Wo beginnen? Hmm ... hier vielleicht ...
Gygax und Dave Arneson hielten es wohl für wahrscheinlicher, dass irgendwer einen Drachen spielen wollte als eine Kriegerin oder Zauberin. Und die cartoonhaften Zeichnungen einer "beautiful witch" und einer barbusigen Amazone in hochhackigen Stiefeln, die man in dem selben Heftchen findet, dürften auch kaum dem Ziel gedient haben, ein weibliches Publikum anzusprechen.
Als Dakpus noch einmal nachhakte, ließ die
Reaktion an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:
I asked Gary what women’s libbers think of the situation, and he told me
that he will bend to their demands when a member of the opposite sex
buys a copy of Dungeons & Dragons!
War das bloß Ausdruck sexistischer Vorurteile oder hatte Gygax guten Grund anzunehmen, dass D&D nie irgendwelche Käuferinnen finden würde? Und wenn letzteres tatsächlich der Fall war, was änderte sich zwischen 1974 und 1979?
Dungeons & Dragons entstand in einem sehr spezifischen Milieu -- dem der "Wargames" - Enthusiasten. (3) Die Wurzeln dieser Spiele, bei denen die Teilnehmer in die Rolle militärischer Befehlshaber schlüpfen und ganze Armeen gegeneinander in die Schlacht schicken, reichen bis ins frühe 19. Jahrhundert (und *natürlich* nach Preußen) zurück. 1913 erschien H.G. Wells' Regelwerk
Little Wars und in den 40er Jahren unterhielt sich der New Yorker Kreis um SFF-Autor Fletcher Pratt mit dessen "Naval Wargames". Zu einer eigenen, über Clubs, Conventions und Fanzines vernetzten Szene wurden die "Wargamer" in den späten 50er und den 60er Jahren, wobei das von Marktführer
Avalon Hill herausgegebene Magazin
The General eine wichtige Rolle spielte. Wie Jon Peterson in seinem Artikel
The First Female Gamers detailliert dalegt, bestand diese Community, von wenigen Ausnahmen abgesehen, beinah ausschließlich aus Männern. Umfragen aus den frühen 70er Jahren scheinen zu belegen, dass Frauen gerade einmal 0,5% des Fandoms ausmachten. Dafür gab es sicher eine Reihe von Gründen, aber eigentlich finde ich es nicht so erstaunlich bei einem Hobby, das derart stark in den klassisch "männlichen" Traditionen des Militarismus verankert war,
Dies war das Umfeld, aus dem heraus D&D geboren wurde. Gygax und
Arneson waren passionierte "Wargamer" und gut venetzt in der Szene. Die von Gygax 1968 ins Leben gerufene GenCon ("Geneva Convention") war zu Beginn ganz "Wargames" und Miniaturen gewidmet. Chainmail, ein Regelwerk für mittelalterliche Schlachten, war die
Grundlage, auf der die ersten RPG-Szenarien aufbauten. Selbst der Name TSR ("Tactical Studies Rules") verrät deutlich den ursprünglichen Hintergrund. Und auf dem Cover der allerersten Ausgabe von D&D konnte man lesen: "Rules for Fantastic Medieval Wargames Campaigns Playable with Paper and Pencil and Miniature Figures". Der Begriff "Role Playing Game" würde sich erst etwas später durchsetzen.
Es versteht sich von selbst, dass das neue Spiel seine Käufer zu Beginn beinah ausschließlich unter alteingesessenen "Wargamern" fand. Dennoch gab es schon früh
Anzeichen dafür, dass es größeren Anklang unter Spielerinnen fand als andere Produkte. Wirklich entscheidend war jedoch, dass D&D schon bald Zugang zu einer anderen Szene erhielt -- der der SF- und Fantasyfans (sowie der aus ihr hervorgegangenen "Society for Creative Anachronism"). Diese war zwar sicher auch kein egalitäres Utopia, aber auf jedenfall sehr viel diverser als die "Wargamer" - Community. Frauen bildeten zwar eine Minderheit, hatten aber von Beginn an eine wichtige Rolle in ihr gespielt.
Ein besonders schönes Beispiel dafür ist die
Entwicklung, die Lee Gold zu "
the industry's first female star" und "
one of the ten or so most important people in the roleplaying field" der 70er Jahre machte. Es war der alte "Wargamer" Mark Swanson, der 1974 als erster die Kunde von D&D nach Los Angeles trug. Doch erst als Owen und Hilda Hannifen von San Francisco kommend das Regelwerk mitbrachten und ein paar Spielrunden organisierten, sprang der Funke wirklich über und erfasste signifikante Teile des dortigen SFF-Fandoms.
