"Die ganze Welt, dachte er, ist durchsichtig.
Ich bin drinnen und sehe nach draußen.
Ich spähe durch einen Schlitz und sehe – Leere."
Vor gut zwei Wochen konnten wir am 16. Dezember den 90. Geburtstag des großartigen, ewig faszinierenden Philip K. Dick feiern.
Schnell erwies es sich als unmöglich, termingerecht einen Jubiläumsbeitrag fertigzustellen. Die Weihnachtszeit ist im Einzelhandel halt alles andere als besinnlich. Auch stattete mir der Schwarze Hund mal wieder einen kurzen Besuch ab.
Darüberhinaus war ich mir ganz einfach unsicher, ob ich überhaupt über die nötige Kompetenz verfüge, einen allgemeinen Würdigungspost zu verfassen. Zu viele auch seiner wirklich bedeutenden Werke kenne ich nicht aus eigener Leseerfahrung. Zudem bin ich mit zahlreichen Details seiner Biographie unzureichend oder nur sehr oberflächlich-anekdotisch vertraut – das beginnt mit der turbulenten Geschichte seiner fünf Ehen und endet bei seinem legendären VALIS ("Vast Active Living Intelligence System") - Erlebnis von 1974, jener bizarren, von Halluzinationen begleiteten gnostischen "Erleuchtung", die schließlich zur Abfassung der Exegesis und der VALIS - Romantrilogie führte. Kurz gesagt, mir fehlt so etwas wie ein "umfassender Zugriff" auf Philip K. Dicks Leben und Werk.
Dennoch wollte ich den Anlass für einen kurzen Beitrag nutzen, auch wenn mir schnell klar wurde, dass dieser nicht rechtzeitig fertig werden würde. Schließlich mag ich den guten PKD sehr. Also beschloss ich, wieder einmal Time Out of Joint (Zeit aus den Fugen) in der Übersetzung von Gerd Burger & Barbara Krohn zu lesen. Der Roman zählt wohl nicht zu den bekanntesten Werken des Autors, wie etwa Do Androids Dream Of Electric Sheep? oder The Man In The High Castle, obwohl manche ihn für Dicks erstes "reiferes" Werk halten, aber seit ich ihn zum ersten Mal vor gut zehn Jahren gelesen habe, besitzt er einen besonderen Platz in meinem Herzen. Würde ich endlich einmal dazu kommen, einen erneuten, etwas ausgedehnteren Trip in die bizarren Welten von PKD zu unternehmen, würde ich vielleicht neue und andere Favoriten entdecken. Doch für den Moment steht er in meiner persönlichen Hitliste immer noch ganz oben.
Das Amerika der 50er Jahre – so scheint es zumindest. Ragle Gumm lebt zusammen mit seiner Schwester Margo und seinem Schwager Vic ein unaufgeregtes Leben in der geordneten, sauberen und sicheren Welt von Suburbia, in der die Besuche der Nachbarn Bill und Junie Black die einzige Abwechselung im immer gleichen Rhythmus der Wochen und Monate darstellen.
Doch ist es nicht das, was sein Leben schließlich aus der Bahn wirft. Vielmehr hat er das wachsende Gefühl, dass mit der ihn umgebenden Welt irgendetwas auf grundlegende Weise nicht stimmt, dass die Realität, die er tagtäglich wahrnimmt, nicht die wahre Realität ist. Gegenstände scheinen sich auf unerklärliche Weise in Luft aufzulösen, und zurück bleibt jedesmal nichts weiter als ein kleiner Zettel mit dem Namen des betreffenden Objektes. Das ließe sich vielleicht noch irgendwie als Halluzination erklären, doch dann findet Ragle in den Ruinen eines ehemaligen Apartmenthauses ein Magazin, das einen Artikel über eine scheinbar weltberühmte Hollywood-Schauspielerin enthält, deren Namen niemand in seiner Familie kennt – eine gewisse Marilyn Monroe. Als dann auch noch Vics und Margos Sohn Sammy mit seinem improvisierten Radioempfänger mysteriöse und beunruhigende Funksprüche auffängt, gelangt Ragle zu der Überzeugung, im Mittelpunkt einer gewaltigen Verschwörung zu stehen. Die Welt, in der er lebt, ist unecht, eine Illusion, geschaffen und aufrecht erhalten, um ihm ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Um ihn zu kontrollieren. Tatsächlich scheinen alle Menschen, denen er begegnet – die wartenden Passagiere am Busbahnhof; der Angestellt einer Tankstelle; der motorisierte Highway-Polizist; die nette Mrs. Kesselman und ihr Sohn –, alles zu tun, um zu verhindern, dass er die Stadt verlässt.
Als ihm mit Hilfe von Vic die Flucht schließlich doch gelingt, findet er sich in einer von Krieg und Unterdrückung geprägten Welt wieder, in der ihm dann endlich auch klar wird, welchem Zweck sein tagtägliches Rätsellösen eigentlich dient.
Philip K. Dick schrieb Time Out Of Joint im Winter 1957/58. Das Buch sollte ihn aus einer finanziellen wie künstlerischen Zwickmühle befreien, in der seit einigen Jahren steckte.
