"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Samstag, 4. August 2018

Madam, will you walk, will you talk with me?

Richter George Jeffreys (1645-89), der "Hanging Judge", verdiente sich seinen finsteren Ruf als besonders rücksichtsloser und grausamer Verteidiger des Restaurationsregimes von Charles II. und James II., der eine führende Rolle bei der blutigen Unterdrückung der letzten Anhänger des "Good Old Cause" der Revolution spielte. Als Lord Chief Justice hatte er den Vorsitz sowohl 1683 bei dem Hochverratsprozess gegen den Republikaner Algernon Sidney, als auch 1685 bei den berüchtigten "Bloody Assizes" inne, in deren Verlauf Hunderte von Anhängern der gescheiterten Monmouth-Rebellion im Eilverfahren abgeurteilt wurden. Der König dankte es ihm, indem er ihn zum Lord Chancellor erhob. Beim einfachen Volk hingegen erwarb Jeffreys sich damit unsterblichen Hass, was er nach dem Staatsstreich von 1688 (der sog. "Glorious Revolution") deutlich zu spüren bekommen sollte. Sein Leben endete im Tower.

Wenn man erfährt, dass Judge Jeffreys eine prominente Rolle in einer der unheimlichen Geschichten spielt, die M.R. James 1911 in More Ghost Stories of an Antiquary herausgab, wird man vielleicht spontan annehmen, die blutige Reputation des Richters werde als Aufhänger für die Story benutzt. Überraschenderweise ist dem jedoch nicht der Fall. Ehrlich gesagt, hinterlässt der "Hanging Judge" hier gar keinen so unsympathischen Eindruck. Doch das ist nur einer der Gründe, warum ich Martin's Close so interessant finde.

Da wäre zuerst einmal das Format der Geschichte.
Die Eröffnungssequenz ist relativ typisch gehalten: Während einer Reise durch den Westen Englands stößt der Erzähler, in dem wir unschwer M.R. James selbst erkennen können, in einer ungenannten ländlichen Gemeinde auf eine kuriose kleine Gemarkung -- "a very few square yards, hedged in with quickset on all sides, and without any gate or gap leading into it" --, die von den Einheimischen "Martin's Close" genannt wird. Angeblich soll sich dort das Grab eines Mannes befinden, der nahebei im 17. Jahrhundert gehängt wurde. Von Alters her ranken sich um den Ort Geschichten von einer Geistererscheinung, doch die Details sind keinem der heute noch Lebenden mehr bekannt. Auch nach seiner Rückkehr in die heimatliche "neighbourhood of libraries" (Cambridge) gelingt es dem Erzähler voerst nicht, genaueres über das Schicksal des damals hingerichteten George Martin Esquire herauszufinden. Doch Jahre später gelangt zufällig das Protokoll der Gerichtsverhandlung in seinen Besitz. Der Hauptteil von Martin's Close besteht aus der gekürzten Wiedergabe dieses Protokolls, von der Verlesung der Anklageschrift bis zur Verkündung des Urteils durch Judge Jeffreys.

M.R. James war ein begeisterter Leser solch alter Gerichtsprotokolle, geben sie doch nicht nur einen Einblick in das Leben und Denken vergangener Generationen, sondern auch in die authentische Sprache des "einfachen Volkes" jener Zeiten, der wir in offiziellen Dokumenten und Chroniken nicht begegnen. Man kann sich gut vorstellen, wieviel Spaß es ihm gemacht haben muss, den Stil dieser Protokolle nachzuahmen. Ähnliche literarische Unternehmungen hatte er schon in jungen Jahren unternommen. Auf jedenfall erhält Martin's Close damit eine sehr eigene Form, besteht der Großteil der Erzählung doch aus dem Wortwechsel zwischen Richter, Ankläger und Zeugen.

Die Datierung der Verhandlung hat mir zuerst etwas Probleme bereitet. In der Anklageschrift heißt es, der Mord sei " upon the 15th day of May, in the 36th year of our sovereign lord King Charles the Second" begangen worden, und etwas später spricht der Ankläger von "Christmas of last year, that is the year 1683". Wie kann 1684 das sechsunddreißígste Jahr der Herrschaft Charles II. sein, wenn die Monarchie doch überhaupt erst 1660 wieder aufgerichtet wurde? Die Antwort ist denkbar simpel: Sein Vater Charles I. war 1649 hingerichtet worden, und nach der Restauration zählte man dies offenbar ganz einfach als das erste Regierungsjahr des neuen Königs, obwohl England für die nächsten elf Jahre in Wirklichkeit ein republikanischer Commonwealth gewesen war.
Man könnte meinen, solche antiquarischen Details seien ja nun wirklich nebensächlich, aber zumindest für mich tragen sie viel zum Charme von M.R. James bei. Sie verleihen seinen Geschichten eine Aura von Authentizität.

