Wir sollten von neuem das Grün ansehen und von neuem überrascht (aber nicht geblendet) werden durch Blau, Gelb und Rot. Wir sollten dem Kentauren und dem Drachen begegnen und dann vielleicht plötzlich, wie die Schafhirten des Altertums, der Schafe, Hunde und Pferde gewahr werden – und der Wölfe. Diese Heilung zu erzielen, helfen uns die Märchen.
so zu sehen, wie sie uns zugedacht sind (oder waren) – als von uns selber unabhängige Dinge. In jedem Falle müssen wir unsere Brillen putzen, damit die Dinge frei werden vom trüben Schleier der Abnutzung und Gewöhnung – frei von unserem Besitz. [...] Verblaßt oder zur schlechten Gewohnheit geworden ist uns dasjenige, das wir rechtlich oder seelisch in Besitz genommen haben. Von diesen Gesichtern sagen wir, wir würden sie kennen. Sie sind gleichsam zu etwas geworden, das uns einmal durch sein Glitzern, seine Form oder Farbe gereizt hat, auf das wir die Hände gelegt, das wir erworben, in der Truhe weggeschlossen und dann nicht mehr angeschaut haben. [...] Die schöpferische Phantasie [...] kann die Truhe aufbrechen und alle Wertsachen, die darin weggeschlossen waren, davonfliegen lassen wie Vögel aus dem Käfig. Aus allen Juwelen werden Blumen und Flammen, und wir erfahren, daß alles, was wir besaßen (oder wußten), stark und gefährlich war, frei und ungezähmt, daß es nicht wirklich sicher an der Kette lag – ebensowenig eins mit uns wie unser eigen. (1)
Die phantastische Literatur soll also den durch zu lange Gewöhnung glanzlos und banal gewordenen Dingen der uns umgebenden Welt etwas von ihrer Lebendigkeit und Faszinationskraft zurückgeben, indem sie sie uns erneut in ihrer ursprünglichen "Wildheit" und Unabhängigkeit vor Augen führt.
Man kann dieses "Programm" unterschiedlich interpretieren und beurteilen. Ich denke, dass es einige durchaus erwägenswerte Gedanken enthält, zugleich aber die Gefahr in sich birgt, dem Vorschub zu leisten, was ich die "Oh, wie schön ist Panama" - Illusion nennen möchte – dem Irrglauben, es genüge, die Welt unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten, und schon wäre alles in Ordnung. Man denke z.B. an Chestertons gefährliche Bemerkung: „Höchst wahrscheinlich sind wir immer noch in Eden. Nur unsere Augen haben sich verändert.“ (2) Nicht dass Tolkien unter "Wiederherstellung" eine solche Aussöhnung mit den herrschenden Zuständen mittels Perspektivwechsel verstanden hätte, aber ich fürchte, manche könnten ihn in diesem Sinne fehlinterpretieren.
In unserem Zusammenhang sehr viel wichtiger ist jedoch, dass das Objekt der phantastischen Literatur für Tolkien offenbar nicht das Fremdartige und Niegesehene war, sondern ganz im Gegenteil das eigentlich Altbekannte: „[T]atsächlich handeln die Märchen (oder die besseren unter ihnen) hauptsächlich von einfachen, elementaren Dingen, die von der Phantasie noch unberührt sind." (3) Und in der Tat wirkt Mittelerde im Vergleich etwa zu Lord Dunsanys Traumlanden, die in tausend Farben zu schillern und von fremdartigen Düften umweht zu sein scheinen, ausgesprochen unexotisch. Das Stadttor von Minas Tirith besteht nicht aus einem einzigen Stück Elfenbein, wie dasjenige von Perdóndaris an den Ufern des Yann, und solch bizarre Dinge wären hier auch völlig Fehl am Platze. Der tiefere Grund dafür ist uns bereits bekannt. Arda sollte seinem Schöpfer als eine Art geistiger Ersatzheimat und als ein Refugium inmitten der verhassten Moderne dienen, aus-gestattet „mit einem heimischen Anhauch ... vom Himmel und der Erde des Nordwestens“ (4) Tolkiens Welt umgibt zwar ein mythischer und märchenhafter Zauber, aber sie ist nicht dem Verlangen nach dem Unbekannten entsprungen, sondern soll letztenendes Gewohntes und Geliebtes "wiederhergestellt", d.h. vom Schmutz und den Verunstaltungen der Moderne gereinigt, heraufbeschwören.
