"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Sonntag, 28. April 2013

Zu Terry Pratchetts Fünfundsechzigstem

Leider hatte ich keine Zeit, etwas angemessenes zu Terry Pratchetts fünfundsechzigstem Geburtstag zu schreiben. Ich verweise jedoch gerne auf den entsprechenden Eintrag im Blog der Bibliotheka Phantastika.
Mein einziger Beitrag zur Feier des Tages ist darum die folgende Linkliste zu sieben der neun Hörspiele, die das Radio der BBC auf der Grundlage von Büchern des Großmeisters der humorvollen, geistreichen und humanen Phantastik über die Jahre geschaffen hat:

Freitag, 26. April 2013

"Star Wars" ist an allem schuld

Nun habe ich ja nie zu Onkel Georges Fanclub gehört und halte die alten Star Wars - Filme für nicht mehr als kunterbunte Weltraumabenteuer – freilich für gut gemachte und unterhaltsame Weltraumabenteuer. Dennoch irritiert es mich jedesmal gewaltig, wenn ich auf Artikel stoße, die Titel tragen wie How 'Star Wars' Killed Smart Sci-Fi Cinema.  
Kann ein einzelner Film (oder meinetwegen eine Filmtrilogie) tatsächlich solch verheerende Auswirkungen auf ein ganzes Genre haben – ganz gleich wie erfolgreich er gewesen ist? Und wenn dies wirklich so auszusehen scheint, ist der entsprechende Film dann nicht vielleicht bloß der Katalysator für Entwicklungen gewesen, die unabhängig von ihm ohnehin existierten? Außerdem: Was genau habe ich mir unter dem "klugen SciFi-Kino" vorzustellen, dem angeblich von Luke, Han, Leia und Darth Vader der Garaus gemacht wurde?
In einem Artikel für Strange Horizons hat Paul Kincaid sogar einmal die Behauptung aufgestellt, der zerstörerische Zauber von Star Wars habe auch vor der literarischen Science Fiction nicht halt gemacht:
In the 1970s, when I first started writing about science fiction, I was one of those who argued strenuously that we should tear down the ghetto walls. I believed we had a strong case: science fiction would certainly benefit from all that the mainstream had to offer, and the mainstream, then in a rather moribund phase, would equally benefit from the vigor and the storytelling and the invention of science fiction. I also believed that we were winning. Hadn't the new wave injected literary modernism into British science fiction? Wasn't Thomas Pynchon shortlisted for the Nebula Award and didn't Michael Moorcock win the Guardian Fiction prize and hadn't Christopher Priest been included in the first Granta Young Writers Promotion, and weren't serious writers like Doris Lessing and P.D. James and Paul Theroux experimenting with the genre (however incompetently in some instances), and weren't those members of the literary establishment who looked down their noses at sci-fi fewer and more foolish? But we lost the battle: Star Wars came out. It may have taken a while to notice, but from that moment SF became primarily a visual medium, a form distinguished by big effects and simple stories. The literary establishment found it easy to continue disdaining such a simple narrative form, while within the genre the literature would quickly start to follow the visual. All those reinventions of the old forms, the new space opera, the new hard SF and their like, are direct descendants of Star Wars and its ilk.
Meine Kenntnis der SF-Literatur ist viel zu bruchstückhaft, als dass ich dem eine eigene Einschätzung entgegenhalten könnte. Kincaid soll hier darum nur als weiteres Beispiel für die weite Verbreitung des "Star Wars ist an allem schuld" - Argumentes dienen. Und zumindest in Bezug auf die Geschichte des SciFi-Films kann ich mit einiger Gewissheit erklären, dass ich dieses Argument für reichlich dumm halte.

Worauf können sich diejenigen stützen, die es vorbringen?
Es kann selbstverständlich kein Zweifel daran bestehen, dass der Erfolg von Lucas' Film dazu führte, dass in relativ kurzer Zeit eine Unmenge mehr oder weniger unterirdischer Star Wars - Klone in den Kinos auftauchten. Selbiges gilt jedoch für jeden erfolgreichen Streifen, und im Genrekino vielleicht noch mehr als irgendwo sonst. Halloween und Friday the 13th lösten eine Flut von Slasher-Filmen aus. George Romeros Dawn of the Dead folgte eine Schwemme von billigen Zombieflicks. Conan the Barbarian "beglückte" uns mit der kurzlebigen Sword & Sorcery - Mode der 80er Jahre. Und was die Science Fiction angeht, so dürfte es vielleicht mehr Rip-offs von Alien geben als von Star Wars, und nur die wenigsten von ihnen werden ähnlich unterhaltsam sein wie Luigi Cozzis Schlockspaß Contamination.* Bei all dem handelt es sich ganz einfach um eine der Gesetzmäßigkeiten der Filmindustrie. Bestenfalls ließe sich vielleicht behaupten, dass mit der Entwicklung des Blockbusterschemas diese zyklischen Bewegungen vermehrt auch im Mainstream-Kino auftauchen, während sie zuvor stärker auf den B-Movie-Bereich beschränkt waren. {Roger Cormans Karriere etwa bestand zu einem großen Teil darin, die aktuellen Modetrends aufzuschnappen und mit ultrabilligen Produktionen nachzulegen.} Doch selbst da wäre ich mir nicht so sicher, wenn ich z.B. an die Entwicklung des Gangsterfilms in den 30er Jahren denke {Little Caesar, Public Enemy, Scarface etc.}. Wobei dieses Beispiel aus der Goldenen Zeit von Hollywood ganz nebenbei auch noch zeigt, dass dieses Gesetz nicht notwendigerweise etwas schlechtes sein muss.
Doch natürlich wäre es unfair, wollte man die Argumentation derjenigen, die Star Wars zum Sündenbock des SciFi-Films erklären, auf dieses banale Niveau reduzieren. Es ist nicht so sehr die Existenz irgendwelcher Rip-offs, was sie irritiert. In ihren Augen führte Lucas' Film vielmehr zu einer radikalen und bleibenden Kehrtwende in der Entwicklung des ganzen Genres. Der anfangs genannte Artikel von Jason Bailey ist dafür ein gutes Beispiel. Dort bekommen wir zu lesen:
[T]hat’s the trouble with mainstream science fiction filmmaking these days: there’s no expectation that an audience is capable of putting things together or waiting for a payoff, and there certainly aren’t many filmmakers or executives willing to take the risk. The problem, it seems, is the desire of those who greenlight movies to lump science fiction in with action, and it’s easy to guess why: Star Wars. Before 1977, there were occasional crossovers, but for the most part, science fiction was a genre purely unto itself, concerned with alien invasions and post-apocalyptic scenarios and subtextual parallels. After Lucas mashed up spaceships and swashbucklers, sci-fi was never the same.
Ich finde das Bild der Entwicklung des SciFi-Films, das Bailey hier entwirft, aus einer ganzen Reihe von Gründen recht merkwürdig.

