"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Montag, 30. Juni 2025

Valerie und ihre Woche der Wunder (3)

Long live the victorious months of liberating nonsense: 
the meaning of youth is dizziness and laughter. (1)
 
Karel Teige: Dada (1926) 

 
Dies ist der dritte Beitrag zu einer Blogreihe, die ursprünglich einmal als bloße Einleitung zu einer Besprechung von Jaromil Jireš's Film Valerie a týden divů (Valerie and Her Week of Wonders) aus dem Jahre 1970 gedacht war. Doch da es sich bei demselben um eine Adaption von Vítězslav Nezvals gleichnamigem Roman handelt, hat sich das Ganze inzwischen zu einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit der tschechoslowakischen Avantgarde der 20er und 30er Jahre ausgewachsen. Und auch der heutige Blogpost wird uns da dem Ende nicht viel näher bringen. 
Bevor es losgeht, möchte ich aber noch einmal betonen, dass ich in den Themen, die hier behandelt werden, nicht mehr als ein interessierter Dilettant bin. Natürlich hoffe ich, dass der Text dennoch keine gar zu großen Fehler enthält.
 
Die ersten beiden Beiträge findet man hier und hier.   
 
 
 
(1) 
 
Schon im Frühjahr 1922 waren Karel Teige und der Dichter Jaroslaw Seifert aus dem Proletkult ausgeschlossen worden mit der offiziellen Begründung, einige ihrer Arbeiten seien in einer "zentristischen" Zeitschrift veröffentlicht worden. Es ist nicht anzunehmen, dass sie darüber sonderlich viele Tränen vergossen haben. Die endgültige Loslösung vom ganzen Konzept einer "proletarischen Kultur" vollzog sich nach Veröffentlichung des zweiten Devětsil - Almanachs und des Sammelbandes Život ("Leben") sehr schnell.  Teiges Abrechnung mit dem Projekt fand in der gewohnten polemischen Schärfe statt:
Immer klarer zeigte es sich, dass das Programm der proletarischen Kunst eine absolut falsche und unzureichende Lösung ist, eine unrichtige Antwort auf die Tatsachen der revolutionären Epoche. Die proletarische Kunst, wie sie Lunatscharski verkündet hatte, das erkannten wir, war eine unmarxistische Irrlehre und ästhetischer Unsinn. Es zeigte sich sogar, dass die Gedichte, die Agitation für die revolutionäre Bewegung sein wollten, nicht nur unzureichende Gedichte, sondern auch erzmiserable Agitation waren; weder Fisch noch Fleisch. Das Gedicht wäre eine unzureichende Waffe des Proletariats gegen die Mitrailleusen und Panzerwagen gewesen. [...] Ebenso waren alle Gedichte der sozialen und proletarischen Dichter, im wesentlichen rhetorische, odische, didaktische und ideologische Werke, nicht imstande, eine Mission zu erfüllen, die nicht zu den Funktionen des Gedichtes gehört. Denn es ist nicht nötig, Verse dort zu missbrauchen, wo klare Mitteilung und der direkte Aufruf des Zeitungsartikels, die Auffälligkeit des Plakats und die geschickt dirigierte Propaganda ergiebigere Wirkung erzielen.
Vítězslav Nezvals Beitritt zu der Gruppe war offenbar einer der Katalysatoren für diese Entwicklung gewesen. Für uns besonders interessant ist, dass mit ihm ein stärkeres Element des Phantastischen Eingang in den Devětsil fand. Im Rückblick schrieb Teige 1928:
In diesem Augenblick (1922) beginnt der bewundernswerte Zauberer und Akrobat Vítězslav Nezval zu sprechen. Dort, wo die anderen mehr oder minder feurig Rhetoren und Apostel der Revolution waren, ist Vítězslav Nezval Dichter. Er bringt das magische Märchen, voll von Wundern und wundertätiger Imagination. Dank seiner verzaubernden Blendung lebt die Poesie wieder auf und erinnert sich ihrer selbst. (2)
 Nezval erklärt dazu in seinen Memoiren:
Wenn man die sonderbare Schönheit der Erzählungen von E.T.A. Hoffmann oder von Poe kennt, lässt man sich schwerlich vor die Droschke des Realismus spannen, auch wenn man ihr oftmals winkt, auch wenn man gern zu ihr auf den Parkplatz läuft, auch wenn man nichts kennt, was stärker ist als die Wirklichkeit. (3)
Viele der Beiträge in Revoluční sborník (Almanach) und Život hatten bereits deutliche Ansätze für das enthalten, was nun schon bald das ästhetische Programm des Devětsil werden sollte. Aber es war ganz offenbar das befruchtende Zusammentreffen von Nezval und Teige, das im Verlaufe der nächsten Monate aus diesen das herausdestillierte, was die beiden "Poetismus" tauften. Nezval beschrieb dessen Geburt vier Jahre später wie folgt:
In the spring of 1923, that unforgettable year I shall remember to my dying day, on an evening of which every word is engrained in my memory, I was walking through Prague with Teige and, feeling an atmosphere of joy, witnessed by the fragrances of spring, the stars, the rosary beads of streetlights, vomiting drunkards, old beggar-women, and the make-up of prostitutes leaning up against street corners, we found a way out from the disharmony of those mummified, poisonous, and wearisome views of the world — and we discovered poetism. (4)
Wieviel retrospektive Mythenbildung in dieser Schilderung steckt, lässt sich nicht sagen, doch verdeutlicht sie auf jeden Fall sehr schön, dass der Poetismus dem Milieu der Großstadt und dem Leben der Bohème entwuchs. Nezval sollte sich schon bald den Ruf erwerben, der magische Sänger des modernen Prag zu sein.
Wie in die Höhe geworfene Mützen
Wie die Mützen von Kindern Kokotten und Kardinälen
Die der Zauberer Žito verwunschen hat
Am großen Fest
Wie Mützen mit Lampions
Zur Johannisnacht
Wenn die Feuer brennen
Und auch als Stadt von Regenschirmen aufgespannt als Raketenschirm
Das alles ist Prag (5)
Schon in den Zeiten der K.u.K. - Monarchie waren die Kronlande Böhmen, Mähren und Schlesien die am stärksten industrialisierten Regionen des Imperiums gewesen. Weit über die Hälfte der industriellen Kapazitäten des Habsburgerreiches waren dort angesiedelt. Diese Entwicklung setzte sich auch nach der Unabhängigkeit weiter fort. Allerdings machte die Zerschlagung des Imperiums die Wirtschaft der jungen Republik in hohem Maße exportabhängig.  Nach einer relativ kurzen Rezession, erlebte die Tschechoslowakei ab 1923/24 eine Ära des starken ökonomischen Aufschwungs, der seinen Höhepunkt 1929 erreichte. Das spiegelte sich auch in der Entwicklung von Prag wider. Die Hauptstadt war 1922 durch die Eingemeindung zahlreicher Vororte zu "Groß-Prag" erweitert worden und erreichte 1930 eine Einwohnerzahl von 850.000. Auch wenn sie einem Vergleich mit Berlin oder Paris nicht standhalten konnte, war sie doch eine Metropole von europäischem Maßstab und erlebte ihre eigenen "Goldenen Zwanziger" oder "Roaring Twenties."
 