Seit 1955 schrieb er SciFi-Romane für Ace Books, wo Don Wollheim das Gernre eingeführt und das Format der Ace Doubles (zwei Romane [meist von unterschiedlichen Autoren] in einem Band) etabliert hatte. Was dabei herauskam (Solar Lottery, The World Jones Made, The Man Who Japed, Eye in the Sky, The Cosmic Puppets, Dr. Futurity und Vulcan’s Hammer) befriedigte Dick nicht wirklich. Zu stark musste er sich dabei den Klischees des Genres unterwerfen. Auch fühlte er sich durch Wollheims willkürliche Eingriffe und Umarbeitungen gedemütigt. Louis Stathis beschreibt in seinem Vorwort zu Time Out Of Joint Dicks Arbeit für Ace wie folgt:
Wie wohl die meisten Bücher von Philip K. Dick, kann man auch Time Out Of Joint aus sehr unterschiedlichen Perspektiven lesen und interpretieren. Dick hatte die Angewohnheit, eine Vielzahl von Themen, Motiven und Ideen in seinen Geschichten zu verarbeiten, ohne dass dabei immer ein bis ins letzte schlüssiges Gesamtbild entsteht.
Natürlich enthält der Roman ein wenn man so will "metaphysisches" Element. Die Frage nach der wahren Natur der Realität beschäftigte Dick seit seinem nur wenige Monate umfassenden Philosophiestudium an der Universität Berkeley im Herbst 1949 und taucht in vielen seiner Werke auf. Wenn Objekte verschwinden und bloße Namensschilder zurückbleiben, ist es sicher nicht falsch, an Platos Ideenlehre zu denken. Zumal auch die SciFi-Auflösung am Ende der Geschichte diese eigentümlichen Brüche in der Realität nicht erklärt. Mehrfach fällt der Name von Bischof George Berkeley, dem berühmten Vertreter des subjektiven Idealismus aus dem 18. Jahrhundert, und an einer Stelle vergleicht Ragle die Wahrheit, die er zu ergründen sucht, mit Kants "Ding an sich". Dick selbst erklärte später einmal:
Philip K. Dicks Hang zur Paranoia hatte sicher eine ganze Reihe von Gründen, die in seiner Psyche und seinen persönlichen Lebensumständen gesucht werden müssen. Aber wenn er ihr in seinem künstlerischen Werk Ausdruck verlieh, wurde sie zur Widerspiegelung sehr viel allgemeinerer, gesellschaftlicher Befindlichkeiten. Die beunruhigende Atmosphäre einer Welt, die nicht wirklich das ist, was sie zu scheint, hinter deren so geordneter und sauberer Fassade sich etwas zutiefst Bedrohliches verbirgt, gibt meiner Ansicht nach etwas sehr essentielles über die gesellschaftliche Realität der USA in den 50er Jahren wieder, wie sie von einem sensiblen Menschen wie Dick empfunden werden musste.
Um zu verdeutlichen, was ich damit meine, ist ein "kleiner" historischer Exkurs vielleicht von Nutzen.
Vielen ist vermutlich nicht bewusst, dass dem Ende des 2. Weltkriegs in den USA die größte Streikwelle in der Geschichte des Landes folgte, die vor allem in Hinblick auf die Anzahl der beteiligten Arbeiter und Arbeiterinnen selbst das Jahr 1937 – den Höhepunkt der militanten Klassenkämpfe der 30er, die der Roosevelt-Administration die bedeutendsten Errungenschaften des New Deal abgerungen hatten – in den Schatten stellte. "In 1937 there were 4,740 strikes involving 1,861,000 workers for over 28 million days, by 1945 there were 4,750 strikes involving 3,470,000 workers for 38 million days, and in 1946 there were 4,985 strikes involving 4,600,000 workers for 116 million days." (1) Es gab Arbeitsniederlegungen in der Auto-, Öl-, Kohle-, Fleisch-, Elektro-, Stahl-, Holz-, Textilindustrie, unter Eisenbahnern, Lehrern, Staatsangestellten. "On April 1 [1946], 340,000 soft-coal miners struck, causing a nation wide brown-out. A nationwide railroad strike by engineers and train men over work-rule changes on May 23 brought 'an almost complete shutdown of the nation's commerce.'" In einer Reihe von Städten wie Lancaster (Pennsylvania), Stamford (Connecticut), Rochester (New York) und Oakland (Kalifornien) kam es zu Generalstreiks. Nach Einschätzung des Historikers Jeremy Brecher war die Streikwelle von 1945/46 "the closest thing to a national general strike of industry in the twentieth century." (2) Die Regierung zögerte nicht, zu allerlei repressiven Maßnahmen zu greifen, um der Bewegung Herr zu werden. Doch es waren vor allem die Gewerkschaftsführungen, die diese mächtige Rebellion der Arbeiterklasse eindämmten und schließlich abwürgten.
