Ich muss gestehen, dass mir John Wyndhams Werk lange Zeit eher durch Filmadaptionen als eigene Lektüre bekannt war -- vor allem natürlich
Village of the Damned (1960), Wolf Rillas grandioser Verfilmung der
Midwich Cuckoos. Aber je mehr ich aus anderen Quellen -- wie etwa Jim Moons
vierteiliger Podcast-Reihe zu
The Day of the Triffids -- über ihn erfuhr, desto größer wurde mein Verlangen, ihm irgendwann einmal auch lesend zu Leibe zu rücken. Eine Gelegenheit dazu eröffnete sich, als mir vor ein paar Wochen bei einem spontanen Raubzug auf einen Öffentlichen Bücherschrank in einem Nachbardorf ein ganz hübsches Bändchen in die Hände fiel, das u.a. seinen Roman
Wenn der Krake erwacht (
The Kraken Wakes) enthielt.
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| In dem Buch lag diese Mondkarte. Die gehört zwar nicht dazu, schien mir aber trotzdem sehr passend. |
John Wyndham (1903-1969) darf wohl als die dominierende Gestalt der britischen Science Fiction der 50er Jahre gelten. Allerdings gehörte er zu den Autoren, die sich in ihrem Verlangen nach Respektabilität vom Gros der Genre-Literatur zu distanzieren versuchten --
Penguin nicht Pulp. Dass er in den 30er Jahren selbst eine ganze Reihe Kurzgeschichten für Hugo Gernsbacks
Wonder Stories und andere amerikanische Magazine
geschrieben hatte, verschwieg er wohlweislich, als er 1951 mit
The Day of the Triffids seine "eigentliche" Karriere startete. Er hatte schon immer unter Pseudonymen veröffentlicht*, was es besonders leicht machte, unter dem Namen "John Wyndham" eine Art Neustart vorzunehmen. Wie Mike Ashley in
Transformations: The Story of the Science Fiction Magazines from 1950-1970 schreibt:
As Wyndham he created a new persona which virtually blanked out the past
and allowed him to develop in the mainstream without the ‘stigma’ of
the sf magazines.
The Day of the Triffids folgten The Kraken Wakes (1953), The Chrysalids (1955) und The Midwich Cuckoos (1957). Diese vier Bücher bilden die Grundlage seiner Reputation.
Für die
New Wave - Rebellen der 60er Jahre war Wyndham eine Art "Establishment-Figur". Christopher Priest
bezeichnete ihn als "
the master of the middle-class catastrophe", und Brian W. Aldiss prägte für
Day of the Triffds und
The Kraken Wakes den abfällig gemeinten Begriff der "cosy catatstrophe":
The essence of cosy catastrophe is that the hero should have a pretty good time (a girl, free suites at the Savoy, automobiles for the taking) while everyone else is dying off.*
Nach der Lektüre von Wenn der Krake erwacht*** kann ich diese Kritik zwar teilweise nachvollziehen, denke aber auch, dass sie etwas zu kurz greift.
Wyndham macht keinen Hehl daraus, dass sein Roman eine Variation auf H.G. Wells' The War of the Worlds ist, das Vorbild wird sogar namentlich erwähnt. Allerdings vollzieht sich die außerirdische Invasion bei ihm in einem sehr viel gemächlicheren Tempo und für lange Zeit auch in sehr viel weniger spektakulären Formen, was der Erzählung ihren ganz eigenen Charakter verleiht. Doch nur im Schlussteil schien mir dabei die "cosy catastrophe" - Kritik zumindest ansatzweise zuzutreffen.