Freilich war diese Epoche wie überall auf der Welt so auch in der Stadt an der Moldau von heftigen Widersprüchen gekennzeichnet. Ihre personell-politische Verkörperung fanden diese in der Gestalt von Prags Oberbürgermeister Karel Baxa. Zu nationaler Bekanntheit war der Jurist und Politiker erstmals 1899 gelangt, als er in seiner Rolle als Nebenkläger im "Ritualmordprozess" gegen Leopold Hilsner mit wüster antisemitischer Hetze von sich Reden machte und damit zum Hauptgegenspieler Masaryks avancierte. Seine politische Heimat fand der radikale tschechische Nationalist schließlich in der Volkssozialistischen Partei, der auch Edvard Beneš angehörte. Unmittelbar nach Gründung der Republik wurde er zum Bürgermeister von Prag gewählt und behielt diesen Posten bis 1937. Sein Name ist einerseits mit dem allgemeinen Modernisierungsschub der Zwischenkriegszeit verknüpft: Zahlreiche Bauprojekte, Modernisierung der Infrastruktur, Gründung sozialer und kultureller Einrichtungen etc. Andererseits betätigte er sich immer wieder als Mit-Initiator (oder zumindest wohlwollender Förderer) antisemitischer und antideutscher Ausschreitungen. Diese konnten mitunter Hand in Hand gehen, wie am 16. November 1920, als ein aufgehetzter tschechischer Mob nicht nur Synagogen und andere Einrichtungen der jüdischen Gemeinde verwüstete, sondern auch die Büros des liberalen Prager Tageblatts stürmte und das (bis dahin "deutsche") Ständetheater besetzte. Doch auch wenn Baxa mehrfach wiedergewählt wurde, besaßen zugleich die Kommunisten eine nicht unbeträchtliche Anhängerschaft in der Metropole. So erhielten sie z.B. 1923 -- im Geburtsjahr des Poetismus -- bei den Wahlen zur Stadtversammlung 18,18% der Stimmen, doppelt so viel wie die Sozialdemokraten. (6) 
 
Für die Künstler des Devětsil war die Stadt vor allem der Geburtsort der "neuen Schönheit", die sie schon in Život so emphatisch gefeiert hatten. In seinem 1924 erschienenen Essay O humoru, klaunech a dadaistech (Über Humor, Clowns und Dadaisten) verklärte Karel Teige Prag als "the magic-city of poetism", Sitz von "courage, insouciance, surprise and joy [of] all senses in a carefree style". (7)  
David Vichnar beschreibt in seinem Artikel Towards a Psychogeography of Poetism sehr schön die entlang der Národní třída (Nationalalee) gelegenen Cafés als das Biotop der Avantgarde  -- vom Národní Café (Nr. 13), dem eigentlichen "Hauptquartier" des Devětsil, bis zum Metro Café (Nr. 25), dem späteren Gründungsort der Surrealistischen Gruppe und Treffpunkt der Levá fronta ("Linke Front"). 
Zugleich hebt er hervor, dass gerade in Nezvals Gedichten Prag nie bloß als die Verkörperung des modernen Lebens erscheint, die Szenerie vielmehr stets von einem Gefühl für das historische Alter der Stadt durchtränkt, mitunter sogar von ländlich anmutenden Motiven durchsetzt ist:
Nezval's poetry collection Prague with Fingers of Rain depicts a far more rural landscape. City of Spires enumerates "fingers of a cemetery in May," "fingers of autumn crocuses," "fingers of gold," "fingers of asparagus," "fingers of cuckoos and Christmas trees," and juxtaposes "the sunburnt fingers of ripening barley and the Petřín Lookout Tower" with "the cut-off fingers of rain and the Týn Church on the glove of nightfall."
In Gedichten wie dem namengebenden Prag mit Fingern von Regen wird die Stadt bei ihm zu einem magischen Ort, einem poetischen Mysterium:
It is not in anything [...] That you are unique in this world that you cannot change even if they destroy you [...] It is not in anything / Not in anything that can be uttered by a glib tongue that can be described in a tourist guide / It is in your whole being in its mysterious disposition 
Das unterscheidet die Beziehung der tschechoslowakischen Avantgarde zu "ihrer" Metropole sehr deutlich von anderen Zentren der Moderne wie Paris oder Berlin. Bei ihnen spielte das Nebeneinander von Alt und Neu eine viel größere Rolle, und die Vergangenheit erschien nicht allein als etwas, was überwunden werden musste. Darin spiegelt sich nicht nur etwas vom Charakter Prags wider, das trotz des Modernisierungsschubs der 20er Jahre immer noch sehr stark von seinen "mittelalterlich-verwinkelten" Gässchen und der "bewitched hundred-spired" Burg auf dem Hradschin geprägt wurde. Sondern auch etwas von Nezvals nie ganz unterdrückter Liebe zur Romantik und zu "Märchen und ihre(n) Assoziationen" (8), die schließlich auch zu Werken wie Valerie a týden divů führen sollte.   
  
 

Collage von Teige für Nezvals Praha s prsty deště (1936)


 
Nun bin ich sicher nicht kompetent, den Umfang und das Gewicht des Einflusses korrekt einzuschätzen, den andere Avantgarde-Strömungen auf die Entstehung des Poetismus hatten. Dennoch möchte ich über zwei von ihnen -- den Futurismus und den Dadaismus -- ein paar Worte verlieren. Zum einen, weil mir das hilfreich erscheint, um den besonderen Charakter des Ansatzes zu erhellen, den Teige und Nezval vertraten. Zum anderen, weil es irreführend wäre, den Devětsil als den alleinigen Vertreter der tschechoslowakischen Avantgarde darzustellen. Zu diesem Zweck müssen wir noch einmal etwas weiter zurück in die Vergangenheit reisen.
 
(2) 
 
