"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Dienstag, 27. August 2024

Valerie und ihre Woche der Wunder (1)

Wann genau ich zum ersten Mal Jaromil Jireš's Film Valerie a týden divů (Valerie and Her Week of Wonders) gesehen habe, weiß ich nicht mehr, aber es liegt sicher deutlich mehr als fünf Jahre zurück. Jedenfalls schlug mich der surrealistisch anmutende tschechoslowakische "Märchenfilm" aus dem Jahr 1970 umgehend in seinen Bann und er erhielt sofort einen besonderen Platz in meinem Pantheon der "anderen" Fantasyfilme. Auch fühlte ich mich bei der Sichtung an Company of Wolves (1984) von Neil Jordan & Angela Carter sowie an Lemora: A Child's Tale of the Supernatural (1972) von Richard Blackburn erinnert, benutzen doch alle drei die Stilmittel des Unheimlichen und Phantastischen, um das sexuelle Erwachen eines jungen Mädchens darzustellen. 
 
 
Schon damals hatte ich begonnen, einen Blogbeitrag über Valerie zu schreiben, doch wie manch andere auch blieb er schließlich unvollendet liegen, ohne dass es dafür irgendwelche speziellen Gründe gegeben hätte. Als ich mich vor ein paar Monaten daranmachte, dieses Projekt endlich erneut anzugehen, zeigte sich sehr schnell, dass das Ganze weit über eine bloße Filmbesprechung hinauswuchern würde. Weshalb ich mich letztenendes auch dazu entschlossen habe, den Beitrag in (voraussichtlich) vier Teile aufzusplitten. Auch wenn dabei immer die Gefahr besteht, dass die Fertigstellung und Veröffentlichung des Ganzen sich über Monate hinziehen kann. 
 
Das Drehbuch von Ester Krumbachová und Jaromil Jireš basiert auf dem gleichnamigen, 1935 geschriebenen (aber erst 1945 veröffentlichten) Roman von Vítězslav Nezval. Nezval war einer der führenden Vertreter der tschechoslowakischen Avantgarde der 20er und 30er Jahre. Als er Valerie schrieb, war er Mitglied der Surrealistischen Gruppe, doch war dies nur eine Etappe auf einem langen Entwicklungsweg. Zusammen mit Karel Teige war er in den 20ern vor allem einer der führenden Köpfe der Künstlergruppe Devětsil ("Pestwurz") und der mit ihr verbundenen Strömung des Poetismus gewesen.
 
Schon lange bevor ich mir schließlich eine englische Übersetzung von Valerie a týden divů besorgte (eine deutschsprachige scheint es nicht zu geben), war klar, dass ich da in ein sehr tiefes Kaninchenloch gestolpert war. 
Ich hatte immer schon ein Faible für die Avantgarde-Strömungen der Zwischenkriegszeit. In all ihrer Komplexität, Vielgestaltigkeit, teilweise auch Widersprüchlichkeit waren sie Produkt einer Ära heftigster gesellschaftlicher Kämpfe und Umbrüche, als Revolution keine ferne Zukunftsperspektive, sondern eine aktuelle Realität war, und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft kein utopischer Traum, sondern eine unmittelbar bevorstehende Aufgabe zu sein schien. Jede erneute Beschäftigung mit ihnen weckt zugleich Faszination und Frustration in mir. Da ist einerseits die beeindruckende und inspirierende Weite und Leidenschaftlichkeit der Vision. Doch andererseits muss man jedesmal miterleben, wie diese schließlich an der zwiefachen Gewalt von Faschismus und Stalinismus zerbricht. 
Diese historische Tragik fand ihren Ausdruck auch in den persönlichen Biographien von Nezval und Teige. Während ersterer sein Leben als stalinistischer Kulturappartschik beendete, wurde letzterer, als "degenerierter Trotzkist" gebrandmarkt, zum Opfer einer wüsten Hetzkampagne und erlag schließlich -- isoliert, aber ungebrochen -- 1951 einem Herzinfarkt. 
 