Zuerst einmal scheint mir der gute Jason eine über alle Maßen idealisierte Vorstellung der Prä - Star Wars - Ära zu besitzen. Gute Science Fiction hat seiner Meinung nach "brainy and smart" zu sein, "fueled by Big Concepts and Grand Ideas". Doch die überwältigende Mehrheit der SciFi-Filme der 50er und 60er Jahre gehörten zur fröhlichen Gemeinde des B-Movie-Schlocks. Ein Klassiker wie Fred Wilcox' Forbidden Planet (1956) bildete da eine einsame Ausnahme.
Bailey selbst erwähnt die weite Verbreitung des Motivs der außerirdischen Invasion. Nun gibt es zwar einige wirklich intelligente Vertreter dieses Subgenres {nennen wir es einfach mal so}: Quatermass II (1955), Invasion of the Body Snatchers (1956), Village of the Damned (1960). {Und zwei davon sind auch noch britische Produktionen!} Doch die meisten der "Flying Saucer" - Flicks aus der guten alten Zeit beschäftigten sich ganz sicher nicht mit "Big Concepts and Grand Ideas". Was nicht bedeuten soll, dass sie nicht trotzdem ein Heidenspaß sein können. {Man denke bloß an das Original von The Thing [1951], an Invaders from Mars [1953], It Came From Outer Space [1953] oder Earth vs. The Flying Saucers [1956]}.
Was die postapokalyptischen Szenarien angeht, die Bailey als zweite Erscheinungsform des "guten" SciFi-Films der Vergangenheit anführt, so handelt es sich dabei eigentlich um eine Spezialität der späten 60er und der 70er Jahre. The Last Man on Earth mit Vincent Price flimmerte zwar bereits 1964 über die Kinoleinwände, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass unser Star Wars - Basher hier eher an Planet of the Apes (1968), Beneath the Planet of the Apes (1970) oder Logan's Run (1976) gedacht hat.
Und damit kommen wir zu einem der grundsätzlicheren Probleme, die ich mit seinem Artikel habe. Vielleicht ist das ein dummes Vorurteil, aber ich habe das Gefühl, dass viele SciFi-Fans sich beinahe ausschließlich in ihrer bevorzugten Nische der Filmwelt auskennen. Bei Bailey jedenfalls scheint mir das offensichtlich der Fall zu sein. Er kommt gar nicht auf den Gedanken, dass man den SciFi-Film vielleicht im Rahmen der Gesamtentwicklung des amerikanischen Kinos** betrachten sollte, von allgemeineren sozialen, politischen und kulturellen Trends einmal ganz zu schweigen.
In den späten 60er und den 70er Jahren können wir tatsächlich das vermehrte Auftauchen "ernsthafterer" SciFi-Filme beobachten. Neben der Planet of the Apes - Reihe u.a. 2001 (1968), The Andromeda Strain (1970), Silent Running (1972), Soylent Green (1973), Westworld (1973), The Stepford Wives (1975), Rollerball (1975) Logan's Run (1976), Close Encounter of the Third Kind (1977), Capricorn One (1978), Invasion of the Body Snatchers (1978) und Alien (1979). Eine in inhaltlicher, stilistischer und qualitativer Hinsicht heterogene Gruppe, die sich dennoch sehr deutlich von allem unterscheidet, was vorher da war. Die Erklärung für dieses Phänomen ausschließlich oder auch nur hauptsächlich im Genre selbst, seiner angeblichen Verbundenheit mit "Big Concepts and Grand Ideas", zu suchen, scheint mir verfehlt. Stattdessen sollte man diese Filme lieber im Kontext der Veränderungen betrachten, die sich zu dieser Zeit ganz allgemein im amerikanischen Kino abspielen. Ich würde sie als eine Erscheinungsformen dessen betrachten, was man gemeinhin mit dem Schlagwort "New Hollywood" umschreibt.
Ende der 60er Jahre machten sich eine Reihe größtenteils noch junger Filmemacher daran, die amerikanische Kinolandschaft tiefgreifend zu verändern. Sie arbeiteten zwar nicht außerhalb des Studiosystems, aber gelockerte Kontrollen und das Ende des Production Codes (1966) erlaubten es ihnen, sehr viel unabhängiger und experimentierfreudiger zu Werke zu gehen. Oft verrieten ihre Filme einen kritischen Blick auf Aspekte der US-Gesellschaft, wie es ihn in dieser Offenheit seit der McCarthy-Ära in Hollywood so gut wie nicht mehr gegeben hatte. Zu den bekanntesten Beispielen für diese nicht viel länger als ein Jahrzehnt dauernde Periode gehören u.a. Arthur Penns Bonnie and Clyde (1967), Norman Jewisons In the Heat of the Night (1967), Dennis Hoppers Easy Rider (1969), Sydney Pollacks They Shoot Horses, Don't They? (1969), Robert Altmans McCabe & Mrs. Miller (1971), The Long Goodbye (1973), Thieves Like Us (1974) und Nashville (1975), Francis Ford Coppolas Godfather (1972) und Apocalypse Now (1979), Terrence Malicks Badlands (1973), Sam Peckinpahs Pat Garrett and Billy the Kid (1973) und Bring Me the Head of Alfredo Garcia (1974), John Cassavetes' A Woman Under the Influence (1974), Roman Polanskis Chinatown (1974) sowie Woody Allens Annie Hall (1976), Manhattan (1979) und Stardust Memories (1980). Auch wenn das die realen Zusammenhänge natürlich übermäßig simplifiziert und keine Rücksicht auf die einzelnen Künstler und ihre individuellen Entwicklungen nimmt, lässt sich zusammenfassend doch sagen, dass dieser Trend die allgemeine Radikalisierung der Zeit widerspiegelte:  Bürgerrechtsbewegung, Vietnamkriegsproteste, Gegenkultur und Studentenrevolte.
Das Ende von "New Hollywood" kam an der Wende von den 70er zu den 80er Jahren. Oberflächlich betrachtet waren dafür einerseits eine Reihe spektakulärer kommerzieller Flops {berühmtestes Beispiel: Michael Ciminos Heaven's Gate [1980]} und andererseits die Geburt des Blockbusterschemas verantwortlich. Doch hielte ich es für ziemlich absurd, wollte man die Richtung, in der der amerikanische Film sich von nun an entwickelte, ganz einfach aus dem Größenwahn einiger Regisseure oder der Gier und Cleverness der Studiobosse erklären. Ebensowenig halte ich es für angebracht, von irgendwelchen "immanenten Gesetzen der Kulturindustrie" zu sprechen. Wenn "New Hollywood" auf die eine oder andere Weise den rebellischen Geist der 60er und 70er widerspiegelte, so fällt sein Ende mit dem Triumph der Reaktion unter Ronald Reagan zusammen. Soviel zumindest sollte eigentlich offensichtlich sein. Dass die konservativen Kräfte diesen Sieg scheinbar so mühelos erringen konnten, deutet allerdings auch auf einige Schwächen der vorhergehenden Bewegung hin, deren Kritik an der US-Gesellschaft oft eher diffus blieb und deren Rebellentum selten über die Attitüde des Outsiders oder Underdogs hinauskam. Auch hierin war "New Hollywood" ein Abbild der allgemeineren "Revolte" jener Jahre.
Die Ironie besteht nun darin, dass Star Wars selbst ein Produkt von "New Hollywood" war und zugleich neben Steven Spielbergs Jaws zum wichtigsten Vorbild für das Blockbusterformat wurde.***
George Lucas begann seine Karriere als ein erklärter Rebell gegen Hollywoods Establishment. Der Erfolg seines gegen zahllose Widerstände seitens Universal Pictures realisierten American Graffiti (1973) war ein gehöriger Schock für die großen Bosse gewesen, eine Art Menetekel des zusammenbrechenden Studiosystems. Und auch die Produktion von Star Wars ähnelte ganz und gar nicht den kommenden Blockbuster-Gepflogenheiten. Es muss viel Leidenschaft erfordert haben, all die Hindernisse zu überwinden, die der Fertigstellung des Filmes im Wege standen, und von denen die Skepsis der Mächtigen bei 20th Century Fox nicht die geringste war. Inhaltlich gesehen ist Star Wars im Vergleich zu den meisten anderen großen SciFi-Filmen der 70er Jahre zwar schrecklich kindisch, enthält aber trotzdem noch deutliche Spuren des rebellischen Geistes jener Zeit.
Der gewaltige kommerzielle Erfolg des Streifens machte ihn zu einem der Muster, nach denen die Studios in den 80er Jahren den Blockbuster kreierten. Doch das bedeutet nicht, dass dieselbe Entwicklung nicht auch ohne ihn stattgefunden hätte. Wie eingangs bereits angedeutet, war er bloß der Katalysator für einen Prozess, der sich völlig unabhängig von ihm abspielte. Man könnte George Lucas höchstens vorwerfen, dass er sich dieser Entwicklung ohne zu zögern anschloss und in kürzester Zeit vom idealistischen Rebellen zum milliardenschweren Herrscher eines Filmimperiums mutierte. Aber selbst das wäre wohl nicht ganz fair, denn als Produzent leistete er zumindest in den 80er Jahren noch manch positiven Beitrag zur Filmgeschichte. Vielleicht kommt noch einmal der Tag, an dem man es als seinen größten Verdienst  ansehen wird, dass es ohne ihn Filme wie Akira Kurosawas Kagemusha (1980) oder Jim Hensons Labyrinth (1986) möglicherweise nie gegeben hätte.
Wie beinahe jeder Star Wars - Basher, dem ich bisher begegnet bin, stellt auch Jason Bailey dem bösen Machwerk von Lucas als strahlendes Beispiel für den "guten" und "intelligenten" SciFi-Film, den Onkel George angeblich auf dem Gewissen hat, Stanley Kubricks 2001 – A Space Odyssey entgegen. Die kritiklose Verherrlichung dieses Films erscheint mir ebenso problematisch wie die maßlose Dämonisierung von Star Wars. Natürlich ist er ein echter Klassiker, der in ästhetischer wie inhaltlicher Hinsicht in einer ganz anderen Liga spielt als Lucas' Weltraumabenteuer. Doch das makellose Meisterwerk, das viele in ihm sehen wollen, ist 2001 meiner Ansicht nach nicht. Wie Jim Moon einmal sehr treffend bemerkt hat: "Kubrick as a director ... has a fatal flaw, he doesn't understand people" (1:04:00). Bei all seinem formalen Perfektionismus gelingt es ihm nur selten, lebendige, voll ausgeformte und authentisch wirkende Charaktere zu erschaffen. Beinahe könnte man den Eindruck bekommen, Menschen interessierten ihn nicht wirklich. Kubricks Blick auf sie wirkt oft kühl und distanziert. 2001 ist dafür ein besonders extremes Beispiel, was noch dadurch verstärkt wird, dass der Geschichte ein äußerst negatives Bild der Menschheit zugrundeliegt. Kritiker Andrew Sarris beschreibt den Film in American Cinema als "so devoid of life and feeling as to render a computer called Hal the most sympathetic charakter".**** Das mag etwas übertrieben sein, trifft es im Großen und Ganzen jedoch ziemlich genau. 2001 ist ein äußerst kalter Film. Was in der Erinnerung haften bleibt sind die beeindruckenden und wunderschönen Panoramabilder; ikonische Szenen wie die Verwandlung des in die Luft geworfenen Knochens in ein Raumschiff; die psychedelische Schlusssequenz und das "Star Child". Die handelnden Personen hingegen sind so blass und unsympathisch, dass es uns nicht einmal wirklich berührt, wenn sie sterben. Der "Tod" ihres Mörders HAL hingegen ist der emotinalste Part des ganzen Films. Irgendetwas stimmt da nicht. Und was die "Big Concepts and Grand Ideas" angeht, so scheinen mir die Ideen, die sich hinter dem ästhetisch eindrucksvollen Symbolismus von 2001 verbergen, ehrlich gesagt nicht wirklich so großartig oder tiefgründig zu sein. Aber vielleicht bin ich ja auch einfach bloß zu dumm ...?
Wenn der strahlende Stern der Prä - Star Wars - Ära also vielleicht gar nicht so strahlend gewesen ist, wie verhält es sich dann mit dem SciFi-Film der 80er Jahre? Sieht es da wirklich so duster aus?
Bailey kritisiert vor allem die Tendenz, "to lump science fiction in with action", und in der Tat begegnen wir in diesem Jahrzehnt vielen actionbetonten SciFi-Flicks: Terminator (1984), Aliens (1986), Predator (1987), RoboCop (1987), Running Man (1987), Total Recall (1990). Wie man in diesen allerdings Nachkommen von Star Wars erblicken kann, ist mir völlig schleierhaft. Bailey selbst charakterisiert Lucas' Werk recht hübsch als "spaceships and swashbucklers", und die Action der 80er war nun wirklich alles andere als "Swashbuckling" {bei dem Wort denkt man doch eher an Errol Flynn}. Auch ignoriert Bailey einmal mehr den weiteren filmgeschichtlichen Kontext. Eines der Charakteristika des amerikanischen Kinos der 80er Jahre ist nun einnmal ganz allgemein das gehäufte Auftreten von Actionfilmen, und dass sich diese Tendenz auch im SciFi-Genre durchsetzt, ist weiter nicht verwunderlich. In der Person von Arnold Schwarzenegger fand der allgemeine Charakter dieser Entwicklung seine vielleicht prägnanteste Verkörperung. Zu Berühmtheit gelangt als Conan the Barbarian (1982) prägt Arnie mit seiner Rolle als John Matrix in Commando (1985) das Bild des Actionhelden, dem er dann in den folgenden Jahren sowohl innerhalb als auch außerhalb der SciFi zig Mal seine tumbe Gestalt verleiht.
Der Actionboom der 80er Jahre und mehr noch die Tatsache, dass dabei ein so gnadenlos untalentierter Schauspieler wie Schwarzenegger zu einem der großen Stars des amerikanischen Kinos werden konnte, sind sicher deutliche Anzeichen des allgemeinen kulturellen Niedergangs, der seine Wurzeln in den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen der Reagan-Ära besaß und der bis heute noch nicht zu einem Ende gekommen ist. Damit will ich nicht gesagt haben, dass Flicks wie Terminator, Predator oder Total Recall keinen Unterhaltungswert besitzen würden. Den besitzen sie ganz ohne Zweifel.  Und wie ich in der Vergangenheit schon ein paar mal erklärt habe, habe ich selbst eine gewisse Schwäche für den guten alten Arnie. Aber man wird wohl keinem dieser Filme ein erhöhtes Maß an Komplexität oder Intelligenz unterstellen können.
Aber auch wenn sich das amerikanische Kino in den 80er Jahren im Allgemeinen durch einen deutlichen künstlerischen Verfall, intellektuelle Verflachung, Konformismus und zunehmenden Zynismus auszeichnet, bedeutet das natürlich nicht, dass es keine Ausnahmen von diesem Trend gegeben hätte. Und das gilt für den Mainstream- wie für den Genrefilm. {Den sich explosionsartig entwickelnden Videosektor lassen wir dabei mal ganz beiseite.} Viele der interessanteren SciFi-Filme des Jahrzehnts enthalten ein Element der Kritik an den gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit. Bei einigen ist das sehr offensichtlich, so etwa im Fall von Terry Gilliams Brazil (1985), John Carpenters They Live (1988) oder Volker Schlöndorffs Adaption von Margaret Atwoods The Handmaid's Tale (1990). Bei anderen geschieht dies eher auf vermittelte Weise, wie z.B. in Outland (1981) oder Bladerunner (1982). Auf gewisse Weise sogar in Aliens (1986).  Paul Verhoevens Versuch, mit RoboCop (1987) einen Mix aus Brutalo-Action und Satire zu schaffen, scheint mir zwar eher nicht gelungen, aber ich respektiere seine Intention. Die spannendste Einzelfigur im SciFi-Kino der Zeit dürfte David Cronenberg sein, der seine in den 70er Jahren begonnene Karriere mit Videodrome (1983), The Dead Zone (1983) und The Fly (1986) fortsetzt.
Wie in einer Art Paralleluniversum entwickelt sich neben all dem in den 80er Jahren das Franchise der Star Trek - Kinofilme, deren Qualität von wirklich gut (Wrath of Khan [1982]) bis zu unterirdisch (The Final Frontier [1989]) reicht. Doch ganz gleich, wie gut oder schlecht die einzelnen Streifen auch sind, sie alle wirken merkwürdig entrückt von der Realität der Zeit, selbst da, wo sie aktuelle Themen anzusprechen versuchen (die Öko-Botschaft in The Vogage Home [1986] oder die seeehr oberflächliche Allegorie auf das Ende des Kalten Kriegs in The Undiscovered Country [1991]). Möglicherweise spiegeln sie damit den angesichts der krassen gesellschaftlichen Veränderungen immer realtitätsferner und schwächlicher wirkenden Charakter von Roddenberrys Vision wider.
Gar so übel sieht das alles doch gar nicht aus, wenn man die Zeitumstände in Betracht zieht, oder?