Am 9. August 1913 war Stanislav Kostka Neumanns Artikel Otevřená okna (Offene Fenster) erschienen. Wir haben den Verfasser das letzte Mal als den besonders dogmatischen Verfechter der "proletarischen Kultur" nach dem 1. Weltkrieg kennengelernt. Doch zu dieser Zeit war er noch einer der großen Wegbereiter des Modernismus in den tschechischen Landen, der dafür plädierte, die "Fenster der Kultur" für den Einfluss der europäischen Avantgarden zu öffnen. Sein Aufsatz besaß den Charakter eines "modernistischen Manifestes" und war klar beeinflusst von F. T. Marinettis Futuristischen Manifesten und Guillaume Appolinaires L'Antitradizone Futurista. In ihm bekam man u.a. folgendes zu lesen: 
What should live: the liberated word, fauvism, expressionism, cubism, pantheism, dramatism, orphism, paroxysm, dynamism, onomatopoetism [sic], the poetry of clamour, the civilisation of inventions and voyages of discovery! […] Machinism, the sportsground, the central abattoir, Laurin & Klement, the future cinematograph, the world exhibition, the railway station, art-advertisement, iron and concrete! […] Modernity, life flowing, and art civilised. (9)
Den Impuls des (italienischen) Futurismus aufnehmend und mit dem Einfluss Walt Whitmans und Émile Verhaerens vermischend, kreierte Neumann seine eigene kleine distinkte Strömung -- den Zivilismus. Sein 1918 erschienener Band Nové zpěvy (Neue Gesänge) enthielt Gedichte wie Zpěvy drátů (Gesänge der Drähte), die das (scheinbar) alles Umwälzende und Grenzwände Niederreißende der modernen Technik und Zivilisation feierten:
We, wires telegraphic, telephonic, and electrical
are the metallic hands of modern connectivity,
faithful and reliable, fast and energetic,
indolently, we rank evil together with good, vice with virtue,
palaces alongside tenement-houses, cloisters next to brothels.
(10)  
Im Dezember 1921 besuchte Marinetti dann selbst Prag. Nach einer Aufführung seiner Futuristischen Synthesen verbrachte er den Rest des Abends zusammen mit einer Reihe von Vertretern der jungen Avantgarde in Karel Teiges Wohnung. Jaroslaw Seifert erzählte später darüber: 
It was in Teige’s flat that we met Marinetti during his Prague visit. He boasted of having inherited seven brothels in Cairo from some relative, all very lucrative businesses. From the profits he also allegedly financed the Futurist movement in Italy. He recited some of his Words in Freedom for us, pacing to and fro, waving his hands, jumping around, squatting. He was an immensely vivacious and amiable Italian. He admired the Czech language. It was the only language, to his mind, in which Marinetti had several names. Sometimes he caught “Marinettiho,” other times“ Marinettimu. (11)
Teige hatte auch schon zu dieser Zeit seine Vorbehalte gegenüber Marinetti. So schrieb er im Januar 1922 über dessen Auftritt leicht ironisch: "He came, was heard, he conquered. At least he thinks so." (12) Dennoch scheint der Besuch des Erzfuturisten einen bleibenden Eindruck bei den Pragern hinterlassen zu haben und ein wichtiges Ereignis für sie gewesen zu sein. Wie anders ließe sich z.B. erklären, dass Nezval ihm einen ganzen Abschnitt in seinen 1957/58 geschriebenen Memoiren widmete, zu einer Zeit also, als es sicher wenig opportun war, in der stalinistischen ČSSR irgendetwas auch nur vage positives über Marinetti zu sagen (13):
Doch kann ich die unvergessliche Vorstellung nicht vergessen, die F.T. Marinetti im Švanda - Theater verantstaltete. [...] Seine futuristischen Synthesen, die wir später mit Honzl gleichfalls in Szene setzten, hatten Atmosphäre und sprühten dramatische Funken. Marinetti konnte vollkommenen Humbug veranstalten, und während er exzentrische Gedichte voller Interjektionen rezitierte, tanzte auf der Bühne, auf denen er seine Produktion vorführte, eine Tänzerin, auf einem verstimmten Klavier begleitet mit dem bekannten Walzer "Herkulesbad". Manche Leute pfiffen, andere verteidigten die futuristische Vorstellung, und im Publikum drohte eine Prügelei. Als es ernst wurde und die Stimmen gegen Marinetti das Übergewicht gewannen, brachte ich Hochrufe auf ihn aus, im Widerspruch zu denen, die die Vorstellung gern gesprengt hätten.  (14)
Im Unterschied zu vielen anderen Avantgarde-Bewegungen der Zeit sah sich der Poetismus nicht als radikaler Bruch mit aller vorhergehenden Kunst, sondern eher als deren logischer Kulminationspunkt. So zumindest Teige im Manifest des Poetismus von 1928, das  eine ziemlich umfangreiche Darlegung der Entwicklungsgeschichte der modernen Poesie enthält. Dabei erfuhren auch die formalen Neuerungen des (italienischen) Futurismus eine entsprechende Würdigung. Was auch deshalb nicht verwundert, weil die Poetisten viele von ihnen aufgriffen und kreativ weiterentwickelten. 
Marinetti proklamiert die radikale Reorganisation der dichterischen Form, anulliert die Interpunktion, zerstört die Syntax; anstelle der Interpunktionsgliederung führt er dort, wo das Stiltempo und die Leseregeln es erfordern, mathematische und musikalische Zeichen ein. Er fordert das Gedicht der "drahtlosen Imagination" unzähliger Metaphern und Analogien, die visuelle mit auditiven, olfaktorischen und taktilen Valeurs verbinden. Die Befreiung des Verses vollendeten die Befreiten Worte, in denen die Lautmalerei und die typographische Gliederung der Seite ausgenützt wird. (15)
Andererseits hatte Teige schon 1922 in Neue proletarische Kunst den Futurimus (und mit ihm auch den Zivilismus) für geistig tot erklärt. Denn er sah in ihnen das Produkt der
kulturelle(n) Atmosphäre der Zeit der letzten Vorkriegsjahre, die durch äußerste Expansion der amerikanischen kommerziellen Zivilisation, durch die Entladung in den Kolonien gekennzeichnet war; sie erzeugte eine Spannung, die sich in einem Kriegssturm entladen musste. Und so wie der Krieg, der durch die verbrecherische Gesellschaftsordnung und durch die Politik der kapitalistischen Expansion hervorgerufen worden war, dem gipfelnden und vollentwickelten Kapitalismus den tödlichen Schlag versetzen konnte, so war er imstande, auch seiner kulturellen Spiegelung den Boden zu entziehen: dem kubistisch-futuristischen Zivilismus, der die logische Frucht, der Stolz war (worin sich bereits der Fall ankündigte), Kulmination und Untergang der Sonne der bürgerlichen Kultur. 
Alles, was übriggeblieben war, seien "trauernde Hinterbliebene", "schwache Wiederkäuer und bemitleidenswerte Gestrandete". (16)
 
Der Poetismus teilte mit dem Futurismus eine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber der modernen (vor allem urbanen) Zivilisation und eine Begeisterung für Formen der Populärkultur wie Zirkus, Dance-Hall und Kino. Doch zugleich distanzierte er sich sehr deutlich von der von den Futuristen betriebenen Fetischisierung von Gewalt und Geschwindigkeit (17) sowie von deren kritiklosem Kult der Maschine. Denn völlig zurecht identifizierte Teige "the Futurist idolatry of civilisation" als "idolatry of capitalism, whose disruptive forces destroy civilisation." (18) Nichts hatte dies eindringlicher demonstriert als der Weltkrieg. Die Futuristen hatten sich im Aufstand gegen die bürgerliche Ordnung gewähnt. Doch als die imperialistischen Mächte in ihrem Kampf um die Neuaufteilung der Welt Abermillionen in die Schützengräben und den Tod hetzten, erwiesen sich die vermeintlichen Aufrüher als ordinäre Landsknechte und Propagandisten der herrschenden Klasse (19). Und als sie nach dem Krieg auch weiterhin die Rolle der Revoluzzer spielen wollten, endeten die allermeisten von ihnen folgerichtig im Lager des Faschismus. (20)
 
(3) 
 
Ganz anders der Dadaismus. Das blutige Pandämonium von 1914-18 war die Bankrotterklärung der gesamten bürgerlichen Kultur -- einschließlich ihrer flegelhaften Sprösslinge à la Marinetti. Dada zog mit Hohngelächter und anarchischem Übermut die Bilanz aus diesem verbrecherischen Desaster.
 
Das Prag der 20er und 30er Jahre als eine Art kulturelle Drehscheibe zwischen West- und Osteuropa zu betrachten, ist eine geläufige (und sicher auch nicht falsche) Sichtweise. In Bezug auf den Dadaismus ging man in der Vergangenheit oft davon aus, hierin habe die einzige Rolle bestanden, die die Stadt an der Moldau gespielt habe. So lernte z.B. Dragan Aleksić 1920 den Dadaismus kennen, als er an der Karlsuniversität studierte, um ihn ein Jahr später zurück in seine jugoslawische Heimat zu tragen. In Prag verkehrte er u.a. mit dem Dada-Schriftsteller Melchior Vischer und mit Branko Ve Poljanski, dem Bruder von Ljubomir Micić, dem Gründer des Zenitismus. (21) Wie er selbst später erzählt hat, war es interessanterweise Karel Teige, der ihm einige dieser Bekanntschaften vermittelte:
Der gute Geist Karel Teiges, eines glänzenden Malers, Journalisten, Karrikaturisten und des verrücktesten Tschechen, den die Geschichte von Ottokar Přemysl bis dato hervorgebracht hat, verlieh auch Poljanskis Worten Charme. (22)
Doch Teige fungierte nicht nur als Vermittler. 
Die Frage, ob es ein eigenständiges und genuines "Prager Dada" gegeben hat, wird recht kontrovers diskutiert, aber woran kein Zweifel bestehen kann ist, dass der Devětsil einige wichtige Impulse des Dadaismus aufnahm und dass diese eine nicht unbedeutende Rolle bei der Entstehung des Poetismus gespielt haben.
 
