"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Donnerstag, 10. März 2016

Kontaminiert

Die ländliche Gemeinde kann im phantastischen Film und nicht nur dort sehr unterschiedliches repräsentieren.
Da wir traditionell dazu neigen, das Dorf mit Rückständigkeit und Primitivität zu assoziieren, in ihm eine Art Überbleibsel historisch überlebter Gesellschäftszustände zu sehen, verwundert es nicht, dass es oft als Refugium vorzeitlicher Schrecken, alter Kulte, monströser Kreaturen usw. dargestellt wird.
Doch daneben lassen sich vor allem in der britischen Filmphantastik der 50er bis 70er Jahre auch ganz andere Tendenzen ausmachen. Dort kann das Dorf mitunter zur Vertreterin einer kommunalen Gemeinschaft werden, die durch das Eindringen von Industrie, Militär, staatlicher Bürokratie etc. bedroht wird.
Im ersten Fall wird das Grauen also mit einem Fortleben vormoderner Elemente verknüpft, im zweiten entspringt es selbst der Moderne. {Und hat bei britischen Produktionen natürlich auch sehr viel mit den gesellschaftlichen Entwicklungen jener Zeit zu tun.*}
So gesehen könnte man meinen, die zweite Variante sei im Kern konservativ, wenn nicht gar reaktionär. Doch dem muss nicht so sein. Sie läuft nicht automatisch auf eine Idealisierung der "guten, alten Zeit" hinaus. Schließlich können die Entwicklungen, die man unter dem verschwommenen Begriff "Moderne" zusammenfasst, nicht in allen Punkten vorbehaltlos als "positiv" bezeichnet werden. Auich wenn sie im Ganzen den historischen Fortschritt verkörpern, besitzen sie doch auch ihre zerstörerische Seite. Und sich mit dieser kritisch auseinanderzusetzen ist durchaus lohnenswert, wenn dabei eine unangemessene Schönfärberei  älterer gesellschaftlicher Zustände vermieden wird.
Ein relativ frühes und meiner Meinung nach sehr gelungenes Beispiel für diese zweite Variante ist Nigel Kneales SciFi-Serie Quatermass II aus dem Jahre 1955, die ich vor Zeiten hier schon einmal etwas ausführlicher besprochen habe. Der inmitten der "grünen Hügel Englands" wie ein monströses Krebsgeschwür anmutende Fabrikkomplex, der sich am Ende als Brückenkopf einer außerirdischen Invasion entpuppt, gibt ein eindringliches Bild der zerstörerischen Kräfte der Moderne ab, während der örtliche Pub, in dem die offene Revolte gegen die Aliens beginnt, sehr hübsch die "kommunale Gemeinschaft" verkörpert. Freilich bleibt Kneale nicht bei dieser simplen Dichotomie stehen, präsentiert er uns mit seinem Helden Prof. Quatermass doch zugleich einen Vertreter des Besten, was die Moderne hervorgebracht hat einen Mann, der zugleich wissenschaftliche Rationalität und echte Humanität verkörpert.

Wie dem auch sei, all dies Geschwafel hat keine andere Funktion als die, eine etwas überernste Einleitung für eine kurze Besprechung der BBC-Serie The Nightmare Man (1981) abzugeben, die ich mir kürzlich – angeregt von meiner Twitter-Bekannten Abigail – zu Gemüte geführt habe. 