Ich denke, hiermit lass ich es bewenden. Meine Skizze mag schematisch, unvollständig und in manchem sicher auch korrektionsbedürftig sein, doch denke ich, dass sie genug Argumente enthält, um zu beweisen, dass Star Wars eben doch nicht an allem schuld ist. Es gibt genug an George Lucas zu kritisieren, aber der "böse Geist" des SciFi-Kinos ist er nicht.


* Vgl.: Jim Moons Besprechung auf The Day Hollywood Stood Still & die entsprechende Episode von Chris Browns Video Nasties Podcast. Cozzi war interessanterweise auch für eine der legendärsten Star Wars - Rip-offs aller Zeiten verantwortlich: Starcrash mit Genrefilm-Ikone Caroline Munro! Ein echtes Muss für alle Freunde absurden Trashs.
** Baileys Artikel bezieht sich ausschließlich auf die Entwicklung des amerikanischen SciFi-Films, auch wenn er dies nicht offen ausspricht.
*** Den Erfolg eines Films mit einer Flut von Merchandising-Artikeln auszubeuten, gehört zwar zu den Charkteristika der Blockbuster-Ära, doch anders als oft angenommen, war Star Wars dabei nicht der Pionier. Vielmehr konnte man dieses Phänomen erstmals bereits bei Planet of the Apes beobachten.
**** Andrew Sarris: The American Cinema. Directors and Directions 1929-1968. S. 196.

Freitag, 19. April 2013

William Hope Hodgson

Vor 95 Jahren – am 17. oder 19. April 1918 (1) – wird in der Nähe von Ypres ein vierzigjähriger britischer Soldat auf vorgerücktem Posten von einer deutschen Granate in Stücke gerissen. Er ist nur eines der unzähligen Opfer, die die jahrelangen Kämpfe um die belgische Stadt, der die Tommies nicht ohne Grund den Spitznamen "Wipers" gegeben haben, auf beiden Seiten kosten. Mit ihm stirbt einer der interessantesten Vertreter der Phantastik jener Zeit. Sein Name William Hope Hodgson.

Geboren am 15. November 1877 in Blackmoore End, Essex, als Sohn eines anglikanischen Priesters, läuft der dreizehnjährige William 1890 aus dem Internat fort, um zur See zu fahren. Zwar gelingt es, den Jungen wieder "einzufangen", doch geben die Eltern seinem Wunsch schließlich nach, und ein Jahr später beginnt er als Schiffsjunge eine vierjährige Lehrzeit bei der Handelsmarine, der ein zweijähriges Studium an einer Technischen Schule in Liverpool folgt, mit dem der junge Hodgson seine Ausbildung zum Dritten Maat beendet. Bis 1902 fährt er zur See und lässt sich anschließend in Blackburn nieder, wo er eine Schule für "körperliche Ertüchtigung" gründet. Entsprechende Techniken hatte er sich während seiner Zeit als Matrose beigebracht, um sich gegen die Misshandlungen durch andere Seeleute besser verteidigen zu können, die in dem eher kleingewachsenen jungen Mann mit den zarten Gesichtszügen offenbar ein ideales Opfer für ihre Brutalitäten erblickten. Obwohl er zu seinen Kunden u.a. Mitglieder der örtlichen Polizei zählen kann, ist die Schule auf Dauer kein finanzieller Erfolg, und so wendet  sich Hodgson 1904 schließlich der Schriftstellerei zu.

Seine Zeit zur See hat sehr deutliche Spuren im Werk des Autors hinterlassen. Er, der sich als kleiner Junge nichts sehnlicher gewünscht hatte, als Matrose zu werden, hatte das Meer über die Jahre regelrecht zu hassen gelernt. Einer der Gründe dafür bestand ohne Zweifel in den miserablen Verhältnissen, unter denen Lehrlinge und einfache Matrosen in der britischen Handelsmarine jener Zeit zu leiden hatten. Er selbst schrieb darüber später: "[B]ad treatment, poor food, poor wages ... a comfortless, weariful, and thankless life ... of hardness and sordidness ... [and] being a pawn with the sea for board and the shipowners for players." (2) Doch der Abscheu ging offenbar noch sehr viel tiefer. Alan Gulette schreibt in seiner biographischen Skizze William Hope Hodgson: Reporter from the Borderland: "[A]fter having sailed around the world three times, he realized (belatedly!) that he hated the sea –  and with such passion that in nearly all his writings the sea is regarded with a feeling of horror, almost as if it were evil."
Nun bin ich mit Hodgsons Oeuvre nicht wirklich umfassend vertraut und habe so gut wie keines seiner "maritimen" Werke gelesen, weder seine Romane The Boats of the "Glen Carrig" (1907) und The Ghost Pirates (1909), noch die Sargasso Sea - oder die Captain Gault - Geschichten. Deshalb kann ich zu diesem Thema auch keine eigene Meinung abgeben. Die einzige auf hoher See spielende Geschichte des Autors, die ich aus eigener Leseerfahrung kenne, ist The Voice in the Night (1907). Ob es sich bei ihr tatsächlich um seine "vielleicht beste Kurzgeschichte" handelt, wie Gulette behauptet, kann ich naturgemäß nicht sagen. Ein echter Klassiker ist sie auf jedenfall, hat hier doch zum wohl ersten Mal der befremdliche und beunruhigende Eindruck, den Pilze und Flechten auf uns machen können, seinen literarisch-phantastischen Ausdruck gefunden. Die Story diente als Grundlage sowohl für eine Episode von Alfred Hitchcocks TV-Serie Suspicion als auch für Ishiro Hondas Film Matango aus dem Jahr 1963. (3)