Während des Krieges hatte ein allgemeines Streikverbot geherrscht, bei dessen Durchsetzung sich eine enge Kooperation zwischen Staat, Unternehmen und Gewerkschaftsbürokratie entwickelte. (3) Zwar war es den dreien nicht gelungen, eine ab Sommer 1942 kontunierlich anwachsende Welle von Wilden Streiks zu unterbinden, aber man hatte die gemeinsame Arbeit zu schätzen gelernt, die für die Gewerkschaftsführungen mit der Sicherung ihrer finanziellen Basis verknüpft war. Und so bemühten sich die Führer von AFL und CIO, diese Übereinkunft auch nach dem Ende des Krieges fortzusetzen. Zwar waren sie gezwungen, dem Druck der Basis bis zu einem gewissen Grad nachzugeben, doch taten sie zugleich alles, um eine weitere Radikalisierung der Bewegung zu verhindern.
Der vielleicht bekannteste Vertreter dieser Strategie war Walter Reuther, der 1946 zum Präsidenten der UAW (United Auto Workers) gewählt wurde. Allsogleich begann er, die bislang ziemlich einflussreichen Anhänger der KPUSA aus der Gewerkschaft auszuschließen. Als im Juni 1947 trotz des Vetos von Präsident Truman der "Taft-Hartley Act" erlassen wurde, protestierten die Gewerkschaften zwar gegen diese "slave-labor bill", die eine massive Einschränkung des Streikrechts bedeutete. Doch der Erlass stärkte zugleich die Kontrolle der Gewerkschaftsführungen über die einfachen Mitglieder und führte einen obligatorischen "antikommunistischen Treueeid" für alle Funktionäre ein, was Bürokraten wie Reuther durchaus entgegenkam. Eines der wichtigsten Ziele des UAW-Bosses war die politische Unterordnung der Arbeiterbewegung unter die Demokratische Partei. 1948 sprach er sich strikt gegen die Bildung einer unabhängigen Labor Party aus (4). Im selben Jahr wurde Truman wiedergewählt und die Demokraten erhielten die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses. Im Wahlkampf hatten sie die antikommunistische Rhetorik des beginnenden Kalten Krieges mit dem Versprechen sozialer Reformen im Interesse der arbeitenden Bevölkerung verbunden. Auf dieser doppelten Grundlage kam es zum Bündnis der Partei mit den rechten Gewerkschaftsführern. Obwohl Truman die Aufhebung des Taft-Hartley Acts versprochen hatte, setzte er ihn in seiner zweiten Amtszeit häufiger ein als jeder andere US-Präsident. Besonders radikale Gewerkschaften wurden zerschlagen, alle übrigen von "unamerikanischen Elementen" "gesäubert". Dabei arbeitete die Regierung Hand in Hand mit den rechten Bürokraten. Diese gaben außerdem der Außenpolitik Trumans ihre volle Unterstützung, einschließlich des 1950 beginnenden Koreakriegs. Um den offen rassistischen Südstaatenflügel der Demokraten zu begütigen, beendeten sie schließlich sogar alle Versuche, die Arbeiterschaft im Süden zu organisieren ("Operation Dixie"), und leisteten damit einen wichtigen Beitrag zum Fortbestand der Jim Crow - Ordnung.
Der Wirtschaftsboom der 50er Jahre, die längste Wachstumsperiode in der Geschichte des Kapitalismus, erlaubte es Amerikas Elite der Arbeiterklasse im Gegenzug eine ganze Reihe ökonomischer Zugeständnisse zu machen. Als Modell diente dabei der 1950 von Walter Reuther ausgehandelte "Pakt von Detroit" mit den "drei Großen" – General Motors, Ford und Chrysler. Breitere Schichten der arbeitenden Bevölkerung kamen in der Folge erstmals in den Genuss eines bescheidenen Wohlstands.
Ohne die militanten Streikkämpfe von 1945/46 wäre es nie zu diesen Zugeständnissen gekommen. Wie stets hatte man sie der herrschenden Klasse abringen müssen. Aber der politische Kontext, in dem sie sich schließlich materialisierten, musste dazu führen, dass sie zum Nährboden für ein Klima des Konformismus und der kleinbürgerlichen Spießigkeit wurden. Jede grundlegende Kritik an der herrschenden Ordnung war im Zuge von McCarthys Hexenjagden und der allgemeineren "Red Scare" - Hysterie quasi kriminalisiert worden. Die Gewerkschaften hatten sich von Kampforganisationen in bürokratische Apparate verwandelt, die für die Aufrechterhaltung der Ordnung in den Betrieben verantwortlich waren und deren Führer amerikanischen Exzeptionalismus, Nationalismus, Antikommunismus und Klassenharmonie predigten. Radikale Parolen wie "industrielle Demokratie" und "Arbeiterkontrolle" gehörten der Vergangenheit an. Unter diesen Umständen musste der steigende Lebensstandard vielen als das Resultat der Klassenzusammenarbeit erscheinen, und damit als Beweis für die Überlegenheit des allerortens propagandistisch glorifizierten "american way of life", auch wenn bedeutende Teile der Arbeiterklasse von ihm ausgeschlossen blieben. 1952 wurde Eisenhower Präsident und die Republikaner übernahmen die Kontrolle über den Kongress, nachdem sie den Demokraten eine zu versöhnlerische Haltung gegenüber der "kommunistischen Bedrohung" vorgeworfen hatten.