Allerdings hatte ich mich bislang noch nie so richtig mit der tschechoslowakischen Kulturwelt der 20er und 30er Jahre beschäftigt. Wenn man von der Lektüre des Braven Soldaten Schwejk von Jaroslav Hašek und einiger Werke von Karel Čapek wie R.U.R. (Rossumovi Univerzální Roboti) und Der Krieg mit den Molchen einmal absieht. (1) Und auch wenn Gruppen wie Devětsil in ihrem Selbstverständnis und zum Teil auch in ihrer Formensprache und Ideologie internationalistisch ausgerichtet waren, mit zahlreichen Verbindungen und Parallelen zu Strömungen wie dem Dadaismus, Konstruktivismus und Surrealismus, besaßen sie doch ihre eigene individuelle Prägung. Was zwar einerseits bedeutet, dass ich während meiner Recherche viele spannende Neuentdeckungen machen konnte, andererseits aber auch, dass mein Verständnis notwendigerweise sehr bruchstückhaft geblieben ist. Das möge man bei der Lektüre dieses Essays bitte immer im Hinterkopf behalten.
 
(1)
 
Um eine künstlerische Strömung zu verstehen und richtig einzuordnen, ist es stets nötig, ihre Entstehung und Entwicklung im gesellschaftlichen Kontext ihrer Zeit zu betrachten. Denn ganz gleich wie bewusst das den Beteiligten sein mag, sie ist doch immer eine Reaktion auf die soziale Wirklichkeit. Bevor wir uns Devětsil und den Poetismus etwas genauer anschauen, wollen wir deshalb zuerst einmal versuchen, uns ein Bild vom Charakter der Tschechoslowakei der 20er und 30er Jahre zu machen.   
 
Die Ära der ersten Tschechoslowakischen Republik (1918-38) unter Tomáš Masaryk und Edvard Beneš wird oft als eine Blütezeit liberaler Demokratie verherrlicht. Dieses verklärte Bild entstand nicht erst im Rückblick und in Reaktion auf das stalinistische Regime, das mit dem Staatsstreich von 1948 etabliert wurde und 1989/90 fiel,  sondern war auch unter Zeitgenossen durchaus verbreitet. Als Beispiel mag der leicht hagiographisch anmutende Ton dienen, den Klaus Mann 1937 im Zusammenhang mit einem privaten Präsidentenempfang auf dem Hradschin anschlug. In seinem Artikel Eine Stunde mit Beneš verklärt er dessen Vorgänger und Mentor Masaryk zum "Staatsmann-Philosophen" und schreibt:
Glücklich die wenigen, die bevorzugten Länder, wo die Verantwortung über das Schicksal der Gesellschaft in die Hände eines  geistigen Menschen gelegt ist:  wo Macht und Geist -- in Deutschland seit eh und je so unheilvoll voneinander getrennt -- miteinander identisch werden; zum Segen der Nation, deren politischer Instinkt den Intellektuellen, den Geistesmenschen an die Spitze rief. (2) 
Natürlich darf man dabei den historischen Kontext nicht außer Acht lassen. Umgeben von Hitler-Deutschland und dem austrofaschistischen Ständestaat (Dollfuß, Schuschnigg) im Westen, Horthy-Ungarn im Süden und dem autoritären polnischen Regime im Osten musste die Tschechoslowakei der Mitt-30er in der Tat wie eine Oase der Freiheit wirken. Und war als solche ein wichtiger Zufluchtsort und Stützpunkt für die deutsche antifaschistische Emigration und den Widerstand. Hier erschienen von 1933-38 u.a. Die neue Weltbühne und die A.I.Z. (mit Heartfields berühmten Fotomontagen). Prag war der Sitz der Exil-Führung der SPD (SoPaDe). Von hier aus wurden vor allem in den ersten Jahren der Nazidiktatur über sechs sog. "Grenzsekretariate" sozialistische Propagandamaterialien ins Reich geschmuggelt, Netzwerke des Widerstands organisiert und der Kontakt zu den Genoss*innen im Untergrund aufrechterhalten.
 
Auch war 1936 sowohl Thomas als auch Heinrich Mann die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verliehen worden, obwohl sie nicht dort lebten.
 