Hodgsons bekannteste Werke dürften jedoch die Romane The House on the Borderland (1908) und The Night Land (1912) sein. Über ersteren schrieb H.P. Lovecraft:
The wanderings of the Narrator's spirit through limitless light-years of cosmic space and Kalpas of eternity, and its witnessing of the solar system's final destruction, constitute something almost unique in standard literature. And everywhere there is manifest the author's power to suggest vague, ambushed horrors in natural scenery. But for a few touches of commonplace sentimentality this book would be a classic of the first water.
Dieses sehr positive Urteil aus der Feder des Gentlemans von Providence ist nur zu verständlich, darf The House on the Borderland doch mit einiger Berechtigung als eines der frühen großen Beispiele für den "kosmischen Schrecken" gelten. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass Bram Stokers Dracula gerade einmal elf Jahre zuvor erschienen war, wird einem die Bedeutung des Bruchs mit den Konventionen der "gothic literature" erst richtig bewusst, die Hodgson mit seinen überlappenden Existenzebenen und kosmischen Dimensionen in diesem Roman vollzogen hat. In vielerlei Hinsicht stellt er eine Art Bindeglied zwischen der Horrorliteratur des 19. und des 20. Jahrhunderts dar. (4)
Eine genaue Einschätzung von The Night Land fällt schon sehr viel schwerer. Das Buch macht es einem aber auch wirklich nicht leicht. An die schwerfällige, bemüht altertümlich wirkende Sprache wird man sich (wenn überhaupt) nur sehr langsam gewöhnen können. Die Rahmenerzählung wirkt eher irritierend, und die Haupthandlung scheint mitunter nur im Schneckentempo voranzuschreiten. Dennoch handelt es sich um ein ungemein faszinierendes Werk, über das Clark Ashton Smith einmal geschrieben hat:
In all literature, there are few works so sheerly remarkable, so purely creative, as The Night Land. Whatever faults this book may possess, however inordinate its length may seem, it impresses the reader as being the ultimate saga of a perishing cosmos, the last epic of a world beleaguered by eternal night and by the unvisageable spawn of darkness. Only a great poet could have conceived and written this story.
Die Erzählung spielt in einer weit entfernten Zukunft. Die Sonne ist schon seit langem erloschen und die letzten Überreste der Menschheit haben sich in eine gewaltige, metallene Pyramide zurückgezogen, während draußen in der Ödnis monströse Kreaturen, Eindringlinge aus unirdischen Welten, ihr Unwesen treiben. Die gespenstische, bedrückende und fremdartige Atmosphäre, die Hodgson heraufbeschwört, indem er seinen Erzähler das Panorama des in ewige Nacht getauchten Landes schildern lässt, welches sich diesem von der Spitze der Pyramide aus darbietet, dürfte kaum ihresgleichen in der englischsprachigen Literatur der Zeit besitzen.

Sehr viel leichter zugänglich und als erster Einstieg in sein Werk vielleicht am besten geeignet, sind seine Geschichten um Thomas Carnacki, den "Ghost Finder". Hodgson war nicht der erste Autor, der die Abenteuer eines "Detektivs des Okkulten" geschildert hat. Als direkter Vorläufer (und Inspirationsquelle) muss dabei vor allem Algernon Blackwoods John Silence genannt werden. (5) Und natürlich wäre er ohne den gewaltigen Erfolg von Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes sicher nie auf die Idee gekommen, Detektiv- und Horrorgenre miteinander zu verschmelzen. (6)
Nichtsdestoweniger ist Hodgsons Carnacki eine sehr originelle und interessante Figur.  Der Detektiv geht mit einem wachen und kritischen Verstand an seine Fälle heran. Sein erster Schritt ist dabei stets, auf methodische Weise sicherzustellen, dass den vermeintlich übernatürlichen Phänomenen nicht ganz irdische Ursachen zugrundeliegen. Denn wie er selbst in The Thing Invisible erklärt:
"I am as big a skeptic concerning the truth of ghost tales as any man you are likely to meet; only I am what I might term an unprejudiced skeptic. I am not given to either believing or disbelieving things ‘on principle,’ as I have found many idiots prone to be, and what is more, some of them not ashamed to boast of the insane fact. I view all reported ‘hauntings’ as unproven until I have examined into them, and I am bound to admit that ninety-nine cases in a hundred turn out to be sheer bosh and fancy."
Und tatsächlich erweisen sich in einigen der Stories die Spukerscheinungen am Ende als alles andere als übernatürlich.
Carnacki ist ein Mann der Technik und der Wissenschaft, wobei letztere bei ihm freilich auch die okkulten  Lehren umfasst. Bei seinen Untersuchungen bedient er sich sowohl moderner Instrumente wie Fotoapparat und Mikrofon als auch uralter Rituale, die er dem mysteriösen Sigsand Manuscript entnimmt. Mitunter kombiniert er beide Methoden, wie im Fall des "Elektrischen Drudenfußes", dem er  mehr als einmal die Rettung von Leben und Seelenheil verdankt.
Das vielleicht Interessanteste an den Geschichten ist jedoch die detaillierte und packende Schilderung der Auswirkungen, die die Begegnung mit den Mächten "aus einer anderen Existenzebene" auf Carnackis Psyche hat. Der "Ghost Finder" ist kein Held, der sich schämen würde, von seiner Angst zu sprechen.
Sieben der Carnacki-Stories – The Thing Invisible, The Gateway of The Monster, The House Among The Laurels, The Whistling Room, The Searcher of the End House, The Horse of the Invisible und The Find – kann man sich übrigens von dem unvergleichlichen Mr. Jim Moon im Rahmen seines Podcasts Hypnobobs vortragen lassen.

Clark Ashton Smith beendete seinen kurzen Aufsatz über William Hope Hodgson mit folgender Bemerkung:
It is to be hoped that work of such unusual power will eventually win the attention and fame to which it is entitled. Beyond doubt, accident and fatality play a large part in such matters; and many meritorious books and works of art are still shadowed in obscurity. Hodgson, though little known, is in good company. How many, even among fantasy lovers, have heard of the great imaginative artist, John Martin, or the equally great and macabre imaginative poet, Thomas Lovell Beddoes?
Man kann in der Tat nur hoffen, dass das Werk dieses Klassikers der Phantastik auch heute noch genug Leserinnen & Leser findet, die sich von den fraglos vorhandenen stilistischen Schwierigkeiten nicht abschrecken lassen, und sein Name damit auch in Zukunft nicht in Vergessenheit geraten wird.
Zum Abschluss nun noch eine Komposition von Stephan Probst mit dem Titel The Quieting, die von einer Passage aus The Night Land inspiriert wurde




(1) Die Quellen scheinen sich da nicht einig zu sein. Ich wollte diesen Blogeintrag darum eigentlich am 18.4. veröffentlichen, was aus verschiedenen Gründen jedoch nicht möglich war.
(3) Wer sich näher für das Thema "Pilze und Horror" interessiert, sei auf das Interview der Weird Fiction Review mit Silvia Moreno-Garcia & Orrin Grey sowie auf die Website zu deren Anthologie Fungi verwiesen.
(4) Sam Gafford hat die These aufgestellt, William Hope Hodgson habe seine Romane nicht in der Reihenfolge ihres Erscheinens geschrieben, sondern in genau umgekehrter Ordnung. Sollte er damit recht haben, dann wäre The House on the Borderland bereits 1904 entstanden. Wie stichhaltig seine Argumentation tatsächlich ist, kann ich nicht beurteilen.
(5) Josh Reynolds hat vor geraumer Zeit auf Black Gate eine Artikelserie über "okkulte Detektive" und Kämpfer gegen das Böse (The Nightmare Men) gestartet, in der er neben Algernon Blackwoods John Silence und Hodgsons Carnacki bisher Sheridan Le Fanus Dr. Hesselius, Ella Scrymsours Shiela Crerar, Alice & Claude Askews Aylmer Vance, Manly Wade Wellmans Judge Pursuivant und John Thunstone, Lin Carters Anton Zarnak, Bram Stokers Abraham Van Helsing, H.P. Lovecrafts Inspector Legrasse, Brian Lumleys Titus Crow, Jim Beards Sgt. Roman Janus, Robert E. Howards John Kirowan und August Derleths Dr. Shrewsbury vorgestellt hat.
(6) In Alan Gulettes biographischem Artikel zu Hodgson findet sich in diesem Zusammenhang eine {ähem} etwas eigentümliche Passage: "At the same time, in real life, Sherlock Holmes's creator, Arthur Conan Doyle was investigating – and exposing – seances and other occult phenomenon in his search for proof of a psychic dimension. Similarly engaged was Harry Houdini, who incidentally had met Hodgson in 1902." In Wahrheit war Conan Doyle alles andere als ein Skeptiker. Seine Leichtgläubigkeit in Sachen "übernatürlicher" Phänomene war vielmehr so groß, das der Sunday Express das Erscheinen seines zweiten Buches über Spiritismus mit der recht unhöflichen Schlagzeile kommentierte: "Is Conan Doyle Mad?” Wer einen Eindruck davon bekommen will, wie naiv der Autor in solchen Fragen war, schaue sich z.B. einmal sein putziges Buch über die "Feenfotografien von Cottingley" an. Es war dieser durch keinerlei Argumente, Fakten oder Beweise zu erschütternde Glaube Conan Doyles an das Übernatürliche, der schließlich zum Bruch mit Harry Houdini führte. Der große Magier hatte es sich nämlich tatsächlich zum Ziel gesetzt, Medien und andere "esoterische" Scharlatane zu entlarven. (Vgl.: Houdini's Impossible Demonstration von Massimo Polidoro.)

Dienstag, 16. April 2013

I have a bad feeling about this

Das amerikanische Reboot des britischen SciFi-Klassikers Blake's 7, über das schon seit Monaten Gerüchte durchs Netz schwirren, scheint nun tatsächlich produziert zu werden. Und wie so oft, wenn es um derartige Ankündigungen geht, packt mich dabei ein eher ungutes Gefühl. Doch statt sofort in den Meckermodus umzuschalten, werde ich diesmal versuchen, in aller Ruhe die Gründe für meine Skepsis darzulegen.

Dass Syfy der primäre Strippenzieher bei dem Ganzen ist, führt bei mir zwar nicht gleich dazu, dass ich alle Hoffnung fahren lasse, ist aber auch nicht gerade geeignet, mir große Zuversicht einzuflößen. Was mich jedoch wirklich bedenklich stimmt, ist, was David Ellender – CEO von FremantleMediaInternational, die gleichfalls an dem Projekt beteiligt sind – in der offiziellen Presseerklärung über die "revolutionary reinvention {schauder} of the long-running BBC series" von sich gegeben hat: 

Blake’s 7 was such a forward-thinking concept that the show continues to have resonance with audiences today. Its complex characters and gritty storylines, coupled with the highly talented team and modern production techniques are sure to appeal to both original fans of the show and new viewers.

Der Stein des Anstoßes dabei ist das Wörtchen "gritty". Blake's 7 war intelligent und "erwachsen". Die Serie stellte einen klaren Bruch mit dem naiven Idealismus älterer Space Operas wie Star Trek dar. Aber sie war ganz sicher nicht "gritty". Jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem das Wort heutzutage in Genrekreisen verwendet wird.