Philip K. Dick war sich dieser historischen Zusammenhänge sicher nicht bewusst. Auch wenn er sich in seinem Werk immer wieder mit Fragen von Unterdrückung und Freiheit beschäftigte, war er nicht das, was man einen politischen Denker nennen würde. Die soziale Perspektive, aus der heraus er die Welt betrachtete, war mehr oder weniger die der unteren Mittelklasse. Viele seiner Protagonisten sind kleine Angestellte, Bürokraten oder Selbstständige. Die industrielle Arbeiterklasse hingegen taucht in seinen Werken wenn überhaupt dann nur am Rande auf. Ihr Leben war Dick fremd. So zumindest ist mein Eindruck. Schließlich bin ich nur mit einem Teil seines Werkes hinlänglich vertraut.
Time Out Of Joint gibt uns also keinerlei Einsicht in die ökonomischen und politischen Kräfte, die die gesellschaftliche Wirklichkeit des Amerikas der 50er Jahre geformt hatten, doch zeichnet der Roman meiner Ansicht nach trotzdem ein Bild dieser Realität, das einige tiefe Wahrheiten über sie enthüllt.
Ich bin drinnen und sehe nach draußen.
Ich spähe durch einen Schlitz und sehe – Leere."
Vor gut zwei Wochen konnten wir am 16. Dezember den 90. Geburtstag des großartigen, ewig faszinierenden Philip K. Dick feiern.
Schnell erwies es sich als unmöglich, termingerecht einen Jubiläumsbeitrag fertigzustellen. Die Weihnachtszeit ist im Einzelhandel halt alles andere als besinnlich. Auch stattete mir der Schwarze Hund mal wieder einen kurzen Besuch ab.
Darüberhinaus war ich mir ganz einfach unsicher, ob ich überhaupt über die nötige Kompetenz verfüge, einen allgemeinen Würdigungspost zu verfassen. Zu viele auch seiner wirklich bedeutenden Werke kenne ich nicht aus eigener Leseerfahrung. Zudem bin ich mit zahlreichen Details seiner Biographie unzureichend oder nur sehr oberflächlich-anekdotisch vertraut – das beginnt mit der turbulenten Geschichte seiner fünf Ehen und endet bei seinem legendären VALIS ("Vast Active Living Intelligence System") - Erlebnis von 1974, jener bizarren, von Halluzinationen begleiteten gnostischen "Erleuchtung", die schließlich zur Abfassung der Exegesis und der VALIS - Romantrilogie führte. Kurz gesagt, mir fehlt so etwas wie ein "umfassender Zugriff" auf Philip K. Dicks Leben und Werk.
Dennoch wollte ich den Anlass für einen kurzen Beitrag nutzen, auch wenn mir schnell klar wurde, dass dieser nicht rechtzeitig fertig werden würde. Schließlich mag ich den guten PKD sehr. Also beschloss ich, wieder einmal Time Out of Joint (Zeit aus den Fugen) in der Übersetzung von Gerd Burger & Barbara Krohn zu lesen. Der Roman zählt wohl nicht zu den bekanntesten Werken des Autors, wie etwa Do Androids Dream Of Electric Sheep? oder The Man In The High Castle, obwohl manche ihn für Dicks erstes "reiferes" Werk halten, aber seit ich ihn zum ersten Mal vor gut zehn Jahren gelesen habe, besitzt er einen besonderen Platz in meinem Herzen. Würde ich endlich einmal dazu kommen, einen erneuten, etwas ausgedehnteren Trip in die bizarren Welten von PKD zu unternehmen, würde ich vielleicht neue und andere Favoriten entdecken. Doch für den Moment steht er in meiner persönlichen Hitliste immer noch ganz oben.
Das Amerika der 50er Jahre – so scheint es zumindest. Ragle Gumm lebt zusammen mit seiner Schwester Margo und seinem Schwager Vic ein unaufgeregtes Leben in der geordneten, sauberen und sicheren Welt von Suburbia, in der die Besuche der Nachbarn Bill und Junie Black die einzige Abwechselung im immer gleichen Rhythmus der Wochen und Monate darstellen.
In der beengten Umgebung kleiner Häuser, wo das Auto unter dem Küchenfenster parkt, die Wäsche im Garten hängt, zahllose läppische Besorgungen die Hausfrau beschäftigt halten, bis nichts mehr übrig bleibt, nur noch die Sorge um die Sachen, die erledigt werden müssen, die Sachen, die man fertig haben muss.Selbst Ragles Geflirte mit der deutlich jüngeren und ziemlich naiven Junie stellt nicht wirklich einen Bruch in dieser kleinbürgerlichen Existenz dar. Allerdings verdient er sich seinen Lebensunterhalt auf eine recht eigenartige Weise, so dass "die Sachen, die erledigt werden müssen", für ihn etwas andere aussehen, als für die Menschen um ihn herum. Während Vic als Abteilungsleiter in einem Supermarkt und Bill bei der Stadtverwaltung arbeitet, löst Ragle Tag für Tag ein Zeitungsrätsel, das daraus besteht, vorherzusehen, in welchem von unzähligen Quadranten "das grüne Männchen auftauchen wird". Eine Aufgabe, in der er der nationale Champion ist und die eine stundelange, konzentrierte Anstrengung erfordert, bei der statistische Berechnungen und Intuition zusammenfließen. Aber auch wenn ihn das zu einer kleineren Berühmtheit gemacht hat, entspricht es wohl doch nicht ganz dem, was man allgemein als eine "echte Arbeit" bezeichnen würde. So gesehen steht Ragle von Anfang an ein wenig außerhalb der normalen Gesellschaft.