Der Roman präsentiert sich uns in Form von Aufzeichnungen des Radioreporters Mike, die dieser "nach der Katastrophe" angefertigt hat. Je mehr wir lesen, desto deutlicher wird allerdings, dass Mikes Ehefrau Phyllis -- ebenfalls Reporterin -- die sehr viel tatkräftigere, oft auch vorausschauendere und sensiblere des Paares ist. Weshalb Christopher Priest sie auch als die eigentliche Protagonistin des Romans
bezeichnet hat. Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde, da im Grunde keiner der beiden dem klassischen Format eines Protagonisten entspricht. Ihre Handlungen haben keinen echten Einfluss auf den Ablauf der Ereignisse und sie verhalten sich weitgehend reaktiv. Schon von Berufs wegen sind sie in erster Linie Beobachter*innen. Dennoch ist Phyllis' relativ große Selbstständigkeit in Denken wie Handeln natürlich ein interessantes Detail. Gerade für einen SciFi-Roman der frühen 50er.****
Während ihrer Flitterwochen werden Mike und Phyllis Zeugen davon, wie eine Gruppe mysteriöser "Feuerbälle" vom Himmel herabregnet und im Meer versinkt. Im Laufe der nächsten Wochen und Monate wiederholt sich das eigenartige Phänomen an unterschiedlichen Stellen auf der Erde. Auffällig ist, dass die "Bälle" nie über dem Festland niedergehen, sondern stets über dem Ozean, und zwar immer an Orten mit einer besonders großen Meerestiefe. Eine Zeit lang beherrscht das Thema die Schlagzeilen und in der ohnehin angespannten Atmosphäre des Kalten Krieges florieren wilde Spekulationen. Phyllis und Mike haben dank ihrer Arbeit zwar Zugriff auf Quellen in Politik und Militär, die der Allgemeinheit verschlossen bleiben, verfügen aber dennoch zu keiner Zeit über ein lückenloses Gesamtbild der Situation. Immerhin können sie an einer Expedition zu einer der primären "Absturzstellen" teilnehmen, bei der mehrere Taucherglocken verloren gehen, als man versucht, einen Blick auf die Vorgänge in der Tiefsee zu werfen. Doch nach einiger Zeit beruhigt sich die Lage wieder und die öffentliche Aufmerksamkeit wendet sich anderen Dingen zu, obwohl es keine vernünftige Erklärung für die Ereignisse gegeben hat.
Dieses Muster wiederholt sich in den folgenden Jahren mehrfach. Immer wieder kommt es zu einer Welle merkwürdiger Vorfälle. Doch immer wieder ebbt das Interesse an ihnen nach einiger Zeit wieder ab. Und das selbst nachdem diese einen zunehmend bedrohlichen Charakter annehmen.
Mein erster Gedanke war, dass Wyndham hier auf die zeitgenössischen UFO-Sichtungen anspielt, die nach Kenneth Arnolds erster Begegnung mit "Fliegenden Untertassen" inzwischen vor allem in Amerika wellenartig (1947 - 1949 - 1952) auftraten. Doch selbst wenn das eine seiner Inspirationsquellen gewesen sein sollte, dient die Struktur der Erzählung doch einem anderen Ziel.
H.G. Wells' War of the Worlds hatte in der Tradition der sog. "Invasion Novels" gestanden, in denen Großbritannien von einer fremden Macht angegriffen und (manchmal) besetzt wird. Um die von ihm angestrebte Wirkung beim Leser zu erzielen, schildert er, wie im Herzen des Empire ein technologisch haushoch überlegener Feind auftaucht, gegen den jeder Widerstand hoffnungslos erscheinen muss, und der sich daran macht, das "green and pleasant land" in Schutt und Asche zu legen und seine Bewohner in Schlachtvieh zu verwandeln. Der Aufbau seines Romans dient diesem Zweck. Wyndham hingegen verfolgt ein thematisch ganz anderes Ziel. Ihm geht es nicht darum, zu zeigen, wie eine sich allmächtig dünkende imperialistische Großmacht urplötzlich in die Position ihrer eigenen Opfer versetzt wird. Mit Wenn der Krake erwacht wirft er vielmehr einen kritisch-satirischen Blick darauf, wie Politik, Medien und die Gesellschaft als Ganzes auf eine allgemeine und potenziell existenzbedrohende Krise reagieren.