Wenn es in Verbindung mit einer SciFi-Serie fällt, wird man dabei unweigerlich sofort an das Reboot von Battlestar Galactica denken müssen. Aus Sicht der Produzenten könnte ich es sogar irgendwie verstehen, wenn man sich in dieser Richtung orientiern würde, schließlich war BSG verdammt erfolgreich. Ganz anders jedoch fällt meine Reaktion aus, wenn ich z.B. Folgendes auf io9 lesen muss:
If Syfy's Blake's 7 does succeed, it'll have to follow in BSG's footsteps. The original Blake's 7's fingerprints are all over Moore's BSG reboot, and pretty much the only way to do Terry Nation's concept properly in this day and age is to go as hard-edged as possible. (A show about freedom fighters who use terrorist tactics against an empire that relies on pervasive surveillance and overwhelming military power pretty much has to be dark and intense — you couldn't do that in the more friendly, cheerful mode of recent Syfy shows like Warehouse 13, or even Alphas.)
And the truth is, the original Blake's 7 was already much, much more fucked up than the original Battlestar, making it that much harder to do justice to the concept in a modern framework.
Ich habe den ganzen Hype um BSG nie so recht verstehen können. Mir persönlich ist der gewollt "dreckige", "harte" und "düstere" Stil sehr schnell auf die Nerven gegangen und ich habe die Serie dann nicht mehr weiter verfolgt, zumal mir die deutlichen Bezüge zur Post-9/11-Ära eher suspekt vorkamen. Allerdings verbindet mich auch nur sehr wenig mit dem Original. Als Kind habe ich wohl einige der Spielfilme um die "Mormonen im Weltraum" gesehen {jedenfalls kann ich mich von irgendwoher an die alten Zylonen erinnern, die ich echt cool fand}, das dürfte aber auch schon alles gewesen sein. Insofern ist es mir ziemlich egal, was die Neuauflage mit dem alten Material angestellt hat.
Bei Blake'7 schaut das ganz anders aus. Ich habe die Serie zwar überhaupt erst im letzten Jahr kennengelernt, doch hat sie sich auf meiner persönlichen Fernseh-SciFi-Rangliste sofort einen Platz ganz weit vorne sichern können. Ein Reboot, dem man die Attribute "dark" und "fucked up" verpassen könnte, käme für mich deshalb nicht nur der Verunstaltung einer geliebten Sache gleich, es würde in meinen Augen auch die Gefahr in sich bergen, der heutigen Generation der SF-Fans den Zugang zum Original zu erschweren, der aufgrund der {vorsichtig ausgedrückt} etwas primitiven Tricktechnik der alten Serie ohnehin schon nicht einfach sein dürfte. Und das wäre wirklich ein Jammer.

Viele Kommentatoren – wie der Verfasser des obigen io9-Artikels oder Andrew Blair von Den of Geeks – gehen wie selbstverständlich davon aus, dass man Blake's 7 als einen direkten Vorläufer von BSG betrachten könnte. Ich halte diese Sichtweise für oberflächlich und letztlich verfehlt. Ja, Terry Nations Serie besitzt komplexe, moralisch ambivalente Charaktere. Sie scheut nicht davor zurück, einige (und am Ende alle) ihrer Hauptfiguren in den Tod zu schicken. Und mit ihrem kritischen Blick auf die Motive und Methoden ihrer Helden im Kampf gegen die totalitäre Föderation ist sie Lichtjahre weit entfernt vom simplistischen Star Trek - Utopismus der Roddenberry-Ära. Aber reicht das schon aus, um eine direkte und folgerichtige Entwicklung von Blake's 7 zu BSG zu konstruieren? Als direkter Nachkomme wäre da wohl eher Farscape zu nennen {vielleicht auch Firefly, aber damit bin ich nicht so vertraut}. Battlestar wäre ohne diese älteren Serien {denen man wohl auch noch Babylon 5 und DS9 hinzufügen sollte} vielleicht nie möglich gewesen. Doch gehört Ronald D. Moores "Grimdark"- SciFi deswegen nicht automatisch auch zur gleichen Verwandtschaftsgruppe. Der entscheidende Punkt ist für mich dabei weniger der Inhalt, als vielmehr der Ton. Jim Moon und Lee Medcalf haben das in der letzten Folge des Black Dog Podcast sehr schön zusammengefasst, wenn sie das drohende Blake's 7 - Reboot à la Battlestar so beschreiben: "'People getting pissed up and shouting at each other in dark sweaty corridors until we all fucking lose interest.' 'And you have to have at least one gratuitous softporn scene every episode.'" (00:25) Eine gruselige Vorstellung, von der man sich nur wünschen kann, dass sie nie Wirklichkeit werden möge.

Ich äußere mich in meinem Blog ja öfters sehr abfällig über die ganze "grim & gritty" - Mode, und mancher könnte dadurch vielleicht den Eindruck bekommen, ich sei einer jener Moralapostel, die jede unverhüllte Darstellung von Gewalt oder Sex für verwerflich halten. Dem ist mitnichten so! Grundsätzlich habe ich überhaupt nichts gegen explizite Gewalt- oder Sexdarstellungen in Filmen, Büchern, Comics etc. Sie alleine definieren für mich nicht das "grim & gritty" - Phänomen. Allerdings bin ich schon der Meinung, dass sich viele Macher und nicht wenige Kommentatoren endlich einmal hinter die Ohren schreiben sollten, dass Sex und Gewalt einen Film nicht automatisch "erwachsener" oder "realistischer" machen. Auch haben sie einem erzählerischen Zweck zu dienen, sonst werden sie sehr schnell irritierend und langweilig. Wenn ich Sexdarstellungen sehen will, die nur um ihrer selbst Willen existieren, dann schaue ich mir einen gut gemachten Porno an. Und wenn es mich nach exzessiven und einfallsreichen Bildern von Gewalt verlangt, greife ich nach einem guten alten Exploitation-Flick. Keins von beidem halte ich per se für illegitim. Aber wenn ein Film mehr sein will als das, wenn er eine interessante Geschichte mit interessanten Charakteren erzählen will, dann sind Sex- und Gewaltszenen bloße Stilmittel, deren Anwendung nur gerechtfertigt ist, wenn sie die Story oder die Charakterentwicklung wirklich voranbringen.

Doch zurück zu Blake's 7. Der eigentliche Grund für meine heftigen Bedenken hinsichtlich des Reboots besteht wohl darin, dass das Original nicht nur sehr "britisch", sondern vor allem ganz unverkennbar ein Produkt der 70er Jahre war. Das gilt zuerst einmal für Stil und Ästhetik; für die psychedelische Verrücktheit, die immer mal wieder durchbricht; für den starken Camp-Faktor. Derartiges kann eine heutige SciFi-Serie nicht nachahmen, und es wäre eher peinlich, würde sie es versuchen. Und so bleibt nur der Inhalt als Argument für eine Neuauflage. Doch auch dieser erweist sich bei näherer Betrachtung als äußerst zeitgebunden.
Blake ist der Typ des charismatischen revolutionären Einzelkämpfers, der den Kampf gegen ein unterdrückerisches System führt wie eine persönliche Vendetta, ebensosehr Idealist wie Egoman.  Damit ist er zumindest in meinen Augen eine Gestalt, die man nur von dem Hintergrund der Guerilla-Romantik der 70er Jahre richtig verstehen kann, der kultischen Verehrung, die Leuten wie Che Guevara damals in großen Teilen der Jugend und der Intelligenz entgegengebracht wurde. Der kritische Blick, den die Serie auf Blake, seine Persönlichkeit und seine Art des revolutionären Kampfes wirft, ist zugleich eine Kritik an damals weit verbreiteten politischen Ideen und Idolen. Und es ist eine völlig berechtigte Kritik, die zu keinem Zeitpunkt die Legitimität des Kampfes selbst in Frage stellt.
Von dieser politischen und kulturellen Atmosphäre ist heute nichts mehr übriggeblieben, weder im negativen noch im positiven Sinne. Einerseits ist der romantische Guerillero als Heldenfigur verdientermaßen in der Mottenkiste der Geschichte verschwunden. Andererseits ist die Idee der Revolution selbst zu etwas geworden, was nur noch eine winzige Minderheit für etwas anderes hält als eine utopische (und möglicherweise gefährliche) Fantasterei. Was können wir in diesem Kontext von einer Neuauflage von Blake's 7 erwarten? Scheint es nicht beinah unumgänglich, dass dabei an die Stelle des kritischen Umgangs mit einem verfehlten Revoluzzer-Ideal die Botschaft treten wird, Revolutionen seien an sich unmöglich, weil die Menschen ja soooo böse, dumm und egoistisch sind? Und verweist all das Gerede von "dark" und "gritty" nicht genau in diese Richtung?
Keine besonders hübschen Aussichten also. Ein Trost bleibt uns freilich. Ganz gleich wie das Reboot schließlich aussehen wird, wir werden immer noch das wunderbare Original besitzen. Eigentlich ein guter Grund, um sich mal wieder an Bord der Liberator zu begeben.

Sonntag, 14. April 2013

Monster im Nebel und Mobmentalität

Ich habe nie ein echtes Interesse für Stephen King entwickeln können. Nicht, weil sein Status als Bestesellerautor ihn mir verdächtig gemacht hätte. Ich bin kein so großer Snob, dass ich glauben würde, alles, was Massenerfolg hat, könne deshalb nicht gut sein. Es hat sich einfach bloß nie ergeben. Außer The Shining habe ich, glaub ich, nur irgendeine seiner Kurzgeschichten gelesen. Verfilmungen seiner Bücher bin ich logischerweise schon sehr viel häufiger begegnet, aber auch hier beschränkt sich mein Wissen fast ausschließlich auf ältere Werke: Neben Stanley Kubricks The Shining (1980) fallen mir da spontan vor allem Carrie (1976), Christine (1983), Pet Sematary (1989), Misery (1990), It (1990), und Needful Things (1993) ein. Einzig The Green Mile (1999) fällt zeitlich ein bisschen aus dem Rahmen. Allgemein heißt es, King habe selten großes Glück mit den filmischen Adaptionen seiner Bücher gehabt, und tatsächlich hat außer The Shining wohl nur Carrie irgendeinen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Es ist allerdings auch schon ganz schön lange er, dass ich einen der anderen Filme gesehen habe.