Zudem scheinen Masaryk und Beneš Vertreter eines Typs bürgerlicher Politiker gewesen zu sein, der schon zu ihrer Zeit eine Seltenheit geworden war: Gebildet, kultiviert und den Idealen der Aufklärung verbunden. (3) Man kann Klaus Mann gut verstehen, wenn er über Karel Čapeks Masaryk erzählt sein Leben schreibt, die Erinnerungen des Präsidenten stimmten ihn "wehmütig, weil sie mich an den 'grand old man' des Deutschen Reiches, an den General von Hindenburg denken lassen". (4) Manns Verklärung des "Geistesmenschen" als nationalen Führers mag etwas fragwürdig erscheinen, aber wenn die Alternative aus einem halbsenilen, blutbesudelten Weltkriegsgeneral bestand, ist seine etwas naive Begeisterung nachvollziehbar. (5) 

Dennoch ist dieses verklärte Bild der tschechoslowaischen Demokratie zumindest sehr einseitig. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Entstehung der Republik, um so ein besseres Verständnis ihres sozialen Inhalts zu erlangen.
 
Otto Bauer, einer der führenden Vertreter des Austromarxismus, schrieb in seinem 1923 erschienenen Buch Die Österreichische Revolution über die "nationalen Revolutionen", die das Ende des Habsburgerreiches besiegelt hatten:
In der Tschechoslowakei, in Jugoslawien, in Polen hatten Bourgeoisie und Proletariat gemeinsam um die nationale Befreiung gekämpft. Der gemeinsam errungene Sieg ordnete das Proletariat vorerst vollständig der nationalen Idee der nationalen Bourgeoisie unter. Im Triumph des errungenen nationalen Sieges fand das Proletariat in. den Revolutionsmonaten volle Befriedigung in der Aufrichtung, im Ausbau, in der Befestigung des nationalen Gemeinwesens. Es drängte über die Schranken einer bürgerlichen, nationalen Revolution nicht hinaus.
Richtig ist, dass das von  Karel Kramář angeführte bürgerliche Nationalkomitee und der von den Sozialdemokraten gebildete Sozialistische Rat in den Wochen vor der Unabhängigkeit häufig zusammenarbeiteten. Doch die Arbeiterklasse spielte eine nicht unwichtige selbstständige Rolle im Kampf gegen die K.u.K. - Monarchie.  Zu den ersten Massendemonstrationen unter republikanischer Parole war es im Zuge des Generalstreiks vom 14. Oktober 1918 gekommen. Mancherorts hatte man dabei bereits monarchistische Embleme von öffentlichen Gebäuden gerissen und die Republik proklamiert. Doch das Nationalkomitee hielt sich zurück und Militär und Polizei vermochten die Bewegung noch einmal zu bändigen. Zwei Wochen später führte dann der Prager Umsturz zur Unabhängigkeitserklärung und zur Machtübernahme durch eine bürgerliche Regierung unter Kramář, in enger Absprache mit der Auslandsführung um Masaryk und den Entente-Mächten.
 
Masaryk hatte in seinem 1918 erschienenen Buch Das neue Europa das utopische Bild einer quasi "klassenlosen" Demokratie entworfen:
Die Demokratie ist die Organisation der Gesellschaft, welche auf Arbeit beruht; in ihr gibt es keine Individuen und Klassen, welche die Arbeit der anderen ausbeuten; der demokratische Staat ist ohne Militarismus, ohne geheime Diplomatie; die Außen- und Innenpolitik unterliegt der Kritik und der Verwaltung des Parlamentes. (6)
Die Realität des aus dem Umsturz hervorgegangenen bürgerlichen Staates sah selbstverständlich ganz anders aus. Und auch wenn der patriotische Überschwang der "nationalen Befreiung" die Klassengegensätze für den Augenblick vielleicht zu übertünchen vermochte -- aufgehoben waren sie dadurch natürlich nicht.
 
Ohne Zweifel herrschte unter den breiten Massen der Bevölkerung die Erwartung, dass es mit dem Ende der nationalen Unterdrückung auch zu einer Wende hin zu größerer sozialer Gerechtigkeit kommen werde. Zumal in den Reihen der tschechischen Arbeiterklasse starke sozialistische und syndikalistische Traditionen existierten. Die bürgerliche Regierung sah sich deshalb alsbald zu einer Reihe von Zugeständnissen wie der Einführung des Achtstunden-Tages gezwungen. Zugleich versuchte sie, der neuen Ordnung mit der im Frühling 1919 initiierten Landreform ein breiteres soziales Fundament zu verschaffen. Auch wenn es sich bei dieser wohl nicht um jene "demokratische" Umwälzung im Interesse der ärmsten Teile der ländlichen Bevölkerung handelte, zu der sie in der Geschichtsschreibung manchmal verklärt worden ist. (7) 