Doch ist es nicht das, was sein Leben schließlich aus der Bahn wirft. Vielmehr hat er das wachsende Gefühl, dass mit der ihn umgebenden Welt irgendetwas auf grundlegende Weise nicht stimmt, dass die Realität, die er tagtäglich wahrnimmt, nicht die wahre Realität ist. Gegenstände scheinen sich auf unerklärliche Weise in Luft aufzulösen, und zurück bleibt jedesmal nichts weiter als ein kleiner Zettel mit dem Namen des betreffenden Objektes. Das ließe sich vielleicht noch irgendwie als Halluzination erklären, doch dann findet Ragle in den Ruinen eines ehemaligen Apartmenthauses ein Magazin, das einen Artikel über eine scheinbar weltberühmte Hollywood-Schauspielerin enthält, deren Namen niemand in seiner Familie kennt – eine gewisse Marilyn Monroe. Als dann auch noch Vics und Margos Sohn Sammy mit seinem improvisierten Radioempfänger mysteriöse und beunruhigende Funksprüche auffängt, gelangt Ragle zu der Überzeugung, im Mittelpunkt einer gewaltigen Verschwörung zu stehen. Die Welt, in der er lebt, ist unecht, eine Illusion, geschaffen und aufrecht erhalten, um ihm ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Um ihn zu kontrollieren. Tatsächlich scheinen alle Menschen, denen er begegnet – die wartenden Passagiere am Busbahnhof; der Angestellt einer Tankstelle; der motorisierte Highway-Polizist; die nette Mrs. Kesselman und ihr Sohn –, alles zu tun, um zu verhindern, dass er die Stadt verlässt.
Als ihm mit Hilfe von Vic die Flucht schließlich doch gelingt, findet er sich in einer von Krieg und Unterdrückung geprägten Welt wieder, in der ihm dann endlich auch klar wird, welchem Zweck sein tagtägliches Rätsellösen eigentlich dient.
Philip K. Dick schrieb Time Out Of Joint im Winter 1957/58. Das Buch sollte ihn aus einer finanziellen wie künstlerischen Zwickmühle befreien, in der seit einigen Jahren steckte.
Seit 1955 schrieb er SciFi-Romane für Ace Books, wo Don Wollheim das Gernre eingeführt und das Format der Ace Doubles (zwei Romane [meist von unterschiedlichen Autoren] in einem Band) etabliert hatte. Was dabei herauskam (Solar Lottery, The World Jones Made, The Man Who Japed, Eye in the Sky, The Cosmic Puppets, Dr. Futurity und Vulcan’s Hammer) befriedigte Dick nicht wirklich. Zu stark musste er sich dabei den Klischees des Genres unterwerfen. Auch fühlte er sich durch Wollheims willkürliche Eingriffe und Umarbeitungen gedemütigt. Louis Stathis beschreibt in seinem Vorwort zu Time Out Of Joint Dicks Arbeit für Ace wie folgt:
According to Dick, the scenario went like this: broke and hungry, he would sell Wollheim an idea for a novel – either something off the top of his head, or an old story published in a SF magazine that he would propose expanding into Ace Double length, 40-50,000 words. The check would arrive (usually a thousand or fifteen hundred bucks), and Dick would launch himself into batting the thing out (in those days, Dick routinely dosed himself to the eyeballs on amphetamines in order to write). By the time the book was done and sent off to Ace, the money he’d gotten for the thing was long gone (apparently, Dick never got royalties beyond the advance from Ace back then, no matter how well the book seemed to sell), and he’d have to start the cycle all over again.Parallel dazu verfasste Dick eine ganze Reihe nicht-phantastischer Romane, die jedoch keinen Abnehmer fanden. Als sich dieser Fluchtweg als offenbar hoffnungslos erwies, beschloss er, ein Buch zu schreiben, dass Wollheim unter Garantie hassen und ablehnen, zugleich aber genug SF-Elemente enthalten würde, um es anderswo unterbringen zu können: Time Out Of Joint. Tatsächlich hielt der gute Don das Werk für "unveröffentlichbar" und forderte eine massive Überarbeitung, die den SciFi-Anteil zu Gunsten der 50er Jahre - Geschichte stark aufgestockt hätte. Doch glücklicherweise hatte Dick zu diesem Zeitpunkt bereits eine Zusage von dem Verlag J.P. Lippincott & Co erhalten, wo der Roman im Frühjahr 1959 als seine erste Hardcover-Veröffentlichung erschien. Die Bezahlung war zwar noch schlechter als bei Ace – scheinbar erhielt er bloß $750 –, dennoch war Dick überglücklich, schien er doch endlich einen Ausweg aus seinem Dilemma gefunden zu haben. Eine Fehleinschätzung, wie sich schon bald herausstellen sollte.