Im Rückblick fällt es nicht schwer, die einzelnen Episoden als Etappen einer eskalierenden Katastrophe zu sehen: Die Landung der "Feuerkugeln" und der Verlust der Taucherglocken -- der (scheinbar folgenlose) Einsatz einiger unterseeischer Atombomben -- das Auftauchen merkwürdiger Schlammteppiche auf der Meeresoberfläche -- der unerklärliche Verlust einzelner Hochseeschiffe -- das merkwürdige Verschwinden der Bevölkerung einiger abgelegener Küstendörfer. Doch jedes Mal beschließt die "Öffenlichkeit" nach anfänglicher Aufregung das Ganze zu ignorieren und nur ja keine weitergehenden Schlüsse daraus zu ziehen.
Der einzige, der von Anfang an ein klares Verständnis für das Ausmaß der Bedrohung an den Tag legt, ist der Wissenschaftler Dr. Bocker. Schon früh entwickelt er die These, dass es sich bei den "Feuerkugeln" um eine außerirdische "Einwanderungswelle" oder Invasion gehandelt habe. Die Aliens stammten vermutlich von einer Welt mit einer deutlich höheren atmosphärischen Dichte, weshalb die Tiefsee der ihnen genehme Lebensraum sei.
Die Figur des Dr. Bocker mag ein Überbleibsel des Wells'schen Glaubens an eine aufgeklärt-wissenschaftliche Elite als Retter der Menschheit sein. Doch ist er nicht als "allwissend" dargestellt. Vielmehr betont er immer wieder ausdrücklich die Grenzen seines Verständnisses und lehnt es z.B. strikt ab, irgendwelche Vermutungen über die Motive der Außerirdischen anzustellen. Dafür fehle jede vernünftige Grundlage. Er kann bloß die Ereignisse beobachten und davon ausgehend Theorien entwickeln. Und diese sind alles andere als erfreulich.
Doch in der Öffentlichkeit wird Bocker immer wieder als exzentrischer Wirrkopf, Querulant und unverbesserlicher Schwarzseher hingestellt, dessen Unkenrufen man mit Hohn und Spott begegnet. Bis die Invasion schließlich in vollem Gange ist.
Keine der Figuren in Wenn der Krake erwacht scheint mir ein direktes Sprachrohr für die Ideen des Autors zu sein. Was uns einen relativ weiten Interpretationsspielraum lässt. Klar ist, dass es in dem Roman darum geht, wie lange eine Gesellschaft eine existenzbedrohende Krise ignorieren und so tun kann, als gehe das Leben immer so weiter wie gewohnt. Weniger eindeutig ist, worin wir die Gründe für dieses Phänomen sehen sollen. Eine "allgemein menschliche" Tendenz zur Bequemlichkeit? Vor allem, wenn die drohende Katastrophe eine radikale Veränderung der bisherigen Lebensgewohnheiten verlangen würde? Möglich. Aber Wyndhams Kritik richtet sich meines Erachtens in erster Linie gegen die "Eliten" in Politik und Militär (die Wirtschaft bleibt weitgehend ausgeblendet), deren größte Furcht darin besteht, die Kontrolle über die Ereignisse (und damit über die Gesellschaft) zu verlieren. Und die deshalb alles tun, um die Allgemeinheit in Sicherheit zu wiegen. Dabei bedienen sie sich der Medien als Werkzeugen der Manipulation. Immer wieder müssen Mike und Phyllis miterleben, wie ihnen wichtige Informationen vorenthalten werden oder von ihnen erwartet wird, dass sie die Ereignisse in einem bestimmten Licht darstellen.