Der altehrwürdigen LASFS ("Los Angeles Science Fantasy Society") hatten schon in den 30er/40er
Jahren so bedeutende "Femme-Fans" der ersten Stunde wie
Myrtle R. Douglas ("Morojo"), Mary ("Pogo") Gray und "Tigrina" (Edythe
Eyde) angehört. Und nachdem Hilda Hannifen in
APA-L, der Fanzine des Clubs, Artikel über ihre D&D - Runden zu veröffentlichen begann, gehörten weibliche Fans wie June Moffatt und Bjo Trimble zu den ersten, die ihr Interesse an dem neuen Spiel
bekundeten. Ihre enthusiastischsten Konvertiten fanden die Hannifens allerdings in
Lee und Barry Gold:
My husband and I were fascinated, and they lent us a photocopy
of the rules, on seeing us write a check to TSR to order our own copy,
so we wouldn't have to wait till the rules arrived (in a brown box) from
TSR.
Schon bald füllten sich die Seiten von APA-L mehr und mehr mit Lee Golds D&D - Berichten, was bei nicht-infizierten Fans wie dem einflussreichen Bruce Pelz schließlich zu einiger Irritation führte. Und so beschloss sie, ein eigenes, ausschließlich dem Rollenspiel gewidmetes Magazin zu veröffentlichen. Im Juni 1975 erschien die erste Nummer von Alarums & Excursions. TSRs hauseigener Dragon würde erst ein Jahr später an den Start gehen. Das Magazin erfreute sich rasch eines beträchtlichen Ansehens in der jungen Szene und viele ihrer namenhafte Größen trugen über die nächsten Jahre Gastbeiträge zu ihm bei.
Zur selben Zeit wie die erste Ausgabe von Dragon erschien außerdem The Dungeoneer. Jennell Jaquays lebte und schrieb damals freilich noch als Paul -- ihr Transitioning würde erst Jahrzehnte später stattfinden. (4) In der zweiten Nummer des Fanzines erschien Jaquays' Artikel Those Lovely Ladies, der sich mit weiblichen Spielercharakteren in D&D beschäftigte. Die Art, in der dies geschah, scheint ziemlich typisch für die frühe Szene gewesen zu sein, rief aber auch umgehend Kritik hervor. Um Jon Peterson zu zitieren:
“Those Lovely Ladies” reinvented the Fighting-man, Magic-user, and
Cleric classes for women as “Valkyries,” “Circeans” and “Daughters of
Delphi,” respectively. It [...] awarded women a
blanket Charisma bonus, though the Charisma of women suffered if their
Strength was too high. This piece too received pushback from a female
reader, Judith Preissle Goetz, who concedes that “women have higher
charisma as far as men are generally concerned,” but observes, ”you have
ignored the complementary phenomena that men have higher charisma as
far as most women are concerned.” She also takes exception to the notion
that high Strength would render a woman unattractive, noting that
“female athletes are often more sought after than other women."
Ein noch sehr viel krasseres Beispiel dafür, wie auf gut sexistische Manier "körperliche Attraktivität" zu einem zentralen Attribut für weibliche Spielercharaktere gemacht wurde, ist Lenard Lakofkas einen Monat später in
Dragon #3 neu abgedruckter Artikel
Notes on Women & Magic. (5) Dort wird für Kriegerinnen, Diebinnen und Zauberkundige "Charisma" gleich ganz durch "Beauty" ersetzt. Abhängig davon erhalten sie außerdem die besonderen "Fertigkeiten" "Seduce" und "Charm Men"! Der Tenor des Ganzen zeigt sich recht unverhüllt in den neuen "Stufen-Titeln" für Diebinnen: "
Wench - Hag - Jade - Succubus" ... Daneben dekretierte der Artikel außerdem einen maximalen "Strength"-Wert für weibliche Charaktere, der deutlich unter dem männlicher lag.
Der Beitrag rief wütende Reaktionen im Fandom hervor. In
Alarums & Excursions erschien eine Karrikatur, in der eine Gruppe von Abenteurerinnen Lakofka, Gygax und
Dragon - Herausgeber Tim Kask "in effigy" aufknüpften, und Kay Jones verlieh ihrer Empörung in folgenden
Versen Ausdruck:
A verse for Len Lakofka, who’s earned
the name of nerd,
For rules changes
both chauvinist and patently absurd
And Kask, the man
who published it, why earn your way to fame,
By publicly
insulting all the players of the game?
The Dungeoneer war außerdem Pionier im Herausgeben vorgefertigter Abenteuerszenarien. (6) Auch das ein Bereich, in dem sich schon früh eine ganze Reihe von Frauen tummelten, wenn auch meistens als Co-Autorinnen. Um
einige Beispiele zu nennen: Judith Kerestan war Co-Autorin von
Palace of the Vampire Queen (1976) und
The Misty Isles (1977), herausgegeben von
Wee Warriors; Laurie Van De Graaf von
Quest for the Fazzlewood (1978), herausgegeben von
Metro Detroit Gamers, und Laura Hickman von
Rahasia (1979) und
Pharaoh (1980), herausgegeben von
DayStar West Media.