Der Angeklagte George Martin ist von Exeter nach London gebracht worden, da ein fairer Prozess mit unparteiischen Geschworenen  in seiner Heimatgrafschaft nicht hätte durchgeführt werden können. Grund dafür ist Martins soziale Stellung als Mitglied der landbesitzenden Gentry.
Anfangs noch häufiger von dem ungeduldigen Judge Jefrreys unterbrochen, beginnt der Anklänger den Fall in aller nötigen Weitschweifigkeit darzulegen. Zu Beginn charakterisiert er das Mordopfers Ann Clark. "A poor country girl", aber mit durchaus respektablen und liebevollen Eltern, "[she] was one to whom Providence had not given the full use of her intellects, but was what is termed among us commonly an innocent or natural". Martin trifft sie zufällig bei einem abendlichen Tanzvergnügen in ihrem Heimatdorf, an dem Ann freilich nur als stumme Zuschauerin teilnimmt. Er macht sich einen Spaß daraus, die junge Frau zum Tanz aufzufordern, obwohl die Dorfbewohner ihn davon abhalten wollen. Ann realisiert nicht, dass sie eigentlich das Opfer eines ziemlich grausamen Scherzes geworden ist, sondern ist vielmehr "greatly tickled with having got hold (as she conceived it) of so likely a sweetheart". Zumal Martin in den folgenden Wochen immer wieder in das Dorf kommt und sich mit ihr trifft. Dabei dient die Melodie des Liedes, zu dem sie getanzt haben -- Madam will you walk, will you talk with me? -- als Erkennungszeichen zwischen den beiden. Die Situation ändert sich dramatisch, als Martin eine Heirat mit einer wohlhabenden Tochter seiner eigenen sozialen Kreise in Aussicht gestellt wird. Von nun an ist ihm die anhängliche Ann bloß noch lästig. Er schlägt sie sogar auf offener Straße mit seiner Reitpeitsche. Doch zu spät: Als die unziemliche "Affäre" in den Kreisen der Gentry bekannt wird, wird die bevorstehende Verlobung abgesagt. Einige Zeit später, genauer gesagt am 15. Mai,  wird ein erneutes Treffen zwischen Martin und Ann Clark beobachtet: "Upon that day the prisoner comes riding through the village, as of custom, and met with the young woman: but in place of passing her by, as he had lately done, he stopped, and said some words to her with which she appeared wonderfully pleased, and so left her; and after that day she was nowhere to be found, notwithstanding a strict search was made for her."
An diesem Punkt setzt das übernatürliche Moment der Geschichte ein. Denn die ermordete und in einen Brunnen geworfene Ann Clark kehrt aus ihrem feuchten Grab zurück, um ihren Mörder zu verfolgen. Doch trotz einiger atmosphärisch recht gelungener Szenen, wird es dabei nie so richtig unheimlich, denn die Struktur der Erzählung schafft eine gar zu große Distanz zwischen dem Leser und dem gruseligen Geschehen. Wir hören von den Geistererscheinungen in den Zeugenaussagen eines Prozesses, dessen Protokoll der eigentliche Erzähler der Geschichte gefunden hat. Damit sind wir als Leserinnen & Leser zwei, wenn nicht gar drei "Schritte" weit von den Ereignissen entfernt.  
Ein Detail möchte ich aber doch hervorheben: Ann Clarks "Geist" ist nicht so immateriell, wie man es von Vertretern dieser phantastischen Gattung vielleicht gewohnt ist. Die Indizien weisen eher auf eine Art Wandelnden Leichnam hin. Und das ist durchaus typisch für M.R. James, besitzen dessen "Gespenster" doch sehr oft eine beunruhigend körperliche, haptische Qualität.

Doch das unheimliche Element ist für mich nicht die wirkliche Stärke von Martin's Close.