Keine dieser Maßnahmen trug die erwünschten Früchte. Vielmehr machten die Parlamentswahlen von 1920 die Sozialdemokraten zur stärksten Kraft, während sie Kramářs Nationaldemokraten zur politischen Bedeutungslosigkeit verdammten. Derweil tobte in der Sozialdemokratischen Partei selbst ein heftiger Konflikt, wie wir ihn zur selben Zeit ähnlich u.a. in der französischen Sozialistischen Partei und der deutschen USPD beobachten können. Während die Mehrheit der alten Führung an einer "nationalen" Koalition mit bürgerlichen Kräften festhielt, wurde der Druck von unten immer stärker, mit dieser Politik zu brechen und der Partei eine revolutionäre Ausrichtung zu verleihen. Dabei spielte das Vorbild der russischen Oktoberrevolution eine entscheidende Rolle. Wie die Aktivistin Marie Švermová in ihren Memoiren erzählt:
To us, the youth, the proletarian revolution meant a solution to all the problems. We saw in it the fullest sense of our lives. We heard how the workers and peasants took power in Russia. It is no exaggeration to say that we were determined to sacrifice everything (8)
Entsprechend bemühten sich die jungen Radikalen u.a. darum, einen Boykott der Lieferung von Kriegsmaterial an das polnische Pilsudski-Regime zu organisieren, das sich seit 1919 im offenen Kampf mit der jungen Sowjetrepublik befand.
  
Allerdings wird man an dieser Stelle festhalten müssen, dass im Unterschied zu anderen Teilen des ehemaligen Habsburgerreiches wie Wien oder Ungarn Arbeiter- und Soldaten-Räte selbst während der Umbruchsmonate in der Tschechoslowakei anscheinend keine weite Verbreitung gefunden hatten. Als sich im Frühjahr 1920 der "Bund Kommunistischer Gruppen" von der revolutionär-syndikalistischen Bergarbeitergewerkschaft SČH (Sdružení československých horníků) abspalterte, sah die Organisation eines ihrer vorrangigen Ziele darin "to explain and spread the institution of workers', rural and military soviets, get the proletariat acquainted with the constitution of the soviet republic". (9) Was wohl dafür spricht, dass diese revolutionäre Organisationsform auf tschechischem Gebiet nicht (oder nur selten) spontan entstanden war. Die extrem kurzlebige Slowakische Räterepublik (16. Juni - 7. Juli 1919) verdankte ihre Existenz ganz dem zeitweiligen Vorstoß der ungarischen Roten Armee und war Episode geblieben.
 
Wenn sich die bürgerliche Ordnung mit Ausgang des Weltkrieges in der Tschechoslowakei also weniger stark erschüttert zeigte als anderswo, dann war dafür neben dem patriotischen Taumel die wirtschaftliche Lage verantwortlich. Zwar hatte der junge Staat in den ersten Monaten seines Bestehens mit rasch anwachsender Inflation zu kämpfen, doch alles in allem sah die Situation weit weniger desolat aus als in anderen Teilen der ehemaligen K.u.K.-Monarchie. Als der französische revolutionäre Syndikalist und spätere Anhänger der Internationalen Linken Opposition Alfred Rosmer im Mai (?) 1920 auf dem Weg zum zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale von Wien kommend in Prag Zwischenstation machte, bot sich ihm folgendes Bild:
Nach Wien bot Prag einen schroffen Gegensatz: Überfluss anstelle des Elends, Heiterkeit nach der resignierenden Traurigkeit. Die Läden waren mit Waren überfüllt: der neue Staat war unter den günstigsten Bedingungen entstanden, soweit man das nach den Eindrücken eines Tages beurteilen konnte (...) Obwohl mich die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit nie angezogen hatte, so hatte doch die freudige Lebenskraft, die von dieser jungen begünstigten Nation ausging, eine sympathische Seite. (10)
Dennoch wäre es falsch zu glauben, die Tschechoslowakei sei ein Hort der Ruhe und Stabilität inmitten des von revolutionären Unruhen und heftigen Klassenkämpfen erschütterten Europas der unmittelbaren Nachkriegszeit gewesen. Seinen wohl schärfsten Ausdruck fand dies im semi-insurrektionären Generalstreik, der ein halbes Jahr nach Rosmers Stippvisite am 11. Dezember 1920 ausbrach und in dessen Verlauf linkssozialistische und anarchistische Militante in Kladno die Räterepublik ausriefen. Die demokratische Regierung reagierte darauf mit denselben Methoden, mit denen der österreichische Absolutismus dem Streik vom 14. Oktober 1918 begegnet war. (11) Dreizehn Arbeiter wurden erschossen, 5.000 verhaftet, 500 für längere Zeit ins Gefängnis geworfen. Die bürgerliche Öffentlichkeit feierte die Niederschlagung des Generalstreiks als das Brechen der "roten Flut des Bolschewismus". Selbst im fernen Amerika jubelte die New York Times: "There was another setback for the great Red Crusade recently and at a point of considerable strategic importance. ... A Bolshevist revolution here (in Czechoslovakia) would have unsettled all Central Europe and had serious repercussions everywhere east of the Rhine".
 