Walter Serner, der Verfasser von Letzte Lockerung (1918/20) -- dem Text, der manchmal als das erste Dada-Manifest bezeichnet wird -- war 1889 in Karlovy Vary / Karlsbad zur Welt gekommen, hatte Böhmen aber schon 1912 verlassen und lebte seit dem Ausbruch des Weltkriegs in der Schweiz. Wann seine Schriften erstmals die alte Heimat erreichten, ist mir nicht bekannt. (23) Aber schon 1919 erschienen in einigen Prager Zeitschriften Texte von Richard Huelsenbeck (Was ist Dadaismus?) und Kurt Schwitters. Im Februar/März 1920 besuchten dann Huelsenbeck, Raoul Hausmann und Johannes Baader selbst die Tschechoslowakei. Der Prager Dada-Abend wurde von viel Gezeter in der bürgelichen Presse begleitet: "The newspapers launched a monstrous anti-dada propaganda a few weeks before our arrival in Prague. Still there were crowds in the streets, shouting rhythmically after us: da-da, da-da" (24) Auch hatte sich Baader kurz zuvor mitsamt der für den Vortrag gedachten Manuskripte Richtung Berlin aus dem Staub gemacht. Wie Raoul Hausmann Jahrzehnte später erzählt hat:       
At first we visited a number of editor offices, but the social democrats threatened us with a beating since we’re communists, and at the Prager Tagblatt they were so kind as to pull out a revolver and menace us with using it against us as instigators. Shortly before our soirée Baader disappeared and, while looking for him, I found – in the cupboard beneath my clothes – a letter from him. He’d decided to return to Berlin and in order to screw up our show he’d taken all the manuscripts with him. The public, 1,200 people approx., were livid. Huelsenbeck & I together read a simultaneous poem improvised from two newspaper articles, talking complete gobbledygook. When the tumult became too much, Huelsenbeck announced I would now dance the “Sixty-One Step.” Whenever the public was too outraged, I had to dance something in order to calm everyone down. In the end it was a sweeping success. The next evening we presented another show to a relatively calm audience, having meanwhile quickly written new texts. Then we went to Karlovy Vary, where the soirée got cancelled following threats of violence. (25)
Dennoch scheint Hausmann den Abstecher in die Tschechoslowakei als Teil eines europäischen Triumphzugs empfunden zu haben. In seiner im selben Jahr entstandenen Collage Dada siegt! kann man an zentraler Stelle auf einer Staffelei eine Ansicht des Prager Wenzelsplatzes (Václavské námestí) erblicken.  
 
Raoul Hausmanns Collage Dada siegt! (1920)
 
Gastgeber der Dadaisten war offenbar Melchior Vischer gewesen, dessen gleichfalls 1920 erschienenes Werk Sekunde durch Hirn von einigen in der Bewegung als der erste dadaistische Roman gefeiert wurde. Der Sudetendeutsche Vischer war als Feuilletonist und Theaterkritiker eine nicht unwichtige Figur in den Prager Künstlerkreisen der frühen 20er. Er unterhielt auch eine (anscheinend ziemlich einseitige) Korrespondenz mit Erz-Dadaist Tristan Tzara, der im Sommer 1921 gleichfalls in die Tschechoslowakei reiste. Möglicherweise in der Hoffnung, hier eine neue Basis für seine Dada-Fraktion aufzubauen, was ihm jedoch offensichtlich nicht gelang. Im Herbst desselben Jahres besuchten schließlich auch Kurt Schwitters und Hannah Höch zum ersten Mal die junge Republik.
 
Ob Karel Teige dem Auftritt Hausmanns und Huelsenbecks 1920 beiwohnte, scheint nicht gesichert zu sein. Seine frühesten Kommentare zum Dadaismus sind jedenfalls eher negativ, tun ihn als bloßen Nihilismus ab. Dennoch ist der Einfluss der Bewegung im karnevalesken Treiben von öffentlichen Veranstaltungen des Devětsil wie dem Basar der modernen Kunst (1923) oder dem Exzentrischen Karneval der Künstler (1925) deutlich zu spüren. 
 
Was Dada und den Devětsil verband, war zuerst einmal das Verlangen, auf die Katatstrophe des Weltkriegs und der allgemeinen Krise nicht allein mit Verzweifelung, Wut oder revolutionären Parolen, sondern mit einem befreienden Lachen zu reagieren. Wie Teige selbst 1927 schreiben sollte: 
der mensch freilich ist ein tier, das lacht. ohne zweifel deshalb, weil er ein vernuftbegabtes tier ist. selbst auf ruinen und trümmern keimt frohsinn, den das unendliche geistige bedürfnis nach freude und glück hier gesät hat. es ist sogar ein immenses bedürfnis, in den tragischsten stunden zu lachen. [...] wir wissen, was für neue, wilde, stachlige und schlagfertige blüten der humor im weltkrieg trieb und wie in dessen feuerwirbel ganz neue formen von humor entstanden. dass hier die figur des modernen sancho pansa, hašeks braver soldat schwejk, entstand. im übrigen ist auch der galgenhumor ein munteres blümchen.
Doch wollte man nicht beim Hohngelächter angesichts der (scheinbar) in Trümmern liegenden bürgerlichen Welt stehenbleiben. Spott und Ironie waren nur ein Teil des Ganzen und nicht der wichtigste. Das befreiende Lachen sollte vielmehr Ausdruck eines neuen Lebensgefühles werden.
es ist an den modernen dichtern, den kolporteuren der freude, aus der poesie eine bunte und lustige harlekinade der gefühle und aus dem leben einen wundervollen karneval zu machen. (26) 
 
Fotos vom Ersten Exzentrischen Karneval der Künstler aus Salon 3, Nr. 10 (1925) Quelle 

Dies ist der eigentliche Ausgangspunkt des Poetismus, der sich nicht als eine neue Stilrichtung oder künstlerische Bewegung verstand, sondern als eine "Kunst des Lebens", als ein "modus vivendi". Dabei ließ die Bejahung des Spielerischen, Anarchischen, Übermütigen, Irrationalen und Absurden eine deutliche Verwandtschaft zum Dadaismus erkennen:
Man braucht dazu einen freien und jonglierenden Geist, der nicht beabsichtigt, die Poesie auf rationale Belehrungen anzuwenden und sie mit Ideologie zu infizieren; eher als die Philosophen und Pädagogen sind Clowns, Tänzerinnen, Akrobaten und Touristen die modernen Dichter. (27)    
Und Teige selbst erkannte die Rolle, die Dada für die Entstehung  des Poetismus gespielt hatte, durchaus an:  
The specific lesson of Dada, the lesson of a living poetry, emancipated from the refuse of academic prejudice, as Tzara himself speaks of it, played its role even at home [in Czechoslovakia], around 1922, with the inception of Poetism. (28)
Einen noch deutlich größeren Einfluss als Tristan Tzara dürfte allerdings Kurt Schwitters mit seiner "Merz-Kunst" gehabt haben. Offenbar existierte "a thin web of contacts between Schwitters and Devětsil in 1925 and 1926, when Schwitters publicly recited his poems and sonatas in Prague". Dessen Konzept einer “enrichment and conquest of your senses” könnte das direkte Vorbild für Teiges Idee einer “poetry for five senses” gewesen sein. (29) Was genau es mit letzterem auf sich hat, werden wir allerdings erst im nächsten Beitrag darzulegen versuchen.
 
Nicht unerwähnt bleiben soll außerdem, dass das 1925 von Jindřich Honzl, E.F. Burian und Jiří Frejka gegründete und dem Devětsil verbundene "Befreite Theater" (Osvobozené divadlo) mit Inszenierungen wie der Vest pocket revue gleichfalls deutlich vom Dadaismus beeinflusst war. Dort wurde 1926 auch eine Version von Kurt Schwitters' Ursonate aufgeführt. Als Frejka nach internen Streitigkeiten 1927 die Bühne verließ, gründete er sogar sein eigenes Dada - Theater, in dem er u.a. Schwitters' Schattenspiel aufführte.
 
Im Juli 1925 erschien ein Artikel des dem Devětsil angehörenden Kritikers Bedřich Václavek, in dem dieser bedauernd erklärte, der Tschechoslowakei habe unmittelbar nach dem Krieg eine "strong dose of dada" gefehlt. Und im Dezember desselben Jahres hielt der Dichter František Halas, Mitgründer des Devětsil in Brno, einen von starker Sympathie für die Bewegung erfüllten Vortrag über den Dadaismus. Doch trotz solcher öffentlicher Bekundungen gilt es festzuhalten, dass das Verhältnis des Devetsil -- und insbesondere das Teiges und Nezvals -- zum Dadaismus stets ein ambivalentes blieb. Sie sahen in ihm bis zum Ende hauptsächlich eine destruktive Kraft: "Dada does not build. Dada demolishes. It does not bring new truths. It tries to repudiate old doctrines". Und so notwendig ihnen dieses Werk der Zerstörung der alten bürgerlichen Kultur auch erschien, es konnte doch nie mehr sein als "preparatory work during a period of transition [...] the product of a crisis of capitalism at its highest point, a symptom of the tense state of the metamorphosis of art searching for a new social basis". (30) Wie Nezval es 1927 in Dada und Surrealismus ausdrückte:         
dadaisten sind möbelträger. sie haben das zimmer des modernen bourgeois gründlich auseinandergenommen. simse stürzen und zerschellen. auf der ottomane liegt eine uhr neben federbetten und einem bild von monet. scherben von kaffeetöpfen und vasen bedecken den boden des möbelwagens. spitzen lugen aus dem staub gleich neben etlichen paar schuhen. nachdem die dadaisten diese reizende unordnung angerichtet haben, sind sie in alle winde zerstoben. 
 
