"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Dienstag, 16. August 2016

Die abstrusen Abenteuer des Sherlock Holmes

Fritzi Kramers Blog Movies Silently gehört zu den sympathischsten Film-Websites, die ich kenne. Es ist stets ein Vergnügen, ihre kenntnisreichen, mit viel Liebe, Humor und einem kritischen Blick verfassten Beiträge über die gar zu oft missverstandene {oder schlicht ignorierte} Welt des Stummfilms zu lesen.
Ihr fröhlicher Enthusiasmus wirkt ungemein ansteckend. Als mir die Gute vor einiger Zeit via Twitter zu Verstehen gab, dass ich mir als bekennender Liebhaber von Sherlock Holmes und miesen Filmen unbedingt einmal The Copper Beeches von 1912 zu Gemüte führen müsse, dauerte es deshalb nicht lange, bis ich dieser Empfehlung nachkam. Und wow, was soll ich sagen, dieses Filmchen ist in der Tat ein Juwel des unbeabsichtigten Humors! {Fritzis Besprechung des Streifens findet man hier.}

Man bekommt häufiger zu lesen, kein anderer fiktiver Charakter habe so viele filmische Anverwandlungen erfahren wie Sherlock Holmes. Ob das ganz korrekt ist, weiß ich nicht, aber ohne Frage ist die Menge an Kino- und Fernsehfilmen, in denen der Meister des deduktiven Denkens sein Genie unter Beweis stellt, schier unüberschaubar.
Die frühesten Übersiedelungen von Holmes auf die Leinwand fanden ohne den Segen seines Schöpfers statt. Freilich hatten diese unautorisierten "Adaptionen", an deren Anfang der neckische Sherlock Holmes Baffled aus dem Jahre 1900 stand, auch wenig bis gar nichts mit Arthur Conan Doyles Geschichten zu tun. Ihnen ging es ausschließlich darum, die Popularität der Figur auszunutzen. Keine von ihnen scheint sich in der Darstellung des Charakters – seiner äußeren Erscheinung, seiner Persönlichkeit, seiner Methoden – an Conan Doyles Beschreibung des Meisterdetektivs zu orientieren. Das gilt auch für die wohl bekannteste von ihnen – eine zwölfteilige, von dem dänischen Unternehmen Nordisk Film zwischen 1908 und 1911 produzierte Serie von Filmen, in denen Holmes in den meisten Fällen von Viggo Larsen verkörpert wurde. Bizarrerweise hatte  Professor Moriarty offenbar einen Auftritt in der Serie, nicht jedoch Dr. Watson!