Als regelmäßiger Hörer des Black Dog Podcast bemühe ich mich für gewöhnlich, mir den jeweiligen Film der Woche tatsächlich auch anzuschauen – zumindest, wenn es sich dabei um einen phantastischen Streifen handelt. Und da diesmal Frank Darabonts The Mist von 2007 an der Reihe war, ergab sich damit die Gelegenheit, einmal eine etwas neuere King-Adaption kennenzulernen. Der Umstand, dass Darabont auch bei The Green Mile – einem der peinlichsten und verlogensten Filme, die zu sehen ich je das Pech hatte – Regie geführt hat, war freilich nicht dazu angetan, mich mit all zu hohen Erwartungen zu erfüllen. Eine um so freudigere Überraschung war es, feststellen zu dürfen, dass es sich bei The Mist um einen wirklich spannenden, gut gemachten, kleinen Horror-Flick handelt, auch wenn ich ihn nicht so rückhaltlos positiv bewerten würde, wie dies Lee, Darren und Jim Moon tun.


Der Trailer sagt eigentlich schon alles notwendige über den nicht eben komplizierten Plot: Nach einer heftigen Sturmnacht wird eine Kleinstadt in Maine von einer unheimlichen Nebelfront überrollt. Wie sich sehr schnell herausstellt, verbergen sich in ihr Scharen monströser und blutgieriger Kreaturen. Eine Gruppe von Leuten – unter ihnen auch Protagonist David Drayton (Thomas Jane) und sein kleiner Sohn Billy (Nathan Gamble) – verschanzt sich in einem Supermarkt. Angst und Verunsicherung führen schon bald zu immer heftigeren Spannungen unter den Eingeschlossenen. Während ein Teil der Gruppe versucht, auf vernünftige Weise einen Ausweg aus der Situation zu finden, schließt sich ein anderer der religiösen Fanatikerin Mrs. Carmody (Marcia Gay Haddon) an, die den Nebel für den Beginn des Jüngsten Tages und für Gottes Strafgericht über die sündige Menschheit hält.

Was The Mist in meinen Augen so ansprechend macht, ist zuerst einmal, dass es sich im Grunde um einen ziemlich "altmodischen" Horrorfilm handelt. In gewisser Weise wirkt er wie eine Mischung aus einem Creature Feature der 50er Jahre, einer alten Episode von Twilight Zone und George Romeros Night of the Living Dead.
Der Film lebt nicht von Ekelszenen oder Orgien expliziter Gewalt. Entsprechende Effekte (vor allem in der Apotheken-Sequenz) werden sparsam, aber wirkungsvoll eingesetzt.
Das Monsterdesign ist bei aller Nähe zu Insekten und Spinnen sehr originell {Es wurde große Mühe darauf verwendet, etwas noch nie dagewesenes zu schaffen.} Die Szene, in der Davids Gruppe gegen Ende des Film einer riesenhaften Kreatur im Nebel begegnet, hat mir wirklich eisige Schauer über den Rücken gejagt. Der Dead can dance - Song verleiht dem Ganzen vielleicht eine etwas arg pathetische Note, aber mich hat das nicht sonderlich gestört.
Übrigens ist diese Schlusspassage die einzige, die mit Musik unterlegt ist, was die unheimliche Atmosphäre im Rest des Filmes interessanterweise nur noch verstärkt. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers konzentriert sich dadurch ganz auf die handelnden Personen. Man lauscht mit ihnen zusammen hinaus in die bedrohliche Stille des Nebels, und das plötzliche Auftauchen der Monster wirkt damit nur um so erschreckender.
Das funktioniert natürlich nur deshalb so gut, weil man echte Sympathie für die Eingeschlossenen empfindet. Sie sind ganz normale, "einfache" Leute, die sich ohne Vorwarnung in einer fürchterlichen Situation wiederfinden und irgendwie mit dieser umgehen müssen, während der ständig wachsende Druck der Angst auf ihnen lastet. Im Großen und Ganzen verzichtet der Film auf klischeehafte Zeichnungen und präsentiert uns stattdessen eine Reihe recht markanter Figuren. Den stärksten Eindruck haben zumindest bei mir die alte Lehrerin Irene (Frances Sternhagen) und der stellvertretende Supermarkt-Manager Ollie (Toby Jones) hinterlassen. Erstere wirkt von allen vielleicht am ruhigsten und vernünftigsten, ist mitunter aber auch zu sehr energischen Handlungen fähig. Letzterer macht auf den ersten Blick den Eindruck eines netten, ein wenig spießigen Jedermanns, erweist sich jedoch als derjenige, der nicht nur am geschicktesten mit einer Pistole umzugehen versteht, sondern auch die dafür nötige Kaltblütigkeit besitzt. Am blassesten wirkt hingegen die weibliche Hauptfigur Amanda (Laurie Holden), über die wir relativ wenig erfahren. Vor allem bleibt völlig schleierhaft, warum Mrs. Carmody auf sie einen besonder großen Hass zu haben scheint. Begrüßenswert ist hingegen, dass Darabont ihrer Beziehung zu David im Unterschied zur Kingschen Vorlage keine erotische Dimension verliehen hat. Ich zumindest finde es erfreulich, zur Abwechselung einmal eine starke emotionale Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau gezeigt zu bekommen, die nicht sofort dazu führen muss, dass die beiden miteinander schlafen.
Am problematischsten hingegen ist sicher die Darstellung von Mrs. Carmody, trägt diese doch leicht karrikaturenhafte Züge. Dafür ist sie ohne Zweifel eine wunderbar hassenswerte Gestalt, und das Mitgefühl, das wir ihr anfangs vielleicht noch entgegenbringen (schließlich ist ihr Gerede über Gottes Strafgericht erst einmal nur  ihre Methode, mit der Angst umzugehen), wird sehr schnell ins Gegenteil umschlagen.
An einigen Stellen hätte das Drehbuch freilich noch eine letzte Überarbeitung und Glättung vertragen können. Das Verhalten einiger Personen macht nicht immer hundertprozentig Sinn. So etwa, wenn Davids Nachbar ihm nicht glauben will, dass sich Ungeheuer im Nebel verbergen (obwohl es bereits zu mehreren Todesfällen gekommen ist), und dieser, statt ihm den abgeschlagenen Tentakel zu zeigen, der im Nebenraum rumliegt, eine wilde Diskussion mit ihm anfängt. Die willentliche Blindheit des starrköpfigen Rechtsanwalts ist ja vielleicht noch nachvollziehbar (was nicht sein kann, ist nicht!), Davids Reaktion eher weniger.

Doch dies sind kleinere Schwäche. Die wirkliche Problematik liegt an anderer Stelle. So sehr mich der Film auch zu fesseln vermochte, irgendwann sah ich mich doch gezwungen, sozusagen einen Schritt zurückzutreten und mich zu fragen: Was ist der eigentliche Inhalt von The Mist?
Es reicht, ein paar Interviews mit Frank Darabont zu lesen, und man wird sehr schnell merken, dass der Filmemacher eine maßlos übertriebene Vorstellung vom Wert seiner eigenen künstlerischen Arbeit hat. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass er auch The Mist als schrecklich tiefgründig und bedeutungsvoll darzustellen versucht hat:
[T]o me it's a throwback to Paddy Chayefsky, it's a throwback to Shakespeare. It's people at each other. It's not so much about the unbelievably cool creatures we've got working in this thing. It's not really about that. What it's really about is fear. What does fear compel people to do? You throw people into the dark. You scare the (expletive) out of them, as this character says at one point, you take all the rules away. Then what? How primitive do people get? It's Lord of the Flies that happens to have some cool monsters in it.
Das mit Shakespeare wollen wir mal gnädig übergehen, aber sobald der Name Lord of the Flies fällt, schrillen bei mir die Alarmglocken. William Goldings Roman ist das klassische Beispiel für ein zutiefst pessimistisches Menschenbild, demzufolge wir alle unter einer dünnen zivilisatorischen Patina irrationale, gewalttätige Barbaren sind. Und man braucht uns bloß in die richtigen Umstände zu versetzen und wir werden uns wieder genau so verhalten, wie es unserer eigentlichen Natur entspricht. Ärgerlicherweise gibt es in The Mist tatsächlich eine kleine Szene, in der uns genau eine solche Interpretation der Ereignisse aufgedrückt wird. Eine Person (Amanda?) erklärt, sie glaube, die Menschen seien im Grunde gut, eine andere erwiedert, dem sei ganz und gar nicht so, man müsse bloß die Regeln aufheben, und schon habe man einen wilden Mob vor sich. Und tatsächlich folgt die Mehrheit der Leute sehr bald der anfangs noch belächelten Fanatikerin und ist nur zu rasch bereit, einige ihrer Mitmenschen zu töten, weil sie hoffen, dadurch dem Zorn Gottes (sprich: den Monstern) entkommen zu können.
Einige Kommentatoren haben hierin einen damals aktuellen gesellschaftspolitischen Subtext erkennen wollen. So schrieb Bloody Disgusting in einer Retrospektive der zwanzig besten Horrorfilme der Jahre 2001-2010:
[W]hat really drives this one home is Darabont’s focus on the divide that forms between two factions of the townspeople – the paranoid, Bible-thumping types led by rabid fundamentalist Mrs. Carmody [...] and the more rational-minded, decidedly left-wing members of the populace. [...] [T]his allegorical microcosm of Bush Jr.-era America is spot on, and elevates an already-excellent film to even greater height.
Stephen Kings Erzählung ist natürlich schon sehr viel älter (sie erschien erstmals 1980 in Dark Forces), und Darabonts Interesse an dem Stoff reicht beinahe ebenso weit zurück. Dennoch dürfte an dieser Interpretation etwas dran sein, zumal eine der Hasspredigten von Mrs. Carmody sehr deutlich an die Rhetorik und Mentalität der christlichen Rechten gemahnt.
Viele mehr oder weniger "linke" Intelektuelle hatten während der Bush-Ära das Gefühl, der religiöse Fundamentalismus sei unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Der Konflikt zwischen der christlichen Rechten und den "Liberalen" schien ihnen der alles beherrschende Gegensatz der amerikanischen Gesellschaft zu sein. Natürlich existiert dieser Gegensatz tatsächlich, und er spiegelt auf gewisse Weise den immer heftigeren Klassenkonflikt wider, der die USA auseinanderzureißen droht. Doch tut er dies auf sehr verzerrte Art. Wie die Obama-Administration inzwischen hinlänglich bewiesen hat, lässt sich eine extrem rechte Wirtschafts-, Sozial- und Außenpolitik zumindest momentan noch sehr gut mit einem halbherzigen "Liberalismus" in sekundären, "weltanschaulichen" Fragen vereinbaren. Und wenn man sich anschaut, wie viele der "linken" Kritiker Bushs unter seinem Nachfolger zu mehr oder weniger begeisterten Fürsprechern der US-Regierung geworden sind, zeigt sich daran sehr deutlich, wie gefährlich es war, die Bedeutung des "kulturellen" Konfliktes so maßlos zu überschätzen. Zumal die Einschätzung, die Frontlinie verlaufe zwischen "fanatischen Frömmlern" und "aufgeklärten Liberalen" nicht selten eine ordentliche Dosis elitären Hochmuts gegenüber dem "dummen" Pöbel enthält.
Etwas von all dem findet sich auch in The Mist wieder. Sehr gut lässt sich dies z.B. einem Interview entnehmen, in dem die Schauspieler Parallelen zur Situation in New Orleans während des Hurrikanes Katrina ziehen:
Laurie Holden: "You think about Katrina and what was going on in the Dome. It was incredible who helped who, who was stealing from who. There was violence. They’ve just been through something not as apocalyptic or as scientific, whatever your point of view is, but we’ve been through something that is heinous.”
Thomas Jane: “How many rapes happened in the Dome while people were trapped in that Dome? Disgusting number of rapes were happening and there was even a couple of murders, I think. It’s amazing how quickly people turn into animals.”
Laurie Holden: "Or not always animals, because I don’t think everybody in The Mist turns into an animal, I think that it’s a morality tale of what happens to people under dire circumstances – fear. And some people rise to the occasion, some people become leaders, like your character, and some people become mothers like my character, and some people become religious crusaders like Mrs. Carmody."
Die einseitige und extrem übertriebene Berichterstattung über Plünderungen und Vergewaltigungen diente nicht nur dazu, von der verbrecherischen Inkompetenz der Behörden abzulenken, sie war außerdem Ausdruck einer tiefverwurzelten Verachtung der wohlhabenden Mittelschicht für die Masse der arbeitenden Bevölkerung. Ganz dieseselbe Einstellung  lassen vor allem Thomas James Äußerungen erkennen. 