(...) wir können sie lieben. aus hass auf die sorgsam aufgeräumte tradition machten sie sich daran, auf alles einzuschlagen. sie warfen den hausherrn hinaus. hier und da hatte ihr wüten einen wundervollen zufall zur folge. eine kaputte vase, ein fußball und ein sonnenschirm ergaben ein schönes stilleben. daraus haben wir lehren gezogen.
 
wir stehen in dem zertrümmerten zimmer. eine neue ordnung muss her. wer die halbzerschlagenen gegenstände an den alten ort stellen möchte, wird enttäuscht sein. was soll die kaputte vase auf dem nachttisch? wir benutzen ihre scherben zum wegkratzen von kot. ein erwachsener mensch, ein möbelträger oder eine putzfrau werden sich keinen rat wissen. man muss viel kindliche vorstellungskraft haben, die aus splittern und steinchen alles, was nötig ist, zu bauen vermag. weshalb uns die polizei im auge hat! (31)
Das mag nun ein verkürztes und einseitiges Verständnis des Dadaismus sein. Und wie wir gesehen haben, hatten die Poetisten selbst ja durchaus auch Positives von ihm übernommen. Doch dass Dada für Teige, Nezval & Genossen nicht die Antwort auf die Frage nach dem Geist und der Kultur einer neuen, menschlicheren Gesellschaft sein konnte, verwundert nicht. Eine solche hatte Dada selbst ja nie sein wollen. Die "lebende Poesie" (životní poesie) des Devětsil mochte so manches dem Vorbild von Schwitters und anderen verdanken. Aber ihre eigentliche Bedeutung erhielt sie (zumindest für Teige) erst durch die dialektische Vereinigung mit den Prinzipien des Konstruktivismus -- etwas, was wohl kein Dadaist angestrebt hätte. Erst mit dieser Vereinigung eröffnete sich für ihn die Perspektive einer Welt in der "clowns and fantasts are the brothers of laborers and engineers”. (31) Doch dazu das nächste Mal mehr.

Für heute möchte ich nur noch ein paar kritische Bemerkungen zu Louis Armands Artikel Prague Dada and the Revisionist Politics of Interwar Avant-Gardism loswerden. Dieser enthält zwar eine ganze Reihe interessanter Informationen über den Dadaismus im Prag der 20er Jahre. (Und ich habe mich ja selbst bei ihm bedient). Ist aber zugleich von einer heftigen Feindseligkeit gegenüber dem Devetsil durchtränktDessen Mitglieder seien "at best ambivalent in their acknowledgement of Dada’s influence" gewesen, "as evinced in the writings of its most prominent members Nezval & Teige, neither of whom demonstrated any great appreciation of Dada in any case". 
Zwar erwähnt Armand, dass sich Teige in einer ganzen Reihe von Artikeln Mitte der 20er Jahre mit dem Dadaismus beschäftigt habe, beschreibt dies aber so: "Teige published a series of articles – in ReD, Disk & Pásmo – by turns misrepresenting, attacking, dismissing & outright appropriating Dadaism". Interessant finde ich dabei vor allem letzteren Vorwurf. Ich halte ganz allgemein nicht viel von dem Begriff "appropriation" in kulturellen Kontexten, impliziert er doch, Kunstformen seien ein Gut, das man "rechtmäßig besitzen" oder sich "widerrechtlich aneignen" könnte. Und was ist das anderes als eine Übertragung bürgerlicher Eigentumsbegriffe in die Sphäre der Kultur? Und was Teige konkret betrifft: Seine Kritik am Dadaismus mag mitunter einseitig und auch unfair gewesen sein. Die Polemiken der Avantgarde waren das oft. Aber wenn er Elemente des Dadaismus (und auch den Begriff "Dada") in seine eigenen künstlerischen Konzepte zu integrieren versuchte, sehe ich darin nichts illegitimes. Zumal der Dadaismus selbst ja alles andere als eine einheitliche Bewegung war. Wer hätte also das Recht gehabt, sagen zu können, Teiges "Aneignung" von Dada sei eine Verfälschung?
Einen weiteren Beleg für die herblassende Haltung Teiges gegenüber dem Dadaismus sieht Armand in dem Desinteresse, das dieser angeblich nach 1933 solchen Vertretern der deutschen Emigration wie "Walter Mehring, Hans Richter, Max Ernst & (perhaps most notably) John Heartfield" entgegengebracht habe. Und was Raoul Hausmann Jahrzehnte später dazu zu sagen hatte, klingt in der Tat nicht unbedingt sympathisch:    
I have to confirm that Czech artists & sculptors wanted to have nothing to do with me in 1937-38, especially Mr Teige. I’d like to mention that Teige knew about my person & work quite a lot, having collaborated with the G review, edited in 1921-4 by Hans Richter.

When I was in Prague in 1937-38, Karel Teige – who had known me well – not only ignored me but since (in that period) he was a Surrealist, actively campaigned against me.

Cliquenhaftigkeit, kleinliche Fraktionskämpfe und persönliche Animositäten sind leider keine Seltenheit in künstlerisch-intellektuellen Kreisen wie denen der Avantgarde. In seinen Memoiren schreibt Vítězslav Nezval über den Devetsil der 20er Jahre: 
Wie jede antretende Avantgarde verschlossen wir uns in unserem Zauberkreis, in den niemand eingelassen wurde. Wir waren intolerant, auf Debatten und Polemiken ließen wir uns in den Kaffeehäusern nur mit Leuten ein, die wir mochten, auch wenn wir sie nicht akzeptierten. (32)
So gesehen verwundert mich das von Hausmann beschriebene Verhalten Teiges nicht unbedingt. Was nicht heißen soll, dass ich es deshalb sympathischer finden würde -- gerade angesichts der Lage, in der sich Emigranten wie Hausmann befanden. Eine besonders heftige Abneigung gegenüber spezifisch dem Dadaismus kann ich daraus allerdings nicht ablesen. (Der hatte nebenbei bemerkt ja selbst seine nicht selten mit persönlichen Querelen vermischten inneren Fraktionskämpfe gekannt). 
Noch viel weniger gelingt mir das, wenn es um John Heartfield geht. Es mag sein, dass Teige und Nezval (anders als etwa ihr alter Freund, der Schriftsteller und Karrikaturist Adolf Hoffmeister) wenig Interesse an Heartfields Fotomontagen zeigten. Aber es ist extrem irreführend, wenn Armand Heartfield in diesem Zusammenhang als "major Dada figure" bezeichnet. Wer sich auch nur ein bisschen mit dessen Leben und Werk auskennt, weiß, dass der Heartfield der Mitt-30er schon lange nicht mehr der "Monteurdada" der frühen 20er -- und daneben außerdem ein linientreuer Anhänger der stalinistischen KPD war. (34)
Letzteres ist deshalb von Bedeutung, weil Louis Armand die vermeintlich besonders feindselige Haltung der Mitglieder des Devetsil gegenüber dem Dadaismus mehr oder weniger explizit auf deren kommunistische Überzeugungen zurückführt. Dabei macht er sie zu den direkten Vorläufern der späteren stalinistisch-nationalistischen Ideologen, die den Dadaismus dann wohl tatsächlich als "fremdländischen", "deutschen" Import denunzierten, der "selbstverständlich" keinerlei Einfluss auf die großen Künstler der Tschechoslowakei gehabt habe. Und diese Interpretation, die den Internationalismus des Devetsil als bloße Heuchelei abtut und seinen Mitgliedern stattdessen nationalen Chauvinismus unterstellt, halte ich für üble Geschichtsklitterung. Erst recht in Anbetracht dessen, welche Auswirkungen das Erstarken des Stalinismus auf die tschechoslowakische Avantgarde hatte, wie wir in einem späteren Beitrag noch sehen werden.       
 