Fans des klassischen Dotcor Who dürfte der Name Robert Holmes nicht ganz unbekannt sein, war dieser als Drehbuchautor und Script Editor bis 1978 doch eine der prägenden Kräfte in der Ära des Vierten Doktors Tom Baker. Der ehemalige Polizist und Reporter hatte Ende der 50er Jahre begonnen Drehbücher für Fernsehserien zu schreiben. Sein Einstieg in die Phantastik kam 1965 mit zwei Episoden für die ITV-Serie Undermind. Daneben lieferte er die Storyidee für den SciFi - B-Movie Invasion (1966), den mein guter Twitter-Kumpel NUTS4R2 hier besprochen hat. 1968 begann er für Doctor Who zu schreiben. Als er sechs Jahre später zusammen mit Produzent Philip Hinchcliffe die Kontrolle über die Serie übernahm, steuerten die beiden Doctor Who in Gefilde, die sehr viel düsterer und surrealer waren, als man das von den Abenteuern des Time Lords bis dahin gewohnt war. Wie Holmes selbst sich ausdrückte: "[T]he secret of good Doctor Who was to walk the line between 'Grand Guignol gothic horror on one side and Monty Python on the other'". Diese Herangehensweise rief allerdings schon sehr bald den Zorn der berüchtigten christlich-konservativen Aktivistin Mary Whitehouse** hervor, die alles daransetzte, den in ihren Augen perversen Machenschaften von Holmes und Hinchcliffe ein Ende zu bereiten. In wie weit ihre rastlosen Hetzkampagnen dazu beitrugen, dass Holmes 1977 schließlich den Hut nahm und sich für ein gutes halbes Jahrzehnt von Doctor Who trennte, sei dahingestellt. Auf jedenfall lehnte er das Angebot von Produzent David Maloney ab, als Script Editor für Blake's 7 zu arbeiten, da er sich offenbar ausgepowert fühlte. Holmes schrieb schließlich vier Drehbücher für die SciFi-Serie (S02E07: Killer; S02E11 Gambit; S04E03 Traitor; S04E11 Orbit). Ungefähr zur selben Zeit beauftragte ihn die BBC auch, das Script für eine TV-Adaption von David Wiltshires Roman Child of Vodyanoi anzufertigen, welche dann 1981 als vierteilige Fernsehserie unter dem Titel The Nightmare Man ausgestrahlt wurde. Die Regie führte dabei mit Douglas Camfield ein weiterer Doctor Who - Veteran.

Auf einer kleinen Insel vor der schottischen Küste gehen unheimliche Dinge vor sich. Ein bestialischer Killer, der seine Opfer beinah in Stücke reißt, treibt sein Unwesen. Schlimm genug, doch handelt es sich bei dem Täter überhaupt um einen Menschen? Die Bissspuren in einer der Leichen weisen in eine sehr viel mysteriösere Richtung, weisen sie nach Aussage des örtlichen Zahnarztes Michael Gaffkin (James Warwick) doch nur teilweise menschliche Charakteristika auf. Ähnlich verwirrend ist der Umstand, dass sich am Ort des Verbrechens eine erhöhte radioaktive Strahlung ausmachen lässt. Und hat einer der Inselbewohner nicht ungefähr zur selben Zeit eine angebliche UFO-Sichtung gemeldet? So schnell freilich ist Inspector Inskip (Maurice Roëves) nicht bereit, den Boden allgemein anerkannter Tatsachen zu verlassen und sich wilden Spekulationen über mordlüsterne Besucher aus dem All hinzugeben. Zumal an der vermeindlichen UFO-Absturzstelle bloß ein Fallschirm gefunden wird. Ohne Zweifel seltsam, aber sicher nicht außerirdisch. Als bald darauf ein geheimnisvolles, futuristisch anmutendes Gefährt an den Strand der Insel gespült wird, gerät allerdings auch er ins Grübeln. An einen außerirdischen Serienkiller will er freilich auch jetzt noch nicht glauben. Sehr viel verdächtiger erscheint ihm da der kurz vor dem ersten Mord auf der Insel angekommene Colonel Howard (Jonathan Newth). Handelt es sich bei den blutigen Ereignissen vielleicht um die Folgen irgendeines fehlgeschlagenen Experiments der Militärs?  