Wie wohl die meisten Bücher von Philip K. Dick, kann man auch Time Out Of Joint aus sehr unterschiedlichen Perspektiven lesen und interpretieren. Dick hatte die Angewohnheit, eine Vielzahl von Themen, Motiven und Ideen in seinen Geschichten zu verarbeiten, ohne dass dabei immer ein bis ins letzte schlüssiges Gesamtbild entsteht.
Natürlich enthält der Roman ein wenn man so will "metaphysisches" Element. Die Frage nach der wahren Natur der Realität beschäftigte Dick seit seinem nur wenige Monate umfassenden Philosophiestudium an der Universität Berkeley im Herbst 1949 und taucht in vielen seiner Werke auf. Wenn Objekte verschwinden und bloße Namensschilder zurückbleiben, ist es sicher nicht falsch, an Platos Ideenlehre zu denken. Zumal auch die SciFi-Auflösung am Ende der Geschichte diese eigentümlichen Brüche in der Realität nicht erklärt. Mehrfach fällt der Name von Bischof George Berkeley, dem berühmten Vertreter des subjektiven Idealismus aus dem 18. Jahrhundert, und an einer Stelle vergleicht Ragle die Wahrheit, die er zu ergründen sucht, mit Kants "Ding an sich". Dick selbst erklärte später einmal:
I was trying to … account for the diversity of worlds that people live in. There’s a scene where the protagonist goes to the bathroom, reaches in the dark for a pull-cord, and suddenly realized there is no cord, there’s a switch on the wall, and he can’t remember when he ever had a bathroom where there was a cord hanging down. Now, that actually happened to me, and that was what caused me to write the book. It reminded me of the idea Van Vogt had dealt with, of artificial memory, as occurs in The World of Null-A where a person has false memories implantedFür mich persönlich ist dieser eher "philosophische" Aspekt des Romans allerdings nicht das, was seine ungemeine Faszination ausmacht. Ich lese Time Out Of Joint in erster Linie als ein Buch über das Amerika der 50er Jahre.
Philip K. Dicks Hang zur Paranoia hatte sicher eine ganze Reihe von Gründen, die in seiner Psyche und seinen persönlichen Lebensumständen gesucht werden müssen. Aber wenn er ihr in seinem künstlerischen Werk Ausdruck verlieh, wurde sie zur Widerspiegelung sehr viel allgemeinerer, gesellschaftlicher Befindlichkeiten. Die beunruhigende Atmosphäre einer Welt, die nicht wirklich das ist, was sie zu scheint, hinter deren so geordneter und sauberer Fassade sich etwas zutiefst Bedrohliches verbirgt, gibt meiner Ansicht nach etwas sehr essentielles über die gesellschaftliche Realität der USA in den 50er Jahren wieder, wie sie von einem sensiblen Menschen wie Dick empfunden werden musste.
Um zu verdeutlichen, was ich damit meine, ist ein "kleiner" historischer Exkurs vielleicht von Nutzen.
Vielen ist vermutlich nicht bewusst, dass dem Ende des 2. Weltkriegs in den USA die größte Streikwelle in der Geschichte des Landes folgte, die vor allem in Hinblick auf die Anzahl der beteiligten Arbeiter und Arbeiterinnen selbst das Jahr 1937 – den Höhepunkt der militanten Klassenkämpfe der 30er, die der Roosevelt-Administration die bedeutendsten Errungenschaften des New Deal abgerungen hatten – in den Schatten stellte. "In 1937 there were 4,740 strikes involving 1,861,000 workers for over 28 million days, by 1945 there were 4,750 strikes involving 3,470,000 workers for 38 million days, and in 1946 there were 4,985 strikes involving 4,600,000 workers for 116 million days." (1) Es gab Arbeitsniederlegungen in der Auto-, Öl-, Kohle-, Fleisch-, Elektro-, Stahl-, Holz-, Textilindustrie, unter Eisenbahnern, Lehrern, Staatsangestellten. "On April 1 [1946], 340,000 soft-coal miners struck, causing a nation wide brown-out. A nationwide railroad strike by engineers and train men over work-rule changes on May 23 brought 'an almost complete shutdown of the nation's commerce.'" In einer Reihe von Städten wie Lancaster (Pennsylvania), Stamford (Connecticut), Rochester (New York) und Oakland (Kalifornien) kam es zu Generalstreiks. Nach Einschätzung des Historikers Jeremy Brecher war die Streikwelle von 1945/46 "the closest thing to a national general strike of industry in the twentieth century." (2) Die Regierung zögerte nicht, zu allerlei repressiven Maßnahmen zu greifen, um der Bewegung Herr zu werden. Doch es waren vor allem die Gewerkschaftsführungen, die diese mächtige Rebellion der Arbeiterklasse eindämmten und schließlich abwürgten.
