"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Montag, 18. Februar 2019

Stargazy on Zummerdown

Im Februar 1974 sah sich der konservative Premierminister Edward Heath angesichts einer seit Jahren immer stärker anwachsenden Welle militanter Streiks und Massendemonstrationen gezwungen, Neuwahlen anzuberaumen. Die Tories verloren wenn auch nur knapp , und nach einer ominösen Übergangsperiode von vier Tagen, während derer Heath sich weigerte, 10 Downing Street zu räumen, bildete die Labour Party eine neue Regierung mit Harold Wilson als Premier. Ein wichtiger Wendepunkt der britischen Nachkriegsgeschichte war erreicht. 
Heaths Sturz kann als Höhepunkt der gewaltigen Klassenkämpfe betrachtet werden, die das Vereinigte Königreich in der ersten Hälfte der 70er Jahre erschütterten. Doch es sollte sich schon bald zeigen, dass die Arbeiterklasse bloß einen Scheinsieg errungen hatte.
Labours Wahlmanifeste vom Februar und Oktober 1974 hatten ein umfangreiches Programm sozialer Reformen im Interesse der arbeitenden Bevölkerung, einen weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaates und eine höhere Besteuerung der Reichen versprochen. Aber es dauerte nicht lange, und es wurde immer deutlicher, dass die Ära des Keynesianismus und nationalen Reformismus, die die Zeit nach dem 2. Weltkrieg geprägt hatten, unwiderruflich zuende war. Verantwortlich dafür waren nicht irgendwelche übelwollenden Politiker, sondern die objektive Entwicklung der kapitalistischen Weltwirtschaft. 
Als James Callaghan 1976 den Posten des Labour-Vorsitzenden und Premierministers übernahm, erklärte er öffentlich: "We used to think that you could spend your way out of a recession and increase employment by cutting taxes and boosting government spending. I tell you in all candour that that option no longer exists...." Als er sich wenig später gezwungen sah, beim Internationalen Währungsfond einen für damalige Verhältnisse gewaltigen Kredit von $3,9 Milliarden aufzunehmen, forderte dieser im Gegenzug ein energisches Zusammenstreichen der Staatsausgaben. Callaghan haderte zwar mit dem IWF, leitete jedoch nichtsdestoweniger angesichts von steigender Arbeitslosigkeit und Inflation deflationäre Kürzungsmaßnahmen ein, die als direkter Vorläufer der monetaristischen Wirtschaftspolitik gelten können, welche Margaret Thatcher in den 80er Jahren dann mit ungebremster Brutalität durchsetzen würde. Die Labour-Linke, die trotz gelegentlicher Sonntagsreden über den Sozialismus nie bereit war, die bürgerliche Ordnung ernsthaft in Frage zu stellen,  wusste dem keine andere Alternative entgegenzuhalten, als eine Rückkehr zum nationalen Protektionismus. Callaghans Regierung wurde immer instabiler. In ihrem letzten Jahr 1977/78 konnte sie sich nur noch mit Hilfe der Liberalen halten. Ihr endgültiger Zusammenbruch kam mit den Massenstreiks im öffentlichen Dienst im "Winter of Discontent" 1978/79. Der Bankrott des sozialdemokratischen Reformismus ebnete den Weg zur Macht für die extrem rechten Kräfte um die Eiserne Lady, die im Mai 1979 in 10 Downing Street einzog.

Eine zugegeben etwas langwierige Einleitung für einen Post, in dem ich doch eigentlich bloß kurz von einem weiteren kuriosen Fund berichten will, den ich neulich in der schier unerschöpflichen Fundgrube des Bizarren gemacht habe, welche die britische TV-Phantastik der 70er Jahre darstellt. Aber ich glaube, dass eine Vertrautheit mit diesem historischen Hintergrund nötig ist, um Michael Fergusons & John Fletchers Fernsehspiel Stargazy on Zummerdown richtig einzuordnen, das am 15. März 1978 im Rahmen der BBC2-Reihe Play of the Week ausgestrahlt wurde. Zumal das Stück selbst keinen Hehl aus seiner zeitgeschichtlichen Verankerung macht. Auf seine Existenz aufmerksam geworden bin ich übrigens durch einen kleinen Eintrag auf der stets interessanten Website A Year In The Country.