Als kluger Geschäftsmann war sich Arthur Conan Doyle der gewinnbringenden Möglichkeiten, die sich für populäre Autoren wie ihn aus der aufblühenden Filmindustrie ergaben, durchaus bewusst. Wie er in einem Brief an die Schriftstellerin Mary Augusta Ward (Mrs. Humphrey Ward) schrieb:
… our rights is an asset which is rising in value, no one knows quite how much. English cinemas films are in their infancy, but promise well, and it is there that our hopes lie. Unhappily the higher literature of thought and pathos is handicapped as compared to mere plot and action.
Seine Sherlock Holmes - Stories hielt er selbst nicht für "higher literature", und so mochten sie ihm für eine filmische Adaption durchaus geeignet erscheinen. Gegen unautorisierte Unternehmen wie die Nordisk - Serie konnte er zwar wenig unternehmen, doch gelang es ihm 1911 eine Produktionsfirma zu finden, die interessiert war, die Verfilmungsrechte legal zu erwerben. Das französische Unternehmen Éclair hatte zuvor eine recht erfolgreiche Nick Carter - Serie gedreht, verfügte also bereits über etwas Erfahrung im Detektiv-Genre. So gesehen eine gute Wahl, möchte man meinen, oder? Welch ein Trugschluss ...
Zugegebenermaßen sind uns von den insgesamt neun Éclair - Filmen heutzutage nur noch zwei zugänglich. Jede Beurteilung der Serie fußt also auf einem recht schmalen Fundament. Doch zumindest ihr letzter Eintrag – The Copper Beeches – ist ein wirklich grotesk mieses Stück missbrauchten Celluloids. Gerade deswegen aber auch ein irrer Spaß.
Die Titel der Éclair - Filme erwecken den Eindruck, als habe man sich anders als bei den unautorisierten Holmes - Streifen wirklich an Conan Doyles Stories orientiert. Und es lässt sich nicht leugnen, dass sich Spuren der DNA der echten Copper Beeches in diesem Machwerk finden. Ja, da ist der fiese Mr. Rucastle, der seine Tochter dazu zu zwingen versucht, auf ihre Erbansprüche zu verzichten, wenn sie zu heiraten wünscht. Und nachdem ihm dies nicht glückt, sperrt er sie weg – wenn auch nicht in einem Teil des Herrenhauses, sondern in einem Gartenschuppen. Auch engagiert der Bösewicht ganz wie bei Conan Doyle Miss Violet Hunter als Kindermädchen für seinen Sohn, da sie im Aussehen seiner Tochter ähnelt und er sie zu benutzen gedenkt, um deren "Verlobten" in die Irre zu führen. Und tatsächlich ist die gute Miss Hunter auch hier gezwungen, im Laufe der {ziemlich wirren} Handlung ihre Haarpracht zu stutzen.
Doch man lasse sich durch solche oberflächlichen Ähnlichkeiten nicht in die Irre führen. Die Struktur des Plots wurde auf eine Weise verändert, die einen beinahe vermuten lassen könnte, den Verantwortlichen sei es darum gegangen, die Geschichte jedweder Spannung zu berauben. Auch hat der in diese Variante der Story verwickelte Sherlock Holmes so gut wie nichts mit unserem geliebten Meisterdetektiv zu tun. Er wandert ein Bisschen durch die Waldungen von Copper Beeches, fuchtelt mit einem Vergrößerungsglas herum und ruft im "Finale" mit seiner Trillerpfeife ein paar Bobbies zur Hilfe, die scheinbar die ganze Zeit wartend im Gebüsch gehockt haben. Von der Kunst des deduktiven Denkens keine Spur.
Aber es ist nicht das, was die besondere "Qualität" dieses Filmchens ausmacht. In den Rang eines Juwels ganz eigener Art erheben ihn vor allem die absurd überzogenen schauspielerischen Darbietungen. Wie es Fritzi treffend beschreibt:
You know how people who have never seen a silent movie have a certain idea of what silent movie acting is like? Really broad and overdone, right? And how we silent movie fans leap into the fray to declare that silent films weren’t really like that? Well, this one is. 
Mit anderen Worten – The Copper Beeches beglückt uns mit einem grotesken Feuerwerk an wildem Gestikulieren, wüstem Grimasseschneiden, bizarrem Starren in die Kamera und pantomimischen Verdeutlichungen der primtivsten Sorte. Vor allem der Darsteller von Mr. Rucastle liefert in dieser Hinsicht eine nachgerade brillante Leistung ab. Aber Georges Tréville als Sherlock ist sichtlich bemüht, ihm da nicht groß nachzustehen. Es ist ein Höllenspaß!
Natürlich fragt man sich nach Durchleben dieser cineastischen Groteske, ob der Streifen  repräsentativ für die Éclair - Serie ist. Nach einem Besuch des einzigen anderen überlebenden Beweisstücks The Musgrave Ritual würde ich sagen: Jein. Alles in allem wirkt dieses Filmchen etwas gediegener als The Copper Beeches. Doch zumindest das mörderische Hausmädchen liefert hier gleichfalls eine grandios überzogene Darbietung ab. Was die Gute mit ihren Armen anstellt, ist wirklich sehenswert! Daneben fällt auf, dass wir in beiden Filmen – ganz wie bei der Nordisk-Serie – auf den ehrenwerten Dr. Watson verzichten müssen. Was wirklich bizarr anmutet, sind für uns heute doch Holmes & Watson ein schier unzertrennliches Paar, dessen zwischenmenschliche Dynamik einen sehr wichtigen Bestandteil der Geschichten darstellt.
  
Arthur Conan Doyle soll übrigens einmal gesagt haben, er habe Éclair schließlich das Zehnfache des ursprünglichen Preises bezahlen müssen, um die Verfilmungsrechte zurückzukaufen. Offenbar war auch er nicht glücklich mit dem, was man da mit seiner Schöpfung angestellt hatte.

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