten Feuilleton-Kritiker verteidigt, bin ich mir deshalb auch nicht sicher, ob er sie selbst
wirklich ernst nimmt.
Zum Abschluss noch ein rasch hingeworfener Gedanke: Ich werde das Gefühl nicht los, dass Michael Moorcock mit dem Finale der ersten Trilogie seines
Corum-Zyklus in gewisser Weise eine Parodie auf Tolkiens Eukatastrophe schaffen wollte: Der willkürliche Eingriff des anarchischen und gänzlich amoralischen Gottes Kwll hat zur Vernichtung der "bösen" Chaos-Götter geführt. Moorcocks Held ist dankbar und beglückt – das Gute hat wider Erwarten obsiegt! –, als er erfahren muss, dass Kwll – da er schon mal dabei war – auch gleich die "guten" Götter der Ordnung erschlagen hat. Corum ist entsetzt und verwirrt: „
’Aber das kosmische Gleichgewicht – ?’ ‘Laß es seine Waagschalen schwingen. Es hat nun nichts mehr zu wiegen. Ihr steht jetzt auf euren eigenen Beinen, ihr Sterblichen.’" Vorbei ist die Zeit der großen Kriege zwischen den Anhängern des Chaos und der Ordnung. Und wie Corum selbst schon bald feststellen kann: „
Eine Welt ohne Götter ist eine Welt ohne viel Furcht." Die Menschen nehmen ihr Schicksal in die eigenen Hände und das Ergebnis kann sich sehen lassen: „
Nachdem ihnen ihre Götter genommen worden waren, wurden die Mabden [Menschen] ein freundliches und weises Volk." Befreit von göttlichen Manipulationen können sie damit beginnen, ihre eigene "Eukatastrophe" zu schaffen – nicht im glückhaften Augenblick, sondern im allmählichen Auf- und Ausbau ihres Glücks. (18)