Die traurige Wahrheit gleich vorweg: The Nightmare Man erreicht zu keinem Zeitpunkt die Qualität der britischen TV-Phantastik der 70er Jahre. Schuld daran ist nicht nur das offenbar sehr kleine Budget, mit dem Camfield und sein Team auskommen mussten, sondern leider auch die Story. Man ist beinah versucht, anzunehmen, dass die "Auflösung" und das "große Finale" deshalb so überhastet in der zweiten Hälfte der vierten Episode abgehandelt werden, weil sie auch Holmes und Camfield zu abgeschmackt und unoriginell erschienen sind, um mehr als fünfzehn Minuten auf sie zu verschwenden.
Dennoch besitzt die Serie durchaus ihre interessanten Seiten.
Camfield nutzt die nebelverhangene Landschaft der Insel mit dem kleinen Dorf, den grasbewachsenen Hügeln und der Steilküste recht geschickt aus, um eine leicht gespenstische Atmosphäre heraufzubeschwören. Und auch wenn der Einsatz rot eingefärbter Monster-POVs während der Mordszenen sicher nicht der originellste Trick ist, erweist er sich doch als recht effektiv. Die schauspielerischen Leistungen sind alles in allem passabel, wenn auch kaum aufsehenserregend. Am ehesten noch sticht Maurice Roëves hervor, dessen Inspector Inskip die wohl charismatischste Figur der Serie ist – ein Mann, der tut, was zu tun ist, sich nie aus der Ruhe bringen lässt und dabei eine natürliche Autorität ausstrahlt, gewürzt mit einer kleinen Prise sarkastischen Humors. Im Vergleich zu ihm gibt der "offizielle" Held Michael Gaffkin eine recht blasse Erscheinung ab.***
Doch das nur nebenbei. Der eigentliche Grund, warum mir The Nightmare Man trotz seiner zweifellos vorhandenen Schwächen letztenendes recht gut gemundet hat, ist, dass man in ihm eine gar nicht so üble Version der oben beschriebenen zweiten Dorf-Variante im phantastischen Film sehen kann. Vorausgesetzt man ist bereit, die letzte Viertelstunde zu ignorieren. 
Die Insel repräsentiert ohne Frage eine jener traditionellen ländlichen Gemeinden, in denen jeder jeden kennt und "Fremde" erst einmal etwas misstrauisch beäugt werden. Dass Inskips rechte Hand, der ganz dem Typus des schnauzbärtigen Dorfpolizisten entspricht, immer mal wieder ins schottische Gälisch verfällt, unterstreicht dies in gewisser Weise. Der Inspektor selbst stammt aus Glasgow und gehört damit nicht 100%ig zu der Inselgemeinschaft. Doch immerhin ist er ein Schotte. Der wirkliche Außenseiter ist Gaffkin, handelt es sich bei ihm doch um einen "Sassenach", d.h. einen Eingländer. 
An der Beziehung zwischen ihm und der örtlichen Apothekerin Fiona Patterson (Celia Imrie) demonstriert die Serie den zweischneidigen Charakter der "Dorfgemeinschaft". Fiona hat eine Zeit lang auf dem Festland gelebt, ist jedoch auf die Insel zurückgekehrt, weil sie sich nur hier wirklich heimisch fühlt. Sie will das Gefühl der Geborgenheit, das ihr die Zugehörigkeit zur Inselgemeinde vermittelt, nicht missen. Als sich der ältliche Dr. Goudry (Tom Watson), der offenbar glaubt, die Rolle des Ersatzvaters für Fiona spielen zu müssen, in ihre Beziehung mit Michael einzumischen versucht, gefällt ihr das allerdings ganz und gar nicht. Hier zeigt das vermeindliche Idyll der Dorfgemeinschaft seine einengenden Seiten.
Doch trotz dieser Ambivalenz erscheint die ländliche Gemeinde in The Nightmare Man in erster Linie als etwas Positives, das von Kräften bedroht wird, die von außen in sie eindringen. Kräfte, die wir ohne große Schwierigkeit mit "der Moderne" {oder doch dem "modernen Staat"} identifizieren können: Das Militär und eine von selbigem oder anderen "Mächten" missbrauchte Wissenschaft. An einer Stelle ruft Fiona erschrocken aus: "Die ganze Insel könnte also kontaminiert worden sein?!" Im Kontext der Story ist damit natürlich die Gefahr der nuklearen Verstrahlung gemeint, doch scheint mir dabei zugleich eine symbolische Bedeutung mitzuschwingen. Die von außen kommenden Kräfte drohen die ländliche Gemeinde zu vergiften und schließlich zu zerstören.

Ich muss noch einmal betonen, dass diese Interpretation von The Nightmare Man durch die finale Wendung zwar nicht gänzlich negiert, aber doch stark abgeschwächt wird. So gesehen weiß ich nicht, ob ich eine Empfehlung für die Serie abgeben soll. Wer noch nicht mit der britischen TV-Phantastik vertraut ist, sollte ganz sicher nicht hier den Einstieg versuchen. Es gibt soviel bessere Beispiele aus den vorangegangenen Jahrzehnten. Andererseits spricht auch nichts wirklich dagegen, den Trip auf das schottische Eiland zu unternehmen, falls man für die nächsten zwei Stunden gerade nichts besseres zu tun hat.  
        



** Über die Umtriebe der guten Frau habe ich im letzten Beitrag zu meiner seit längerem leider auf Eis gelegten Nigel Kneale - Tour schon einmal etwas ausführlicher berichtet.
*** Amüsanterweise scheint David Wiltshire eine Vorliebe dafür zu haben, Zahnärzte zu Helden seiner Romane zu machen. Na ja, der gute Mann hat selbst mal in diesem Beruf gearbeitet ...

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