Die junge Republik als eine Art Bollwerk gegen den Kommunismus zu betrachten, entsprach übrigens ganz den Vorstellungen Masaryks. Dieser hatte während seine Exils im Ersten Weltkrieg enge Beziehungen zu führenden Vertretern der westlichen Großmächte geknüpft. Deren Sympathie für die "tschechoslowakische Sache" erhielt einen mächtigen Anstoß, als sich im Mai 1918 die in Russland "gestrandete" Tschechoslowakische Legion auf die Seite der weißgardistischen Konterrevolution schlug. Ohne die Rückendeckung der Entente wäre es sicher nicht zu der raschen und weitgehend widerstandslosen Etablierung der Unabhängigkeit gekommen. Insbesondere Frankreich war so etwas wie die Schutzmacht des neuen Regimes und spielte z.B. eine zentrale Rolle beim Aufbau einer nationalen Armee. Bis 1925 war der Chef des Generalstabs der französische General Eugène Mittelhauser. Und um noch einmal Rosmer zu zitieren:
Von allen Nationen hatte sich das Frankreich Clemenceaus und Poincarés am wütendsten gegenüber der Sowjet-Republik gezeigt. Clemenceau hatte sich dessen gerühmt, dass er sie von der übrigen Welt abschneiden würde; er behandelte sie wie einen Pestkranken, der von einem "Sperrgürtel" eingeschlossen sein müsste, um ihn zu ersticken und gleichzeitig die Völker vor der Ansteckung zu bewahren. (12) 
Die Tschechoslowakei bildete einen zentralen Bestandteil dieses "Cordon Sanitaire", wie auch später der sogenannten Kleinen Entente. (13)
 
Innenpolitisch wurde dies begleitet von einer Reihe repressiver Maßnahmen unterschiedlicher Intensität, die sich in erster Linie gegen die Kommunistische Partei richteten, die im Mai 1921 aus der Verschmelzung des linken Flügels der Sozialdemokraten mit Teilen kleinerer radikaler Gruppen entstand. Doch natürlich hatten auch Anarchisten und andere revolutionäre Linke unter ihnen zu leiden. 
Dennoch gelang es der KP im weiteren Verlauf zu einer der stärksten Parteien des Landes anzuwachsen. In den Parlamentswahlen von 1925 wurde sie mit 13,14% der Stimmen und 41 Sitzen zur zweitstärksten Fraktion, und gegen Ende der 20er Jahre besaß sie halboffiziellen Angaben zufolge 138.000 Mitglieder und war damit die größte KP außerhalb der Sowjetunion. 
 