Während des Krieges hatte ein allgemeines Streikverbot geherrscht, bei dessen Durchsetzung sich eine enge Kooperation zwischen Staat, Unternehmen und Gewerkschaftsbürokratie entwickelte. (3) Zwar war es den dreien nicht gelungen, eine ab Sommer 1942 kontunierlich anwachsende Welle von Wilden Streiks zu unterbinden, aber man hatte die gemeinsame Arbeit zu schätzen gelernt, die für die Gewerkschaftsführungen mit der Sicherung ihrer finanziellen Basis verknüpft war. Und so bemühten sich die Führer von AFL und CIO, diese Übereinkunft auch nach dem Ende des Krieges fortzusetzen. Zwar waren sie gezwungen, dem Druck der Basis bis zu einem gewissen Grad nachzugeben, doch taten sie zugleich alles, um eine weitere Radikalisierung der Bewegung zu verhindern.
Der vielleicht bekannteste Vertreter dieser Strategie war Walter Reuther, der 1946 zum Präsidenten der UAW (United Auto Workers) gewählt wurde. Allsogleich begann er, die bislang ziemlich einflussreichen Anhänger der KPUSA aus der Gewerkschaft auszuschließen. Als im Juni 1947 trotz des Vetos von Präsident Truman der "Taft-Hartley Act" erlassen wurde, protestierten die Gewerkschaften zwar gegen diese "slave-labor bill", die eine massive Einschränkung des Streikrechts bedeutete. Doch der Erlass stärkte zugleich die Kontrolle der Gewerkschaftsführungen über die einfachen Mitglieder und führte einen obligatorischen "antikommunistischen Treueeid" für alle Funktionäre ein, was Bürokraten wie Reuther durchaus entgegenkam. Eines der wichtigsten Ziele des UAW-Bosses war die politische Unterordnung der Arbeiterbewegung unter die Demokratische Partei. 1948 sprach er sich strikt gegen die Bildung einer unabhängigen Labor Party aus (4). Im selben Jahr wurde Truman wiedergewählt und die Demokraten erhielten die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses. Im Wahlkampf hatten sie die antikommunistische Rhetorik des beginnenden Kalten Krieges mit dem Versprechen sozialer Reformen im Interesse der arbeitenden Bevölkerung verbunden. Auf dieser doppelten Grundlage kam es zum Bündnis der Partei mit den rechten Gewerkschaftsführern. Obwohl Truman die Aufhebung des Taft-Hartley Acts versprochen hatte, setzte er ihn in seiner zweiten Amtszeit häufiger ein als jeder andere US-Präsident. Besonders radikale Gewerkschaften wurden zerschlagen, alle übrigen von "unamerikanischen Elementen" "gesäubert". Dabei arbeitete die Regierung Hand in Hand mit den rechten Bürokraten. Diese gaben außerdem der Außenpolitik Trumans ihre volle Unterstützung, einschließlich des 1950 beginnenden Koreakriegs. Um den offen rassistischen Südstaatenflügel der Demokraten zu begütigen, beendeten sie schließlich sogar alle Versuche, die Arbeiterschaft im Süden zu organisieren ("Operation Dixie"), und leisteten damit einen wichtigen Beitrag zum Fortbestand der Jim Crow - Ordnung.
Der Wirtschaftsboom der 50er Jahre, die längste Wachstumsperiode in der Geschichte des Kapitalismus, erlaubte es Amerikas Elite der Arbeiterklasse im Gegenzug eine ganze Reihe ökonomischer Zugeständnisse zu machen. Als Modell diente dabei der 1950 von Walter Reuther ausgehandelte "Pakt von Detroit" mit den "drei Großen" – General Motors, Ford und Chrysler. Breitere Schichten der arbeitenden Bevölkerung kamen in der Folge erstmals in den Genuss eines bescheidenen Wohlstands.
Ohne die militanten Streikkämpfe von 1945/46 wäre es nie zu diesen Zugeständnissen gekommen. Wie stets hatte man sie der herrschenden Klasse abringen müssen. Aber der politische Kontext, in dem sie sich schließlich materialisierten, musste dazu führen, dass sie zum Nährboden für ein Klima des Konformismus und der kleinbürgerlichen Spießigkeit wurden. Jede grundlegende Kritik an der herrschenden Ordnung war im Zuge von McCarthys Hexenjagden und der allgemeineren "Red Scare" - Hysterie quasi kriminalisiert worden. Die Gewerkschaften hatten sich von Kampforganisationen in bürokratische Apparate verwandelt, die für die Aufrechterhaltung der Ordnung in den Betrieben verantwortlich waren und deren Führer amerikanischen Exzeptionalismus, Nationalismus, Antikommunismus und Klassenharmonie predigten. Radikale Parolen wie "industrielle Demokratie" und "Arbeiterkontrolle" gehörten der Vergangenheit an. Unter diesen Umständen musste der steigende Lebensstandard vielen als das Resultat der Klassenzusammenarbeit erscheinen, und damit als Beweis für die Überlegenheit des allerortens propagandistisch glorifizierten "american way of life", auch wenn bedeutende Teile der Arbeiterklasse von ihm ausgeschlossen blieben. 1952 wurde Eisenhower Präsident und die Republikaner übernahmen die Kontrolle über den Kongress, nachdem sie den Demokraten eine zu versöhnlerische Haltung gegenüber der "kommunistischen Bedrohung" vorgeworfen hatten.