Das erste kommerziell veröffentlichte Abenteuer, das ausschließlich den Namen einer Autorin auf dem Cover trug, war Lillian "Lee" Russells Labyrinth (1978), das dritte Solo-Abenteuer für Tunnels & Trolls. Ken St. Andres bei Flying Buffalo veröffentlichte Rollenspiel war der erste "Nachahmer", der sich nach D&D zu etablieren vermochte. Es führte nicht nur das Konzept des Solo-Abenteuers ein (und gab damit den direkten Anstoß zur späteren Entstehung der Fighting Fantasy - Spielbücher), sondern schlug von Beginn an auch einen humorvolleren Ton an als D&D. Als 1978 die erste Nummer des hauseigenen Magazins Sorcerer's Apprentice erschien, schrieb St. Andre im Editorial:
Sorcerer’s Apprentice will attempt to
carry the T&T philosophy of FRP gaming to a wider audience:
namely that role-playing is fun. Dungeons & Dragons, despite its
inherent silliness (especially in monster names and types), has
somehow taken on the quasi-serious aspects of a religion. (7)
Die eigentliche prägende Kraft hinter dem Magazin war allerdings Co-Herausgeberin Liz Danforth. Sie war auch für die 1979 herausgegebene fünfte überarbeitete Fassung von Tunnels & Trolls und damit für die Form des Regelwerks verantwortlich, die für lange Zeit die defintive blieb.
Das mag kein erschöpfender Überblick sein, aber ich denke, er reicht aus, um einen ungefähren Eindruck von den Entwicklungen im frühen RPG-Fandom zu vermitteln. Aber auch wenn Frauen dort von Anfang an eine merklich größere Rolle spielten als in der alten "Wargamer" - Community, heißt dass natürlich nicht, dass sie immer willkommen gewesen wären. Zuerst einmal bildeten sie trotz allem eine kleine Minderheit. Wie Liz Danforth einmal in einem
Interview erzählt hat:
My first Origins (Convention) -- which was about 1976, near as I can recall -- it
seemed like every guy on the hall was staring at my chest. I was damn
near the only female in the place. No one was unkind or truly rude,
though. They just couldn’t believe I knew games, played games, or worked
for a game company. They all figured I was somebody’s girlfriend, I
think.
Und wie wir ja schon am Aufruhr um den Lakofka - Artikel gesehen haben, war das Fandom natürlich alles andere als frei von Sexismus. Zum Teil zeigte sich das im D&D - Regelwerk selbst. Man denke etwa an die berüchtigte "Harlot's Table" aus dem
Dungeon Masters Guide von 1979. (8) Nicht zu vergessen das Design der allermeisten Miniaturen, die die "Tradition" der oben erwähnten Illustrationen aus
Men & Magic fortsetzten. Wie es Fan Judith Goetz ausdrückte:
Some of the ‘downs’ of D&D for
me are in encountering men’s collections of fantasy figures whose
only females are the naked sirens who serve only as so much booty –
and, for that matter, the cartoons run in The Dragon that present
the same view.
Vor allem aber prägte der Sexismus der Zeit die Atmosphäre nicht weniger Spielgruppen. Als Jean Wells und Kim Mohan in
Dragon #39 (Juli 1980) ihren Artikel
Women want equality -- and why not? veröffentlichten, gaben sie darain einige der entsprechenden negativen Erfahrungen wieder, von denen ihnen D&D-Spielerinnen berichtet hatten:
Women who play female characters must
be concerned […] about their characters being “used” as sex
objects to further the ends of a male-dominated party of
adventurers.
One reader, Sharon Anne Fortier, related a story
about a female dwarf character of hers that was forced by the males
in the party to seduce a small band of dwarves so the party could get
the drop on them and kill them.
Another reader wrote of being penalized
by her DM because she was a Cleric and had the misfortune (as it
turned out) to become pregnant. The DM said that Lawful Good Clerics
didn’t do that sort of thing, he forced the character to undergo a
change of alignment, and the player eventually had to roll up a new
character. [...]
Laura Roslof said that the men she has
been involved in gaming with seem to expect females to wait
obediently by the door while they (the males) sort through the
treasure. She said that wouldn’t be so bad by itself, but then the
men usually refuse to provide females with a fair share of the loot.
Wie offen und frei von all dem das Umfeld war, das Jean Wells 1979 bei TSR vorgefunden hatte, muss dahingestellt bleiben.