Dieser beachtliche Erfolg der Kommunisten ist ein deutliches Anzeichen dafür,  dass die bürgerliche Demokratie über kein sonderlich solides soziales Fundament verfügte. 
Auf andere Art zeigte sich das auch in der Entstehung faschistischer Bewegungen wie der tschechischen NOF (Národní obec fašistická), der sudetendeutschen Nazis und Andrej Hlinkas slowakischer SLS (Slovenská ľudová strana), die ab 1939 dann auch das Personal für das slowakische Marionettenregime von Hitlers Gnaden stellen würde.
Aber auch das republikanische Regime selbst besaß eine Reihe von Zügen, die auf seine soziale Instabilität hindeuteten. So wurde die Politik der Ersten Tschechoslowakischen Republik stark von der in keiner Weise parlamentarisch legitimierten Gruppe der "Fünf" ("Pětka") dominiert. Masaryk erklärte 1925 ganz offen, dass eine solche "Regierung von Experten" eine (wenn auch unerwünschte) Notwendigkeit darstelle, solange die Bevölkerung noch nicht "reif" genug für eine reine Demokratie sei: 
Our difficulties arise from the high demands of democracy, which requires a body of citizens who are truly educated in the political sense, and an intelligent electorate, both men and women. Hence I am not in favour of government by experts or officials. [...] Problems, however, are solved by people who think and possess knowledge, and are not merely elected.
Daneben bemühte Masayrk sich, mit Bildung der informellen Gruppe des "Hrad" (der "Burg") entgegen dem Text der Verfassung möglichst viel Macht auf das Präsidentenamt (also sich selbst) zu konzentrieren. Zentraler Bestandteil dieser "Hausmacht" war bezeichnenderweise der Veteranenverband der Tschechoslowakischen Legion (Československá obec legionářská) und die mit ihm verbundene Legiobanka
Das liberale Regime trug also von Beginn an leicht bonapartistische Züge, die sich unter Beneš dann noch weiter verschärften.    
 
Ein weiterer Aspekt, der einen zu Korrekturen am Bild der "Musterdemokratie" zwingt, ist ironischerweise ausgerechnet die "nationale Frage". Die Tschechoslowakische Republik war unter dem Banner der "nationalen Befreiung" gegründet worden. Doch ihr Staatsgebiet, dessen Grenzen von den Entente-Mächten im Vertrag von Trianon (1920) endgültig festgeschrieben wurden und die von der neuen bürgerlichen Elite z.T. mit Waffengewalt "gesichert" worden waren, umfassten nicht wenige nationale Minderheiten. Ganz wie das alte Habsburgerreich war auch die junge Republik ein Vielvölkerstaat. Zwar wandte sich Masayrk sehr deutlich gegen den krassen tschechischen Chauvinismus von Karel Kramář, aber von einer wirklichen Gleichstellung der Völkerschaften konnte auch unter ihm nicht die Rede sein. Schon in seiner ersten Rede als Präsident hatte er der Idee der jungen Republik als eines "Nationalitätenstaates" eine klare Absage erteilt. Nutznießer der neuen Ordnung waren beinah ausschließlich Vertreter des tschechischen Bürger- und Kleinbürgertums. Trotz der offiziellen Doktrin des "Tschechoslowakismus" blieben die Slowaken extrem marginalisiert. Die in der Verfassung von 1920 festgeschriebenen Regelungen über die "Autonomie" der nationalen Minderheiten wurden wenn überhaupt nur sehr zögerlich umgesetzt, die nationalen Rechte von Sudetendeutschen, Magyaren, Polen und Russinen (Ruthenen) immer wieder grob verletzt. In einigen Regionen war die Geburt der Republik von antijüdischen Ausschreitungen begleitet worden, deren wohl bekannteste der Pogrom von  Holešov im Dezember 1918 gewesen war. Und auch unter dem Deckmantel der liberalen Ordnung wucherte der Antisemitismus munter weiter (14). Im November 1920 beschrieb Franz Kafka in einem seiner Briefe an Milena Jesenská die Lage in Prag mit folgenden Worten: "Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhass. ‘Prasivé plenemo’ [„Räudige Rasse“] habe ich jetzt einmal die Juden nennen hören." (15) Anlass waren auch hier pogromartige Ausschreitungen. Und nicht zuletzt erließ die Regierung ab 1926 eine Reihe diskriminierender Gesetze gegen die "vagabundierenden" Roma.
 