Warum mir dieser mögliche Subtext den Film trotzdem nicht ernsthaft vergällen konnte? Ein Gutteil der Antwort steckt bereits in Laurie Holdens Bemerkungen. Ich denke, dass sich The Mist unabhängig von Darabonts Intentionen auch ganz einfach als die Darstellung unterschiedlicher Reaktionsweisen betrachten lässt, die Menschen in einer extremen Krisensituation an den Tag legen, ohne dass man dabei gleich an die "Wahrheit über die menschliche Natur" oder ähnlichen Nonsense denken müsste. Und dass diese verschiedenen Verhaltensformen tatsächlich existieren, steht ja außer Frage. Einerseits können wir immer wieder erleben, wie Menschen in vergleichbaren Situationen ein großes Maß an Solidarität, Selbstlosigkeit und Heroismus entwickeln. Andererseits kann es aber auch zu antisozialem Verhalten oder zu Ausbrüchen von Mobmentalität kommen. Warum Einzelne oder ganze Gruppen sich so oder so verhalten, hängt sicher von einer ganzen Reihe von Faktoren ab – persönlichen, kulturellen, gesellschaftlichen. In The Mist werden uns beide Varianten vorgeführt, aber ich wüsste nicht, warum wir eine von ihnen unbedingt zur Grundlage für ein allgemeines Urteil über "die Menschen" machen müssten, selbst wenn der Film uns dies nahezulegen versucht.

Und so bleibt es für mich dabei: Dank sympathischer und lebendiger Charaktere, einer unheimlichen und bedrückenden Atmosphäre sowie einiger wunderbar grotesker Monster ist The Mist ein wirklich sehenswerter Horrorstreifen, den man freilich nicht so ernst nehmen sollte, wie sein Schöpfer das gerne hätte.
Allerdings wäre keine Besprechung dieses Films vollständig, die nicht wenigstens ganz kurz auf das Ende eingehen würde. Keine Angst, ich verzichte auf Spoiler. Es sei nur so viel gesagt, dass das Finale ungemein bitter ist und mit einer ganzen Reihe der ungeschriebenen Gesetze des amerikanischen Blockbusterkinos bricht. Allerdings hat es mich nicht so stark erschüttert wie viele der Blackdoger. Der Grund hierfür mag darin liegen, dass ich das Gefühl hatte, Darabont habe diese letzte fiese Wendung in erster Linie vollzogen, um seinem Film damit den Anschein des Unkonventionellen zu geben und Zuschauer wie Kritiker zu beeindrucken. Die Wendung ist ohne Zweifel sehr effektvoll, aber sie ergibt sich nicht aus der Logik der Geschichte. So gesehen ist sie überflüssig und besitzt deshalb den Beigeschmack eines cleveren Zynismus.

Freitag, 12. April 2013

Strandgut der Woche

Mittwoch, 10. April 2013

Herland

Utopische Erzählungen sind selten eine besonders spannende Lektüre. Ihr eigentlicher Inhalt besteht in der Beschreibung einer Gesellschaftsordnung, und die Rahmenhandlung dient für gewöhnlich als bloßes Vehikel hierfür. Auf intellektueller und historischer Ebene finde ich diese Bücher dennoch nicht selten recht faszinierend.
Die meisten Klassiker des Genres – von Thomas Morus' Utopia bis zu William Morris' News from Nowhere – habe ich bereits vor Jahren gelesen, doch ein recht prominenter Vertreter war mir bisher eigentlich nur dem Namen nach bekannt gewesen: Charlotte Perkins Gilmans erstmals 1909 veröffentlichter Roman Herland. Natürlich wusste ich, dass es sich dabei um die erste große feministische Utopie handelt, die eine ausschließlich aus Frauen bestehende Gesellschaft beschreibt. Doch das war auch schon alles. Die Autorin war mir vor allem als Verfasserin der phantastischen Erzählung The Yellow Wallpaper ein Begriff. Eine Wissenslücke, die es endlich einmal zu schließen galt.

Das Ergebnis? Herland besitzt seine Stärken, aber sie liegen nicht in der gesellschaftsutopischen Dimension, sondern in der Art, in der Gilman gängige sexistische Sichtweisen und  Wertvorstellungen ihrer Zeit karrikiert und bloßstellt.

Bereits die literarische Form, in die die Autorin ihre Utopie gekleidet hat, scheint mir in dieser Hinsicht geschickt gewählt, orientiert sich die Rahmenerzählung doch am Vorbild der damals sehr beliebten "Lost World" - Geschichten, wie wir sie etwa von Arthur Conan Doyle, H. Rider Haggard oder Edgar Rice Burroughs kennen. Und sind diese nicht Ausdruck eines betont "männlichen" Entdeckerethos? Hinzu kommt, dass die drei Protagonisten in gewisser Weise Verkörperungen von drei unterschiedlichen Spielarten des männlichen Chauvinismus sind. Terry ist die mit Abstand widerlichste Gestalt. Für ihn sind Frauen eindeutig minderwertige Geschöpfe, deren Hauptdaseinszweck darin besteht, Sexualobjekte zu sein, die es zu erobern und zu unterwerfen gilt. Jeff als der klassische Südstaaten-Gentleman erscheint da schon sehr viel sympathischer, aber seine "Ritterlichkeit", die es ihm zur Pflicht macht, alle Frauen zu "ehren" und zu "beschützen", ist im Grunde natürlich auch Ausdruck eines männlichen Überlegenheitsgefühls. Der Erzähler Van schließlich hegt zu Beginn der Geschichte als Soziologe zwar viele der damals üblichen "wissenschaftlich" verbrämten Vorurteile über "natürliche Geschlechterrollen" und ähnliches, ist jedoch am ehesten bereit, diese zu revidieren, sobald ihm deren Unhaltbarkeit anschaulich vor Augen geführt wird.
Diese drei Männern nun entdecken während einer Expedition zum Oberlauf des Amazonas ein nur von Frauen bewohntes Reich, das sich von der Außenwelt völlig abgeschottet in einem Ausläufer der Anden entwickelt hat. Seine Bewohnerinnen pflanzen sich bereits seit Jahrhunderten mittels Parthenogenese (Jungfrauengeburt) fort. Schon bald nach ihrem Eindringen werden die drei "gefangengenommen" und lernen in der Folge von ihren Wächterinnen nach und nach alles Wissenswerte über die Gesellschaft von "Herland". Dabei sehen sich nicht nur gezwungen, viele ihrer sexistischen Vorurteile {Frauen sind zu Kooperation & Organisation nicht fähig} neu zu überdenken, die Fragen ihrer wissbegierigen Hüterinnen/Lehrerinnen decken auch immer wieder unbeabsichtigterweise den frauenfeindlichen und von Heuchelei und Doppelmoral geprägten Inhalt westlicher Moralvorstellungen auf. Und als es schließlich soweit kommt, dass die "Entdecker" drei einheimische Mädchen heiraten {eine zugegebenermaßen recht unglaubwürdige Entwicklung}, ist dies ein willkommener Anlass, die patriarchalischen Vorstellungen von "Eheleben" und "häuslichem Glück" auseinanderzunehmen.