Wells hatte D&D während eines
Kanu-Trips in ihren College-Tagen kennengelernt und war schon bald
Mitglied der örtlichen Fangruppe ("D&D Gang of Statesmen
Complex") geworden. "I discovered I enjoyed running more
than playing. It gave me an opportunity to use my creativity in an
area I already liked, Medieval History and Fantasy." Als sie im
Herbst 1978 eine Anzeige im Dragon Magazine entdeckte, derzufolge TSR
Designer suchte, bewarb sie sich kurzentschlossen. Gary Gygax zeigte
sich interessiert und holte sie schließlich im Januar 1979 für
einige Tage nach Wisconsin. Die beiden verstanden sich offenbar
prächtig und so wurde Wells schließlich für das neu gegründete
Design Department engagiert. Allerdings musste sie selbst
eingestehen, dass sie keinerlei Erfahrung mit dem Entwickeln von
Spielregeln hatte. Gygax versprach, sie persönlich in die Materie
einzuführen: "He was hiring my imagination and would teach me
the rest." Doch dazu kam es nie, denn wenige Monate nachdem
Wells ihr Büro in Lake Geneva bezogen hatte, kam es zu jener
Explosion in den Verkaufszahlen von D&D, die urplötzlich
Hunderttausende von Dollars in das Firmenkonto von TSR spülte.
Gygax, der sich mit einemmal an der Spitze eines rasch expandierenden
Unternehmens wiederfand, hatte in der Folge schlicht keine Zeit mehr,
den Mentor zu spielen.
Im Rückblick sah Wells darin einen der
Hauptgründe für ihre Probleme bei TSR: "
I lacked a proper
mentor and that is what I believe made it difficult. I believe that
lacking a mentor cast me into the role of token female." Dennoch
halte ich es für gerechtfertigt zu fragen, ob es da nicht auch noch
andere Gründe gegeben hat. Zwar scheint sie sich alles in allem recht gut mit der
chaotischen Designertruppe im ehemaligen Clair Hotel verstanden zu haben, doch galt das
offenbar nicht für alle ihrer Kollegen. Einer von ihnen
charakterisierte sie später wenig freundlich als "
large,
insecure, brashly outgoing, and outspoken" und Jim McLauchlins
"Secret History" von
Palace of the Silver Princess enthält
einige ziemlich herablassende Kommentare von TSR-Künstler Bill
Willingham, der keinen Zweifel daran lässt, dass Wells ihre Position
seiner Meinung nach ausschließlich ihren freundschaftlichen
Kontakten zu Gygax und anderen aus dem Management verdankt habe. Es
fällt nicht schwer, dabei die sexistischen Untertöne herauszuhören.
Dennoch ließ sich ihre Karriere bei TSR erst einmal recht gut an. Sie arbeitete am
Dungeon Masters Guide (1979) mit und war Editorin für eine Reihe von Modulen, u.a.
White Plume Mountain (1979) und
The Keep on the Borderlands (1981). Zusammen mit Tom Moldvay arbeitete sie an der Revision des Basis- und der Vorbereitung des Experten-Sets. Von
Dragon #31 (November 1979) bis #42 (Oktober 1980) schrieb sie außerdem die Kolumne
Sage Advice, in der sie Regelfragen von Fans beantwortete, wobei sie nicht selten einen humorvollen und leicht ironischen Ton
anschlug:
I adopted this approach because this is
who I am. I tend to look at humor in life. I believe in laughter
especially when things are taken out of context and way over done. I
chose the strangest most far fetched questions for two reasons. One,
they were funny, and two they were also a sad statement on the depths
that some people played this "game." […] I'd hoped the
kids would see the humor in the situation and not take the game so
seriously that every breath they took, every word they said was about
D&D.
Ob ihre jugendlichen Leser*innen das immer so verstanden haben, darf füglich bezweifelt werden, doch erfreute sich ihre Kolumne ohne Zweifel großer Beliebtheit.
Der Sturz kam erst mit
Palace of the Silver Princess. Der genaue Ablauf der Katatsrophe scheint sich nicht mehr im Detail rekonstruieren zu lassen. Glaubt man Designer
Kevin Hendryx, so wurden bei TSR zu dieser Zeit viele Produkte überhastet in die Produktion geschickt, da man einer schier unersättlichen Nachfrage gegenüberstand. Irgendeine "Qualitätskontrolle" durch das Management gab es nicht. Projekte wurden einfach durchgewunken. Was erklären würde, warum bereits mehrere tausend Exemplare gedruckt worden waren, bevor man in der Chefetage die Notbremse zog. Auf jedenfall wurden Jean Wells und ihr Mitarbeiter Ed Sollers umgehend vor den
äußerst erbosten Will Niebling gerufen: "
Will accused us of putting S&M into
a child’s module." Nach eigener Aussage wusste Wells nicht einmal, was dieser Begriff bedeutete. Der Stein des Anstoßes war eine von Laura Roslofs Illustrationen, die eine an einen Balken gefesselte Frau zeigt, die von neun hässlich-grotesken Männergestalten umringt ist. (9) Schwerlich eine besonders "gewagte" Darstellung. Innerhalb des Abenteuers handelt es sich bei dem Szenario außerdem bloß um eine von dem Tentakelmonster "Decapus" hervorgerufene Illusion. Jean Wells erklärte dazu:
I created the Decapuses to draw
paladins into the room quickly without thinking and to be the first
in. I wanted them to rescue the maiden who’s clothes were torn and
seemed to be surrounded by nine ugly men taunting her. Ed thought it
was a good idea and so did our boss Harold Johnson.