 

 

 


(1) Zit. nach: Meghan Forbes: Devětsil and Dada. A Poetics of Play in the Interwar Czech Avant-Garde. S. 14/15

(2) Karel Teige: Manifest des Poetismus. In: Ders.: Liquidierung der >Kunst<. Analysen, Manifeste. S. 72/73.

(3) Vítězslav Nezval: Aus meinem Leben. S. 68.

(4) Vítězslav Nezval: Návěstí o poetismu (Promulgation of Poetism; 1927). Zit. nach: Peter Zusi: The Integrity of the Avant-Garde. Karel Teige and the Biography of an Ambition. S. 31.

(5) Vítězslav Nezval: Gesamtansicht von Prag. In: Ders.:  Auf Trapezen. Gedichte. Nachdichtung von Franz Fühmann. S. 124.

(6) Vgl.: P. Demetz: T.G. Masaryk's Prague. A Modernized City and a Literature of Ghosts. S. 13. 

(7) Zit. nach: David Vichnar: Towards a Psychogeography of Poetism

(8) Vítězslav Nezval: Der Papagei auf dem Motorrad. In: Vítězslav Nezval / Karel Teige: Depesche auf Rädern. Theatertexte 1922-1927. S. 59.

(9) Zit. nach:  David Vichnar: "Long Live Futurist Prague!". S. 90/91.

(10) Zit. nach: Ebd. S. 92.

(11) Jaroslav Seifert: Všecky krásy světa. Zit. nach: Ebd. S. 99.

(12) Karel Teige: F.T. Marinetti a futurismus. Zit. nach: Ebd. S. 94.

(13) Freilich sollte ich wohl darauf hinweisen, dass Marinettis Pragbesuch in eine Zeit fiel, in der dieser sich nicht in einer offenen Allianz mit den Faschisten befand. Zwar hatte er seine Partito Politico Futurista 1919 mit Mussolinis Fasci di Combattimento vereint und gemeinsam mit dem Syndikalisten Alceste de Ambris deren erstes Manifest geschrieben, doch war es schon 1920 zum Bruch gekommen, als Marinetti erkennen musste, dass die Faschisten trotz ihres "rebellischen" Gehabes auf eine Kooperation mit dem traditionellen Establishment zusteuerten. Erst nach dem sog. "Marsch auf Rom" im Oktober 1922 würde er den Faschismus erneut offen umarmen und seine Bewegung in die Diktatur des Duce zu integrieren versuchen.

(14) Vítězslav Nezval: Aus meinem Leben. S. 91/92.

(15) Karel Teige: Manifest des Poetismus. In: Ders.: Liquidierung der >Kunst<. Analysen, Manifeste. S. 81/82.

(16) Karel Teige: Neue proletarische Kunst. In: Ders.: Liquidierung der >Kunst<. Analysen, Manifeste. S. 27 & 26.

(17) "3. Wie die Literatur bisher die nachdenkliche Unbeweglichkeit, die Ekstase, den Schlummer gepriesen hat, so wollen wir die aggressive Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den gymnastischen Schritt, den gefahrvollen Sprung, die Ohrfeige und den Faustschlag preisen. 4. Wir erklären, dass der Glanz der Welt sich um eine neue Schönheit bereichert hat: um die Schönheit der Schnelligkeit. Ein Rennautomobil, dessen Wagenkasten mit großen Rohren bepackt sind, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen, ein heulendes Automobil, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake. [...] 7. Nur im Kampf ist Schönheit. Kein Meisterwerk ohne aggressives Moment [...] 9. Wir wollen den Krieg preisen -- diese einzige Hygiene der Welt -- den Militarismus, den Patriotismus, die zerstörende Geste der Anarchisten, die schönen Gedanken, die töten, und die Verachtung des Weibes."  (F.T. Marinetti: Manifest des Futurismus [1909]. In: Peter Demetz: Worte in Freiheit. Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde 1912-1934. S. 174/75.)

(18) Karel Teige: F.T. Marinetti + italská moderna + světový Futurismus. In: ReD 6 (Februar 1929). Zit. nach: David Vichnar: "Long Live Futurist Prague!". S. 103.

(19) Auch wenn sie die Wirkung ihrer dahingehenden Proklamationen und Proteste im Rückblick wohl mächtig übertrieben haben, gehörten die Futuristen doch zweifelsohne zu den lautstärksten Befürwortern eines Kriegseintritts Italiens. Nachdem ihr Wunsch in Erfüllung gegangen war, stellten sie sich der Militärmaschinerie als Soldaten und Propagandisten zur Verfügung. Vgl.: Selena Daly: Italian Futurism and the First World War.   

(20) Dennoch hielten sich auf der radikalen Linken recht lange Illusionen über eine mögliche Allianz zwischen Futurismus und Kommunismus. So erwähnt z.B. Antonio Gramsci in einem 1921 veröffentlichten Artikel, der bolschewistische Volkskommissar für Kultur Anatoli Lunatscharski habe auf dem zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale Marinetti als einen "revolutionären Intellektuellen" bezeichnet, und vertritt selbst die Ansicht, der Futurismus sei so etwas wie eine Vorform einer künftigen "proletarischen Kultur". (Vgl.: Antonio Gramsci: Marinetti the Revolutionary?. In: David Forgacs (Hg.): A Gramsci Reader. S. 73-75 / Katia Pizzi: Italian Futurism and the Machine. S. 28-30). 

(21) Der Zenitismus war eine eigentümliche serbische Kunstbewegung, die in Reaktion auf das monströse Verbrechen des Weltkriegs eine Mischung aus internationaler Revolte und "balkanischem Barbarentum" predigte. Trotz der reichlich idiosynkratischen Weltanschauung seines Herausgebers versammelte das Magazin Zenit Vertreter der unterschiedlichsten Strömungen der europäischen Avantgarde auf seinen Seiten. Auch Beiträge von Teige erschienen dort.  Anfangs kooperierten Aleksić und Micić miteinander, doch wurden sie schon bald heftige Rivalen. 

(22) Dragan Aleksić: Anführer des Dadaistenhaufens (1931). In: Holger Siegel (Hg.): In unseren Seelen flattern schwarze Fahnen. Serbische Avantgarde 1918-1939. S. 250.

(23) Bedřich Václavek, marxistischer Literaturkritiker und Mitglied des Devětsil, veröffentlichte im Juli 1925 einen Artikel, den David Vichnar als "the first sustained critical piece on the life and work of Walter Serner" bezeichnet hat.

(24) Richard Huelsenbeck: En avant Dada. Eine Geschichte des Dadaismus. Zit. nach: Louis Armand: Prague Dada and the Revisionist Politics of Interwar Avant-Gardism.

(25) Brief an Ludvik Kundera (1965). Zit. nach: Ebd. 

(26) Karel Teige: Über Humor, Clowns und Dadaisten. In: Vítězslav Nezval / Karel Teige: Depesche auf Rädern. Theatertexte 1922-1927. S. 72 u. 80. Teiges Essay ist sehr deutlich von Tzara und/oder Serner beeinflusst.

(27) Karel Teige: Poetismus. In: Ders.: Liquidierung der >Kunst<. Analysen, Manifeste. S. 44; 50; 48.

(28) Karel Teige: O dadaistech (1927/30). Zit. nach:  Meghan Forbes: Devětsil and Dada. A Poetics of Play in the Interwar Czech Avant-Garde. S. 12.

(29) Siehe hier. Leider konnte ich mir selbst keinen Zugriff auf František Šmejkals Artikel Kurt Schwitters and Prague verschaffen.

(30) Karel Teige: Dada (1926). Zit. nach: Peter Zusi: The Integrity of the Avant-Garde. Karel Teige and the Biography of an Ambition. S. 57.  

(31) Vítězslav Nezval: dada und surrealismus. In: Vítězslav Nezval / Karel Teige: Depesche auf Rädern. Theatertexte 1922-1927. S. 7.

(32)  Karel Teige: Estetika filmu a kinografie (1924). Zit. nach: Meghan Forbes: Devětsil and Dada. A Poetics of Play in the Interwar Czech Avant-Garde. S. 16.

(33) Vítězslav Nezval: Aus meinem Leben. S. 123.