Philip K. Dick war sich dieser historischen Zusammenhänge sicher nicht bewusst. Auch wenn er sich in seinem Werk immer wieder mit Fragen von Unterdrückung und Freiheit beschäftigte, war er nicht das, was man einen politischen Denker nennen würde. Die soziale Perspektive, aus der heraus er die Welt betrachtete, war mehr oder weniger die der unteren Mittelklasse. Viele seiner Protagonisten sind kleine Angestellte, Bürokraten oder Selbstständige. Die industrielle Arbeiterklasse hingegen taucht in seinen Werken wenn überhaupt dann nur am Rande auf. Ihr Leben war Dick fremd. So zumindest ist mein Eindruck. Schließlich bin ich nur mit einem Teil seines Werkes hinlänglich vertraut.
Time Out Of Joint gibt uns also keinerlei Einsicht in die ökonomischen und politischen Kräfte, die die gesellschaftliche Wirklichkeit des Amerikas der 50er Jahre geformt hatten, doch zeichnet der Roman meiner Ansicht nach trotzdem ein Bild dieser Realität, das einige tiefe Wahrheiten über sie enthüllt.
Die Welt, in der Ragle lebt mag etwas banal und kleinkarriert wirken, doch bei oberflächlicher Betrachtung erscheint sie zumindest geordnet, friedlich und sicher. Doch in Wirklichkeit ist sie bloß eine Kulisse, hohl und ohne echten Inhalt. Je mehr sich Ragle dessen bewusst wird, desto stärker werden seine Verunsicherung uind Paranoia, bis er schließlich von einem Gefühl unbeschreiblicher Angst gepackt wird: "Und dann überkam ihn ohne jede Warnung ein scheckliches Gefühl von Gefahr. Das Gefühl war so greifbar, so wirklich, dass es ihn völlig überwältigte." Denn nicht nur ist die ihn umgebende Welt unecht, hinter ihr verbirgt sich außerdem etwas zutiefst Bedrohliches und Unmenschliches.
Worauf der Roman in diesem Zusammenhang ganz offen anspielt ist die in den 50er Jahren sehr akut empfundene Gefahr eines möglichen Atomkriegs, doch ist das für mich bloß ein {ziemlich offensichtliches} Beispiel für all die finsteren Abgründe, die sich hinter der ach so sauberen Fassade verbergen. Es ließen sich ohne Probleme noch viele weitere finden, vom Fortbestehen der Jim Crow - Ordnung über die finsteren Umtriebe von J. Edgar Hoovers FBI bis hin zu den blutigen Metzeleien des Koreakrieges. Doch die Atmosphäre von Time Out Of Joint wirkt auf mich um so stärker, je weniger ich sie auf eine solch parabelhafte "Konkretheit" zu reduzieren versuche. In meinen Augen geht es mehr um das allgemeine und darum nur um so verstörendere Gefühl, dass die ganze "heimelige" Welt des Fifties - Amerika in Wahrheit ein Lügengebäude ist, das eine höchst beunruhigende Wirklichkeit zu verschleiern versucht.
Am Ende des Romans erfahren wir, dass diese Kulisse von einem repressiven Zukunftsstaat kreiert wurde, um Ragle in eine illusionäre Variante seiner Kindheit zu versetzen. In eine Welt, in der er sich sicher und geborgen fühlte. Nur auf diese Weise schien es möglich, sein Gewissen einzuschläfern, damit er weiterhin die Berechnungen anstellen würde, die die terrazentristische "Eine Welt" - Regierung braucht, um die Raketen der rebellischen Mondkolonisten ("Lunatiker") abzuwehren. {Die eigentliche Bedeutung von Ragles Zeitungsrätsel.} Auf den ersten Blick könnte man meinen, diese SciFi-Wendung untergrabe ein wenig den zeitkritischen Charakter von Time Out Of Joint. Doch ich denke, dass dem eigentlich ganz und gar nicht so ist. Die nachgebauten 50er Jahre von "Old Town" sind eine Art Opiat, das Ragle die brutale Realität und seine Verstrickung in sie vergessen lassen soll. Ließe sich ähnliches nicht auch über das kleinbürgerliche Suburbia - Paradies der realen 50er Jahre sagen?
(1) John Newsinger: From Class War to Cold War.
(2) Jeremy Brecher: The World War II and Post-War Strike Wave.
(3) Nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion wurden die Stalinisten auf Order Moskaus zu den halsstarrigsten Verteidigern dieses Burgfriedens, was ihr Ansehen unter den militanten Arbeitern und Arbeiterinnen massiv untergrub.
(4) "In Europe, where you have society developed along very classical economic lines, where you have rigid class groupings, there labor parties are a natural political expression because there you have a highly fixed and class society. [W]e have a society that is not rigid in character along class lines, and that is the great hope of America." (Zit. nach: Tom Mackaman: The UAW and the Democratic Party)