Gary Gygax hat einmal in einem
Interview mit Ciro Alessandro Sacco erklärt, dass er nichts mit der Entscheidung gegen
Palace of the Silver Princess zu tun gehabt habe:
You ask the man who decided on the
'Amazon' and 'Temptress' illos in original D&D, the 'Eldritch
Wizardry' supplement cover about something in the artwork in Jean
Well's module being 'objectionable'? I am quite at a loss as to how
to respond.
Angeblich soll Gygax sogar aktiv dafür gesorgt haben, dass nichts an dem Modul verändert wurde, obwohl es bereits im Vorfeld Kritik aus dem Design-Team gegeben habe. So
erzählt Stephen Sullivan:
[W]hen this thing came through, and the
development people wanted to edit it, Jean went to Gary and said –
and I know I’m going to make this sound more harsh than it actually
was – "They’re changing my stuff, tell them not to do it."
And Gary reminded us all that we were not to change the designers’
word or intent in the work. We were just to proof it, do the
production line, get it done.
Wie auch immer Gygax' Rolle in dem Debakel wirklich ausgesehen haben mag, richtig ist sicher, dass Laura Roslofs Zeichnung kein Bruch mit bisherigen "Standards" war. Verglichen mit nackten Amazonen war das bisschen "Quasi-Bondage" wirklich harmlos. Wenn sie dennoch zu einer so heftigen Reaktion in Teilen des Mangements führte, war dafür aller Wahrscheinlichkeit nach die beginnende "Satanic Panic" verantwortlich. Nachdem christliche Fundamentalisten und andere selbst ernannte "Hüter der öffentlichen Moral" begonnen hatten, D&D als eine "Bedrohung für Amerikas Jugend" zu attackieren, war TSR bemüht, sich ein makellos "sauberes" Image zu verpassen. In diesem Kontext waren Bilder wie "The Illusion of the Decapus" nicht länger akzeptabel.
Allerdings gab es wohl mindestens noch einen weiteren Grund für den Aufruhr in der Chefetage: Erol Otus'
Illustration der hermaphroditischen "Ubues", in der er offenbar einige TSR-Angestellte karrikiert hatte. Welche genau gemeint waren und ob es sich dabei um Mitglieder des Designteams oder des Managements handelte, scheint aber völlig unklar zu sein. Ich habe jedenfalls nirgendwo Namen finden können. Doch da es zu dieser Zeit wachsende Spannungen zwischen Konzernleitung und "Fußvolk" gab, wollte man wohl alles unterdrücken, was auch nur entfernt nach "Rebellion" schmeckte. Ironischerweise hatte Jean Wells selbst gegen die Aufnahme der entsprechenden Illustration
gestimmt. Allerdings aus völlig anderen Gründen: Sie hatte ihre dreiköpfigen Ungeheuer nämlich gar nicht als Hermaphroditen konzipiert gehabt.
Die meisten Artikel über das
Silver Princess - Debakel konzentrieren sich ganz auf diese beiden Illustrationen. Doch der Umstand, dass man nicht bloß die Zeichnungen entfernen, sondern das Modul noch einmal völlig von Tom Moldvay überarbeiten und umschreiben ließ, legt nahe, dass man auch mit dem Inhalt Probleme hatte. Freilich kann man bloß spekulieren, worin genau diese bestanden haben könnten. Bill
Willinghams
abfällige Kommentare scheinen mir zwar hauptsächlich Ausdruck einer persönlichen Abneigung gegen Jean Wells zu sein, bieten aber den einzigen konkreten Ansatzpunkt:
I was first to read the damn thing, and
I was just shocked at how ridiculous it was. It was clearly the
private fantasies of the author. The
Silver Princess character was also her persona in the Society
of Creative Anachronism – a hauntingly lovely woman who
destroyed hearts. [...] I used to call it "Phallus of the Silver Princess." It
was unprintable.
Auch Kevyn Hendrix spricht von "
a lot of subliminal, Freudian-level erotica in there".
Glücklicherweise überlebten einige Exemplare der ursprünglichen Ausgabe das Einstampfen und PDFs lassen sich heute ohne größere Probleme im Internet finden, so dass wir uns ein eigenes Bild machen können.