Selbstverständlich hätte auch eine siegreiche sozialistische Revolution die gerade in Mittel- und Osteuropa so vielgestaltige "nationale Frage" nicht auf einen Schlag und zur vollsten Zufriedenheit aller Beteiligten lösen können. Nationale Borniertheit und nationaler Chauvinismus sind zählebige Ungeheuer. Aber sie hätte zumindest die Rahmenbedingungen schaffen können, unter denen es möglich gewesen wäre, sie auf demokratische und erfolgversprechende Weise anzugehen. Der Fortbestand des Kapitalismus hingegen machte dies von vornherein unmöglich. In all den neuentstandenen Staaten brauchte die bürgerliche Elite das Gift des Nationalismus. Zum einen, um ihre gerade erst gewonnene Herrschaft gegenüber der eigenen Bevölkerung zu legitimieren. Zum anderen, um ihren Macht- und Wirtschaftsinteressen ein patriotisches Deckmäntelchen zu verpassen, wenn es darum ging, im Konkurrenzkampf mit den Nachbarn möglichst große Brocken aus den Kadavern der Reiche von Kaiser, Zar und Sultan zu reißen. (16) Lenin hatte sicher recht, wenn er betonte, man müsse "zwischen dem Nationalismus einer unterdrückenden Nation und dem Nationalismus einer unterdrückten Nation, zwischen dem Nationalismus einer großen Nation und dem Nationalismus einer kleinen Nation" (17) unterscheiden. Aber eine der bitteren historischen Lektionen des 20. Jahrhunderts ist es, erkennen zu müssen, wie schnell der Unterdrückte zum Unterdrücker werden kann.  
 
Anders als der altväterliche, panslawistisch angehauchte Nationalismus, wie ihn Kramář noch vertreten hatte (18), sah die "moderne" Variante, wie sie Masaryk und Beneš verkörperten, die tschechische Nation als eine Fackelträgerin "westlich-freiheitlich-europäischer Werte". Das mag erst einmal progressiver klingen, aber die Abwendung vom Panslawismus ging sehr oft mit der Übernahme eines quasi-kolonialistischen "westlichen" Überlegenheitsdünkels einher. Vor allem gegenüber den "primitven" Slowaken und Russinen (Ruthenen), die den östlichen, fast ganz agrarisch geprägten Teil der Republik bewohnten. Die Bemerkungen eines tschechischen Geographen, der 1924 in dieser Region arbeitete, lassen diese Haltung sehr schön erkennen: "We bring order, discipline, Western European democracy, and culture to this land of former oriental chaos and disorder" (19). Eine exotistisch-romantisierende Sicht der Slowakei als "bäuerliches Idyll" wie in Karel/Karol Plickas Film Die Erde singt (Zem spieva, 1933) kann bei aller Ambivalenz als ein "freundlicher" Ausdruck dieser Haltung interpretiert werden. Aber natürlich gab es auch sehr viel weniger "nette" Varianten. Und wenn gar die Tschechoslowakei zum Bollwerk der "europäischen Zivilisation" gegen die "barbarisch-asiatischen" Horden des Bolschewismus erklärt wurde, gingen Nationalismus, Rassismus und Antikommunismus eine besonders gifitige Verbindung ein.   


Im nächsten Teil werden wir uns dann etwas eingehender mit Devětsil, dem Poetismus und der tschechoslowakischen Avantgarde beschäftigen.

 

 

(1) Franz Kafka lasse ich hier mal außen vor. Weniger aufgrund der Deutschsprachigkeit seines Werkes, als vielmehr weil dessen Hauptteil einer etwas früheren Ära angehört.

(2) Klaus Mann: Eine Stunde mit Beneš. In: Ders.: Das Wunder von Madrid. Aufsätze, Reden, Kritiken 1936-1938. S. 183.

(3) Mit dieser Charakterisierung beziehe ich mich ausschließlich auf die 20er/30er Jahre. Schließlich sollte Beneš später zu einem engen Verbündeten Stalins werden, der wohl auch persönlich einen freundschaftlichen Umgang mit dem Diktator pflegte, was ihn in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt. 
Die Präsidentschaft von Václav Havel (1989-2003) wurde oft als eine Art Wiedergeburt dieser Tradition dargestellt, doch ließe sie sich eher als eine Karrikatur derselben charakterisieren. Während Masaryk den Eindruck eines zu spät gekommenen Vertreters der bürgerlich-revolutionären Ideale von Freiheit, Fortschritt und Humanität macht, war Havel als Intellektueller Proponent eines antiaufklärerischen, zivilisationspessimistischen und letztlich obskurantistischen Weltbildes.     

(4) Klaus Mann: Krankheit und Gesundheit. In: Ders.: Das Wunder von Madrid. S. 189.