Und es ist nicht so, als würden sich unsere beiden "Held*innen" offensiv gegen die Rolle wehren, die ihnen als Reportern bei all dem zugedacht ist. Vor allem im letzten Drittel des Romans spüren wir zwar sehr deutlich Phyllis' zunehmende Frustration und ihre immer zynischere Haltung gegenüber den "Mächtigen". Aber auch sie sieht keinen Ausweg aus dieser Lage. Und damit kommen wir zu der Frage, inwieweit das hier tatsächlich eine "cosy catastrophe" ist. Richtig ist, dass Mike und Phyllis selten unmittelbar von den Folgen der hereinbrechenden Apokalypse betroffen sind. Selbst dann noch, als die Außerirdischen einen offenen Krieg gegen das Festland beginnen. Ihre privilegierte Mittelklasse-Existenz bleibt lange Zeit ungefährdet. Aber das macht die Katastrophe nicht notwendigerweise weniger bedrohlich. Es trägt vielmehr dazu bei, zu verstehen, warum die beiden so lange bereit sind, bei dem Ganzen mitzuspielen. An sich stehen ihnen deutlich mehr Informationen zur Verfügung als der Allgemeinheit. Sie haben deshalb auch ein klareres Bild der Bedrohung. Und dennoch tendieren auch sie dazu, vor dem vollen Ausmaß der Katastrophe die Augen zu verschließen und sich so zu verhalten, als gälten noch immer die traditionellen Regeln des "Medienbetriebs". Und wenn es ihnen tatsächlich einmal zu viel wird, können sie sich jederzeit in ihr Häuschen an der Küste von Cornwall zurückziehen. Irgendwann ist ein solches Verhalten zwar auch ihnen nicht mehr möglich, doch dann ist es in gewisser Weise bereits zu spät. Was ihnen dann noch bleibt, ist stumme Verzweifelung.
Zugegebenermaßen fand auch ich es etwas merkwürdig, dass unsere "Held*innen" selbst dann noch kaum materielle Sorgen haben, als die Außerirdischen damit beginnen, die Polkappen zum Abschmelzen zu bringen und London mehr und mehr im Wasser versinkt. Spätestens an diesem Punkt scheint mir die ursprünglich zumindest implizit kritische Haltung gegenüber einer privilegierten Mittelklasse-Existenz (und der damit einhergehenden Sicht- und Verhaltensweise) in ihr Gegenteil umzukippen, und es wirkt beinahe so, als könnte sich Wyndham kein anderes Leben vorstellen als ein solch "gesichertes". Oder als schrecke er instinktiv davor zurück, dessen vollständigen Zusammenbruch zu schildern.
Aber auch wenn ich mich der Kritik der New Waver an dieser Stelle zumindest teilweise anschließen konnte, hat Wyndhams Roman im Ganzen gesehen einen ziemlich positiven Eindruck bei mir hinterlassen. Und dass seine Thematik auch heute noch sehr aktuell ist, muss wohl nicht eigens betont werden -- ganz gleich, ob wir dabei nun an die Klimakatastrophe, das Wiedererstarken des Faschismus oder die allgemeine Tendenz zu einem Dritten Weltkrieg denken. Krisen einfach wegzuleugnen, ist nach wie vor weit verbreitet.
* Sein eigentlicher Name war John Wyndham Parkes Lucas Beynon Harris. Über die Jahre benutzte er immer neue Kombinationen aus diesem Pool.
** Brian W. Aldiss / David Wingrove: Trillion Year Spree. The History of Science Fiction. S. 316.
*** Die Übersetzung von Lothar Heinecke basiert auf der US-amerikanischen Version des Romans. Die britische enthält offenbar einige zusätzliche Passagen und ein etwas zurückhaltender gestaltetes Ende.
**** Der Band enthält neben Wyndhams Wenn der Krake erwacht auch Brüder unter fremder Sonne (Unearthly Neighbors) von Chad Oliver. Und in diesem 1960 erschienenen Roman begegnen wir schon nach wenigen Seiten der "reizenden Ehefrau" des Protagonisten, deren wichtigste Funktionen offenbar darin bestehen, hübsch auszusehen und ihrem Professorengatten und dessen Politikergast ein paar saftige Steaks in die Pfanne zu hauen. Und anders als Wyndhams Geschichte spielt die hier in der "fernen Zukunft" von 1991. Seufz ...
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