Ich bin kein Experte, was frühe D&D - Abenteuer angeht, habe aber schon das Gefühl, dass Palace of the Silver Princess ein in mancherlei Hinsicht etwas eigentümliches Szenario ist. Vor allem, wenn man zum Vergleich Tom Moldvays "überarbeitete" Version danebenlegt.
Im Zentrum steht natürlich auch hier die Beschreibung eines "Dungeons", in diesem Fall die der Ruinen des Palastes der feenhaften "Märchenprinzessin" Argenta. Darüberhinaus enthält das Modul aber auch eine Schilderung der umliegenden Landschaft. Und die besteht nicht aus den üblichen Zufallsbegegnungs-Tabellen, sondern aus äußerst knappen Beschreibungen der Dörfer, Wälder und Berge. Dazu gehören u.a. der "Misty Swamp", in dem die Magie verrückt spielt, und die Baronie der bösen Lady D'hmis:
A prime example of the type of laws her
ladyship favors is one forbidding males, except those in her service,
from being on the streets after the sunset unless accompanied by a
female who is age 15 or older. This law meets little resistance as
everyone fears her baronial guards. Though D’hmis’ warriors are
primarily male, her commanders are all females; tough, chaotic women
who instill fear by a mere gaze and who fear little save D’hmis and
the elite male fighters who serve as her personal bodyguards and
paramours.
Bei all dem bekommt man den Eindruck, dass dem Ganzen eine Geschichte zugrunde liegt, die man nie wirklich erzählt bekommt, dass es da einen tieferen Zusammenhang gibt, der höchstens vage angedeutet wird. So behauptet z.B. Lady Dhimis, die letzte Nachfahrin Argentas zu sein. Ist sie es wirklich? Und wenn ja, was würde das bedeuten? Ist ihre tyrannische Herrschaft mehr als das düstere Spiegelbild des untergegangenen Märchenreiches der "Silberprinzessin"? Sind es die Leichen ihrer Soldaten, die man in der Ruine des Palastes entdeckt? Wollte sie ihn "zurückerobern"? Und was genau hat es mit dem unherwandernden "Tinker" Lamdomon auf sich, der in seinem grotesken Fuhrwerk u.a. eine silberne Rüstung und "
a strange set of riding equipment
that appears too large for a horse" verborgen hält? Ist er mehr, als er zu sein vorgibt? Und wenn was? Rüstung und Sattel erinnern an den drachenreitenden Krieger, der einst Argentas Reich zerstört haben soll. Wie haben wir es zu deuten, dass sie sich nun im Besitz Lamdomons befinden?
Jean Wells selbst hat dazu einmal
gesagt: "
I was trying to show the players that
there was more to a “dungeon” than just the building." Ob die Umsetzung dessen "spieltechnisch" bsonders gelungen ist, sei dahingestellt. Zumal das Modul als eine Art "Tutorial" für unerfahrene Spieler*innen gedacht war, die mit den skizzenhaften Schilderungen und vagen Andeutungen vielleicht eher nicht so viel hätten anfangen können. Reizvoll finde ich es trotzdem irgendwie.
Das Andeutungshafte und leicht Ambivalente findet seine Fortsetzung in der Geschichte des "Palastes" selbst. Am Beginn des Moduls steht eine Legende, die vom Untergang des idyllischen Reiches mit seinem Ewigen Sommer, seinen Einhörnern und zwitschernden Vögelchen erzählt. Als die Zwerge in den Tiefen der späteren "Moorfowl Mountains" einen riesigen roten Juwel -- "My Lady's Heart" genannt -- entdeckten und ihrer geliebten Herrscherin Argenta vermachten, richtete diese zur Feier des Ereignisses einen prächtigen Ball aus:
She should not have been so eager to
show the ruby, as one guest was interested in more than its beauty
alone. He had come to steal it. His eyes also roamed freely to the
princess, and he gazed upon her as much as he gazed upon the
brilliant gem. Princess Argenta saw this, and in her innocence smiled
backed at him. [...]
Many weeks after the party a red dragon
was seen in the skies of the valley. The dragon burned the rich land
with its breath and terrorized the gentle people of the valley. The
land was left scorched and barren. Those valley people unfortunate to
get close enough to the dragon (but fortunate enough to live) swore
that they saw a man in silver and blue armor riding on its back.
Manche erzählen, dass der Drachenreiter die Prinzessin entführt habe. Andere, dass Argenta zusammen mit ihrem Märchenreich untergegangen sei.
Doch wie wir im späteren Verlauf des Moduls erfahren, war der geheimnisvolle Fremde gar nicht für die Katastrophe verantwortlich. Vielmehr verliebten sich Argenta und er ineinander und wurden ein Paar! Wie es tatsächlich zum Untergang des Reiches gekommen ist, bleibt völlig schleierhaft!