(5) Ein weiteres anschauliches Beispiel für diese Idealisierung Masaryks ist Oskar Kokoschkas 1935/36 enstandene Porträt des Präsidenten, in dem der Maler, der 1934 nach Prag emigriert war, diesen als den Erben der Traditionen des Reformators Jan Hus und des Humanisten Jan Amos Komenský darstellt. Vgl.: Christian Drobe: Charles Bridge in Prague by Oskar Kokoschka (1934).

(6) Zit. nach: Peter Ludewigs Nachwort zu: Vítězslav Nezval / Karel Teige: Depesche auf Rädern. Theatertexte 1922-1927. S. 92. 

(7) Vgl.: Antonie Doležalová: A stolen revolution. The political economy of the land reform in interwar Czechoslovakia.

(8) Zit. nach: Bohumil Melichar: Karlín and Kings Road: Two Different Worlds. A Comparison of the Political Success of Communist Party of Czechoslovakia and Communist Party of Great Britain between the World Wars. S. 98.

(9) Zit. nach: Ladislav Cabada & Zdenek Benedikt: Intellectuals and the Communist Idea: The Search for a New Way in Czech Lands from 1890 to 1938. S. 44.

(10) Alfred Rosmer: Moskau zu Lenins Zeiten. S. 40.

(11) Der Generalstreik war nebenbei bemerkt auch der Anlass für die Rückkehr von Jaroslav Hašek, des späteren Verfassers des Braven Soldaten Schwejk, aus Sowjetrussland in die Heimat, wo er im Auftrag der Bolschewiki bei der Organisation eines revolutionären Aufstands helfen sollte. Als er in der Tschechoslowakei eintraf, hatten sich die entsprechenden Hoffnungen allerdings bereits zerschlagen. 

(12) Ebd. S. 29.

(13) Was sie freilich nicht davor bewahren sollte, von ihren "Schutzherren" 1938 im Münchner Abkommen Hitler als Schlachtopfer dargebracht zu werden. Treue und Dankbarkeit gehörten noch nie zu den Tugenden des Imperialismus.

(14) Der Antisemitismus hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in Reaktion auf das Erstarken der sozialistischen Arbeiterbewegung Eingang in den "tschechischen politischen Diskurs" gefunden. Wie der Historiker Michal Frankl erklärt, gelangten durch die Reichsratswahlen von 1897, bei denen zum ersten Mal "ein Teil der Abgeordneten durch allgemeine Wahlen bestimmt" wurde, "auch einige sozialdemokratische Abgeordnete nach Wien. Das hatte wiederum zur Folge, dass sowohl die katholischen Politiker als auch die tschechischen Nationalisten gegen die Sozialdemokratie mobilisierten, und zwar mit Hilfe des Antisemitismus. Das bedeutet: Die Juden wurden als die Verschwörer, die Wortführer hinter den Kulissen der Sozialdemokratie dargestellt. Sie sollen versucht haben, durch den Sozialismus die Integrität der tschechischen nationalen Bewegung zu unterminieren und zu zerstören, um die Welt besser beherrschen zu können. So etablierte sich der Antisemitismus wirklich im Zentrum des politischen Diskurses." In diesem Kontext muss auch der "Ritualmord"-Prozess gegen Leopold Hilsner gesehen werden, der 1899 zur Aufstachelung des Judenhasses organisiert wurde. Masaryk, zu dieser Zeit Professor an der Karlsuniversität, zeigte sich dabei von seiner besten Seite und bezog sehr deutlich Position für den Angeklagten.

(15) Franz Kafka: Briefe an Milena. S. 184.

(16) Ähnliches konnte man aus vergleichbaren Gründen nach dem Zusammenbruch des Stalinismus beobachten, als sich die zu einem Großteil aus der alten Kaste der Apparatschiks hervorgegangenen neuen kapitalistischen Eliten der Oligarchen und Kleptokraten um die Beute balgten.

(17) Wladimir I. Lenin: Zur Frage der Nationalitäten oder der „Autonomisierung“.

(18) Zu Beginn des Weltkrieges hatte dieser noch von der Wiedererrichtung eines böhmischen Königreiches unter der Schutzherrschaft des Zaren geträumt.

(19) Zit. nach: Marta Filipová: The creation of Czechoslovakia and its identity politics.

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