Im 23. Jahrhundert besteht Großbritannien bzw. Albion, wie seine Bewohner es nun wieder nennen, aus kleinen ländlichen und industriellen Gemeinden, die nur locker im "Commonwealth of New Harmony" unter Leitung der "Reformed Celtic Church" vereinigt sind. Lediglich im Norden des Landes scheinen sich Überbleibsel der alten Industriestädte mit ihren riesigen Fabriken erhalten zu haben. Das Setting wirkt zugleich postapokalyptisch und idyllisch, was dem Stück von Anfang an einen sehr eigenen Ton verleiht. Viele der fortgeschrittenen technischen Geräte (Computer etc.), die sich nach wie vor in Verwendung befinden, wirken wie Relikte einer untergegangenen Zivilisation, die nur mit Mühe und Not am Laufen gehalten werden, doch niemanden scheint dies ernsthaft zu beunruhigen. Eigenartigerweise hören wir zugleich immer wieder von einem Raumschiff, das gerade irgendwo gebaut werde.
"New Harmony" entstand nach einer Ära blutiger Bürgerkriege, der "großen Reformation", ohne dass anfangs wirklich klar wäre, um was damals eigentlich gekämpft wurde. Allerdings wird von einem der brutalsten feindlichen Truppenverbände  erzählt, er habe aus Vertretern der "managerial class" bestanden und habe Melonen als Teil ihrer Uniform getragen!
Wer das jetzt etwas absurd {und gar zu offensichtlich} findet, hat natürlich nicht ganz unrecht, aber Stargazy on Zummerdown ist über weite Strecken im Ton einer ländlichen Groteske gehalten. Der Film versucht nicht, ein realistisches Bild der Welt von "New Harmony" zu zeichnen. Schon allein die Sets {gedreht wurde ausschließlich im Studio} verleihen dem Ganzen etwas artifizielles – mehr Bühnenstück als Film. Bevölkert wird diese Szenerie von überzogen gezeichneten Archetypen, die Namen wie Opinionated Alice oder Contrary Harry tragen.
Im Zentrum der Geschichte steht die traditionelle Rivalität zwischen der ländlichen Gemeinschaft der "Aggros" und der industriellen Gemeinde der "Toonies". Wie stets versammeln sich Vertreter der beiden Gruppen am Mittsommertag ("Stargazy"), um ihr Handelsabkommen für das nächste Jahr auszuhandeln und sich daneben mit allerlei spaßigen Wettbewerben {und viel Bier} zu unterhalten. Den Vorsitz führt dabei der "neutrale" Abt des örtlichen Klosters.
Wir kommen in den Genuss solch kurioser Vergnügungen wie eines Wettkampfs im Austausch kreativer Beleidigungen {mit einem greisen Reverend als Schiedsrichter, der schließlich in Ohnmacht fällt} oder eines Duells im Essen von rohen Zwiebeln.
Schließlich beginnen die Matriarchin der "Aggros" und der Vorsitzende der "Toonies" ihre Verhandlungen. Die beiden müssen zu einer Übereinkunft gelangen, bevor eine dicke Wachskerze heruntergebrannt und der Abend heraufgezogen ist. Doch ihre kleinlichen Konflikte erweisen sich als zu stark. Als die Zeit abgelaufen ist, bricht Finsternis über die "Bühne" herein und der Ton des Films ändert sich auf dramatische Weise.
In seinem Appell an die zerstrittenen Gemeinden beschwört der Abt zuallererst die "Lehren der Geschichte" herauf und ruft als Kronzeugen den Historiker Sydney auf, der allsogleich mit einem Vortrag über die Geschichte der Industriegesellschaft beginnt – unterlegt mit illustrierendem Stock-Footage-Material. Beginnend mit der Zerschlagung der feudalen Agrarverfassung im 16. Jahrhundert zeichnet dieser ein denkbar finsteres Bild der Moderne als einer Ära der grausamsten Entmenschlichung, die ihren Höhepunkt im 20. Jahrhundert mit der Einführung der Fließbandproduktion erreichte. Doch der Siegeszug des stählernen Leviathans mit dem Doppelantlitz Kapitalismus-Kommunismus fand schließlich in einer gewaltigen Krise sein Ende, deren Anfang auf das Jahr 1973 datiert werden könne. Einem allgemeinen Zusammenbruch der Wirtschaft folgte eine Ära von Revolten und Bürgerkriegen, bis aus dem blutigen Chaos "New Harmony" geboren wurde.
Im Anschluss an diesen "historischen Exkurs" hält der Abt eine lange utopistische Predigt, in der er "Aggros" und "Toonies" an die Werte ihrer Gesellschaft erinnert, die die Selbstentfremdung und Versklavung des Menschen durch Industrialisierung und Zentralisierung überwunden habe und in der Gemeinschaft und Individuum endlich wieder miteinander ausgesöhnt seien. Diese wahrhaft menschliche Ordnung dürfe nicht durch sinnlose, irrationale Rivalitäten in Gefahr gebracht werden. Die Feierlichkeiten von "Stargazy" dienten ja gerade dazu, diesen ein spielerisches und damit ungefährliches Ventil zu eröffnen.
Das Stück endet mit der Versöhnung der beiden Gruppen und der Hochzeit der "Aggro"-Astronomin Ruth und des "Toonie"-Historikers Sydney, die gemeinsam mit dem umherziehenden "Elektro-Krämer" Israel Tonge auf Wanderschaft gehen, um die Welt jenseits ihrer kleinen Gemeinden kennenzulernen.