(34) Was ihn freilich nicht davor bewahrte, immer mal wieder als "Formalist" attackiert zu werden. So schon 1932 von Eugen Kronmann in Marxistisch-leninistische Kunstwissenschaft 5/6, wobei dieser u.a. erklärte, "die gemeinsamen Jahre mit den Dadaisten" seien wohl nicht "spurlos" an Heartfield vorbeigegangen. Zit. nach: Michael Töteberg: Heartfield. S. 106. 

Sonntag, 15. Juni 2025

Wyndhams War of the Worlds

Ich muss gestehen, dass mir John Wyndhams Werk lange Zeit eher durch Filmadaptionen als eigene Lektüre bekannt war -- vor allem natürlich Village of the Damned (1960), Wolf Rillas grandioser Verfilmung der Midwich Cuckoos. Aber je mehr ich aus anderen Quellen -- wie etwa Jim Moons vierteiliger Podcast-Reihe zu The Day of the Triffids -- über ihn erfuhr, desto größer wurde mein Verlangen, ihm irgendwann einmal auch lesend zu Leibe zu rücken. Eine Gelegenheit dazu eröffnete sich, als mir vor ein paar Wochen bei einem spontanen Raubzug auf einen Öffentlichen Bücherschrank in einem Nachbardorf ein ganz hübsches Bändchen in die Hände fiel, das u.a. seinen Roman Wenn der Krake erwacht (The Kraken Wakes) enthielt.
    

In dem Buch lag diese Mondkarte. Die gehört zwar nicht dazu, schien mir aber trotzdem sehr passend.

John Wyndham (1903-1969) darf wohl als die dominierende Gestalt der britischen Science Fiction der 50er Jahre gelten. Allerdings gehörte er zu den Autoren, die sich in ihrem Verlangen nach Respektabilität vom Gros der Genre-Literatur zu distanzieren versuchten -- Penguin nicht Pulp. Dass er in den 30er Jahren selbst eine ganze Reihe Kurzgeschichten für Hugo Gernsbacks Wonder Stories und andere amerikanische Magazine geschrieben hatte, verschwieg er wohlweislich, als er 1951 mit The Day of the Triffids seine "eigentliche" Karriere startete. Er hatte schon immer unter Pseudonymen veröffentlicht*, was es besonders leicht machte, unter dem Namen "John Wyndham" eine Art Neustart vorzunehmen. Wie Mike Ashley in Transformations: The Story of the Science Fiction Magazines from 1950-1970 schreibt:
As Wyndham he created a new persona which virtually blanked out the past and allowed him to develop in the mainstream without the ‘stigma’ of the sf magazines.
The Day of the Triffids folgten The Kraken Wakes (1953), The Chrysalids (1955) und The Midwich Cuckoos (1957). Diese vier Bücher bilden die Grundlage seiner Reputation.
 
Für die New Wave - Rebellen der 60er Jahre war Wyndham eine Art "Establishment-Figur". Christopher Priest bezeichnete ihn als "the master of the middle-class catastrophe", und Brian W. Aldiss prägte für Day of the Triffds und The Kraken Wakes den abfällig gemeinten Begriff der "cosy catatstrophe": 
The essence of cosy catastrophe is that the hero should have a pretty good time (a girl, free suites at the Savoy, automobiles for the taking) while everyone else is dying off.*
Nach der Lektüre von Wenn der Krake erwacht*** kann ich diese Kritik zwar teilweise nachvollziehen, denke aber auch, dass sie etwas zu kurz greift.
 
Wyndham macht keinen Hehl daraus, dass sein Roman eine Variation auf H.G. Wells' The War of the Worlds ist, das Vorbild wird sogar namentlich erwähnt. Allerdings vollzieht sich die außerirdische Invasion bei ihm in einem sehr viel gemächlicheren Tempo und für lange Zeit auch in sehr viel weniger spektakulären Formen, was der Erzählung ihren ganz eigenen Charakter verleiht. Doch nur im Schlussteil schien mir dabei die "cosy catastrophe" - Kritik zumindest ansatzweise zuzutreffen.
 
Der Roman präsentiert sich uns in Form von Aufzeichnungen des Radioreporters Mike, die dieser "nach der Katastrophe" angefertigt hat. Je mehr wir lesen, desto deutlicher wird allerdings, dass Mikes Ehefrau Phyllis -- ebenfalls Reporterin -- die sehr viel tatkräftigere, oft auch vorausschauendere und sensiblere des Paares ist. Weshalb Christopher Priest sie auch als die eigentliche Protagonistin des Romans bezeichnet hat. Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde, da im Grunde keiner der beiden dem klassischen Format eines Protagonisten entspricht. Ihre Handlungen haben keinen echten Einfluss auf den Ablauf der Ereignisse und sie verhalten sich weitgehend reaktiv. Schon von Berufs wegen sind sie in erster Linie Beobachter*innen. Dennoch ist Phyllis' relativ große Selbstständigkeit in Denken wie Handeln natürlich ein interessantes Detail. Gerade für einen SciFi-Roman der frühen 50er.****
 
Während ihrer Flitterwochen werden Mike und Phyllis Zeugen davon, wie eine Gruppe mysteriöser "Feuerbälle" vom Himmel herabregnet und im Meer versinkt. Im Laufe der nächsten Wochen und Monate wiederholt sich das eigenartige Phänomen an unterschiedlichen Stellen auf der Erde. Auffällig ist, dass die "Bälle" nie über dem Festland niedergehen, sondern stets über dem Ozean, und zwar immer an Orten mit einer besonders großen Meerestiefe. Eine Zeit lang beherrscht das Thema die Schlagzeilen und in der ohnehin angespannten Atmosphäre des Kalten Krieges florieren wilde Spekulationen. Phyllis und Mike haben dank ihrer Arbeit zwar Zugriff auf Quellen in Politik und Militär, die der Allgemeinheit verschlossen bleiben, verfügen aber dennoch zu keiner Zeit über ein lückenloses Gesamtbild der Situation. Immerhin können sie an einer Expedition zu einer der primären "Absturzstellen" teilnehmen, bei der mehrere Taucherglocken verloren gehen, als man versucht, einen Blick auf die Vorgänge in der Tiefsee zu werfen. Doch nach einiger Zeit beruhigt sich die Lage wieder und die öffentliche Aufmerksamkeit wendet sich anderen Dingen zu, obwohl es keine vernünftige Erklärung für die Ereignisse gegeben hat. 
 
Dieses Muster wiederholt sich in den folgenden Jahren mehrfach. Immer wieder kommt es zu einer Welle merkwürdiger Vorfälle. Doch immer wieder ebbt das Interesse an ihnen nach einiger Zeit wieder ab. Und das selbst nachdem diese einen zunehmend bedrohlichen Charakter annehmen.
 
Mein erster Gedanke war, dass Wyndham hier auf die zeitgenössischen UFO-Sichtungen anspielt, die nach Kenneth Arnolds erster Begegnung mit "Fliegenden Untertassen" inzwischen vor allem in Amerika wellenartig (1947 - 1949 - 1952) auftraten. Doch selbst wenn das eine seiner Inspirationsquellen gewesen sein sollte, dient die Struktur der Erzählung doch einem anderen Ziel.
 
H.G. Wells' War of the Worlds hatte in der Tradition der sog. "Invasion Novels" gestanden, in denen Großbritannien von einer fremden Macht angegriffen und (manchmal) besetzt wird. Um die von ihm angestrebte Wirkung beim Leser zu erzielen, schildert er, wie im Herzen des Empire ein technologisch haushoch überlegener Feind auftaucht, gegen den jeder Widerstand hoffnungslos erscheinen muss, und der sich daran macht, das "green and pleasant land" in Schutt und Asche zu legen und seine Bewohner in Schlachtvieh zu verwandeln. Der Aufbau seines Romans dient diesem Zweck. Wyndham hingegen verfolgt ein thematisch ganz anderes Ziel. Ihm geht es nicht darum, zu zeigen, wie eine sich allmächtig dünkende imperialistische Großmacht urplötzlich in die Position ihrer eigenen Opfer versetzt wird. Mit Wenn der Krake erwacht wirft er vielmehr einen kritisch-satirischen Blick darauf, wie Politik, Medien und die Gesellschaft als Ganzes auf eine allgemeine und potenziell existenzbedrohende Krise reagieren. 
 