Bezeichnenderweise geht dem Abschnitt über die "Wiederherstellung" in Über Märchen eine kaum verhüllte Polemik gegen den Modernismus in der Malerei voraus. Dem Überdruss an den ‘natürlichen’ Farben und Formen dürften wir nämlich keinesfalls zu entkommen versuchen,
indem wir uns ins absichtlich Grobe, Ungeschlachte oder Widerwärtige flüchten oder indem wir alle Dinge sei es einschwärzen, sei es unerbittlich grell färben; auch nicht, indem wir die Farben so lange mischen, bis alle feinen Schattierungen in einer einzigen Trübe enden, oder die Gestalten phantastisch ineinanderschlingen, bis zur Albernheit und bis zum Delirium.
Enthält der Begriff der "Wiederherstellung" also bereits in dieser Hinsicht ein konservatives Element, muss man sich zudem fragen, ob die von Tolkien behauptete "Freiheit" der Dinge nicht zum Teil eine der Zivilisationsmüdigkeit entsprungene Illusion ist. Sind diese denn wirklich auf keine Weise „eins mit uns“ oder „unser eigen“? Die uns umgebende Umwelt – auch die "natürliche" – ist doch in Wahrheit in ihrer heutigen Form das Produkt einer jahrtausendelangen Wechselbeziehung zwischen der Natur und den in ihr lebenden Menschen. Wie z.B. könnten wir die von Tolkien erwähnten Tiere in vollem Sinne als "frei und ungezähmt" betrachten? Nicht nur der Hund, sondern auch jene Pferde und Schafe, denen wir in unseren Breiten begegnen, sind ja das Ergebnis der Domestizierung durch den Menschen. Und gehört nicht auch gerade dies zu ihrem "wahren" Wesen? Ebenso können wir z.B. die vielbesungenen "grünen Hügel von England" in ihrem "wahren" Charakter nur begreifen in Verbindung mit den unzähligen Generationen von Bauern und Bäuerinnen, die den Boden Albions bestellt und seine Landschaft geformt haben. Die Vorstellung einer "unberührten Natur" ist in den allermeisten Fällen reine Romantik.
Wenden wir uns nun von
der ästhetischen Theorie zur schriftstellerischen Praxis, so zeigt
uns der Herr der Ringe, dass Tolkien diesen Zusammenhang
zumindest intuitiv sehr gut begriffen hatte, ganz gleich, was er in
Über Märchen dazu schrieb. Die stimmungsvollen
Landschaftsbeschreibungen gehören ohne Zweifel zu den stärksten
Seiten des Romans, doch einer im eigentlichen Sinne "unberührten
Natur" begegnen wir in Mittelerde nur sehr selten. Vergessen wir
nicht, dass einstmals „ein Eichhörnchen von Baum zu Baum hüpfen
konnte von dem Land, das heute das Auenland ist, nach Dunland
westlich von Isengart“
(6) Dann kamen die Númenórer und holzten die Wälder ab, um ihre
gewaltigen Flotten bauen zu können, und so entstand das Heideland
von Eriador, durch das sich die Gefährten im ersten Band bewegen.