An dieser Stelle beginnt auch das, was man in der Tat als eine Art "freudianischen" Subtext interpretieren könnte. Auch wenn er sicher nicht so aufdringlich ist, wie Willingham es in seinen Kommentaren erscheinen lässt. In der ersten Ebene des "Dungeons" finden sich nämlich eine Reihe von Räumen, in denen Statuen "junger Mädchen" stehen. Mit etwas gutem Willen lassen diese sich als Repräsentationen verschiedener "Stufen" einer romantisch-sexuellen Beziehung interpretieren. Eine von ihnen ist z.B. mit ausgestreckten Armen dargestellt. Hinter ihr befindet sich eine Geheimtür, die in einen Raum führt, an dessen Wänden Teppiche hängen, die Argenta und den Krieger als glückliches Paar darstellen. Eine andere Statue zeigt das "junge Mädchen" mit einem Kind auf dem Schoß. Sicher am deutlichsten ist jedoch ein Raum, der von Mosaiken geziert wird, die folgende Szenerien darstellen:
The scenes are of a red dragon mounted
by a man in silver and blue armor giving chase to a young maiden
wearing a silver gown and a silver and ruby coronet. Another scene
depicts elves playing in the woods while a red dragon watches
them from his hiding place behind two tall pines. [...] The design on
the floor shows the maiden, man and dragon curled up asleep around a
key hole.
Steckt man den korrekten Schlüssel in das Loch erscheint (nach einem gewissen Prozedere) das blau schimmernde magische Schwert des Kriegers in der Luft und es kommt zu einem illusorischen Kampf gegen ihn. Ich schätze, man könnte die Symbolik hier wohl schon als "phallisch" bezeichnen.
Ich muss gestehen, dass das Ganze einen leicht verstörenden Eindruck bei mir hinterlassen hat. Nicht wegen der "Erotik", sondern weil mir da eine etwas beunruhigende Verquickung von Sex und Gewalt mitzuschwingen scheint. In der "Legende" erscheint der Krieger anfangs als ein gewalttätiger Eroberer. Und im Symbol des Drachen findet sich das auch später zumindest partiell fortgesetzt. Der Lindwurm lässt sich denke ich als Verkörperung "sexueller Leidenschaft" lesen, aber es ist ziemlich klar, dass es sich dabei um eine "männlich"-aggressive Leidenschaft handelt. In einem der Räume finden sich sogar ein paar Verse, in denen es u.a. heißt:
I came, and what did my eyes behold?
A maiden fair with hair of gold.
Her face, aglow by which the sun is
shamed.
My steed, a dragon, her innocence did
tame
Ich bin mir ehrlich gesagt nicht so sicher, ob ich wissen will, welche Idee von Sexualität diesem ganzen Szenario zugrundeliegt ...
Von dem "Freudianismus" einmal abgesehen, enthält das Modul aber durchaus noch einige andere erwähnenswerte Details:
Zuerst einmal fällt auf, dass in Bezug auf DM und Spieler*innen grundsätzlich die Formulierung "he or she" verwendet wird. Außerdem enthält Palace of the Silver Princess nach meinem Eindruck deutlich mehr weibliche Charaktere als andere D&D - Abenteuer der Zeit: Lady D'hmis; die "böse Zauberin" der "Thunder Mountains"; Zappora, die Tochter des "Tinker"; die beiden Diebinnen Duchess & Candella, denen man im Palast begegnen kann; und schließlich meine besondere Favoritin: die Werbärin Aleigha. Die lykanthropische Kriegerin gehört zum Gefolge des Klerikers Catharandamus, der sich in der Palastruine eingenistet hat. Derselbe ist eine fragwürdige und ambivalent gezeichnete Figur, aber kein reiner Bösewicht. Aleigha sieht in ihm (fälschlicherweise) eine Art gütigen Vaterersatz. Sie selbst ist die letzte Nachfahrin der legendärin Heldin Spartusia, deren magisches Schwert sie auch trägt. Die Berserker, denen man als Zufallsmonster im Palast begegnen kann, verehren sie als "die Große Bärin". Viel mehr erfahren wir nicht über sie (oder die anderen Mitglieder von Catharandamus Gruppe), aber erneut hat man das Gefühl vage angedeuteter größerer Zusammenhänge. Nicht unerwähnt bleiben soll außerdem die bizarre Figur des verrückten (und kannibalischen?) Travis, die mir eher in ein Fighting Fantasy - Spielbuch als in ein D&D - Abenteuer zu passen scheint.