Da wäre zuerst einmal die Lebendigkeit der protokollierten Wortwechsel.
Wir bekommen einen recht guten Eindruck von Judge Jeffreys Persönlichkeit. Zwar wirkt er weniger sadistisch, als sein Ruf ihn erscheinen lässt, aber er ist ohne Zweifel ein reichlich autoritärer Bursche mit einem Hang zur Einschüchterung. Als ein kleiner Junge als Zeuge aussagen soll, versucht der Ankläger ihn zu beruhigen -- "Now, child, don’t be frighted: there is no one here will hurt you if you speak the truth." --, doch Jeffreys hält nichts von solchen Nettigkeiten: "Ay, if he speak the truth. But remember, child, thou art in the presence of the great God of heaven and earth, that hath the keys of hell, and of us that are the king’s officers, and have the keys of Newgate; and remember, too, there is a man’s life in question; and if thou tellest a lie, and by that means he comes to an ill end, thou art no better than his murderer; and so speak the truth." Jeffreys' Zynismus und seine {historische verbriefte} Vorliebe für schwarzen Humor sind gleichfalls deutlich erkennbar. Als zum ersten Mal von der Tanzmelodie die Rede ist, gibt er folgenden Kommentar ab: "I doubt it is the first time we have had dance-tunes in this court. The most part of the dancing we give occasion for is done at Tyburn. [Looking at the prisoner, who appeared very much disordered.]" Tyburn war Londons Galgenstätte. Hinzu kommen einige neckische Momente, wenn Jeffreys Schwierigkeiten damit hat, den ländlichen Dialekt der Zeugen zu verstehen. Schließlich wird sogar ein "Übersetzer" zur Hilfe gerufen.
    
Der zweite Punkt ist der Charakter des Verbrechens. Anders als in den meisten Geschichten von M.R. James sind die übernatürlichen Ereignisse in Martin's Close eine Form der Strafe für den Missbrauch an einem Schwächeren. George Martin ist gleich in dreifacher Hinsicht Ann Clark gegenüber privilegiert: Er ist ein Mitglied der Gentry; er ist ein Mann; und sie ist offenbar in irgendeiner Form geistig behindert.
Wie Tina Rath in einem in Ghosts and Scholars erschienenen Artikel recht überzeugend darlegt, knüpft die Geschichte an ein verbreitetes folkloristisches Motiv an: Ein Edelmann verführt ein Bauernmächen und ermordet diese, nachdem sie schwanger geworden ist. Zur Untermauerung ihrer These zitiert sie Verse aus zwei Volksliedern, die in der Tat eine Menge Parallelen zur Handlung von Montys Story aufweisen:

"Ann Clark suffers the fate of "fair Susan":

 
With seeming kindness in his face which made poor Susan gay
He did appoint a lonely place to meet with her next day
The hour arriv'd, she hasten'd there to the appointment true
Where the deceitful murderer the lovely damsel slew.

When she beheld his deadly knife she rais'd her lovely face
Crying, Oh! spare, Oh! spare my life and leave me to disgrace
Have pity on your unborn babe tho' you have none for me;
Alas! a dark untimely grave my bridal bed will be.

And of the "Oxford Girl":

 
He pulled a dagger from his coat and laid her down to the ground
And there the blood came trickling a trickling from the wound

He grabbed her by her curly locks and he dragged her to the stream
There he bides a-thinking when at last he throws her in.
"

Freilich deutet Martin's Close nirgends offen an, dass Ann Clark schwanger geworden wäre. Wir können nicht einmal sicher sein, dass es eine sexuelle Beziehung zwischen ihr und Martin gegeben hat. Vielmehr betonen die Zeugen immer wieder ausdrücklich, wie wenig attraktiv das junge Mädchen gewesen sei.
Und doch scheint mir Tina Raths Argumentation sehr überzeugend zu sein: Wir wissen, dass sich die beiden immer wieder nicht nur im Dorf, sondern auch auf dem Moor getroffen haben. Ich kann mir schwerlich einen anderen Grund für diese Treffen denken, als dass Martin die naive Vernarrtheit Anns sexuell ausgenutzt hat. Und was die Schwangerschaft betrifft: Es ist in der Tat auffällig, dass der Mord keine impulsive Reaktion auf die Auflösung der standesgemäßen Verlobung ist, wie der öffentliche Peitschenschlag, sondern offenbar sehr kaltblütig geplant wurde. Eine Martin erst kurz zuvor bekannt gewordene Schwangerschaft Anns wäre für dieses Verhalten eine ausgezeichnete Erklärung.
Doch wie auch immer man über die Details des Falles denken mag, man wird ein zustimmendes Kopfnicken und Grinsen kaum unterdrücken können, wenn Judge Jeffreys den von panischer Angst vor der untoten Ann Clark erfüllten Martin mit folgenden Worten zum Galgen schickt: "And I hope to God, that she will be with you by day and by night till an end is made of you."         


PS: Gäbe es Will Ross & Mike Taylors grandiosen A Podcast to the Curious nicht, würde auch dieser Blogpost nicht existieren.
PPS: Niemand anderes als der unvergleichliche Jess Franco hat einen Film über George Jeffreys gedreht. Mit Christopher Lee in der Hauptrolle!  Ich denke, ich werde mir schon allein aus Bildungsgründen morgen The Bloody Judge (1970) anschauen müssen.

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