Im Rückblick fällt es nicht schwer, die einzelnen Episoden als Etappen einer eskalierenden Katastrophe zu sehen: Die Landung der "Feuerkugeln" und der Verlust der Taucherglocken -- der (scheinbar folgenlose) Einsatz einiger unterseeischer Atombomben -- das Auftauchen merkwürdiger Schlammteppiche auf der Meeresoberfläche -- der unerklärliche Verlust einzelner Hochseeschiffe -- das merkwürdige Verschwinden der Bevölkerung einiger abgelegener Küstendörfer.  Doch jedes Mal beschließt die "Öffenlichkeit" nach anfänglicher Aufregung das Ganze zu ignorieren und nur ja keine weitergehenden Schlüsse daraus zu ziehen. 
 
Der einzige, der von Anfang an ein klares Verständnis für das Ausmaß der Bedrohung an den Tag legt, ist der Wissenschaftler Dr. Bocker. Schon früh entwickelt er die These, dass es sich bei den "Feuerkugeln" um eine außerirdische "Einwanderungswelle" oder Invasion gehandelt habe. Die Aliens stammten vermutlich von einer Welt mit einer deutlich höheren atmosphärischen Dichte, weshalb die Tiefsee der ihnen genehme Lebensraum sei.
Die Figur des Dr. Bocker mag ein Überbleibsel des Wells'schen Glaubens an eine aufgeklärt-wissenschaftliche Elite als Retter der Menschheit sein. Doch ist er nicht als "allwissend" dargestellt. Vielmehr betont er immer wieder ausdrücklich die Grenzen seines Verständnisses und lehnt es z.B. strikt ab, irgendwelche Vermutungen über die Motive der Außerirdischen anzustellen. Dafür fehle jede vernünftige Grundlage. Er kann bloß die Ereignisse beobachten und davon ausgehend Theorien entwickeln. Und diese sind alles andere als erfreulich. 
Doch in der Öffentlichkeit wird Bocker immer wieder als exzentrischer Wirrkopf, Querulant und unverbesserlicher Schwarzseher hingestellt, dessen Unkenrufen man mit Hohn und Spott begegnet. Bis die Invasion schließlich in vollem Gange ist.
 
Keine der Figuren in Wenn der Krake erwacht scheint mir ein direktes Sprachrohr für die Ideen des Autors zu sein.  Was uns einen relativ weiten Interpretationsspielraum lässt. Klar ist, dass es in dem Roman darum geht, wie lange eine Gesellschaft eine existenzbedrohende Krise ignorieren und so tun kann, als gehe das Leben immer so weiter wie gewohnt. Weniger eindeutig ist, worin wir die Gründe für dieses Phänomen sehen sollen. Eine "allgemein menschliche" Tendenz zur Bequemlichkeit? Vor allem, wenn die drohende Katastrophe eine radikale Veränderung der bisherigen Lebensgewohnheiten verlangen würde? Möglich. Aber Wyndhams Kritik richtet sich meines Erachtens in erster Linie gegen die "Eliten" in Politik und Militär (die Wirtschaft bleibt weitgehend ausgeblendet), deren größte Furcht darin besteht, die Kontrolle über die Ereignisse (und damit über die Gesellschaft) zu verlieren. Und die deshalb alles tun, um die Allgemeinheit in Sicherheit zu wiegen. Dabei bedienen sie sich der Medien als Werkzeugen der Manipulation. Immer wieder müssen Mike und Phyllis miterleben, wie ihnen wichtige Informationen vorenthalten werden oder von ihnen erwartet wird, dass sie die Ereignisse in einem bestimmten Licht darstellen.
 
Und es ist nicht so, als würden sich unsere beiden "Held*innen" offensiv gegen die Rolle wehren, die ihnen als Reportern bei all dem zugedacht ist. Vor allem im letzten Drittel des Romans spüren wir zwar sehr deutlich Phyllis' zunehmende Frustration und ihre immer zynischere Haltung gegenüber den "Mächtigen". Aber auch sie sieht keinen Ausweg aus dieser Lage. Und damit kommen wir zu der Frage, inwieweit das hier tatsächlich eine "cosy catastrophe" ist. Richtig ist, dass Mike und Phyllis selten unmittelbar von den Folgen der hereinbrechenden Apokalypse betroffen sind. Selbst dann noch, als die Außerirdischen einen offenen Krieg gegen das Festland beginnen. Ihre privilegierte Mittelklasse-Existenz bleibt lange Zeit ungefährdet. Aber das macht die Katastrophe nicht notwendigerweise weniger bedrohlich. Es trägt vielmehr dazu bei, zu verstehen, warum die beiden so lange bereit sind, bei dem Ganzen mitzuspielen. An sich stehen ihnen deutlich mehr Informationen zur Verfügung als der Allgemeinheit. Sie haben deshalb auch ein klareres Bild der Bedrohung. Und dennoch tendieren auch sie dazu, vor dem vollen Ausmaß der Katastrophe die Augen zu verschließen und sich so zu verhalten, als gälten noch immer die traditionellen Regeln des "Medienbetriebs". Und wenn es ihnen tatsächlich einmal zu viel wird, können sie sich jederzeit in ihr Häuschen an der Küste von Cornwall zurückziehen. Irgendwann ist ein solches Verhalten zwar auch ihnen nicht mehr möglich, doch dann ist es in gewisser Weise bereits zu spät. Was ihnen dann noch bleibt, ist stumme Verzweifelung.
 
Zugegebenermaßen fand auch ich es etwas merkwürdig, dass unsere "Held*innen" selbst dann noch kaum materielle Sorgen haben, als die Außerirdischen damit beginnen, die Polkappen zum Abschmelzen zu bringen und London mehr und mehr im Wasser versinkt. Spätestens an diesem Punkt scheint mir die ursprünglich zumindest implizit kritische Haltung gegenüber einer privilegierten Mittelklasse-Existenz (und der damit einhergehenden Sicht- und Verhaltensweise) in ihr Gegenteil umzukippen, und es wirkt beinahe so, als könnte sich Wyndham kein anderes Leben vorstellen als ein solch "gesichertes". Oder als schrecke er instinktiv davor zurück, dessen vollständigen Zusammenbruch zu schildern.
 
Aber auch wenn ich mich der Kritik der New Waver an dieser Stelle zumindest teilweise anschließen konnte, hat Wyndhams Roman im Ganzen gesehen einen ziemlich positiven Eindruck bei mir hinterlassen. Und dass seine Thematik auch heute noch sehr aktuell ist, muss wohl nicht eigens betont werden -- ganz gleich, ob wir dabei nun an die Klimakatastrophe, das Wiedererstarken des Faschismus oder die allgemeine Tendenz zu einem Dritten Weltkrieg denken. Krisen einfach wegzuleugnen, ist nach wie vor weit verbreitet.
 
 
 

 

* Sein eigentlicher Name war John Wyndham Parkes Lucas Beynon Harris. Über die Jahre benutzte er immer neue Kombinationen aus diesem Pool.

** Brian W. Aldiss / David Wingrove: Trillion Year Spree. The History of Science Fiction. S. 316.

*** Die Übersetzung von Lothar Heinecke basiert auf der US-amerikanischen Version des Romans. Die britische enthält offenbar einige zusätzliche Passagen und ein etwas zurückhaltender gestaltetes Ende. 

**** Der Band enthält neben Wyndhams Wenn der Krake erwacht auch Brüder unter fremder Sonne (Unearthly Neighbors) von Chad Oliver. Und in diesem 1960 erschienenen Roman begegnen wir schon nach wenigen Seiten der "reizenden Ehefrau" des Protagonisten, deren wichtigste Funktionen offenbar darin bestehen, hübsch auszusehen und ihrem Professorengatten und dessen Politikergast ein paar saftige Steaks in die Pfanne zu hauen. Und anders als Wyndhams Geschichte spielt die hier in der "fernen Zukunft" von 1991. Seufz ...