Fast alle diese Eigentümlichkeiten (einschließlich der umgebenden Landschaft) wurden in Tom Moldvays Überarbeitung von Palace of the Silver Princess entfernt und durch ein sehr viel stromlinienförmigeres Setting ersetzt, in dem die Spieler*innen den magischen Rubin finden müssen, um zu verhindern, dass der (nun eindeutig böse) Catharandamus eine Art Dämon (oder Großen Alten?) heraufbeschwört. Dabei wurde u.a. Aleigha gegen eine Werwölfin ohne besonderen Charakter oder Hintergrundsgeschichte ausgetauscht.
Ist Jean Wells' Original ein gelungenes D&D - Szenario? Das wage ich nicht zu beurteilen. Aber es besitzt auf jedenfall einen eigenartigen Reiz. Für die Autorin und Designerin bedeutete das Debakel um ihr Modul allerdings den Anfang vom Ende ihrer TSR - Karriere. In einem Interview mit dem
Save or Die Podcast erzählt sie, dass die Blume-Brüder Brian und Kevin, die zusammen mit Gygax an der Spitze des Unternehmens standen, in der Folge versucht hätten, sie rauszuwerfen. Fakt ist wohl, dass alle ihr weiteren Projektentwürfe und -vorschläge entweder abgelehnt oder stillschweigend ignoriert wurden. „
Harold [Johnson] ended up using me
more as a secretary during my last days at TSR. " Es war offensichtlich Zeit, das Unternehmen zu verlassen. Leider bedeutete das für Jean Wells auch den Abschied von der Rollenspiel-Szene.
Wells war nicht die einzige Frau, die während der frühen Tage von TSR für das Unternehmen arbeitete. Ob ihre letztenendes ziemlich negativen Erfahrungen als exemplarisch gelten können, scheint mir nicht eindeutig. Penny Williams etwa, die man als "
games questions expert" engagierte und die in der Folge nicht nur für die Beantwortung von "Fanpost" verantwortlich war, sondern auch zur Koordinatorin des RPGA - Netzwerks wurde, scheint nie auf vergleichbare Probleme gestoßen zu sein. Etwas anders sieht es mit der
Zeichnerin und Illustratorin Darlene aus. Diese wurde zwar oft und gerne als Freelancerin genutzt (u.a. für das Erstellen der offiziellen Karte von Gygax' Kampagnenwelt Greyhawk), doch bot man ihr nie eine feste Stellung an: "
I knew they wanted artists, and I was told not to apply, [...] that my application would not be considered. I didn’t understand why.
They said, ‘Because you don’t play the game.’ And I went, ‘Oh.’" Jahre später erfuhr sie, dass der Verantwortliche offenbar grundsätzlich keine Frauen einstellen wollte.
Mit Rose Estes, Jean Black und Margaret Weis spielten Frauen vor allem in TSR's Buchabteilung eine zentrale Rolle. Doch darauf werde ich in meinem (wahrscheinlich) nächsten Beitrag zurückkommen, wenn es wieder einmal Zeit für den alljährlichen Klassiker-Reread wird. Wozu Alessandra und ich uns erneut einen besonderen Guest Star eingeladen haben. Stay tuned!
(1) Jon Peterson: Game Wizards: The Epic Battle for Dungeons & Dragons. S. 179.
(2) Dragon #24 (April 1979). From the Sorcerer's Scroll. S. 19.
(3) In dieser Szene entstand auch zum ersten Mal die Selbstbezeichnung "Gamer", die dann in die RPG-Kreise und schließlich in die Videospiel-Community weitergegeben wurde. Vgl.: Jon Peterson: The First Female Gamers.
(4) In einem Interview von 1996 beschrieb sich Jaquays selbst noch als: "Male, 40 [...] politically,
economically, and religiously conservative." Erst 2011/12 machte sie ihr Transitioning öffentlich und erklärte dazu: "To be honest (finally), I've always been
on this side. It just took a while for me to recognize it, accept it,
embrace it, and pull back the curtain for the rest of the world to
see".
(5) Erstmals erschienen war er im Juli 1976 in Lakofkas eigenem Fanzine Liaisons Dangereuses.
(6) U.a. "Night of the Walking Wet": "A creature from another world becomes the slime god, infesting the region with virulent slime zombies, the 'walking wet'" (Co-Autorin: Tamara Wieland).
(7) Zit. nach: Shannon Appelcline: Designers & Dragons: A History of the Roleplaying Game Industry - The 70s. S. 121.
(8) Sie ist Teil der "städtischen Zufallsbegegnungen" und liest sich folgendermaßen: "0-10: Slavenly trull * 11-25: Brazen strumpet * 26-35: Cheap trollop * 36-50: Typical streetwalker * 51-65: Saucy tart * 66-75: Wanton wench * 76-85: Expensive doxy * 86-90: Haughty courtesan * 91-92: Aged madam * 93-94: Wealthy procuress * 95-98: Sly pimp * 99-00: Rich panderer" (S. 192)
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