Selbst die Wälder von Lothlórien sind nicht auf natürliche Weise
entstanden. Die Mallorn-Bäume waren nicht heimisch an den Ufern des
Anduin, sondern wurden von den Hochelben dorthin gebracht. (7)
Die dunkle Linie, die sie gesehen hatten, war nicht eine Baumreihe, sondern eine Reihe Büsche, und sie standen am Rande eines tiefen Grabens mit einer steilen Böschung auf der gegen-überliegenden Seite. Tom sagte, das sei einstmals die Grenze eines Königreiches gewesen, aber vor sehr langer Zeit. Ihm schien dabei irgend etwas Trauriges einzufallen, und er wollte nicht viel darüber sagen.
Die Berge kamen näher. Sie bildeten einen wellenförmigen Kamm, oft erhoben sie sich fast bis zu tausend Fuß Höhe, und hier und da fielen sie wieder ab zu niedrigen Schluchten oder Pässen, die in das östliche Land dahinter führten. Auf dem Grat der Bergkette konnten die Hobbits etwas erkennen, das wie Reste von grünbewachsenen Wällen und Gräben aussah, und in den Schluchten standen noch die Ruinen alter Steinbauten.
Viele sahen aus, als ob sie von Hand bearbeitet worden seien, obwohl sie jetzt durcheinandergeworfen und in Trümmern in einer unwirtlichen, kahlen Landschaft lagen.“ Legolas aber sagt: „[D[ie Elben dieses Landes [gehörten] zu einem Volk, das uns, den Waldelben, fremd war, und die Bäume und das Gras erinnern sich ihrer nicht mehr. Nur höre ich, wie die Steine um sie klagen: tief gruben sie uns aus aus, schön verarbeiteten sie uns, hoch bauten sie uns; aber sie sind fort. Vor langer Zeit suchten sie die Anfurten.“ (9)
Es kann mitunter sehr schön sein, sich in solch ein melancholische Panorama zu vertiefen. Aber es ist kein erschöpfendes Abbild des Lebens in seiner bunten Vielfalt und Veränderlichkeit, wie es die "Wiederherstellung" eigentlich verlangen würde.
[W]ohin er auch schaute, überall sah er Anzeichen des Krieges. Das Nebelgebirge wimmelte wie ein Ameisenhaufen: aus tausend Höhlen strömten Orks heraus. Unter den Zweigen von Düsterwald war ein tödlicher Kampf zwischen Elben und Menschen und wilden Tieren entbrannt. Das Land der Beorninger stand in Flammen; eine Wolke hing über Moria; an den Grenzen von Lórien stieg Rauch auf. Reiter galoppierten über das Gras von Rohan; Wölfe ergossen sich aus Isengart. Von den Anfurten in Harad stachen Kriegsschiffe in See; und aus dem Osten zogen endlos Menschen heran: Schwertträger, Lanzenträger, Bogenschützen zu Pferde, Streitwagen von Anführern und beladene Karren. Die ganze Streitmacht des Dunklen Herrschers war in Bewegung. (10)
(2) G. K. Chesterton: Verteidigung
des Unsinns. S. 46. Im ursprünglichen Text hatte es zuvor eine etwas längere Passage gegeben, in der Tolkiens Weltsicht mit der Chestertons verglichen wurde. Deshalb kommt der hier als Beispiel vor.
(3) J.R.R. Tolkien: Über Märchen. In: Ders.: Die Ungeheuer und ihre Kritiker. S. 189.
(4) Brief an Milton Waldman [1951]. In: J.R.R. Tolkien: Briefe. Nr. 131. S. 192.
(5) J.R.R. Tolkien: Über Märchen. In: Ders.: Die Ungeheuer und ihre Kritiker. S. 187; 205.
(6) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 322.
(7) Zur Charakterisierung der einzig wirklich "wilden" Wälder greift Tolkien ironischerweise zur Methode ihrer Anthropomorphisierung in Gestalt des Alten Weidenmannes bzw. der Ents und Huorns.
(8) Matthew David Surridge: The Lord of the Rings: A Personal Reading, Part Two.
(9) J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Bd. I. S. 184; 229; 347; 345.
(10) Ebd. Bd. I. S. 483.
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