"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Sonntag, 17. Dezember 2023

Reread-Gedanken

Vor drei Tagen hat Alessandra im Rahmen ihres Throwback-KoFi-Adventskalenders (dessen bisherige Teile man auf ihrem Blog FragmentAnsichten hier aufgelistet findet) hinter Türchen 14 unter der Überschrift "Klassiker" u.a. ein paar Worte über unsere alljährlichen gemeinsamen Rereads verloren. Was mich sehr gefreut hat, bedeutet mir unsere kleine Tradition des regelmäßigen Gedankenaustausch doch viel und bereitet mir jedes Mal großen Spaß. Ihr Beitrag hat mich nicht nur dazu animiert, endlich mit der (Lese)vorbereitung für unsere nächste Diskussionsrunde zu beginnen. (Es wird ja auch wirklich langsam Zeit.) Er hat mich auch an eine kuriose Erkenntnis erinnert, die ich bei unserem allerersten Reread vor vier Jahren gemacht hatte. 

Dabei war es um Joy Chants kurzen Roman Wenn Voiha erwacht (When Voiha Wakes) gegangen (Teil 1 / Teil 2). Meine letzte Lektüre des Buches lag damals über zehn Jahre zurück. Und ich war felsenfest überzeugt davon, dass eines seiner zentralen Motive der Übergang von einer eher kollektivistischen zu einer individualistischen Kultur war. Die Kunst als Ausdrucksform einer erwachenden menschlichen Persönlichkeit, die sich nicht länger primär als Teil einer von der Tradition geformten Gemeinschaft sieht. Doch als ich nun Wenn Voiha erwacht erneut las, musste ich zu meinem Erstaunen feststellen, dass es für eine derartige Interpretation kaum handfeste Belege im Text gab. Ganz offensichtlich hatte ich etwas in das Buch hineingelesen, was sich dort nicht wirklich befand. Eine eigenartige Erfahrung. Wie hatte das passieren können?

Wäre es möglich, dass meine damalige Herangehensweise an Literatur dafür verantwortlich war? Besaß ich zu jener Zeit die Tendenz, in Büchern einen Widerhall meiner eigenen Weltanschauung finden zu wollen? Um sie auf diese Weise quasi vor mir selbst zu rechtfertigen?

Ich denke, das könnte tatsächlich mit einer der Gründe gewesen sein. Und hoffe zugleich, dass das nicht länger der Fall ist. Womit ich nicht gesagt haben will, dass ich inzwischen "ideologisch unbeeinflusst" oder "neutral" an Literatur herangehen würde. Das tut niemand. Die Frage ist bloß, wie strukturiert und bewusst die "ideologische Linse" ist, durch die man ein Buch betrachtet. Die "Linse" selbst wird immer da sein. Aber im Idealfall dient sie dazu, den Blick für bestimmte Details und Zusammenhänge zu schärfen. Auf keinen Fall sollte sie zu einem Zerrbild führen, das dem Verlangen entsprungen ist, ein literarisches Werk in ein bestimmtes vorgefasstes Schema zu pressen oder für die eigene Ideologie zu vereinnahmen.

So gesehen bin ich besonders gespannt auf den nächsten Klassiker-Reread mit Alessandra. Denn auch von dem Werk, das wir uns diesmal vorgenommen haben, spukt eine ziemlich konkrete Interpretation in meinem Kopf herum. Wird sie sich als ebenso haltlos erweisen wie damals bei Wenn Voiha erwacht? Ich hoffe natürlich, dass dem nicht der Fall sein wird. Aber man wird abwarten müssen.

Zugleich hat mich das aber auch auf die Idee gebracht, dass ich mich im nächsten Jahr außerdem mal an den persönlichen Reread eines Buches machen könnte, bei dem es ebenfalls so ausschaut: Naomi Mitchisons Kornkönig und Frühlingsbraut (The Corn King and The Spring Queen). In meinem Gedächtnis lebt dieser erstmals 1931 veröffentlichte und leider wohl ziemlich in Vergessenheit geratene Klassiker der historischen Phantastik nämlich als eine Art epische Allegorie auf die Menschheitsgeschichte fort -- von der Geburt der Klassengesellschaft bis zur Kommunistischen Revolution (und ihrem Scheitern). Und es würde mich ja schon interessieren, ob dieses Bild dem Roman tatsächlich gerecht wird. Mal ganz abgesehen davon, dass ich ihn als eine faszinierende Lektüre in Erinnerung habe, die aufzufrischen sich ohnehin lohnen würde. Auch habe ich das Gefühl, dass die schottische Schriftstellerin zu einer Gruppe von frühen Fantasyautorinnen gehört, die in der Szene immer noch viel zu wenig bekannt sind. Mit Anthologien wie Sisters of Tomorrow, The Future is Female! und Rediscovery ist es in den letzten Jahren zwar zu einer erfreulichen Wiederentdeckung früher Autorinnen der amerikanischen Science Fiction gekommen. Doch konzentrieren sich diese Bände fast völlig auf Stories, die in den einschlägigen Magazinen der 20er-60er Jahre veröffentlicht wurden, wobei der Blick kaum je über die Grenzen des SciFi-Genres (und der Vereinigten Staaten) hinausschweift. Das ist nicht als Kritik an Herausgeber*innen wie Lisa Yaszek und Gideon Marcus gemeint, die mit der Zusammenstellung dieser Anthologien großartige Arbeit geleistet haben. Doch naturgemäß bleiben dabei phantastische Autorinnen wie Hope Mirrlees (Lud-in-the-Mist [1926]), Sylvia Townsend Warner (Lolly Willowes [1926]), Evangeline Walton (The Virgin and the Swine [1936]) oder eben Naomi Mitchison ausgeblendet. Und daran sollte sich mal etwas ändern, finde ich.