So weit ist das alles recht clever gemacht und enthält berechtigte und intelligente Attacken gegen den klassischen Sexismus. Problematisch wird es, sobald Gilman beginnt, ihre "ideale" Gesellschaft zu beschreiben. Und die biologisch absurde Vorstellung menschlicher Parthenogenese ist dabei nicht einmal das eigentliche Problem.
Wie jedes ordentliche Utopia ist auch "Herland" frei von Krankheit, Armut und Elend, und seine in größter Soldidarität zusamenlebenden Bewohnerinnen zeichnen sich ausnahmslos durch ein geradezu erschreckendes Maß an Stärke, Geschicklichkeit, Schönheit, geistiger Ausgeglichenheit und Intelligenz aus.
Nun finde ich es einerseits sehr begrüßenswert, dass Charlotte Perkins Gilman ihren Feminismus überhaupt mit einem sehr viel weiter gefassten Ideal einer besseren Gesellschaft verknüpfte. Schaut man sich heute um, so ist das ja nur noch eher selten der Fall. Viele Feminstinnen scheinen vielmehr bloß noch das Ziel zu verfolgen, Frauen die gleichen "Aufstiegschancen" innerhalb der bürgerlichen Ordnung zu erkämpfen. Mit anderen Worten: Ihr Ideal besteht darin, den weiblichen Anteil an der herrschenden Elite auf ein "gerechtes" Maß zu vergrößern. Die auf sozialer Ungleichheit und Ausbeutung basierende Gesamtstruktur des Kapitalismus hingegen stellen sie nicht in Frage. {Phyllida Lloyd und Abi Morgan haben es in ihrem Film The Iron Lady (2012) ja sogar so weit getrieben, Margaret Thatcher zu einer feministischen Ikone zu machen!}
In dieser Hinsicht steht Gilman weit über vielen ihrer heutigen Gesinnungsgenossinnen. Allerdings kommt man nicht umhin, sich zu fragen, worin die Grundlage für "Herlands" ideale Gesellschaft bestehen soll. Und soweit der Text hierauf überhaupt eine Antwort gibt, ist diese wenig zufriedenstellend.
Das Frauenreich trägt ohne Zweifel sozialistische Züge, so etwa wenn es von der hochentwickelten Landwirtschaft "Herlands" heißt:
To them the country was a unit – it was theirs. They themselves were a unit, a conscious group; they thought in terms of the community. As such, their time-sense was not limited to the hopes and ambitions of an individual life. Therefore, they habitually considered and carried out plans for improvement which might cover centuries.

Am deutlichsten zeigt sich die Nähe zum Sozialismus aber im Erziehungssystem, bei dem kollektive Verantwortung die Hauptrolle übernommen hat, ohne deshalb die natürliche Mutter-Kind-Beziehung zu zerstören. Seine Beschreibung bildet das vielleicht interessanteste Kapitel des Romans.
Zeigt sich hierin einerseits, dass eine höhere Gesellschaftsordnung gar nicht anders als auf sozialistischer Grundlage denkbar ist, so ist andererseits doch sehr auffällig, dass Gilman es bewusst vermeidet, auf die Fragen von Eigentum und wirtschaftlicher Organisation genauer einzugehen. Sie selbst war zumindest zu Beginn ihrer Karriere eine Anhängerin des "Nationalismus", jener eigentümlichen politischen Strömung im Amerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die ihre Inspiration aus Edward Bellamys Schilderung einer kollektivistischen Gesellschaftsordnung in seinem Roman Looking Backward bezog. Darf man Wikipedia glauben, so entwarf sie in Moving the Mountain – dem Vorläufer zu Herland – das Bild eines Wirtschaftssystems "described as being 'beyond Socialism', a strain of nationalism that answered all the questions posed by socialism without actually being socialist, renovating its society and culture". Etwas ähnliches müssen wir uns vermutlich auch unter "Herlands" Ordnung vorstellen, wobei der Verzicht auf jede nähere Charakterisierung allerdings nur um so stärker verdeutlicht, dass dieser "nichtsozialistische Übersozialismus" eine bloße Chimäre darstellt.
Im Falle von Herland hat dies jedoch noch weitergehende Folgen. Da uns Informationen über die ökonomische Grundlage der dargestellten Gesellschaft vorenthalten werden, drängt sich der Eindruck auf, ihr idealer Charakter wurzele letztlich in dem Umstand, dass sie nur aus Frauen besteht. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass die kapitalistischen Werte von "Kampf" und "Wettbewerb" als typisch "männlich" dargestellt werden. {In einer besonders bizarren Passage werden sogar für die angeblichen Übel der Hundehaltung die bösen Männer verantwortlich gemacht!} Damit bewegt sich der Roman gefährlich nahe an die dümmliche Vorstellung heran, Frauen seien von Natur aus die besseren Menschen, und alle Probleme der modernen Gesellschaft seien letztlich darauf zurückzuführen, dass Männer in ihr das Sagen haben. Dabei dürfte zumindest für uns heute kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Frauen in Politik und Wirtschaft ebenso egoistisch und rücksichtslos sein können wie Männer.
Was die Darstellung in meinen Augen noch problematischer macht, ist, dass diese "bessere Natur" der Frau ihre Basis offenbar in der Mutterschaft besitzen soll. "Herland" ist ein Reich von Müttern. Ein Kind zu gebären, gilt für die Bewohnerinnen des Landes als der abolute Höhepunkt ihres Lebens, ein Ereignis von geradezu religiöser Bedeutung. Zugleich bilden die Mutterinstinkte, vom eigenen Kind auf die gesamte nächste Generation ausgeweitet, die psychologische Grundlage für die harmonische, rationale und planmäßige Gestaltung der Gesellschaft. In letzterem mag sich der Kern einer ganz interessanten Idee verbergen, im Ganzen gesehen jedoch empfinde ich es als ziemlich irritierend, wenn die Mutterrolle einen so absoluten Stellenwert zugeschrieben bekommt. Bedeutet dies nicht im Umkehrschluss, dass eine Frau, die sich entschließt, nicht Mutter zu werden, eine Art Verrat an ihrer "natürlichen" Bestimmung begeht? Und ist dies nicht genau das, was die Konservativen seit eh und je gepredigt haben? Gilman bedient sich im Unterschied zu diesen zwar keiner religiösen, sondern biologischer (und damit vermeintlich "wissenschaftlicher") Argumente, doch das Ergebnis bleibt dasselbe.
Ihr "Biologismus" führt sie zudem auch noch in die wenig erfreulichen Gefilde der Eugenik. Die Gesellschaft von "Herland" ist das Ergebnis eines von langer Hand geplanten "Zuchtprogramms". Unerwünschte Charakterzüge hat man über die Jahrhunderte ausgemerzt, indem man ihren Trägerinnen ganz einfach das Recht auf Fortpflanzung verweigerte. Der Fairness halber sollte man allerdings darauf hinweisen, dass eugenische Ideen zu Beginn des 20. Jahrhunderts keineswegs nur in reaktionären oder protofaschistischen Kreisen verbreitet waren. Wie der berühmte Biologe Stephen Jay Gould in einem seiner Essays geschrieben hat:
[D]ie Eugenikbewegung lässt sich nicht so einfach in eine einzige, eindeutige politische Schubalde stecken [...]. Die Anhänger der Eugenik waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine vielgestaltige, mächtige Bewegung. Kaum eine andere Gruppe, die einen einzigen Namen trug, war in jeder anderen Hinsicht so buntscheckig. [...] Die Bewegung umfasste die ganze Palette von starrköpfigen Anhängern der Vererbung, die Behinderte, Kranke und sogar Arme sterilisieren wollten, bis zu den Idealisten der Fabian Society, die kluge, freundliche Menschen dazu veranlassen wollten, mehr Kinder zu bekommen.*
Für den heutigen Leser oder die heutige Leserin werden die entsprechenden Passagen von Herland, in denen Verbrechen auf Erbanlagen zurückgeführt werden, denke ich dennoch einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen.

Derselbe "Biologismus" liegt auch dem Zug des Romans zugrunde, der mich am stärksten abgestoßen hat: Dem Umgang mit Sex und Erotik. "Herland" ist eine vollkommen enterotisierte Gesellschaft. Angesichts der Tatsache, dass es in ihr seit Jahrhunderten nur noch ein Geschlecht gegeben hat, erscheint das vielleicht nicht als gar so unwahrscheinlich. {Die Möglichkeit homosexueller Beziehungen auch nur anzudeuten, ohne sie gleichzeitig zu dämonisieren oder verächtlich zu machen, wäre in einem Roman jener Zeit so gut wie unmöglich gewesen.} Doch die Geschichte bleibt nicht an diesem Punkt stehen. Im Kontext der sich entwickelnden Beziehung zwischen dem Erzähler Van und einer der Frauen von "Herland" zeigt sich vielmehr recht deutlich, dass Gilman tatsächlich der Meinung war, dass die Vorstellung, Sex könne unabhängig vom Produzieren von Nachkommen auch noch einen anderen Wert besitzen {gemeinsamen Spaß vielleicht?}, für einen Ausdruck des bösen Patriarchats hielt. Auf die Verwandtschaft zwischen dem Puritanismus und einigen Spielarten des Feminismus will ich jetzt gar nicht näher eingehen, aber hier wiederholt die Autorin im Grunde doch ganz offensichtlich bloß einige uralte christliche Vorurteile. Wikipedia zufolge war dies Ausdruck eines bizarren "Reform-Darwinismus": "Charlotte believed very seriously that Charles Darwin accidentally subjugated women by installing male sex selection, which requires constant sexual contact as opposed to a more periodic sexuality, thus leading to the oppression of women through rape and violence." Wir sollten unsere sexuelle Akivität also lieber auf saisonale "Paarungszeiten" beschränken, weil es sonst automatisch zu Vergewaltigungen kommen wird? Sorry, aber das ist nicht nur biologisch und  psychologisch gesehen absoluter Blödsinn, es enthält außerdem eine ordentliche Portion Bigotterie. Und in diesem Punkt ist meine Toleranz wirklich sehr beschränkt. In meinen Augen gehört gerade die Tatsache, dass wir Menschen das Ausleben unseres Sexualtriebs von seiner ursprünglichen biologischen Funktion losgelöst haben, zu den schönsten Belegen dafür, dass wir mehr sind als bloße Tiere. Wer die Erotik verteufelt, ganz gleich ob er dies im religiösen oder im feministischen Gewand tut, kann deshalb nicht auf meine Sympathie rechnen.


* Stephen Jay Gould: Wie kann das denkende Schilf von der kernlosen Pflaume lernen? In: Ders.: Ein Dinosaurier im Heuhaufen. Streifzüge durch die Naturgeschichte. S. 373f.