Es ist schon etwas erstaunlich, dass Stargazy on Zummerdown ein so genaues Datum für den Anbruch der finalen Krise der Industriegesellschaft liefert. Ein Datum zudem, das in der Vergangenheit und nicht in irgendeiner spekulativen Zukunft liegt. 
Andererseits ist es nicht so verwunderlich, dass für Drehbuchautor John Fletcher gerade 1973 eine solch apokalyptische Bedeutung angenommen hatte. Wir wir gesehen haben, bildete dieses Jahr zusammen mit dem folgenden den Höhepunkt der gewaltigen Klassenkämpfe der frühen 70er. Für viele schien es damals so, als befände sich Großbritannien am Vorabend einer Revolution. Dies galt sowohl für die Linke, als auch für die Rechte. Während Gerry Healy, der Führer der trotzkistischen Workers Revolutionary Party seine Anhänger davon zu überzeugen versuchte, dass ein Sturz der Heath-Regierung bloß die erste Etappe in einer sich rasch entfaltenden sozialistischen Umwälzung sein werde – "Wenn die Arbeiterklasse mit den Herren fertig werden kann, den Tories, dann auch mit deren reformistischen Knechten."* –, spielten einige Vertreter des konservativen Establishments bereits mit der Idee eines Staatsstreichs und der Bildung einer Junta unter Lord Mountbatten. Zu diesem erhofften oder befürchteten Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung war es zwar nicht gekommen. Weder Revolution noch Diktatur hatte sich materialisiert. Doch wachsende Inflation und steigende Arbeitslosigkeit machten mehr als deutlich, dass die Krise noch lange nicht überwunden war. Ein halbes Jahr nach Austrahlung von Stargazy on Zummerdown begann der "Winter of Discontent".

Die Antwort, die John Fletcher mit seinem Stück auf diese Krise zu geben versucht, steht in der Tradition des im 19.Jahrhundert von Denkern wie Thomas Carlyle und John Ruskin begründeten Romantischen Antikapitalismus.** Stargazy on Zummerdown hat mich deshalb auch ein wenig an David Rudkins Penda's Fen (1974) erinnert, auch wenn es diesem faszinierenden und vielschichtigen Film ganz sicher nicht ebenbürtig ist.*** Der Marxismus erscheint Fletcher bloß als der nicht weniger abstoßende Zwillingsbruder des Kapitalismus. Er bietet keine Lösung. Stattdessen gelte es scheinbar, auf vorbürgerliche Gesellschaftsformen zurückzugreifen. Aus gutem Grund erscheint die gewaltsame Auflösung der feudalen Agrarverfassung im Zuge der "Enclosures" des 16./17. Jahrhunderts mit den sie flankierenden Armengesetzen, die ein besitz- und wehrloses Proletariat schufen, in Sydneys Vortrag als so etwas wie der historische Sündenfall. Fletcher war scheinbar ein autodidaktischer Historiker, der sich insbesondere für das Mittelalter und das revolutionäre 17. Jahrhundert interessierte, und sein "New Harmony" wirkt in vielem tatsächlich wie eine Wiedergeburt des "Merry Old England". Dazu passt dann auch sehr gut der volksstückhafte Charakter des Films mit seinem "deftigen" Humor. Nicht dass Fletcher für eine Flucht zurück ins-Mittelalter plädieren würde. Zwar stellt er der Anonymität der kapitalistischen Industriegesellschaft die Rückkehr zu einem Leben in überschaubaren und quasi-familiären Gemeinschaften entgegen, doch natürlich herrscht in "New Harmony" kein Neofeudalismus. Vielmehr scheinen die kleinen Gemeinden auf kommunalem Eigentum zu basieren {was ein Bisschen an William Morris' News From Nowhere oder die Ideen Pjotr Kropotkins erinnert}. Auch hat man sich nicht völlig von den Errungenschaften des Industriezeitalters verabschiedet. Die "Toonies" unterhalten weiterhin Bergwerke und Eisengießereien, produzieren Solargeneratoren und andere Maschinen. Auch stehen die Naturwissenschaften nach wie vor in hohem Ansehen. Ja selbst die neue Religion der "Reformed Celtic Church" mit ihrem Sonnenkult spiegelt dies in gewisser Weise wieder. Vor allem jedoch haben die Gründer von "New Harmony" mit dem Bau eines Raumschiffes ein gemeinschaftliches Menschheitsprojekt geschaffen, zu dem all die kleinen Gemeinschaften direkt ("Toonies") oder indirekt ("Aggros") einen Beitrag leisten, und das damit verhindern soll, dass diese völlig auseinanderdriften.

Stargazy on Zummerdown ist ein filmisches Kuriosum, das auf eigenwillige Weise Licht auf die gesellschaftlichen Befindlichkeiten im krisengeschüttelten Großbritannien der 70er Jahre wirft. Schon allein sein exzentrischer Charakter lässt einen Besuch lohnenswert erscheinen. Ich erinnere bloß noch einmal: Wettbewerbe im kreativen Beleidigen und Zwiebelessen ...  



*  Zit.nach: David North: Gerry Healy und sein Platz in der Geschichte der Vierten Internationale. S.87.
** Ich habe mich vor Zeiten hier einmal etwas ausführlicher mit diesemThema beschäftigt.
*** Vgl. meine alte Besprechung von Rudkins filmischem Meisterwerk. 

   

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